Honoré de Balzac
Die Kleinbürger
Honoré de Balzac

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In diesem Augenblick wurde die Tür des Zimmers vorsichtig geöffnet; der Kopf einer Frau erschien und eine Stimme, die la Peyrade sofort erkannte, sagte zu dem Sekretär:

»Oh, Verzeihung! Der Herr ist beschäftigt. Könnte ich mit dem Herrn ein Wort sprechen, wenn er frei ist?«

Cérizet, dessen Blick ebenso schnell war wie seine Hand, beobachtete nun folgendes: La Peyrade, der so saß, daß er von der Neuangekommenen gesehen werden konnte, hatte sich, sobald er die süßliche, schleppende Stimme vernommen hatte, schnell so umgedreht, daß er ihr sein Gesicht verbarg. Statt nun barsch abgewiesen zu werden, wie es den meisten Bittstellern geschah, die sich an den brummigsten und unfreundlichsten aller Sekretäre wandten, hörte die zurückhaltende Besucherin ihn ausrufen:

»Kommen Sie doch herein, Frau Lambert, Sie würden sonst zu lange warten müssen.«

Und als sie sich nun la Peyrade gegenüber sah, rief seine Gläubigerin, die der Leser wiedererkannt haben wird, aus:

»Ach, der Herr Armenadvokat! Wie glücklich bin ich, daß ich den Herrn treffe! Ich bin mehrmals bei Ihnen gewesen und wollte fragen, ob Sie schon Zeit gefunden haben, sich mit meiner kleinen Sache zu beschäftigen.«

»Es ist richtig,« sagte la Peyrade, »ich hatte seit einiger Zeit zahlreiche Abhaltungen, die mich von meinem Arbeitszimmer fernhielten; aber die Sache ist in Ordnung und dem Sekretariat unterbreitet worden.«

»Ach, der Herr ist so gütig!« sagte die Frömmlerin mit gefalteten Händen.

»So, du hast Geschäfte mit Frau Lambert?« sagte Cérizet; »davon hast du mir ja nichts gesagt. Bist du der Berater des alten Picot?«

»Leider nicht,« sagte die Frau, »mein Herr hat ja von niemandem Rat annehmen wollen; das ist ein so eigensinniger und eigenwilliger Mann! Aber, werter Herr, ist es denn wahr, daß noch ein Familienrat stattfinden soll?«

»Gewiß,« antwortete Cérizet, »und zwar schon morgen.«

»Aber, lieber Herr, wenn doch die Herren vom Obergericht erklärt haben, daß die Familie unrecht hat!?«

»Ja, gewiß,« entgegnete der Sekretär, »das Gericht erster Instanz und dann das Obergericht, das die Verwandten angerufen hatten, haben die Klage auf Entmündigung abgewiesen.«

»Das habe ich ja auch erwartet!« sagte die Scheinheilige; »einen Mann für verrückt erklären wollen, der seine Geisteskräfte so vollständig beisammen hat!«

»Aber die Verwandten lassen nicht locker; sie haben die Sache in anderer Weise wieder aufgenommen und verlangen jetzt die Einsetzung eines Schiedsgerichtes: deshalb tritt morgen der Familienrat zusammen, und diesmal, meine liebe Frau Lambert, glaube ich, kann es sehr leicht geschehen, daß der alte Picot an die Strippe gelegt wird. Es handelt sich um sehr schwerwiegende einzelne Tatsachen; etwas beiseite bringen, das ist ja nicht schlimm; aber einen gleich bis aufs Hemd ausziehen!«

»Aber, wie kann der Herr bloß so was glauben!« sagte die Frömmlerin und hob die gefalteten Hände mit einer Armbewegung bis zum Kinn empor.

