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Dritter Teil:
Der Weg des Bösen.


5. Die Vogtei.

Die zwei Gefangenen.

Am Tag darauf um sechs Uhr kamen zwei Wagen, die das Volk in seiner deutlichen Art ›Salatkutschen‹ nennt, in rascher Fahrt aus dem Zellengefängnis und nahmen den Weg zur Vogtei beim Justizpalast. Das war ungewöhnlich. Sie dienten diesmal zur Überführung zweier Gefangener, von denen jeder in einem Wagen saß. Das Verhalten der beiden war kennzeichnend. Lucien verbarg sich, um die Blicke der Straßengänger zu meiden, die durch das Gitterwerk des düsteren verhängnisvollen Wagens in das Gefährt drangen. Dagegen preßte der tollkühne Sträfling sein Gesicht an dieses Gitter, während der Schutzmann und der Gerichtsdiener, die ihres Salatkorbes sicher waren, miteinander plauderten.

Die Julitage von 1830 mit ihren schrecklichen Stürmen haben alle früheren Vorfälle derart übertönt, die politischen Aufregungen Frankreich sechs Monate lang so vollkommen in Anspruch genommen, daß man heutzutage fast vergessen hat, was für Tagesereignisse in der Zeit vorher die Neugierde von Paris wachriefen. Deshalb muß man die Erinnerungen an die jähe Erregung wieder auffrischen, die durch die Nachricht von der Festnahme eines spanischen Priesters im Hause einer Kurtisane, und von der des eleganten Lucien von Rubempré, des ›Zukünftigen‹ von Fräulein von Grandlieu auf der Landstraße nach Italien auslöste. Die Kunde, daß beide eines Mordes beschuldigt waren, der ihnen sieben Millionen einbringen sollte, wirbelte einen Staub auf, der für ein paar Tage all die überspannte Aufmerksamkeit für die letzten Wahlen unter Karl X. verdunkelte.

Zunächst war dieser Kriminalprozeß zum Teil die Folge einer Klage des Barons Nüßingen. Weiter aber brachte Luciens Festnahme am Tage vor seiner Ernennung zum Geheimsekretär des Premierministers die höchste Pariser Gesellschaft in namenlose Aufregung. In allen Pariser Salons verkehrte so mancher junge Mann, der daran denken mußte, wie er Lucien beneidet hatte, wenn dieser von der schönen Herzogin von Maufrigneuse ausgezeichnet wurde, und alle Frauen wußten, daß er damals dem Herzen der Frau von Sérizy nahe stand, die doch die Frau eines der ersten Staatsmänner war. Endlich genoß die Schönheit des Verhafteten in den verschiedenen Kreisen, aus denen sich Paris zusammensetzt, eine seltene Berühmtheit: in der Finanzwelt, bei den Kurtisanen, unter den ›jungen Leuten‹ und in der literarischen Welt.

Seit zwei Tagen also sprach ganz Paris von diesen zwei Verhaftungen. Der Untersuchungsrichter, dem die Sache übertragen worden war, Herr Camusot, witterte eine Sprosse seines Vorwärtskommens, und um so schnell wie möglich zum Ziel zu gelangen, hatte er die sofortige Überführung der beiden nach der Vogtei angeordnet, sobald Lucien von Fontainebleau angelangt wäre. – Aber ehe wir uns mit dem furchtbaren Drama der Untersuchung beschäftigen, muß erst der Verlauf der Überführung verfolgt werden.

In dem Augenblick, als der erste Wagen mit Jakob Collin in die düstere Einfahrt der Johann-Arkade gelangte, zwang eine Verkehrsstockung den Kutscher, anzuhalten. Die Augen des Gefangenen glänzten wie Edelsteine durch das Gitter ungeachtet der Maske eines Sterbenden, durch die er am Tage zuvor den Gefängnisdirektor von der Notwendigkeit überzeugt hatte, den Arzt zu rufen. In diesem Augenblick, wo kein Beamter aufpaßte, redeten die flammenden Augen eine so deutliche Sprache, daß ein erfahrener Untersuchungsrichter daran den kirchenschänderischen Sträfling erkannt hätte. Jakob Collin paßte bei der Fahrt durch die Stadt auf jede Einzelheit auf. Deren Schnelligkeit hinderte ihn nicht, jedes Haus bis zum obersten Stockwerk hin mit dem Blick zu umfassen. Er sah jeden Straßengänger und prüfte ihn. Er hatte sich mit Hoffnungen gewappnet und erwartete Hilfe. Er kannte ja schon längst alle Einzelheiten der Polizei, des Gefängnisses und des Gerichtswesens. Dieses Ungeheuer an List und Verderbtheit hatte alle Geisteskräfte und Ausdrucksmittel verwandt, um Überraschung, die Blödigkeit des Unschuldigen und den Todeskampf eines Sterbenden zu spielen. So war die Tätigkeit des Untersuchungsrichters Camusot, des Polizeikommissars und des fragebereiten Staatsanwalts durch einen vorgetäuschten Schlagfluß durchkreuzt worden.

»Er hat sich vergiftet!« hatte Herr Camusot gerufen, als er die Leiden des vorgeblichen Priesters sah, den man in schrecklichen Zuckungen aus der Kammer heruntergebracht hatte. Vier Beamte konnten ihn nur mit größter Mühe die Treppe hinab in Esthers Zimmer schleppen, wo sich die Gerichtsbarkeit und die Polizei versammelt hatte.

»Das beste, was er tun konnte, wenn er schuldig ist,« hatte der Staatsanwalt geantwortet.

»Halten Sie ihn denn für krank?« … hatte der Polizeikommissar gefragt.

Die Polizei ist immer mißtrauisch. Natürlich hatten die drei geflüstert, aber Jakob hatte aus ihren Mienen den Inhalt dieses Gedankenaustausches erraten und ihn benutzt, um das kurze Verhör bei der Verhaftung wertlos zu machen; er hatte spanische, mit französischen Brocken vermischte Worte gestammelt.

Im Gefängnis hatte er einen um so größeren Erfolg gehabt, als Bibi-Lupin, der Chef der Sicherheitspolizei, der ihn einst bei Frau Vauquer verhaftet hatte, mit einem Auftrag abwesend war und sein Stellvertreter den Sträfling nicht kannte. Bibi-Lupin, der einstige Gefährte Jakob Collins im Bagno, war sein persönlicher Feind, weil er ihn wegen seiner anerkannten Überlegenheit unter den Gefangenen beneidete.

 

Ein Sieg über die Einzelhaft.

Kurz, trotz seiner Einzelhaft zählte Jakob auf Asiens kluge, zuverlässige Ergebenheit. Sie war sein rechter Arm, wie Paccard sein linker, und auch auf diesen rechnete er mit dem Augenblicke, wo Paccard das gestohlene Geld in Sicherheit gebracht haben würde. Und seltsam! Diese Hoffnung sollte Erfüllung finden.

Zwischen den mächtigen Mauern der Arkade herrschte stets ein Gedränge, das durch die kleinste Störung zu einer Stauung werden kann. So war auch in diesem Augenblick die Durchfahrt durch eine Gemüsehändlerin versperrt worden, wie man sie immer noch in Paris findet. Eine richtige Straßenhändlerin mit schmierigem Gewand und dem abschreckenden Äußern, ein stinkender Lumpen, der auf zehn Schritte empfindlichen Nasen peinlich werden mußte. Und die Blicke! … welch kühne Schlauheit, welch verhaltenes Leben, als sich die magnetischen Strahlen ihrer Augen mit denen Collins kreuzten, um einen Gedanken auszutauschen.

