Honoré de Balzac
Die Entmündigung
Honoré de Balzac

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Als Popinot sich gegen Mittag, begleitet von seinem Gerichtsschreiber, an der Tür, wo er nach Herrn d'Espard fragte, einfand, führte ihn die Portiersfrau in den dritten Stock und erzählte ihm, daß Herr d'Espard diesen Morgen seine beiden Kinder sich habe prügeln lassen und dazu lachte, ein Monstrum wie er war, daß der jüngere den älteren blutig biß; gewiß hätte er gewünscht, daß sie sich umbrächten.

»Und fragen Sie mich warum!« fügte sie hinzu, »er weiß es selbst nicht.«

Als die Portiersfrau dem Richter dieses entscheidende Wort sagte, hatte sie ihn bis zum Treppenabsatz des dritten Stocks geführt vor eine mit Plakaten beklebte Tür, auf denen die einander folgenden Lieferungen der »pittoresken Geschichte Chinas« angekündigt waren. Dieser schmutzige Treppenabsatz, dieses unsaubere Geländer, diese Tür, an der die Druckerei ihre Spuren hinterlassen hatte, dieses zerbrochene Fenster und die Decke, an der die Lehrlinge sich den Spaß gemacht hatten, mit der rauchigen Flamme ihrer Kerzen Monstrositäten anzuzeichnen; die Haufen von Papier und Schmutz, die sich in den Ecken angesammelt hatten, absichtlich oder aus Nachlässigkeit; kurz, alle Einzelheiten des Bildes, das sich den Blicken darbot, paßte so gut zu den von der Marquise angeführten Tatsachen, daß der Richter, trotz seiner Unparteilichkeit, sich nicht hindern konnte, daran zu glauben.

»Hier sind Sie an Ort und Stelle, meine Herren, sagte die Portiersfrau, »und da ist die ›Manifaktur‹, wo die Chinesen essen, daß man den ganzen Bezirk damit ernähren könnte.«

Der Gerichtsschreiber sah den Richter lächelnd an, und Popinot hatte einige Mühe, seinen Ernst zu bewahren. Beide traten in das erste Zimmer, in dem sich ein alter Mann befand, der zweifellos gleichzeitig die Dienste eines Bureaudieners, eines Magazinaufsehers und eines Kassierers versah. Dieser Alte war das Faktotum von China. Lange Regale, auf denen die schon veröffentlichten Lieferungen sich häuften, schmückten die Wände dieses Zimmers. Im Hintergrunde bildete ein hölzerner vergitterter Verschlag, innen mit grünen Vorhängen versehen, ein Arbeitszimmer. Ein Schalter zum Einnehmen und Ausgeben der Taler zeigte die Stelle der Kasse an.

»Herr d'Espard?« sagte Popinot und wandte sich an den mit einer grauen Bluse bekleideten Mann. Der Magazingehilfe öffnete die Tür zum zweiten Zimmer, wo der Richter und sein Schreiber einen verehrungswürdigen Greis vorfanden, mit weißem Haar, einfach gekleidet, das Sankt-Ludwigskreuz auf der Brust, der an einem Schreibtisch saß und aufhörte, kolorierte Blätter zu vergleichen, um die beiden Eingetretenen zu betrachten. Dieses Zimmer war ein bescheidenes Bureau voller Bücher und Druckbogen. Es befand sich hier noch ein Tisch aus schwarzem Holz, an dem jedenfalls eben ein Abwesender gearbeitet hatte.

»Ist der Herr der Marquis d'Espard? sagte Popinot. »Nein, mein Herr«, antwortete der Alte und erhob sich. »Was wünschen Sie von ihm?« fügte er hinzu und ging den beiden entgegen, wobei er in seiner Haltung vornehme Manieren und ein Wesen, das der Erziehung eines Edelmannes entsprach, zeigte. »Wir möchten mit ihm über Dinge sprechen, die ganz persönlich sind«, antwortete Popinot.