»Ich glaube gar nichts,« sagte Cérizet, »ich bin ja nicht Richter in der Sache; aber die Verwandten behaupten, daß Sie erhebliche Summe veruntreut haben und daß Sie damit Anlagen gemacht haben, worüber sie eine Untersuchung beantragen.«

»Mein Gott,« sagte die Frau, »sie können sich ja überzeugen; ich besitze doch nicht einen Rentenbrief, nicht eine Aktie, nicht einen Wechsel, nicht die geringste Wertsache.«

»Oh,« sagte Cérizet und warf la Peyrade einen Seitenblick zu, »es gibt doch gefällige Freunde, die einen Unterschlupf gewähren . . . Übrigens geht mich das ja nichts an, jeder muß vor seiner Tür kehren; was wollten Sie mir denn zur Sache sagen?«

»Ich wollte Sie inständig bitten, Sie, lieber Herr, und den Herrn Gerichtsvollzieher, daß Sie beide zu unsern Gunsten mit dem Herrn Friedensrichter sprechen möchten; auch der Herr Vikar von Saint-Jacques muß uns ja empfehlen . . . Ach, der arme Mann,« fuhr sie weinend fort, »wenn man ihn weiter so quält, wird er ja den Tod davon haben.«

»Der Herr Friedensrichter,« sagte Cérizet, »das kann ich Ihnen nicht verhehlen, ist schlecht auf Sie zu sprechen; Sie haben ja gesehen, daß er Sie neulich nicht empfangen wollte. Was den Herrn Gerichtsvollzieher und mich anlangt, so vermögen wir ja nicht viel auszurichten, und außerdem, meine Gute, sind Sie auch, verstehen Sie, zu zugeknöpft.«

»Der Herr hat mich ja gefragt, ob ich nicht einige kleine Ersparnisse besitze; ich kann doch nicht sagen, daß ich welche habe, wo doch gerade im Gegenteil alles für die Wirtschaft des armen Herrn Pi-i-cot draufgegangen ist, den ich, wie sie mich anklagen, noch bestoh-oh-ohlen haben soll!«

Frau Lambert hatte angefangen zu schluchzen.

»Meiner Meinung nach«, sagte Cérizet, »stellen Sie sich ärmer, als Sie sind, und wenn Freund la Peyrade, der Ihr volles Vertrauen zu genießen scheint, durch das strenge Berufsgeheimnis nicht der Mund geschlossen wäre . . .«

»Ich?« erklärte la Peyrade lebhaft, »ich weiß nichts von Frau Lamberts Geschäften; sie hat mich nur gebeten, ihr eine Bittschrift aufzusetzen in einer Angelegenheit, die weder mit Gerichts-, noch mit Geldsachen etwas zu tun hat.«

»So,« sagte Cérizet, »also wegen dieser Bittschrift ist sie an dem Tage, wo ihr Dutocq begegnete, bei dir gewesen; du weißt, am Tage nach unserm berühmten Diner im ›Rocher de Cancale‹, wo du dich so als Römer aufgespielt hast.«

Dann fügte er hinzu, ohne weiter ein Gewicht auf diese Erinnerung zu legen:

»Also, meine gute Frau Lambert, ich werde dem Chef sagen, daß er mit dem Herrn Friedensrichter reden möchte, und wenn es sich machen läßt, werde ich selbst mit ihm sprechen; aber ich wiederhole Ihnen, daß er gegen Sie voreingenommen ist.«

Frau Lambert zog sich mit vielen Verbeugungen und Dankbarkeitsbezeugungen zurück.

Als sie fort war, sagte la Peyrade:

»Du scheinst mir nicht zu glauben, daß die Frau nur wegen der Abfassung einer Bittschrift zu mir gekommen ist, und doch ist das die reine Wahrheit; sie gilt in ihrer Straße als eine Heilige, und der Alte, den sie, wie man sie beschuldigt, ausgeplündert hat, wird nach den Erkundigungen, die ich eingezogen habe, nur durch ihre Aufopferung erhalten; aus diesem Grunde hat man der guten Frau in den Kopf gesetzt, daß sie Anspruch auf den Montyonpreis habe, und sie hat mich gebeten, ihr Anrecht auf diese Belohnung zu beweisen und darzulegen.«

»Sieh mal an, den Montyonpreis!« rief Cérizet, »das ist eine Idee, der wir mit Unrecht nicht nachgegangen sind. Vor allem ich, der ich ja der Bankier der Armen bin, wie du ihr Advokat bist. Was deine Klientin anlangt, so kann sie froh sein, daß die Verwandten des alten Picot nicht Mitglieder der französischen Akademie sind, sonst würden sie über ihre Bewerbung um den Tugendpreis von der Sittenpolizei vor der sechsten Kammer entscheiden lassen . . . Um aber auf unsere Angelegenheit zurückzukommen, so sagte ich dir doch, daß du nach all deinen Winkelzügen gut tun würdest, ein Ende zu machen, und ich lege dir, ebenso wie die Gräfin, dringend nahe, du Portail aufzusuchen.«

»Aber was ist denn das für ein Mann?« fragte la Peyrade.