»Platz, doch, du alte Madentante! …« rief der Kutscher mit heiserer Stimme.

»Du willst mich wohl zusammenkarren, du Galgenhusar,« entgegnete sie. »Deine Ware ist nicht so viel wert wie meine!«

Sie versuchte sich zwischen zwei Prellsteine zu schieben, um Platz zu machen, und versperrte den Weg gerade lange genug, um ihren Plan auszuführen.

»Aha, Asien!« dachte Collin, der sofort seine Helferin erkannte. »Dann ist alles gut.«

Der Kutscher tauschte immer noch Grobheiten mit ihr [] Eine endlose Reihe von Wagen staute sich auf. Plötzlich rief sie:

»Ahé! … pécairé fermati. Souni là. Vedrem!« …

Das war der Ton der Straßenhändlerinnen, die ihre Worte bis zur Unkenntlichkeit entstellen.

In dem Wirrwarr und dem Geschrei der Kutscher konnte niemand diesen wilden Rufen Beachtung schenken. Aber für Collin ertönte in einem vereinbarten Gemisch von italienisch und verdorbenen provençalisch die verhängnisvolle Mitteilung:

»Der arme Kleine ist gefaßt. Ich bin wachsam bereit. Du wirst mich Wiedersehen! …«

Die grenzenlose Freude ob dieses Sieges über die Justiz, der einen Verkehr mit der Außenwelt erhoffen ließ, gab Collin einen Rückschlag, der jeden andern getötet hätte.

»Lucien verhaftet!« murmelte er.

Und fast wäre er ohnmächtig geworden. Diese Nachricht war furchtbarer für ihn als die Ablehnung einer Begnadigungseingabe angesichts eines Todesurteils.

 

Wie man Gefangene einträgt.

Fährt im Hofe des Polizeigefängnisses eine Salatkutsche, wie gewöhnlich, nach links, dann bringt sie den Untersuchungsgefangenen in die ›Mausefalle‹; fährt sie nach rechts, dann wird er in die Vogtei eingeliefert.

Hierhin also wandte sich der Wagen mit Jakob Collin, um ihn an der Tür abzuliefern. Zwei Schutzleute mußten helfen, den Sterbenden aus dem Wagen zu schaffen. Sie packten ihn unter dem Arm, stützten und trugen ihn wie einen Bewußtlosen in die Kanzlei. Der Sterbende hob die Augen zum Himmel wie der Heiland am Kreuz. Als er in der Kanzlei saß, schien er im Begriff, den letzten Seufzer zu tun. Mit ersterbender Stimme wiederholte er die Worte, die er seit seiner Verhaftung an alle richtete: »Ich möchte Seine Exzellenz, den spanischen Gesandten sprechen …«

»Sagen Sie das dem Herrn Untersuchungsrichter …« versetzte der Direktor.

»Ach, Jesus!« seufzte Jakob Collin. »Kann ich kein Brevier haben? … Darf ich keinen Arzt sehen? … Ich habe keine zwei Stunden mehr zu leben.«

Der Kanzlist und der Gerichtsdiener erfüllten einträchtiglich und phlegmatisch die Förmlichkeiten bei seiner Aufnahme.

»Herr Direktor,« radebrechte Jakob Collin, »Sie sehen, ich liege im Sterben. Sagen Sie doch, wenn es geht, so schnell als möglich dem Herrn Richter, daß ich als Gunst erbitte, was jeder Verbrecher am meisten fürchten muß: ich bitte vernommen zu werden, sobald er kommt. Meine Leiden sind unerträglich, und sowie ich ihn gesehen habe, wird aller Irrtum schwinden …«

Es ist eine allgemeine Regel, daß sämtliche Angeklagten von Irrtum reden. Deshalb müssen alle, die mit Bezichtigten, Angeklagten oder Verurteilten zu tun haben, unwillkürlich, wenn auch unmerklich, bei diesem Worte lächeln.

»Ich kann Ihr Ersuchen dem Untersuchungsrichter vortragen,« versetzte der Direktor.

»Mein Segen sei über Ihnen!« erwiderte der falsche Spanier und hob die Augen zum Himmel empor.

Sobald er eingetragen war, nahmen ihn zwei Wachen unter dem Arm, und zusammen mit einem Wächter, dem der Direktor die Zelle nannte, wurde er durch das unterirdische Gängegewirr in einen gesunden, aber jedem Verkehr entrückten Raum geführt.

Kaum war er verschwunden, da blickten sich die Anwesenden fragend, zweifelhaft an. Aber sobald der andere Gefangene erschien, kehrte die gewohnte Ungewissheit zurück, die sich unter gleichgültigen Mienen verbirgt. Gewöhnlich, bis auf Ausnahmefälle, sind die Beamten der Vogtei wenig neugierig. Alle Förmlichkeiten vollziehen sich wie Geldsachen auf der Bank, oft sogar noch höflicher. Lucien wirkte wie der niedergeschmetterte Schuldige, denn er ließ alles mit sich machen. Seit Fontainebleau hatte der Dichter seinen Zusammenbruch vor Augen und sagte sich, daß die Stunde der Sühne geschlagen habe. Er war blaß, gebrochen, wußte nichts von dem, was während seiner Abwesenheit bei Esther geschehen war, sah sich nur als der engste Gefährte eines ausgebrochenen Sträflings. Diese Lage genügte, um ihn schlimmere Schicksalsschläge als den Tod erwarten zu lassen. Faßten seine Gedanken einen Plan, dann war es der Selbstmord. Er wollte um jeden Preis der Schmach entgehen, die wie ein quälender Traum vor ihm auftauchte.

War Jakob Collin als der gefährlichere Gefangene in einem Gefängnis mit steinernen Wänden untergebracht worden, so kam Lucien, der auf Anordnung des Untersuchungsrichters rücksichtsvoller behandelt wurde, in eine Zelle neben den Bevorzugten.

Gewöhnlich sehen Leute, die nie mit der Justiz zu tun hatten, im Gefängnis alles so schwarz wie möglich. Als Lucien seine Zelle betrat und bei dem Anblick der schlichten Einrichtung an die Jammerzeiten seines vergangenen Lebens erinnert wurde, brach er in Tränen aus. Die Ähnlichkeit des unschuldvollen Anbeginns mit dem schmachvollen Ausgang weckte zum letztenmal seinen Dichtersinn. Er weinte vier Stunden lang und durchlitt all die Qualen zerstörter Hoffnungen. Dieser Ikarussturz hatte alles in ihm zerbrochen.

Carlos dagegen tappte in seiner Zelle sofort herum wie der Eisbär im Käfig. Genau prüfte er die Tür und stellte fest, daß außer dem Schlüsselloch keine Öffnung da war. Er betrachtete alle Mauern, guckte durch die Fensterluke und sagte sich:

»Nun bin ich in Sicherheit!«

Dann setzte er sich in eine Ecke, in der ihn das Wächterauge am Guckloch nicht erblicken konnte, nahm seine Perücke ab und löste davon ein Papier los, das im Inneren befestigt war. Es war am Kopf durchfettet und schien dadurch zu der Perücke zu gehören. Selbst Bibi-Lupin würde dies Papier nicht mißtrauisch betrachtet haben, wenn er Jakob Collin die Perücke abgenommen hätte. Die Innenseite war noch weiß und sauber genug, um ein paar Zeilen aufzunehmen. Die schmierige Arbeit des Loslösens hatte im Untersuchungsgefängnis begonnen und schon der halbe Tag war damit hingegangen.