»D'Espard, hier sind Herren, die nach dir fragen«, sagte jetzt diese Persönlichkeit und trat in das letzte Zimmer, wo der Marquis am Kamin stand und mit der Lektüre von Zeitungen beschäftigt war.

Dieses letzte Zimmer hatte einen abgenutzten Teppich, die Fenster waren mit grauen Leinen vorhängen versehen, dazu befanden sich hier noch einige Mahagoniholzstühle, zwei Sessel, ein Zylinderbureau, ein Bureau à la Tronchin, dann noch auf dem Kamin eine elende Uhr und zwei alte Leuchter. Der Alte ging Popinot und seinem Schreiber voran, schob ihnen zwei Stühle hin, als ob er der Herr des Hauses wäre, und Herr d'Espard ließ ihn machen. Nach gegenseitigen Verbeugungen, während deren der Richter den angeblich Irren beobachtete, stellte der Marquis natürlich die Frage, was der Anlaß dieses Besuches sei. Hier sah Popinot den Alten und den Marquis mit ziemlich bezeichnendem Ausdruck an.

»Ich glaube, Herr Marquis,« erwiderte er, »daß die Natur meines Amtes und die Untersuchung, die mich hierher führt, verlangen, daß wir allein bleiben, obwohl es im Sinne des Gesetzes liegt, daß im vorliegenden Falle das Verhör eine gewisse häusliche Öffentlichkeit verlangt. Ich bin Richter am Tribunal erster Instanz des Seinegerichtshofs und von dem Herrn Präsidenten damit beauftragt, Sie über die Tatsachen zu befragen, die in einem Antrage auf Unmündigkeitserklärung vorgebracht worden sind, den die Frau Marquise d'Espard gestellt hat.«

Der Alte zog sich zurück. Als der Richter und der zu Vernehmende allein waren, schloß der Schreiber die Tür und setzte sich ohne weitere Umstände an das Bureau à la Tronchin, wo er seine Papiere hervorholte und sein Protokoll vorbereitete. Popinot hatte nicht aufgehört, Herrn d'Espard anzusehen und beobachtete die Wirkung der Erklärung, die für einen Mann, der bei voller Vernunft war, so grausam sein mußte. Der Marquis d'Espard, dessen Gesicht gewöhnlich blaß war wie meist bei blonde Personen, wurde plötzlich rot vor Zorn; er zeigte ein leichtes Erzittern, setzte sich, legte seine Zeitung auf den Kamin und schlug die Augen nieder. Bald aber gewann er die Würde des Edelmanns wieder und betrachtete den Richter, als wollte er von seinem Gesicht Zeichen seines Charakters ablesen.

»Weshalb, mein Herr, bin ich denn nicht von einem solchen Klageantrag benachrichtigt worden?« fragte er ihn.

»Mein Herr Marquis, da man annimmt, daß die Personen, deren Entmündigung beantragt wird, nicht für ihrer Vernunft mächtig angesehen werden, ist die Zustellung des Antrags überflüssig. Die Pflicht des Gerichtshofs ist es, die von den Antragstellern angeführten Gründe auf ihre Wahrheit hin zu prüfen.«

»Nichts ist gerechter«, antwortete der Marquis. »Nun, mein Herr, wollen Sie mir angeben, in welcher Weise ich mich erklären soll . . .«

»Sie haben nur auf meine Fragen zu antworten, indem Sie keine Einzelheit weglassen. Wie peinlich auch die Gründe sein mögen, die Sie zu den Handlungen veranlaßt haben, die der Madame d'Espard den Vorwand zu ihrem Antrag gegeben haben, sprechen Sie ohne Furcht. Es ist überflüssig, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Richter ihre Pflicht kennen, und daß bei solcher Gelegenheit das tiefste Geheimnis . . .«

»Mein Herr,« sagte der Marquis, dessen Züge echten Schmerz verrieten, »wenn aus meinen Erklärungen ein Vorwurf wegen des Verhaltens von Madame d'Espard hervorgehen sollte, was würde dann geschehen?«

»Der Gerichtshof könnte das in den Gründen für sein Urteil rügen.«

»Ist diese Rüge fakultativ? Wenn ich mit Ihnen vereinbarte, bevor ich antworte, daß nichts für Madame d'Espard Verletzendes ausgesprochen werden solle, falls Ihr Bericht günstig für mich ausfiele, würde der Gerichtshof auf meine Bitte Rücksicht nehmen?«

Der Richter sah den Marquis an, und beide Männer tauschten ihre Gedanken, die die gleiche vornehme Gesinnung verrieten, aus.