»Ein kleiner Alter, fein wie Seide,« antwortete Cérizet, »der aber auf mich den Eindruck macht, als habe er eine Macht wie ein Teufel. Geh nur mal hin! Ansehen kostet ja nichts, wie man sagt.«

»Ja,« sagte la Peyrade, »es ist möglich, daß ich hingehe, aber vorher wünsche ich, daß du dich informierst, wie es sich mit dieser Gräfin von Godollo verhält.«

»Aber was geht dich denn die Gräfin an? Die spielt ja bei der Sache nur eine Statistenrolle.«

»Nun, ich habe meine Gründe dafür«, bemerkte der Advokat. »In zwei bis drei Tagen mußt du wissen, was du von ihr zu halten hast, ich komme dann wieder zu dir.«

»Weißt du, mein Bester,« sagte Cérizet, »du kommst mir vor, wie einer, der sich vor der Tür mit Kleinigkeiten aufhält. Sollten wir vielleicht in die Kupplerin verliebt sein?«

›Die Pest über den Kerl!‹ dachte der Advokat bei sich; ›alles bekommt er heraus, nichts kann man vor ihm verbergen.‹ – »Nein,« fuhr er laut fort, »ich bin nicht verliebt, im Gegenteil, ich sehe mich vor. Ich muß dir gestehen, daß ich an diese Heirat mit der Verrückten nur sehr gezwungen herangehe, und bevor ich mich darauf einlasse, will ich ein wenig Bescheid wissen, auf welches Terrain ich mich begebe. Die hinterlistige Art und Weise, mit der man dabei vorgeht, ist nicht gerade sehr beruhigend für mich, und da man in so vielfacher Manier auf mich einwirkt, gehört es sich, daß ich den einen durch den andern kontrollieren lasse. Also versuche nicht, mich zu beschwindeln, und bring mir über die Frau Gräfin von Godollo keine Auskünfte, die du dir aus den Fingern gesogen hast und die so wie ein Signalement im Passe lauten: rundes Kinn, ovales Gesicht; was man allgemeine Redensarten nennt. Ich mache dich darauf aufmerksam, daß ich in der Lage bin, die Zuverlässigkeit deines Berichts nachzuprüfen, und wenn du mich betrügen willst, so breche ich glatt mit deinem du Portail.«

»Wie könnte ich Sie betrügen wollen, mein hoher Herr!« antwortete Cérizet und ahmte Frédérick Lemaîtres Stimme und Sprechweise nach, »wer würde es wagen, sich an Ihnen zu reiben? . . .«

Als er diesen etwas spöttischen Satz aussprach, erschien Dutocq, der mit seinem kleinen Schreiber zurückkam. Er hatte außerhalb ein Protokoll aufgenommen.

»Sieh mal an!« sagte der Gerichtsvollzieher, als er la Peyrade und Cérizet beisammen erblickte, »da ist ja die ›Trinität‹ wieder hergestellt; aber der Anlaß zu der Allianz, der casus foederis, ist davongeschwommen. Was haben Sie dieser guten Brigitte denn getan, mein lieber la Peyrade? Sie möchte Sie am liebsten umbringen.«

»Und Thuillier?« fragte der Advokat.

Die Szene aus Molière spielte sich im umgekehrten Sinne ab, Tartüffe erkundigte sich nach Orgon.