Der Gefangene begann, von diesem kostbaren Papier schmale Streifen von acht bis zehn Linien Breite abzutrennen, riß es in mehrere Stücke, befeuchtete dann seinen merkwürdigen Papiervorrat dort, wo das Gummiarabikum haftete, und brachte das Papier wieder an Ort und Stelle. Weiter suchte er in einer Haarflechte einen der feinen Bleistifte, die dünn sind wie Nadelspitzen. Er war mit Leim befestigt. Er brach ein Stückchen ab, das lang genug war zum Schreiben und klein genug, um es im Ohr zu verbergen. Und als er das alles rasch und sicher bewerkstelligt hatte wie ein alter Verbrecher, der gewandt ist wie ein Affe, setzte er sich auf den Bettrand und bedachte seine Anordnungen für Asien, die er vertrauensvoll unterwegs zu treffen erwartete.

»Bei meinem ersten Verhör,« überlegte er, »spielte ich den Spanier, der schlecht französisch sprach, der sich auf seinen Gesandten berief, diplomatische Vorrechte vorschob und keine Frage begriff, – und all das wohlgegliedert durch Anfälle von Schwäche, Seufzer und das ganze Registerwerk des Sterbenden. Auf dem Boden will ich bleiben. Meine Papiere sind in Ordnung. Also gilt es, an Lucien zu denken. Es heißt jetzt, seinen Mut stärken, unbedingt zu dem Kind gelangen, ihm einen Wink geben. Sonst liefert er sich aus, liefert mich aus und richtet alles zugrunde! … Er muß also vor seinem Verhör genau unterrichtet sein. Außerdem brauche ich Zeugen, die meine Priesterschaft bestätigen.«

So war die seelische und körperliche Verfassung der beiden Gefangenen, deren Schicksal jetzt von dem Untersuchungsrichter Herrn Camusot abhing. Er war unumschränkter Herr, denn in seiner Hand lag die Erlaubnis, daß der Priester, der Gefängnisarzt oder sonst jemand zu ihnen durfte.

 

Der Untersuchungsrichter in Nöten.

Herr Camusot, der Schwiegersohn eines Dieners im königlichen Kabinett, befand sich dadurch, daß ihm diese Untersuchung übertragen war, in fast ebensolcher Verlegenheit wie Carlos Herrera. Er hatte seine Stellung der Fürsprache der Herzogin von Maufrigneuse zu danken und hatte sich durch deren Empfehlung sogar in den Gesichtskreis einer nicht weniger mächtigen Dame, der Marquise d'Espard, wagen können. Bekanntlich hatte Lucien dieser einflußreichen Frau durch die Enthüllung ihrer Ränke einen argen Schlag versetzt. Als daher die Marquise am Tage zuvor von Luciens Verhaftung erfuhr, hatte sie ihren Schwager, den Chevalier d'Espard, zu Frau Camusot geschickt. Diese war sofort dort hingeeilt und so kam es, daß sie gleich nach ihrer Rückkehr vor dem Essen ihren Mann beiseite nahm:

»Kannst du diesen kleinen Laffen Lucien vor das Schwurgericht bringen und eine Verurteilung durchsetzen,« flüsterte sie, »so wirst du königlicher Rat im zweiten Gericht.«

»Wie denn? …«

»Frau d'Espard will den Kopf des armen Schlingels fallen sehen. Mir wurde kalt, als ich den Haß hübscher Frauen reden hörte.«

»Kümmere dich nicht um Gerichtssachen,« antwortete Camusot.

»Ich mich einmischen!« entrüstete sie sich. »Wenn uns ein Dritter gehört hätte, würde er gar nicht gewußt haben, um was es sich handelte. Wir beide, die Marquise und ich, waren genau so entzückend heuchlerisch, wie du es eben zu mir bist. Sie wollte mir für die guten Dienste danken, die du ihr in ihrer Angelegenheit erwiesen habest, und versicherte mir, trotz dem Mißerfolge sei sie dafür dankbar. Dann sprach sie von den schrecklichen Aufgaben, vor die das Gesetz euch stellt.

›Wie entsetzlich, einen Menschen aufs Schafott bringen zu müssen! Aber den da, – bei dem ist es wahrhaftig ein Akt der Gerechtigkeit‹ … und so weiter.

Dann jammerte sie, daß ein so schöner junger Mann, den ihre eigene Base Frau von Châtelet hergebracht hatte nach Paris, derart auf Abwege geraten konnte.

›Ja,‹ meinte sie, ›dahin bringen schlechte Frauen wie eine Coralie oder Esther junge Männer, die so verderbt sind, daß sie schmutzige Verdienste mit ihnen teilen!‹

Und dann kamen schöne Tiraden über Wohltätigkeit, über Religion; Frau von Châtelet hatte ihr gesagt, daß Lucien allein schon darum tausendfach den Tod verdient habe, weil seine Mutter und Schwester fast durch ihn zugrunde gegangen, gestorben seien … Dann sprach sie von einem freien Posten beim zweiten Gericht, und davon, daß sie den Kanzler gut kenne.

›Ihr Mann, meine Liebe, hat da eine wunderschöne Gelegenheit, sich auszuzeichnen‹, sagte sie, als sie unser Geplauder beendete … So steht die Sache!«

»Wir zeichnen uns täglich durch die Erfüllung unserer Pflicht aus!« erklärte Camusot.

»Du wirst weit kommen, wenn du überall, selbst deiner Frau gegenüber, der strenge Beamte bleibst!« rief Frau Camusot. »Ich hielt dich für einen Trottel, aber heut bewundere ich dich …«

Der Beamte hatte ein Lächeln auf den Lippen, das diesen Leuten so eigentümlich ist, wie das Berufslächeln den Tänzerinnen.

»Darf ich eintreten, gnädige Frau?« fragte das Zimmermädchen.

»Was wollen Sie denn von mir?«

»Die Schaffnerin der Frau Herzogin von Maufrigneuse kam während der Abwesenheit der gnädigen Frau und sprach die Bitte aus, die gnädige Frau möchte sie in eiligster Angelegenheit im Palais Cadignan besuchen.«

»Also wartet mit dem Essen,« ordnete die Richterfrau an, setzte den Hut auf, stieg in den Wagen zurück, der noch auf Bezahlung wartete und langte in zwanzig Minuten im Palais Cadignan an. Sie wurde hinten herum in ein Boudoir hineingeführt, das neben dem Schlafzimmer lag, und nach wenigen Minuten erschien die Herzogin in glänzender Toilette, weil sie bei Hofe eingeladen war.

»Unter uns nur zwei Worte, Kleine: Lucien von Rubempré ist verhaftet worden und Ihr Mann hat die Untersuchung übertragen bekommen. Ich verbürge mich für die Unschuld des armen Jungen. Also sorgen Sie dafür, daß er in vierundzwanzig Stunden frei kommt. Und dann noch etwas: Jemand möchte ihn heimlich morgen im Gefängnis besuchen. Ihr Mann kann dabei sein, wenn er will, er soll sich aber nicht sehen lassen … Sie wissen, ich sorge getreulich für Leute, die mir gute Dienste erweisen. Der König verlangt in diesen schweren Zeiten energische Beamte und ich kann Ihren Mann als ergebenen königstreuen Beamten empfehlen. Er wird dann erst Rat und später irgendwo erster Präsident. Also leben Sie wohl … Sie verpflichten sich nicht nur dem Oberstaatsanwalt, der hier nicht dreinreden kann, – Sie retten auch einer Frau das Leben … Frau von Sérizy, die daran stirbt. Also an Stütze fehlt es Ihnen nicht! … Sie sehen mein Vertrauen, und ich brauche Ihnen nicht zu empfehlen … Sie verstehen schon!«

Sie legte einen Finger auf die Lippen und verschwand.