»Noël,« sagte Popinot zu seinem Schreiber, »gehen Sie in das andere Zimmer. Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie rufen. – Wenn, wie ich jetzt zu glauben geneigt bin, in dieser Sache Mißverständnisse vorliegen, so kann ich Ihnen, mein Herr, versprechen, daß der Gerichtshof, Ihrem Wunsch entsprechend, rücksichtsvoll vorgehen wird«, fuhr er, nachdem der Schreiber das Zimmer verlassen hatte, zu dem Marquis gewendet fort. »Hier wird als wichtigster Umstand, als schwerwiegendster, von Madame d'Espard einer benannt, über den ich Sie bitte, mich aufzuklären«, sagte der Richter nach einer Pause. »Es handelt sich um die Verschleuderung Ihres Vermögens zugunsten einer Dame Jeanrenaud, der Witwe eines Schiffkondukteurs, oder vielmehr zugunsten ihres Sohnes, des Obersten, dem Sie eine Stelle verschafft, für den Sie die Gunst, die Sie beim Könige genießen, ausgenutzt, kurz, für den Sie Ihre Protektion so weit getrieben haben, daß Sie ihm eine gute Heirat verschaffen wollen. Der Klageantrag gibt zu bedenken, daß in bezug auf Hingebung diese Freundschaft alle Empfindungen, selbst die von der Moral nicht gebilligten, überschreitet . . .«

Eine plötzliche Röte färbte Gesicht und Stirn des Marquis, es traten ihm sogar Tränen in die Augen, seine Wimpern wurden feucht; dann unterdrückte ein gerechter Stolz diese Empfindlichkeit, die bei einem Manne für Schwäche gilt.

»In Wahrheit, mein Herr,« antwortete der Marquis mit erregter Stimme, »Sie bringen mich in peinliche Verlegenheit. Die Beweggründe für mein Verhalten sollten verurteilt sein, mit mir zu sterben . . . Um darüber zu sprechen, muß ich vor Ihnen geheime Wunden aufdecken, vor Ihnen die Ehre meiner Familie bloßstellen und, was, wie Sie zugeben werden, eine mißliche Sache ist, von mir sprechen. Ich hoffe, mein Herr, daß das alles zwischen uns geheim bleiben wird. Sie werden eine juristische Form dafür finden, die es gestattet, ein Urteil abzufassen, ohne daß dabei von meinen Eröffnungen die Rede ist . . .«