»Thuillier war Ihnen anfangs nicht so feindlich gesinnt; aber es scheint, daß die Sache mit der Beschlagnahme eine günstige Wendung nimmt. Und da er Sie nun weniger nötig hat, läßt er sich mehr auf die Seite seiner Schwester ziehen, und ich zweifle nicht, daß im weiteren Verlaufe, wenn in einigen Tagen das Ministerium erklärt, daß die Verfolgung einzustellen ist, Sie auch für ihn ein Mann sein werden, der gehenkt zu werden verdiente.«

»Jedenfalls bin ich aus der Geschichte heraus,« sagte la Peyrade, »und so etwas wird mir nicht zum zweiten Mal passieren! . . . Adieu, meine Lieben. Und du, Cérizet, in bezug auf das, was ich dir gesagt habe: Eifer, Zuverlässigkeit und Diskretion!«

Als la Peyrade sich auf dem Hofe des Amtsgebäudes befand, wurde er von Frau Lambert angesprochen, die auf ihn gewartet hatte.

»Der Herr«, sagte die Frömmlerin zerknirscht, »wird doch gewiß nichts von all den häßlichen Sachen glauben, die Herr Cérizet gesagt hat, und der Herr weiß doch genau, daß ich Geld nur aus der Erbschaft meines Onkels aus England habe?«

»Gewiß,« sagte la Peyrade, »aber Sie werden begreifen, daß bei all den Gerüchten, die die Verwandten Ihres Herrn über Sie verbreiten, der Tugendpreis bedenklich in Frage gestellt ist.«

»Wenn es Gottes Wille nicht ist, daß ich ihn bekomme . . .«

»Sie müssen auch einsehen, wie wichtig es für Sie ist, den Dienst, den ich Ihnen geleistet habe, geheim zu halten. Bei der geringsten Spur einer Indiskretion würde Ihnen, wie ich gesagt habe, die Summe unweigerlich zurückgegeben werden.«

»Oh, der Herr kann ganz beruhigt sein!«

»Also dann adieu, meine Gute,« sagte la Peyrade im Beschützertone.

Als er sich von ihr trennte, rief eine näselnde Stimme aus dem Treppenfenster:

»Frau Lambert?«

Es war Cérizet, der sich gedacht hatte, daß die beiden miteinander reden würden, und der sich davon überzeugen wollte.

»Frau Lambert,« wiederholte er, »der Herr Gerichtsvollzieher ist zurück, wenn Sie ihn sprechen wollen? . . .«

Es war la Peyrade unmöglich, diese Besprechung zu verhindern, bei der, wie ihm klar war, das Geheimnis seiner Anleihe in die größte Gefahr geraten konnte.

»Ich habe entschieden kein Glück«, sagte er sich, als er wegging. »Ich weiß nicht, wie das noch enden wird.«

Brigitte besaß eine so ausgesprochene Herrschsucht, daß sie ohne Bedauern und, man kann sagen, mit einer gewissen heimlichen Freude das Verschwinden der Frau von Godollo mit ansah.

Sie empfand, daß diese Frau eine bedrückende Überlegenheit besaß, die, wenn auch ihr Haus vortrefflich in Ordnung gebracht war, ihr Unbehagen verursachte; und als die Trennung erfolgte, die sich übrigens in bester Form und unter einem annehmbaren triftigen Vorwand vollzog, atmete »Miß« Thuillier auf. Sie machte es wie die Könige, die lange Zeit hindurch von einem herrschsüchtigen und schwer zu entbehrenden Minister beherrscht werden und den Tag segnen, wo der Tod sie von einem Herrn befreit, dessen Dienste und rivalisierenden Einfluß sie nur ungeduldig ertragen haben.

Auch Thuillier war nahe daran, la Peyrade gegenüber ähnlich zu empfinden. Aber bei Frau von Godollo handelte es sich nur um die äußere Vornehmheit, während bei dem Advokaten die Nützlichkeit für das Haus, das die beiden fast gleichzeitig verlassen hatten, in Frage kam; und schon nach wenigen Tagen machte sich, um in der Sprache der Prospekte zu reden, ein zwingendes Bedürfnis nach dem Provenzalen in politischer und literarischer Beziehung bei »Freundchen« fühlbar.