»Schade, daß ich ihr nicht sagen konnte, daß die Marquise d'Espard Lucien auf dem Schafott sehen will,« dachte die Richtersfrau auf dem Wege zur Droschke.

Sie kam in solcher Angst heim, daß ihr Mann es merkte und sie fragte:

»Amelie, was ist dir?«

»Wir stehen zwischen zwei Feuern!«

Und sie erzählte ihm flüsternd ihre Unterredung, voll Angst, daß die Zofe etwas hören könnte.

»Wer von den beiden ist nun die Mächtigere?« fragte sie schließlich. »Die Marquise hätte dich in ihrer dummen Geschichte beinahe bloßgestellt, während wir der Herzogin alles verdanken. Die eine hat ungewisse Versprechungen gemacht, die andere will dich zum Präsidenten machen. Gott behüte, daß ich dir einen Rat gebe, ich mische mich nie in Gerichtssachen. Aber ich muß dir doch getreulich berichten, was so in Hofkreisen vor sich geht …«

»Du weißt nicht, Amelie, was der Polizeipräfekt mir heut morgen durch einen der bedeutendsten Polizeibeamten hat zugehen lassen. Jetzt wollen wir erst essen und ins Theater gehen, heut nacht reden wir weiter. Ich brauche deinen Verstand, der eines Richters reicht nicht!«

 

Das Schlafzimmer wird oft zum Beratungszimmer.

Neun Zehntel aller Beamten werden den Einfluß der Frau in solchen Fragen bestreiten, aber es läßt sich feststellen, daß er wirklich besteht, wenn auch nur von Zeit zu Zeit. Die Frauen tun nicht nur so, als ob sie nichts wissen, sondern spüren auch recht gut, daß ihr Wissen dem Manne schaden würde, wenn man es merkt. In schwierigen Fragen aber, wenn es sich um Beförderungen auf Grund dieses oder jenes Entschlusses handelt, haben Frauen wie Amelie stets den Beratungen ihrer beamteten Männer beigewohnt. Solche geheimen, also bestreitbaren Ausnahmen hängen von dem Ausgleich in der Wesensart der Eheleute ab. Frau Camusot beherrschte ihren Mann vollkommen. Als nun alles daheim schlief, setzte sich der Richter mit seiner Frau in das Arbeitszimmer, wo die Akten schon bereit lagen.

»Hier sind die Berichte, die mir der Polizeipräfekt, übrigens auf meine Bitte, zugeschickt hat …« sagte Camusot.

 

» Abbé Carlos Herrera: Heißt sicher Jakob Collin, genannt ›Betrüg den Tod‹. Zuletzt verhaftet 1819 im Hause der Frau Vauquer unter dem Namen Vautrin.« Am Rande von der Hand des Präfekten:

 

»Bibi-Lupin telegraphisch angewiesen, zur Gegenüberstellung sofort herzukommen, da er Collin persönlich kennt, den er 1819 mit Hilfe eines Fräulein Michonneau festgenommen hat.«

 

»Von den Gästen des Hauses Vauquer leben die meisten noch und können zur Bestätigung geholt werden.

»Herrera ist der Freund und Ratgeber von Lucien von Rubempré und hat ihn drei Jahre lang, offenbar mit gestohlenem Geld, unterstützt.

»Dies Einverständnis würde bei Feststellung der Identität von Herrera mit Collin zur Verurteilung Rubemprés führen.

»Der plötzliche Tod des Agenten Peyrade erfolgte durch Vergiftung, ausgeführt van Collin, Rubempré oder deren Helfershelfern. Grund: Der Agent war den Verbrechern längere Zeit auf der Spur.«

Am Rande von der Hand des Präfekten:

»Das weiß ich selbst und ebenso, daß Rubempré den Herrn Grafen Sérizy und den Herrn Generalstaatsanwalt schändlich angeführt hat.«

 

»Was sagst du dazu, Amelie?«

»Schrecklich!« erwiderte sie. »Aber weiter!«

 

»Die Verkleidung als spanischer Priester dankt der Sträfling Collin offenbar einem raffinierten Verbrechen.«

 

» Lucien von Rubempré: Heißt Diestel, Apothekerssohn aus Angoulême: die Mutter war eine Rubempré, und durch königliche Verfügung, auf Ersuchen der Herzogin von Maufrigneuse und des Grafen von Sérizy darf er den Namen führen.

»Kam 182… nach Paris ohne Existenzmittel, als Begleiter der jetzigen Gräfin Sixt von Châtelet, damals Bargeton, Base von Frau d'Espard.«

»Lebte mit der dann verstorbenen Künstlerin Coralie, geriet ins Elend, stellte seinen angesehenen Schwager, den Buchdrucker David Séchard in Angoulême bloß, der daraufhin verhaftet wurde; flüchtete und tauchte plötzlich mit dem Abbé Herrera wieder in Paris auf.

»Obgleich mittellos, verbrauchte er in den ersten drei Jahren seines zweiten Pariser Aufenthaltes etwa dreihunderttausend Franken, die er nur dem angeblichen Abbé verdanken kann. Aber woraufhin?

»Außerdem hat er kürzlich für eine Million die Güter Rubempré gekauft, um Clotilde von Grandlieu zu heiraten. Die Ehe kam nicht zustande, weil die Eltern der Braut feststellten, daß das Geld zweifelhaften Quellen entstammt.

»Er lebte heimlich mit Esther Gobseck, also kommt das Geld sicher aus der Tasche des Barons Nüßingen, der dies Mädchen unterhielt.«

 

»Lassen wir das,« sagte der Richter und legte die Akten weg. »Das ist ein Geheimnis zwischen Polizei und Gericht, und der Richter kann sehen, was es taugt. Aber Herr und Frau Camusot wissen davon nichts. Also Lucien ist schuldig, aber wessen?«

»Wer von der Herzogin von Maufrigneuse, der Gräfin von Sérizy und Clotilde von Grandlieu geliebt wird, ist nicht schuldig. Der andere muß alles ausgefressen haben!«

»Aber Lucien ist mitschuldig!« rief Camusot.

»Willst du mir Vertrauen schenken, so gib den Priester der Diplomatie zurück, deren schönste Zierde er ist, sichere die Unschuld dieses kleinen Unglückswurms und finde andere Schuldige …«

»Wie du vorgehst!« lächelte der Richter. »Frauen flattern durch Gesetze hindurch, wie der Vogel durch die Luft.«

»Der Abbé wird dir schon einen Wink geben, wie du herauskommst, mag er nun Diplomat oder Sträfling sein,« erwiderte Amelie.

»Ich bin die Mütze, du bist der Kopf,« sagte Camusot zu seiner Frau.

»Schön, die Beratung ist also geschlossen; komm und umarme deine Amelie, – es ist ein Uhr!«

Und Frau Camusot ging ins Bett und ließ ihren Mann seine Gedanken und seine Papiere für das morgige Verhör der zwei Beschuldigten ordnen.