»Nach dieser Richtung hin ist alles möglich, Herr Marquis.«

»Einige Zeit nach unserer Heirat, mein Herr, hatte meine Frau so große Ausgaben gemacht, daß ich genötigt war, eine Anleihe aufzunehmen. Sie wissen, wie die Lage der adligen Familien während der Revolution war. Es war mir nicht möglich, einen Intendanten oder einen Geschäftsführer zu halten. Heute sind die Edelleute fast alle genötigt, sich selbst um ihre Geschäfte zu kümmern. Die meisten meiner Besitztitel stammten aus dem Languedoc oder aus dem Comtat von Paris von meinem Vater her, der mit genügendem Grunde die Nachforschungen fürchtete, die die Familienurkunden und das, was man damals Pergamente der Privilegierten nannte, ihm zuzogen. Unser Familienname ist Nègrepelisse. D'Espard ist ein Titel, der unter Heinrich IV. durch eine Ehe verliehen wurde, die uns das Vermögen und die Besitzurkunden des Hauses d'Espard zugebracht hat, unter der Bedingung, auf unser Schild das Wappen der d'Espard, einer alten Familie aus dem Béarn, die weiblicherseits mit dem Hause d'Albret verbunden war, zu setzen: Gold mit drei Sandhügeln, blaugeteilt, mit zwei silbernen roten Andreaskreuzen und dem berühmten ›des partem leonis‹ als Devise. An dem Tage der Hochzeit verloren wir Nègrepelisse eine kleine Stadt, ebenso berühmt in den Religionskriegen, wie es der Name, den meine Ahnherren von daher trugen, war. Der Hauptmann de Nègrepelisse wurde durch den Brand seiner Güter ruiniert, denn die Protestanten schonten keinen Freund von Montluc. Die Krone benahm sich ungerecht gegen Herrn de Nègrepelisse, er erhielt weder den Marschallsstab, noch einen Gouverneursposten, noch eine Entschädigung; König Karl IX., der ihn schätzte, starb, ehe er ihn belohnen konnte; Heinrich IV. vermittelte wohl seine Heirat mit Fräulein d'Espard und verschaffte ihm die Domänengüter dieses Hauses; aber alle Güter der Nègrepelisse waren bereits in die Hände der Gläubiger übergegangen. Mein Urgroßvater, der Marquis d'Espard, war, wie ich, ziemlich jung an die Spitze seiner Geschäftsangelegenheiten durch den Tod seines Vaters getreten, der, nachdem er das Vermögen seiner Frau vergeudet hatte, nichts hinterließ als die ihr zugefallenen Güter des Hauses d'Espard, aber belastet mit einem Leibgedinge. Der junge Marquis d'Espard befand sich also um so mehr in Verlegenheit, als er eine Stellung bei Hofe hatte. Besonders gern von Ludwig XIV. gesehen, war die Gunst des Königs ein Glückspatent für ihn. Hier aber, mein Herr, wurde auf unser Wappen ein unbekannter furchtbarer Flecken, ein Flecken von Schmutz und Blut gemacht, den abzuwaschen meine Beschäftigung ist. Ich entdeckte das Geheimnis in den auf das Vermögen der Nègrepelisse bezüglichen Urkunden und in den Bündeln ihrer Korrespondenz.«

In diesem feierlichen Augenblick sprach der Marquis ohne Stottern. Es entschlüpfte ihm keine der Wiederholungen, die ihm sonst eigen waren; jeder kann beobachten, daß, die im gewöhnlichen Leben mit diesen beiden Fehlern behaftet sind, sie ablegen, sobald irgendeine Erregung ihre Sprache belebt.

»Die Zurücknahme des Edikts von Nantes erfolgte«, fuhr er fort. »Vielleicht wissen Sie nicht, mein Herr, daß das für viele Günstlinge eine Gelegenheit war, ein Vermögen zu erwerben. Ludwig XIV. schenkte den Großen seines Hofes die eingezogenen Güter der protestantischen Familien, die sich nicht den Vorschriften beim Verkauf ihrer Güter unterwarfen. Einige in Gunst stehende Personen gingen, wie man damals sagte, auf die Protestantenjagd. Ich habe die Gewißheit erlangt, daß das gegenwärtige Vermögen der beiden herzoglichen Familien sich zusammensetzt aus konfiszierten Gütern unglücklicher Kaufleute. Ich werde Ihnen, einem Juristen, nicht auseinandersetzen, welche Manöver angewendet wurden, um den Réfugiés, die große Vermögen zu retten hatten, Fallen zu legen: es genüge Ihnen zu wissen, daß der Landbesitz der Nègrepelisse, der aus zweiundzwanzig Kirchdörfern und dem Stadtrecht bestand, daß der Besitz von Gravenges, der einst uns gehört hatte, sich in den Händen einer protestantischen Familie befand. Mein Großvater erhielt ihn durch Schenkung, die ihm Ludwig XIV. machte. Diese Schenkung beruhte auf Handlungen, die den Stempel erschreckender Unbilligkeit an sich trugen. Der Eigentümer dieser beiden Besitzungen, der glaubte, nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, hatte einen Verkauf vorgeschützt und ging nach der Schweiz, um mit seiner Familie zusammenzutreffen, die er dorthin vorausgeschickt hatte. Er wollte jedenfalls von allen Aufschüben, die durch Verordnungen bewilligt wurden, profitieren, um seine geschäftlichen Angelegenheiten zu ordnen. Dieser Mann wurde auf Anordnung des Gouverneurs festgehalten, der Fideikommissar sagte die Wahrheit, der arme Kaufmann wurde gehängt, und mein Vater erhielt die beiden Güter. Ich wollte, es wäre mir möglich gewesen, nichts von dem Anteil zu wissen, mit dem mein Großvater an dieser Intrige beteiligt war; aber der Gouverneur war sein Onkel mütterlicherseits, und ich habe unglücklicherweise einen Brief gelesen, in dem er ihn bat, sich an Deodat zu wenden, ein unter den Höflingen verabredetes Wort, wenn sie vom Könige redeten. Es herrscht in diesem Briefe in bezug auf das Opfer ein scherzhafter Ton, der mir Schrecken eingeflößt hat. Endlich, mein Herr, wurden die von der Familie des Réfugiés gesandten Summen, die das Leben des armen Mannes retten sollten, von dem Gouverneur behalten, der den Kaufmann darum nicht weniger schnell erledigte.«