Der Munizipalrat war plötzlich mit einem wichtigen Bericht betraut worden. Er hatte diesen Auftrag nicht ablehnen können, den ihm sein Ruf als literarisch gebildeter Mann und als gewandter Schriftsteller infolge der Publikation seiner Broschüre eingetragen hatte; und nun ließ ihn die gefährliche Ehrung, die ihm seine Kollegen im Generalrat erwiesen hatten, entsetzt seine Vereinsamung und Unzulänglichkeit empfinden.

Es half ihm nichts, daß er sich in sein Arbeitszimmer einschloß, unzählige Tassen schwarzen Kaffee trank, seine Federn schnitt, zwanzigmal auf das Papier, das er genau in der Größe, wie er es bei la Peyrade gesehen hatte, zurecht schnitt, die Überschrift: »Bericht an die Herren Mitglieder des Munizipalrats der Stadt Paris«, und darunter ein herrliches »Meine Herren« setzte, daß er wütend sein Arbeitszimmer verließ und sich über den fürchterlichen Lärm beklagte, der ihm den »Faden seiner Gedanken zerriß«, wenn im Hause nur eine Tür geschlossen, ein Schrank geöffnet oder ein Stuhl gerückt wurde, – alles dies bewirkte nicht, daß die Arbeit fortschritt oder daß sie auch nur begonnen wurde.

Glücklicherweise traf es sich, daß Rabourdin etwas in der Verteilung seiner Zimmer ändern wollte und wie gerufen erschien, um seine Wünsche dem Hauseigentümer zu unterbreiten. Thuillier bewilligte auf das Entgegenkommendste alles, was verlangt wurde, sprach dann mit seinem Mieter über den Bericht, mit dem er beauftragt war, und sagte, er würde glücklich sein, dessen Ansichten über diese Materie kennenzulernen.

Rabourdin, dem keine die Verwaltung betreffende Frage fremd war, beeilte sich, über das Thema, das ihm unterbreitet wurde, eine große Anzahl klarer, treffender Bemerkungen zu machen. Er gehörte zu den Menschen, denen es gleichgültig ist, wie die geistige Beschaffenheit der Leute, vor denen sie sprechen, sein mag: der Dumme wie der geistvolle Mann dient ihnen, wenn er ihnen zuhört, nur dazu, laut zu denken, und regt sie in fast gleicher Weise an. Als er zu Ende war, hatte Rabourdin wohl gemerkt, daß Thuillier ihn nicht verstanden hatte, aber er empfand doch das Vergnügen, daß man ihm zugehört hatte; zudem war er dankbar für die, wenn auch stumpfsinnige Aufmerksamkeit seines Zuhörers und für die Bereitwilligkeit seines Hauswirts, seine Wünsche zu erfüllen.

»Übrigens«, sagte er beim Fortgehen, »muß ich unter meinen Papieren noch etwas über das Thema, das Sie beschäftigt, haben; ich werde nachsehen und es Ihnen schicken.«

Und in der Tat ließ er noch an demselben Abend Thuillier ein umfangreiches Manuskript zustellen. Dieser verbrachte die Nacht damit, in der kostbaren Gedankensammlung zu schöpfen, und entnahm daraus noch mehr, als für eine bemerkenswerte Arbeit nötig war, selbst wenn er von seinem Raube einen etwas ungeschickten Gebrauch machte.

Am übernächsten Tage in der Sitzung vorgelesen, errang der Bericht den wärmsten Beifall, und Thuillier kehrte strahlend über die Glückwünsche, die ihm gespendet worden waren, heim. Von diesem Zeitpunkt an, der einen Markstein in seinem Leben bezeichnete, denn in hohem Alter erzählte er noch von dem »Bericht, den er die Ehre gehabt hatte, dem Generalrat des Seinebezirkes vorzulegen«, sank la Peyrade beträchtlich in seiner Achtung; er glaubte jetzt, den Provenzalen recht gut entbehren zu können, und in diesem Gedanken an seine Emanzipation wurde er noch durch einen andern glücklichen Umstand bestärkt, der ihm fast zur selben Zeit begegnete.