 

Einflüsse.

Nach dem Frühstück machte der Untersuchungsrichter schlicht wie ein Pariser Beamter zu Fuß seinen Weg zu seinen Akten, die inzwischen in seiner Amtsstube angelangt waren.

Er ging die Kais entlang, betrachtete sich die Auslagen und fragte sich:

»Was soll man mit solchem schlauen Kerl wie Collin anfangen, wenn er es wirklich ist? Er wird wiedererkannt werden. Ich muß also meinen Beruf schon um der Polizei willen ausüben. Lauter Unmöglichkeiten! Am besten wäre, ich zeigte der Marquise und der Herzogin die Polizeiakten. Das wäre eine Rache für meinen Vater, dem Lucien die Coralie weggefischt hat … Wenn ich so schwarze Übeltäter entlarve, wird meine Geschicklichkeit stadtbekannt, und Lucien wird schnell von seinen Freunden verleugnet werden. Nun, das Verhör wird ja entscheiden.«

Eine Boulleuhr lockte ihn in einen Raritätenladen.

»Mein Gewissen rein halten und zugleich zwei großen Damen dienen, das nennt man Geschicklichkeit,« dachte er. – »Ei, Sie auch, Herr Generalstaatsanwalt,« fuhr er laut fort. »Sie suchen Medaillen?«

»Wie beinahe alle Gerichtsbeamten,« lachte Herr von Granville, wegen der Kehrseite.«

Nachdem er sich noch ein paar Augenblicke umgeguckt hatte, nahm er Camusot ein Stück Weges mit, ohne daß dieser mehr als einen Zufall vermuten konnte.

»Sie werden heut früh Herrn von Rubempré verhören, meinte der Staatsanwalt. »Armer Kerl, ich hatte ihn so gern …«

»Es liegt viel Verdacht gegen ihn vor,« meinte Camusot.

»Ja, ich habe die Polizeiakten gesehen; aber das meiste stammt von dem Agenten Corentin, der schon mehr Unschuldige aufs Schafott gebracht hat, als Sie je Schuldige köpfen sehen werden, und … Na, der ist ja außer unserer Reichweite. Ich will freilich einen Beamten wie Sie nicht beeinflussen, aber ich kann Ihnen ja zu verstehen geben: Könnten Sie zuverlässig erweisen, daß Lucien von dem Testamente des Mädchens nichts wußte, dann entfiele damit jedes Interesse seinerseits an ihrem Tode, denn sie hat ihm ja verschwenderisch ihr Geld zur Verfügung gestellt.«

»Wir wissen bestimmt, daß er zur Zeit der Vergiftung nicht da war,« versetzte Camusot »Er lauerte bei Fontainebleau auf ein Zusammentreffen mit Fräulein von Grandlieu und der Herzogin von Lenoncourt.«

»Ja, ja,« bestätigte der Generalstaatsanwalt, » er hing so an seiner Heirat, daß ein Mensch wie er sich sicherlich nicht durch solch nutzlosen Mord bloßgestellt haben wird. – Wie er darauf hoffte, weiß ich von der Herzogin von Grandlieu selbst.«

»Freilich; aber wem soll man hier glauben? Irgend etwas steckt doch dahinter,« fragte Camusot.

» Irgend ein Verbrechen der Dienerschaft, denn Derville und Nüßingen bezeugen, daß Esther starb, ohne von der Erbschaft etwas zu wissen,« meinte der Generalstaatsanwalt.

»Leider hat Collin derartige Gewohnheiten,« warf Camusot ein, »denn sicher ist der Spanier jener ausgebrochene Sträfling: der wird die siebenhundertfünfzigtausend Franken wohl genommen haben.«

»Erwägen Sie alles gut, lieber Camusot, – und seien Sie recht vorsichtig. Der Abbé hat mit der Diplomatie zu tun, aber: ist er der Abbé Carlos Herrera? Oder ist er's nicht? Das ist die wichtigste Frage …«

Und Herr von Grandville empfahl sich wie ein Mann der keine Antwort erwartet.

»Will der etwa auch Lucien retten?« grübelte Camusot.

 

Eine Sträflingsfalle.

In der Vogtei begab sich Camusot zum Gefängnisdirektor und führte ihn außer Hörweite: »Lieber Herr, seien Sie doch so gut und lassen Sie im Zuchthaus anfragen, ob dort Sträflinge sind, die zwischen 1810-15 im Bagno von Toulon waren. Sehen Sie auch bei sich nach und lasten Sie die Betreffenden aus dem Zuchthaus für ein paar Tage herkommen, damit der angebliche spanische Priester als Jakob Collin entlarvt wird.«

»Schön, Herr Camusot. Übrigens ist Bibi-Lupin auch schon da. Er grinste vor Vergnügen, als er hörte, daß es sich um ›Betrüg den Tod‹ handelt. Er wartet auf Ihre Anordnungen …«

»Schicken Sie ihn zu mir!«

Nun konnte der Direktor die Bitte Collins, ihn gleich vorweg zu vernehmen, vortragen und seinen jämmerlichen Zustand schildern.

»Ich wollte ihn auch zuerst vernehmen,« versetzte der Beamte, »wenn auch nicht aus Rücksicht auf seine Gesundheit. Ich habe erfahren, daß er, der seit vierundzwanzig Stunden im Sterben zu liegen behauptet, heut nacht glänzend geschlafen hat und nicht einmal den Arzt kommen hörte. Offenbar ist sein Gewissen so gut wie seine Gesundheit. Ich werde seine Krankheit nur so weit beachten, als ich es brauche, um ihn zu beobachten,« fügte er lächelnd hinzu.

»Mit solchen Leuten lernt man immer Neues kennen,« meinte der Direktor.

Auf der Polizei und in dem Gerichte ermöglichen die unterirdischen Gänge schnellste Erledigung. So fand Camusot oben vor seinem Kabinett bereits Bibi-Lupin vor. Er mußte über diesen Eifer lächeln. Er bat ihn, Zeugen der letzten Verhaftung aufzutreiben, klingelte dann und ließ sich die Liste der erschienenen Zeugen bringen. Untersuchungsrichter müssen oft mehrere Sachen zugleich führen.

»Dann holen Sie den Abbé Herrera,« ordnete er an.

Und schnell unterschrieb er nach Bibi-Lupins Angabe zwei der gewaltigen Ladungen, die auch den unschuldigsten Zeugen in Angst jagen.

 

Jakob Collin im Gefängnis setzt die Leute in Bewegung.

Eben fühlte sich Collin nach halbstündiger tiefer Überlegung gewappnet. Nichts kennzeichnet besser die Gestalt aus dem Volk im Kampfe mit den Gesetzen als die wenigen Zeilen, die er auf das fettige Papier geschrieben hatte. Auf der einen stand in der vereinbarten Sprache:

 

»Geh zur Herzogin von Maufrigneuse oder zu Frau von Sérizy. Eine von beiden muß Lucien vor dem Verhör sehen, und ihm beiliegenden Zettel geben.

Treibe Europa und Pacard auf, sie müssen ihre Rolle spielen.

Bestelle Rastignac von dem Herrn aus der Oper, er muß bezeugen, daß Herrera dem damals bei der Vauquer verhafteten Collin nicht ähnlich sieht.

Ebenso Bianchon.