Der Marquis d'Espard machte eine Pause.

»Dieser Unglückliche hieß Jeanrenaud,« fuhr er dann fort. »Dieser Name wird Ihnen mein Verhalten erklären. Ich habe nicht ohne tiefen Schmerz an die heimliche Schande gedacht, die auf meiner Familie ruhte. Dieses Vermögen gestattete meinem Großvater, eine Navarreins Lansac, die Erbin des Vermögens der jüngeren Linie, die viel reicher als die ältere war, zu heiraten. Mein Vater sah sich von da ab als einen der beachtenswertesten Großgrundbesitzer des Königreichs. Er konnte meine Mutter heiraten, eine Grandlieu von der jüngeren Linie. Obgleich in übler Weise erworben, hat uns dieses Vermögen seltsamerweise Nutzen gebracht! Entschlossen, sofort dem Übel abzuhelfen, schrieb ich nach der Schweiz und hatte nicht eher Ruhe, als bis ich auf der Spur der Erben des Protestanten war. Ich erfuhr schließlich, daß die Jeanrenauds, ins äußerste Elend geraten, Freiburg verlassen hatten und nach Frankreich zurückgekehrt waren. Endlich entdeckte ich in Herrn Jeanrenaud, einem einfachen Kavallerieleutnant unter Bonaparte, den Erben dieser unglücklichen Familie. In meinen Augen, mein Herr, war das Recht der Jeanrenauds klar. Damit die Proskription sich vollzöge, mußten die Besitzer da nicht angegriffen werden? Und an welche Macht sollten sich die Réfugiés wenden? Ihr Gerichtshof war dort oben, oder vielmehr, ihr Gerichtshof war hier,« sagte der Marquis und schlug sich auf die Brust. »Ich wollte nicht, daß meine Kinder von mir dasselbe denken sollten, was ich von meinem Vater und von meinen Ahnherren gedacht habe; ich wollte ihnen eine Erbschaft und ein Wappen ohne Flecken hinterlassen, ich wollte nicht, daß der Adel durch meine Person Lügen gestraft werde. Und endlich, politisch gedacht, dürfen die Emigranten, die gegen die revolutionären Konfiskationen ihren Einspruch geltend machen, noch die Güter behalten, die die Frucht von Konfiskationen sind, die auf einem Verbrechen beruhen? Ich bin bei Herrn Jeanrenaud und seiner Mutter einer strengen Rechtschaffenheit begegnet: wenn man auf sie hören wollte, so schiene es, als ob sie mich beraubten. Trotz meines Drängens haben sie nicht mehr angenommen als den Wert, den die Güter an dem Tage hatten, wo meine Familie sie vom Könige erhielt. Der Preis wurde zwischen uns auf den Betrag von elfhunderttausend Franken festgesetzt, den ohne Zinsen zu zahlen sie in mein Belieben stellten. Um das zu erreichen, habe ich für lange Zeit auf meine Einkünfte verzichten müssen. Hier, mein Herr, begann der Verlust etlicher Illusionen, die ich mir über den Charakter der Madame d'Espard gemacht hatte. Als ich ihr vorschlug, Paris zu verlassen und in die Provinz zu gehen, wo wir mit der Hälfte unseres Einkommens anständig hätten leben können und auf diese Weise schneller zu der Rückgabe, von der ich ihr sprach, zu kommen, ohne daß ich sie über die schwerwiegende Bedeutung der Tatsachen aufklärte, behandelte mich Madame d'Espard wie einen Verrückten. Ich erkannte so den wahren Charakter meiner Frau: sie hätte ohne Bedenken das Verhalten meines Großvaters gebilligt und sich über die Hugenotten lustig gemacht. Erschreckt über ihre Kälte, über ihre geringe Anhänglichkeit an ihre Kinder, die sie mir ohne Bedauern überließ, beschloß ich, ihr ihr Vermögen zu überlassen, nachdem ich unsere gemeinsamen Schulden beglichen hatte. Es sei übrigens nicht ihre Sache, meine Dummheiten zu bezahlen, sagte sie zu mir; da ich nicht genug Einkommen hatte, um zu leben und für die Erziehung meiner Kinder zu sorgen, entschloß ich mich, sie selber zu erziehen und aus ihnen Männer von Herz und Edelleute zu machen. Indem ich mein Vermögen in Staatsfonds anlegte, konnte ich mich viel schneller, als ich gehofft hatte, meiner Verpflichtungen entledigen, denn ich nutzte die Chancen aus, die mir die Heraufsetzung der Renten darbot. Indem ich mir viertausend Franken für meine Söhne und mich vorbehielt, hätte ich nur zwanzigtausend Taler jährlich bezahlen können, was beinahe achtzehn Jahre beansprucht hätte, um meine Befreiung zu vollenden, während ich letzthin die geschuldeten elfhunderttausend Franken bezahlt habe. So genieße ich das Glück, diese Rückgabe vollzogen zu haben, ohne meinen Kindern im geringsten Unrecht getan zu haben. Das, mein Herr ist der Grund für die Zahlungen, die Frau Jeanrenaud und ihrem Sohne zugeflossen sind.