Eine Parlamentskrise bereitete sich vor: das Ministerium, das seinen Gegnern ein Angriffsobjekt, das die öffentliche Meinung stets stark beeinflußte, aus den Händen nehmen wollte, glaubte, die scharfen Maßregeln, die es seit einiger Zeit gegen die Presse angewendet hatte, mildern zu sollen. In diese Art heuchlerischer Amnestie mit einbegriffen, erhielt Thuillier eines Morgens von seinem Advokaten, den er sich an la Peyrades Stelle genommen hatte, ein Schreiben. Darin wurde ihm mitgeteilt, daß die Regierung die Anklage zurückgenommen und die Aufhebung der Beschlagnahme angeordnet habe.

So erfüllte sich also, was Dutocq vorausgesehen hatte. Thuillier, von diesem Gewicht auf der Brust befreit, wurde durch die Niederschlagung der Sache unverschämt, und indem er mit Brigitte in dasselbe Horn stieß, sprach er von la Peyrade wie von einer Art Intriganten, den er ernährt hätte, der ihm beträchtliche Summen »entzogen«, sich dann höchst undankbar gezeigt und zu dem er glücklicherweise keine Beziehungen mehr unterhielte. Orgon war in voller Empörung und hätte beinahe, wie Dorine ausgerufen:

»Ein Bettler, der zuerst halb barfuß zu uns kam,
Noch nicht zehn Heller wert sein ganzer Lumpenkram.«

Cérizet, dem alle diese Gemeinheiten von Dutocq berichtet wurden, hätte nicht verfehlt, sie brühwarm la Peyrade zu hinterbringen; aber das Zusammentreffen, bei dem der Sekretär die über Frau von Godollo eingezogenen Erkundigungen überbringen sollte, fand zu der dafür festgesetzten Zeit nicht statt. La Peyrade verschaffte sich selbst Aufklärung.

Fortwährend von dem Gedanken an die schöne Ungarin verfolgt, und indem er auf das Resultat von Cérizets Nachforschungen wartete oder vielmehr nicht wartete, durchstrich er Paris nach jeder Richtung hin und ließ sich wie ein beschäftigungsloser Bummler an allen am meisten besuchten Orten blicken; sein Herz sagte ihm, daß er früher oder später den Gegenstand seines heißen Begehrens treffen würde.

Eines Abends, gegen Mitte Oktober, an einem herrlichen Herbsttage, wie er in Paris nicht selten ist, war auf den Boulevards, auf denen der Provenzale seine Liebe und seine Melancholie spazieren führte, ein Leben und Treiben im Freien, als ob man mitten im Sommer wäre.

Als er auf dem Boulevard des Italiens, der früher Boulevard de Gand hieß, vor dem Café de Paris an der Stuhlreihe entlang ging, auf der, neben verschiedenen Frauen aus der Chaussee d'Antin in Begleitung ihrer Kinder und Ehemänner, sich ein Spalier von nächtlichen Schönheiten entfaltet, die nur darauf warten, daß eine behandschuhte männliche Hand sie pflücke, empfand la Peyrade plötzlich einen furchtbaren Stich im Herzen: er glaubte von weitem seine angebetete Gräfin zu erblicken.

Sie war allein, in kostbarer Toilette, die der Ort und ihr Alleinsein nicht zu rechtfertigen schienen; vor ihr auf einem Stuhl wedelte ein weißes Bologneserhündchen, das sie mit ihren schönen Händen liebkoste.

Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich nicht täusche, stürzte der Advokat auf die himmlische Vision zu, als ihm ein »Gesellschaftslöwe« von der sieggewöhntesten Sorte zuvorkam; ohne seine Zigarre wegzuwerfen und ohne selbst seinen Hut mit der Hand zu berühren, begann der schöne junge Mann ein Gespräch mit seinem Ideal. Als sie den Provenzalen bemerkte, der mit bleichem Gesicht im Begriff stand, sie anzusprechen, bekam die Sirene offenbar Angst, denn sie erhob sich, nahm hastig den Arm des Mannes, der mit ihr plauderte und sagte zu ihm:

»Haben Sie Ihren Wagen da, Emil? Mabille wird heute abend geschlossen; ich hätte Lust hinzufahren.«

Der Name dieses anrüchigen Lokals, der so vor dem unglücklichen Advokaten hingeworfen war, bedeutete für ihn jedenfalls eine Wohltat, denn er verhinderte ihn an einem törichten Schritte, nämlich dem, die unwürdige Person am Arme eines Mannes, der plötzlich zu ihrem Ritter bestellt worden war, anzureden, an die er noch wenige Augenblicke zuvor mit heißester Zärtlichkeit gedacht hatte.