Laß ›Luciens beide Frauen‹ daraufhin arbeiten.«

 

Auf dem zweiten Blatt stand in gutem Französisch:

»Lucien, gib nichts von mir zu. Ich muß für dich der Abbé Herrera sein. Das ist deine Rechtfertigung. Etwas Haltung, dann hast du sieben Millionen und die Ehre gerettet.«

 

Die beiden Papiere legte er mit der Schriftseite aufeinander, als wäre es ein Stück, rollte sie nach Art erfahrener Sträflinge zu einer Art fettiger Kugel.

»Gehe ich als erster zur Untersuchung, dann sind wir gerettet. Kommt erst der Kleine heran, dann ist alles verloren,« sagte er, während er wartete.

Diese Wartezeit war so quälend, daß das Gesicht dieses starken Mannes sich mit Schweiß bedeckte. Auch das Verbrechen hat seine Genies. Hier, am Rande des Abgrunds, traf sich Collin mit der ehrgeizigen Frau Camusot und mit Frau von Sérizy, deren Liebe durch die Katastrophe neu erwacht war. So war menschliche Klugheit in höchster Kraftentfaltung gegen das eherne Gewaffen der Gerichtsbarkeit.

Als Collin das schwere Eisenwerk der Schlösser und Riegel kreischen hörte, nahm er wieder die Maske des Sterbenden an. Noch wußte er nicht, wie Asien den Weg zu ihm finden würde, aber er erwartete, sie unterwegs zu treffen, zumal nach dem Versprechen unter der Sankt-Johann-Arkade.

 

Asien an der Arbeit..

Nach ihrer geglückten Begegnung eilte Asien zum Rathausplatz, sprang in eine Droschke und jagte zum Trödlermarkt. Während eben die Gefangenen aufgenommen wurden, kleidete sie sich schon in einem dieser grauenhaften Läden um. Er gehörte einem alten Mädchen, die ›Romette‹ genannt wurde, eigentlich hieß sie Jérômette und war die Wucherin der Kleiderhändlerinnen, die ihnen in Notfällen zu hundert Prozent Geld lieh.

»Kindchen, du mußt mich herrichten,« sagte Asien. »Ich muß mindestens wie eine Baronin der Vorstadt Saint-Germain aussehen. Und etwas schnell, ich stehe in siedendem Öl. Welche Kleider mir passen, weißt du ja. Gib den Topf mit Rot her. Ein paar schicke Spitzen. Noch ein paar niedliche Kinkerlitzchen, Dingerchen, die recht in die Augen stechen …. Laß die Kleine eine Droschke holen und an der Haustür warten.«

»Gern,« sagte das alte Mädchen mit der Demut einer Dienerin vor ihrer Herrin. Wenn man das Bild mit ansah, merkte man, daß Asien hier zu Hause war.

»Mir wurden Diamanten angeboten …« begann Romette, während sie Asien das Haar machte.

»Gestohlene?! …«

»Ich glaube.«

»Dann laß' sie schießen, Kind, wenn auch das Geschäft gut ist, wir haben für einige Zeit ›Neugierige‹ zu fürchten.«

Man versteht danach, daß Asien schon eine Viertelstunde vor dem Richter mit einer Ladung im Vorsaal des Justizpalastes eintraf, sich durch die Gänge und Treppen führen ließ und nach Herrn Camusot fragte.

Sie sah sich nicht mehr ähnlich. Sie trug eine blonde Perücke und machte den Eindruck einer vornehmen Frau von vierzig Jahren, die ihren verlorenen Hund sucht. Ein Schleier deckte das Gesicht, ein Korsett schnürte die Köchinnenhüften, – schicke Handschuhe, ein Duft von feinstem Puder, ein goldenes Täschchen, das am Arme pendelte. Sie beguckte sich die Mauern und ihr entzückendes Hündchen. Offenbar war sie noch nie hier gewesen. Solche Witwen fallen den Herren Advokaten auf.

Auf diese müßigen Herren hatte Asien gezählt. Sie lächelte zu einigen aufgefangenen Späßchen in sich hinein, und schließlich gelang es ihr, einen jungen Anwalt, Massol, aufmerksam zu machen, der sich erfreut der vornehmen Dame zur Verfügung stellte. Mit piepsiger Stimme setzte sie ihm auseinander, daß sie durch einen Richter Camusot vorgeladen sei.

»Ach so, Sache Rubempré!« Der Prozeß hatte schon seinen Namen weg!

»Oh, es handelt sich nicht um mich, sondern um mein Zimmermädchen, eine gewisse Europa, die vierundzwanzig Stunden bei mir war und fortlief, als sie sah, daß diese Vorladung hier für sie kam.«

Und dann begann sie wie all die Frauen, deren Leben mit Geschwätz vergeht, einen großen Salm, erzählte von ihrem ersten Mann, konsultierte den Advokaten wegen ihres Schwiegersohns, der ihre Tochter unglücklich mache, und Massol bekam trotz aller Mühe immer nicht heraus, ob eigentlich sie oder die Zofe geladen war. Erst hatte er auf das Aktenstück geguckt, dessen Form ihm ja bekannt genug war, aber Asien ließ sich den Palast erklären, den sie genauer kannte als der Advokat, und endlich fragte sie, wann Herr Camusot käme. Massol bewunderte neidisch eine entzückende kleine Uhr, die sie hervorzog.

Eben waren sie zu dem dunklen Saal gelangt, der nach dem Vogteihof geht und in dem sich die Gerichtsdiener aufhalten. Sie guckte durchs Fenster: »Was sind das da für große Mauern?«

»Das ist die Vogtei.«

»Ach, die Vogtei, wo unsere arme Königin … oh, wie gern möchte ich ihr Gefängnis sehen! "

»Unmöglich, Frau Baronin,« erwiderte der Advokat und reichte ihr den Arm. »Dafür muß man die Erlaubnis haben, und das ist recht schwer.«

»Glauben Sie, daß mir Herr Camusot die Erlaubnis geben kann?«

»Das geht ihn nichts an, aber er kann Sie begleiten …«

»Und das Verhör?« fragte sie.

»Oh, die Angeklagten können warten.«

»Richtig, es sind ja Angeklagte!« versetzte sie ganz naiv. »Aber ich kenne ja Herrn von Granville, den Generalstaatsanwalt …«

Diese Bemerkung übte eine Zauberwirkung auf die Gerichtsdiener und den Anwalt aus.

»Ach, Sie kennen den Herrn Generalstaatsanwalt?« meinte Massol und erwog, sich den Namen dieser Zufallsklientin zu verschaffen.

»Ich sehe ihn oft bei seinem Freunde, dem Herrn von Sérizy. Frau von Sérizy ist durch die Ronquerolles mit mir verwandt …«

»Wenn die gnädige Frau in die Vogtei hinunter möchten …« bemerkte der Gerichtsdiener, »dann …«

»Ach ja,« sagte Massol. So ließen die Gerichtsdiener den Anwalt und die Baronin hinuntergehen, und bald kamen sie in das kleine Wachtlokal, wo die Treppe von der ›Mausefalle‹ mündet. Asien kannte dieses Loch recht gut. Es bildete so eine Art Beobachtungsposten, wo jeder hindurch muß.

»Fragen Sie doch die Herren, ob Herr Camusot schon da ist,« meinte sie und beobachtete die Schutzleute beim Kartenspiel.