»Also kannte«, sagte der Richter, während er die Bewegung unterdrückte, die diese Erzählung bei ihm hervorgerufen hatte, »die Frau Marquise die Beweggründe Ihres Sichzurückziehens?«

»Jawohl, mein Herr.«

Popinot fuhr ziemlich ausdrucksvoll in die Höhe, stand plötzlich auf und öffnete die Tür des Arbeitszimmers.

»Noël, gehen Sie nach Hause«, sagte er zu seinem Schreiber. »Mein Herr,« fuhr der Richter fort, »obgleich das, was Sie mir eben mitgeteilt haben, genügt, um mich aufzuklären, möchte ich Sie noch gern in bezug auf die andern, in der Klageschrift angeführten Tatsachen hören. Sie haben hier also eine geschäftliche Angelegenheit unternommen, die außerhalb der Gewohnheiten eines vornehmen Mannes liegt.«

»Ich möchte hier nicht über diese Sache reden«, sagte der Marquis und machte dem Richter ein Zeichen, daß sie hinausgehen wollten. »Nouvion,« fuhr er fort und wandte sich an den Alten, »ich gehe hinunter zu mir, meine Kinder werden zurückkommen, und du wirst mit uns essen.

»Herr Marquis,« sagte Popinot auf der Treppe, »dies ist also nicht Ihre Wohnung?