›Sie ist nicht wert, insultiert zu werden!‹ sagte er sich.

Aber weil die Verliebten Leute sind, die sich schwer von ihrer einmal gefaßten Ansicht abbringen lassen, hielt sich der Provenzale noch nicht für vollkommen überzeugt.

Nicht weit von dem Platze, den die Ungarin eben verlassen hatte, saß eine andere Dame, ebenfalls allein, aber in reifem Alter, mit Federn aufgeputzt, die unter einem durch langen Gebrauch verblaßten Kaschmirschal die trübseligen Reste einer verflossenen Eleganz und eines schäbigen, unmodern gewordenen Luxus verbarg.

Im ganzen gewährte sie keinen eindrucksvollen und Respekt einflößenden Anblick; im Gegenteil.

La Peyrade nahm nun neben der Matrone Platz, richtete das Wort an sie und fragte:

»Kennen Sie die Dame, die hier eben am Arm eines Herrn weggegangen ist?«

»Gewiß, mein Herr. Ich kenne fast alle Damen, die hierher kommen.«

»Wie heißt sie denn?«

»Frau Komorn.«

»Ist sie ebenso uneinnehmbar wie die Festung, deren Namen sie trägt?« fuhr er fort.

Man erinnert sich, daß zur Zeit der ungarischen Revolution bei den Erzählern und in der Presse bis zum Überdruß von der berühmten Zitadelle von Komorn die Rede war, und la Peyrade wußte wohl, daß ein anscheinend harmloses und unbefangenes Ausfragen am meisten herausbekommt.

»Hat der Herr den Wunsch, ihre Bekanntschaft zu machen?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete der Provenzale, »jedenfalls ist das eine Frau, die Einem zu denken gibt.«

»Und die eine sehr gefährliche Person ist, mein Herr!« bemerkte die Matrone, »eine Verschwenderin und eine, die nicht im geringsten die Neigung hat, sich ein wenig dankbar zu erweisen. Ich spreche aus Erfahrung; als sie vor sechs Monaten aus Berlin hierher kam, war sie mir sehr warm empfohlen worden.«

»So!« ließ la Peyrade hören.

»Ja, ich hatte damals in der Nähe von Ville-d'Avray eine sehr schöne Besitzung mit Park, Jagd und Gelegenheit zum Fischfang, und da ich mich dort so ganz allein langweilte und nicht begütert genug war, um das Leben einer Schloßherrin zu führen, so machten mir mehrere Herren und Damen einen Vorschlag und sagten: ›Frau Louchard, Sie müßten öfters Picknicks bei sich arrangieren‹ . . .«

»Frau Louchard?« wiederholte la Peyrade, »sind Sie verwandt mit Herrn Louchard, dem Boten beim Handelsgericht?«

»Seine Frau, meine Herr, aber gerichtlich geschieden von ihm . . . Ein Scheusal von Mann, der gerne möchte, daß ich wieder zu ihm ziehe; ich kann alles verzeihen, aber nicht Rücksichtslosigkeiten: wenn ich daran denke, daß er einmal gewagt hat, die Hand gegen mich aufzuheben!«

»Also«, sagte la Peyrade, indem er seine Nachbarin wieder auf den vorigen Gesprächsgegenstand zurückführte, »die Picknicks kamen zustande, und Frau von Godollo . . ., ich wollte sagen Frau Komorn . . .?«