»Ja, gnädige Frau, eben ist er in die ›Mausefalle‹ gegangen.«

»Die ›Mausefalle‹!« rief sie. »Was ist denn das? Ach wie dumm war ich, daß ich nicht einfach zum Grafen von Granville gegangen bin … Aber ich habe keine Zeit … Ach, führen Sie mich doch bitte zu Herrn Camusot, damit ich ihn vor seiner Tätigkeit sprechen kann.«

»Aber bitte, gnädige Frau, Sie haben Zeit genug, mit ihm zu reden,« meinte Massol. »Sie schicken einfach Ihre Karte hinein, dann brauchen Sie nicht mit den Zeugen im Vorzimmer zu warten … Hier bei Gericht weiß man auf Damen wie Sie Rücksicht zu nehmen.«

 

Wozu Massol und das Hündchen gut waren.

Eben standen Asien und der Anwalt vor dem Fenster, wo all die Tore der Vogtei zu übersehen sind. Die Schutzleute kennen die Vorrechte der Verteidiger von Witwen und Waisen und gestatteten eine Weile die Anwesenheit einer Baronin, die ein Anwalt begleitete. Asien ließ sich die schrecklichsten Geschichten erzählen, die so ein junger Anwalt von dem Portal weiß. Sie wollte nicht glauben, daß den zum Tode Verurteilten hinter jenen Gittern die Haare abgeschnitten wurden, aber der Gerichtsdiener bestätigte es.

»Ach, wie gern möchte ich das sehen!« rief sie. Sie schnabberte mit dem Wachtmeister und dem Advokaten, bis sie Collin, gestützt von zwei Schutzleuten und geführt von einem Gerichtsdiener, aus dem Tor kommen sah.

»Aha, da ist sicher der Gefängnisgeistliche auf dem Wege, irgendeinen Unglücklichen für den Tod vorzubereiten …«

»Nein, Frau Baronin,« versetzte der Schutzmann. »Das ist ein Untersuchungsgefangener. Er ist in der Giftmordangelegenheit verhaftet.«

»Ach, kann ich ihn nicht sehen …?«

»Nein, Sie können hier nicht bleiben, denn er sitzt in Einzelhaft und kommt hier durch. Bitte, gnädige Frau, hier diese Tür führt zur Treppe …«

»Ich danke schön, Herr Offizier,« sagte die Baronin und wandte sich zu der Tür, stürzte dann die Treppe hinab und schrie: »Aber wo bin ich denn?!«

Der Klang ihrer Stimme drang zu Collin, den sie derart darauf vorbereiten wollte, daß sie hier war. Der Schutzmann lief der Baronin nach, faßte sie um und trug sie wie eine Feder in den Kreis der fünf Schutzleute zurück, die wie ein Mann aufgesprungen waren. Denn auf der Wache ist man mißtrauisch. Das war Willkür, aber berechtigt. Selbst der Advokat hatte zweimal »Gnädige Frau!« gerufen, denn er fürchtete, sich bloßzustellen.

Fast bewußtlos machte der Abbé Herrera halt und setzte sich auf einen Stuhl im Wachtzimmer.

»Der arme Mensch!« sagte die Baronin. »Ist er schuldig?«

Sie hatte diese Worte dem jungen Anwalt ins Ohr geflüstert, aber alle hörten sie, denn hier herrschte Totenstille. Übrigens befand sich durch die Opferwilligkeit des Wachtmeisters, der die Baronin ›gepackt‹ hatte ein Zwischenraum zwischen dem Gefangenen und der Fremden, der recht beruhigend wirkte.

»Weiter,« sagte Collin und machte eine Anstrengung, um aufzustehen. In diesem Augenblick fiel eine kleine Kugel aus seinem Ärmel und die Stelle, wo sie halt machte, wurde von der Baronin genau beachtet, denn ihr Schleier hinderte ihre Blicke nicht. Die feuchte fette Kugel rollte nicht weit, Collin hatte den Erfolg genau berechnet. Sobald der Gefangene die Treppe hinaufgebracht war, ließ Asien ganz natürlich ihre Tasche fallen, hob sie gewandt auf und beim Bücken hatte sie die Kugel gefaßt, die durch ihre staubige Farbe nicht zu erkennen war. »Ach,« seufzte sie, »das hat mir ins Herz geschnitten! … Der Mann liegt ja im Sterben …«

»Oder er tut so,« erwiderte der Wachtmeister.

»Bitte, führen Sie mich gleich zu Herrn Camusot,« wandte sich Asien an den Anwalt. »Ich komme in dieser Sache … Vielleicht ist es ihm ganz recht, wenn er mich vor der Vernehmung dieses armen Abbé spricht.«

Der Anwalt und die Baronin verließen die Wachtstube, aber als sie oben an der Treppe angelangt waren, brach Asien in ein großes Jammergeschrei aus:

»Und wo ist mein Hund? … Ach, mein armer Hund!«

Und wie von Sinnen stürzte sie in das Advokatenzimmer, fragte alle nach dem Hunde, kam zur Händlergalerie, rannte mit dem Ruf: »Da ist er ja!« die Treppe hinunter und kam so auf den Hof, wo sie sofort in eine der Droschken sprang, die am Goldschmidtkai halten. Die Rolle war ausgespielt, sie verschwand mit Europas Vorladung, deren wahrer Name der Polizei und dem Gericht gar nicht bekannt war.

 

Asien ein Herz mit der Herzogin.

Asien konnte auf die Verschwiegenheit einer Kleiderhändlerin zählen, die Frau Päppelkind hieß und auch als Frau von Saint-Estève bekannt war. Ihr entlieh sie nicht nur die Individualität, sondern auch den Laden, wo sie einst mit Nüßingen wegen Esther gehandelt hatte. Dort war sie wie zu Hause, hatte auch ein Zimmer zur Verfügung, und deshalb fuhr sie hier hin, zahlte die Droschke und eilte in ihr Zimmer mit einem flüchtigen Gruß für Frau Päppelkind, der besagte, daß sie auch für ein paar Worte keine Zeit habe.

Nun sie allen Späherblicken entrückt war, entfaltete sie sorglich wie ein Gelehrter beim Entrollen von Palimpsesten das Papier. Sie las die Anordnung und hielt es für angebracht, die Zeilen für Lucien auf Briefpapier zu übertragen. Dann ließ sie einen Wagen holen und besorgte sich derweile die Adresse der Herzogin von Maufrigneuse und von Frau von Sérizy. Zwei Stunden hatte es gedauert, bis alles erledigt war. Die Herzogin ließ Frau von Saint-Estève eine Stunde lang warten, obgleich ihr die Kammerfrau eine Karte überbracht hatte, auf die Asien geschrieben hatte: »Kommt in eiliger Sache wegen Lucien.«

Beim ersten Blick auf das Gesicht der Herzogin erkannte sie, daß ihr Besuch recht unzeitig kam. Sie entschuldigte sich, die ›Ruhe‹ der Frau Herzogin nur im Hinblick auf die Gefahr gestört zu haben, in der Lucien schwebe.

»Wer sind Sie?« fragte die Herzogin ohne umständliche Höflichkeit, und faßte sie scharf ins Auge, denn Asien konnte vielleicht auf dem Gericht einem Herrn Massol als Baronin gelten, aber in diesem Salon wirkte sie wie ein Schmierfleck auf einem weißen Seidenkleid.

»Eine Kleiderhändlerin, Frau Herzogin, denn in solchen Lagen wendet man sich an Frauen, die von Berufs wegen verschwiegen sind. Gott weiß, wieviel große Damen mir ihren Schmuck monatelang anvertraut haben und einen unechten verlangten, der genau so aussah.«

»Haben Sie sonst noch einen Namen?« fragte die Herzogin, die durch diese Antwort an etwas denken mußte und deshalb lächelte.