»Nein, mein Herr, ich habe die Zimmer gemietet, um hier die Bureaus meines Unternehmens unterzubringen. Sehen Sie,« fuhr er fort und wies auf eine Anzeige, »diese Geschichte wird unter dem Namen eines der ehrenwertesten Verleger von Paris herausgegeben und nicht unter meinem Namen.«

Der Marquis ließ den Richter in das Erdgeschoß eintreten und sagte zu ihm: »Hier ist meine Wohnung, mein Herr.«

Popinot war bewegt von der natürlichen Anmut dieser Räume. Das Wetter war herrlich, die Fenster standen offen, die Luft des Gartens verbreitete im Salon ihren Blumenduft; die Strahlen der Sonne erheiterten und belebten den ein wenig braunen Ton des Holzwerks. Bei diesem Anblick war Popinot der Meinung, daß ein Irrsinniger kaum imstande sein könne, die liebliche Harmonie herzustellen, die ihn jetzt ergriff.

›Ich brauchte eine solche Wohnung‹, dachte er. Dann fragte er laut: »Werden Sie dieses Quartier bald verlassen?«

»Ich hoffe es«, erwiderte der Marquis; »aber ich will noch abwarten, bis mein jüngerer Sohn seine Studien beendet hat und bis der Charakter meiner Kinder sich so vollkommen ausgebildet hat, daß ich sie in die Gesellschaft und bei ihrer Mutter einführen kann; im übrigen will ich, nachdem ich die solide Ausbildung, die sie sich aneignen, vollendet habe, sie noch ergänzen, indem ich sie die Hauptstädte Europas bereisen lasse, um sie Menschen und Dinge selbst sehen zu lassen und sie daran zu gewöhnen, die Sprachen, die sie gelernt haben, zu sprechen. Mein Herr,« sagte er und ließ den Richter im Salon Platz nehmen, »ich möchte Sie nicht über die Publikation über China vor einem alten Freunde meiner Familie, dem Grafen de Nouvion, unterhalten, der als Emigrant ohne jedes Vermögen zurückgekehrt ist, und mit dem ich diese Sache zusammen mache, weniger um meinet- als um seinetwegen. Ohne ihm die Gründe für mein zurückgezogenes Leben anzuvertrauen, sagte ich ihm, daß ich ruiniert sei wie er, daß ich aber noch genug Geld hätte, um ein Spekulationsgeschäft zu unternehmen, bei dem ich es nutzbringend anlegen könnte. Mein Erzieher war der Abbé Grozier, den auf meine Empfehlung Karl X. zu seinem Bibliothekar an der Bibliothek des Arsenals ernannte, die ihm zurückgegeben wurde, als er ›Monsieur‹ war. Der Abbé Grozier besaß tiefe Kenntnisse über China, seine Sitten und Gebräuche; er hatte mich zu seinem Erben in einem Alter bestimmt, wo es schwer ist, sich nicht für das, was man lernt, zu begeistern. Mit fünfundzwanzig Jahren konnte ich Chinesisch, und ich gestehe, daß ich mich niemals einer ganz besonderen Bewunderung dieses Volkes enthalten konnte, das seine Eroberer erobert hat, dessen Geschichte unstreitig auf eine Epoche zurückgeht, die weiter zurückliegt als die mythologischen oder biblischen Zeiten; das vermöge seiner unabänderlichen Institutionen die Integrität seines Territoriums erhalten hat, dessen Monumente gigantisch, dessen Verwaltung vollkommen ist, bei dem Revolutionen unmöglich sind, das das nur ideal Schöne für ein unfruchtbares Kunstprinzip angesehen hat, das Luxus und Industrie auf eine so hohe Stufe gehoben hat, daß wir es in keinem Punkte übertreffen können, während es uns dort gleichkommt, wo wir uns für überlegen halten. Aber, mein Herr, wenn es mir auch oft passiert, daß ich scherze, wenn ich die Lage der europäischen Staaten mit China vergleiche, so bin ich doch kein Chinese, ich bin ein französischer Edelmann. Wenn Sie über die finanzielle Grundlage dieses Unternehmens Zweifel hegen, so kann ich Ihnen beweisen, daß wir mit zweitausendfünfhundert Subskribenten auf dieses ikonographische, statistische und religiöse, literarische Denkmal rechnen, dessen Bedeutung allgemein anerkannt wird. Unsere Subskribenten gehören allen Nationen Europas an, wovon wir nur zwölfhundert in Frankreich haben. Unser Werk wird ungefähr dreihundert Franken kosten, und der Graf de Nouvion wird auf seinen Anteil sechs- bis siebentausend Franken Einkommen haben, denn die Beschaffung eines erträglichen Lebensunterhalts für ihn war der geheime Anlaß zu diesem Unternehmen. Auf meinen Teil habe ich nur die Möglichkeit ins Auge gefaßt, meinen Kindern einige Annehmlichkeiten zu verschaffen. Die hunderttausend Franken, die ich verdient habe, sehr gegen meinen Willen, sind für ihre Fecht- und Reitstunden, ihre Toilette, ihre Theater, ihre Tanzstunden, ihren Malunterricht, die Bücher, die sie kaufen wollen, kurz alle die kleinen Liebhabereien, die die Väter so gern befriedigen. Hätte ich solche Genüsse meinen armen, so verdienstvollen, so arbeitswilligen Kindern verweigern müssen, das Opfer, das ich unserm Namen hätte bringen müssen, wäre mir doppelt schmerzlich gewesen. In der Tat, mein Herr, die zwölf Jahre, in denen ich mich von der Welt zurückgezogen habe, um meine Kinder aufzuziehen, haben mich bei Hofe völlig in Vergessenheit geraten lassen. Ich habe die politische Karriere aufgegeben, ich habe all mein angestammtes Vermögen, ein ganz neu erworbenes, verloren, das ich meinen Kindern hätte hinterlassen können: aber unser Haus wird nichts verloren haben, meine Söhne werden ausgezeichnete Männer sein. Wenn mir die Pairschaft entgangen ist, so werden sie sie in vornehmer Weise erobern, indem sie sich den Geschäften ihres Landes widmen und ihm Dienste leisten, die man nicht vergißt. Indem ich die Vergangenheit unseres Hauses reinwusch, habe ich ihm eine ruhmvolle Zukunft gesichert: habe ich damit nicht eine schöne Aufgabe erfüllt, wenn auch im Geheimen und ohne Ruhm? Haben Sie nun, mein Herr, noch andere Aufklärungen von mir zu verlangen?«