»War eine der ersten, die ich bei mir beherbergte; hier machte sie die Bekanntschaft eines Italieners, eines sehr feinen Mannes, eines politischen Flüchtlings, aber eines im großen Stil. Sie werden verstehen, daß es mir nicht paßte, wenn Intrigen in meinem Hause gesponnen wurden; aber dieser Mann war so verliebt und so unglücklich darüber, daß Frau Komorn ihn nicht erhören wollte, daß ich mich schließlich für diese Herzensangelegenheit interessierte, die aber für diese Frau eine Geldangelegenheit hervorragendster Art war, denn sie hat den Italiener um erhebliche Summen erleichtert. Würden Sie nun glauben, daß sie, die ich, als ich gerade in augenblicklicher Geldverlegenheit war, um ein kleines Darlehen bat, mir das abschlug, mein Haus verließ und ihren Geliebten mit wegschleppte, der sich übrigens schließlich zu dieser Bekanntschaft hat Glück wünschen können!«

»Was ist ihm denn passiert?« fragte la Peyrade.

»Es ist ihm passiert, daß diese Schlange alle Sprachen Europas versteht; daß diese Frau zwar geistvoll bis in die Fingerspitzen, aber in noch höherem Grade ränkesüchtig ist: so sehr, daß sie, die anscheinend in Beziehungen zur Polizei steht, der Regierung seine Korrespondenz ausgeliefert hat, die der Italiener herumliegen ließ, und daß er daraufhin ausgewiesen wurde.«

»Und seit der Abreise des Italieners hat Frau Komorn . . .?«

»Seitdem hat sie noch verschiedene Abenteuer gehabt und etliche Vermögen erschüttert; aber ich dachte, sie wäre fortgereist. Zwei Monate lang war sie ganz verschwunden, bis sie neulich, strahlender als je, wieder auftauchte. Ich möchte dem Herrn nicht raten, sich mit ihr einzulassen; aber der Herr ist Südländer und sicher sehr leidenschaftlich, und vielleicht hat alles, was ich gesagt habe, nur dazu gedient, ihn noch begehrlicher zu machen; da Sie gewarnt sind, ist ja auch keine so große Gefahr dabei; wenn man seinen Heiligen kennt, weiß man, wie man mit ihm umgehen muß; übrigens kann man nicht leugnen, daß es eine verführerische Frau ist, oh! sehr verführerisch . . . Mich hat sie sehr gern, obwohl wir uns in Feindschaft getrennt haben, und eben noch hat sie mich um meine Adresse gebeten und mir gesagt, daß sie mich besuchen würde.«

»Ich werde mir die Sache überlegen«, sagte la Peyrade, erhob sich und verabschiedete sich.

Sein Gruß wurde sehr kühl erwidert; sein plötzlicher Aufbruch ließ nicht auf einen Mann mit »ernsten Absichten« schließen.

Wenn man sah, wie heiter der Advocat seine Nachforschungen betrieb, hätte man annehmen müssen, daß er plötzlich geheilt worden sei; aber diese scheinbare Gleichgültigkeit und Kaltblütigkeit war nur die unheimliche Windstille, die einem Gewitter vorangeht.

Als er Frau Louchard verlassen hatte, warf sich la Peyrade in einen Mietwagen, und hier war ein Weinkrampf, ähnlich dem, dessen Zeugin Frau Colleville am Tage des Bietungstermines, wo er sich von Cérizet betrogen glaubte, gewesen war, der erste Ausbruch, in dem sein Schmerz sich entlud. Die Belagerung der Thuilliers, die er mit solcher Geduld vorbereitet hatte, war trotz der schwersten Opfer vergeblich gewesen; Flavia war für die unwürdige Komödie, die er mit ihr gespielt hatte, gerächt; seine Angelegenheiten befanden sich in schlimmerem Zustande, als damals, wo ihn Cérizet und Dutocq als Wolf in den Schafstall eingeschlossen hatten, aus dem er sich wie ein stumpfsinniger Hammel hatte verjagen lassen; dazu kamen seine haßerfüllten Absichten gegen die Frau, die so leicht über all seine Gewandtheit triumphiert hatte, und die noch so lebendige Erinnerung an ihr verführerisches Wesen, dem er unterlegen war: solcher Art waren die Gedanken und die seelischen Erregungen seiner schlaflosen oder von bösen Träumen verstörten Nacht.

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