»Ja, Frau Herzogin. Bei großen Gelegenheiten bin ich Frau von Saint-Estève, in Geschäften heiße ich Frau Päppelkind.«

»Schön, schön …« versetzte die Herzogin lebhaft und in ganz anderem Ton. – »Also jetzt zu Lucien.«

»Wenn die Frau Herzogin ihn retten will, muß sie den Mut haben, beim Ankleiden keine Zeit zu verlieren. Übrigens könnte die Frau Herzogin gar nicht schöner sein, als sie eben ist. Ehrenwort: zum Anbeißen! Außerdem lassen Sie bitte nicht anspannen, sondern steigen Sie mit mir in eine Droschke … Wir müssen zu Frau von Sérizy, wenn Sie ein Unglück verhüten wollen, das noch ärger wäre als der Tod dieses Engels …«

»Voran, ich komme nach,« sagte die Herzogin nach einem Augenblick des Zögerns. »Wir beide müssen Leontine Mut machen …«

 

Ein schöner Schmerz.

Trotz der wahrhaft höllischen Regsamkeit dieser Dorine des Bagnos war es zwei Uhr geworden, bis sie mit der Herzogin bei Frau von Sérizy anlangte. Beide wurden sofort hineingelassen. Sie fanden die Gräfin auf einem Divan in einem wahren Puppenhäuschen inmitten eines Gartens, der von seltensten Blumen durchduftet war.

»Schön,« meinte Asien, die sich umguckte, »hier kann man uns nicht hören.«

»Ach, Liebste, ich sterbe! Sag' doch, Diana, was hast du gemacht?« rief die Gräfin, die wie ein Reh aufsprang, die Herzogin bei den Schultern packte und in Tränen zerfloß.

»Vorwärts, Leontine,« sagte die Herzogin und drückte sie neben sich auf das Sofa, »es gibt Augenblicke, wo Frauen wie wir nicht weinen dürfen, sondern handeln müssen.«

Asien studierte die Gräfin mit der Gerissenheit einer ausgekochten Alten und der Geschwindigkeit eines abtastenden Chirurgen. Sie erkannte die Spuren des bei solchen Gesellschaftsdamen seltensten Gefühles: des wahren Schmerzes … des Schmerzes, der unverlöschliche Runen in Herz und Gesicht eingräbt. Da war keinerlei Gefallsucht zu merken: das zerknitterte Hauskleid der fünfundvierzigjährigen Gräfin enthüllte ihre Gestalt ohne jede Aufmachung … Die umränderten Augen, die marmorierten Wangen verrieten die bitteren

Tränen, das seit vierundzwanzig Stunden ungemachte Haar machte sich unter einem Spitzenhäubchen mit einer kurzen mageren Flechte und jämmerlichen Strähnen bemerkbar. Leontine hatte die falschen Zöpfe vergessen anzulegen.

Ilustration: Lutz Ehrenberger

»Sie lieben zum erstenmal im Leben …« sagte Asien anzüglich. Leontine bemerkte sie nun erst und machte eine entsetzte Bewegung.

»Wer ist das, teure Diana?« fragte sie die Herzogin.

»Was soll ich dir anderes bringen, als eine Frau, die Lucien ergeben ist und uns dienen will?«

Asien hatte die Wahrheit erraten: die Gräfin war wahnsinnig in Lucien verliebt. Sie hatte zum erstenmal geliebt! Die Herzogin von Maufrigneuse war die einzige Vertraute dieser furchtbaren Leidenschaft, deren Glück von kindlichsten Gefühlen erster Liebe bis zu den riesenhaftesten Narrheiten der Wollust Leontine toll und unersättlich machte.

Man weiß, daß wahre Liebe mitleidlos ist. Auf die erste Entdeckung, daß da auch eine Esther war, folgte ein jäher Bruch, wie bei solchen Frauen, deren Raserei bis zum Morden ausarten kann. Weiter war die Zeit der Feigheiten gefolgt, denen sich ernsthafte Liebe mit soviel Wonne hingibt. Seit einem Monate hätte die Gräfin gern zehn Jahre ihres Lebens gegeben, um Lucien acht Tage wiedersehen zu können. Schließlich war sie dahin gelangt, sogar Esther als Nebenbuhlerin zu dulden, als mitten in diese überströmende Zärtlichkeit hinein gleich einer Posaune des jüngsten Gerichtes die Nachricht von des Geliebten Verhaftung hineinklang. Fast wäre die Gräfin gestorben, und ihr Mann hatte selbst die Wache und Pflege übernommen, weil er Geständnisse ihrer Fieberphantasien fürchtete. Seit vierundzwanzig Stunden lebte sie mit einem Dolch im Herzen. In ihrem Fieberwahn sagte sie immer wieder zu ihrem Manne: »Befreie Lucien, dann will ich nur noch für dich leben!« –

»Wenn Sie ihn retten wollen, ist keine Minute zu verlieren!« rief die schreckliche Asien und schüttelte den Arm der Gräfin. »Ich kann schwören, daß er schuldlos ist!« –

»O ja, … nicht wahr?« … rief die Gräfin, und sah das abstoßende Weib voll Güte an.

»Gewiß, aber wenn Camusot ihn ›falsch verhört‹, dann kann dieser schuldlose Junge sich mit zwei Worten zum Schuldigen stempeln. Besitzen Sie die Macht, sich die Vogtei öffnen zu lassen und mit ihm zu reden, dann fahren Sie sofort hin und überbringen Sie ihm dies Papier … Ich verbürge mich: morgen ist er frei … Holen Sie ihn dort heraus, denn Sie haben ihn dort hineingebracht.«

»Ich?«

»Ja, Sie! Ihr großen Damen habt nie einen Heller, auch wenn Ihr Millionärinnen seid. Als ich mir den Luxus leistete, junge Liebste zu haben, da klimperten den Bürschchen die Taschen von Gold. Mir machte ihr Vergnügen Spaß. Es ist ja so schön, zugleich Mutter und Geliebte zu sein! Aber ihr laßt Leute, die ihr liebt, vor Hunger krepieren, ohne euch um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Esther, ja, die machte keine Redensarten: sie gab die Million, die Ihr Lucien brauchte, und dadurch kam er in diese Lage, in der er jetzt ist.«

»Ach, das arme Ding! Das hat sie getan? Ich liebe sie …« sagte Leontine.

»Ja, jetzt natürlich …« meinte Asien mit eisigem Spott.

»Sie war recht schön, aber jetzt, Engelchen, bist du schöner … und Luciens Ehe mit Clotilde ist so abgebrochen, daß sie nicht wieder zu flicken geht,« flüsterte die Herzogin Leontinen zu.

Die Wirkung dieser Betrachtung raubte der Gräfin allen Schmerz. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, sie wurde jung.

»Vorwärts, Kleine, Schwung!« rief Asien, die diese Verwandlung sah und die Triebfeder ahnte.

»Vor allem muß es verhindert werden, daß Camusot Lucien verhört,« sagte die Herzogin. »Dazu muß man ihm bloß zwei Worte schreiben, die dein Kammerdiener aufs Gericht bringt, Leontine.«

»Also kommt in mein Zimmer,« sagte Frau von Sérizy.

Während aber Luciens Beschützerinnen den Vorschriften Jakob Collins gehorchten, trug sich auf dem Gericht folgendes zu.


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