In diesem Moment erklang das Geräusch mehrerer Pferde im Hofe.

»Da sind sie,« sagte der Marquis.

Bald darauf traten die beiden jungen Leute, elegant aber einfach gekleidet, in den Salon, gestiefelt, gespornt, behandschuht und lustig ihre Reitpeitsche schwingend. Ihr belebtes Gesicht brachte die Frische der freien Luft mit, sie strahlten von Gesundheit. Beide kamen, um ihrem Vater die Hand zu drücken, wechselten mit ihm, wie zwischen Freunden, einen Blick voll stummer Zärtlichkeit und begrüßten den Richter kühl. Popinot hielt es für völlig überflüssig, den Marquis noch über seine Beziehungen zu seinen Söhnen zu befragen.

»Habt ihr euch gut amüsiert?« fragte sie der Marquis.

»Jawohl, lieber Vater. Ich habe zum erstenmal sechs Puppenköpfe mit zwölf Schüssen heruntergeholt!« sagte Camille.

»Wo seid ihr geritten?«

»Im Bois, wo wir unsere Mutter gesehen haben.«

»Hat sie halten lassen?«

»Wir ritten gerade so schnell, daß sie uns jedenfalls nicht gesehen hat«, antwortete der junge Graf.

»Aber warum habt ihr euch ihr nicht genähert?«

»Ich habe zu bemerken geglaubt, lieber Vater, daß sie nicht öffentlich von uns angesprochen zu sein wünscht, sagte Clemens mit leiser Stimme. »Wir sind ihr ein bißchen zu groß geworden.«

Der Richter hatte ein genügend feines Ohr, um diesen Satz zu verstehen, der einige Wolken auf der Stirn des Marquis erscheinen ließ. Popinot gefiel sich darin, das Schauspiel zu betrachten, das Vater und die Kinder ihm darboten. Seine Augen kamen mit einer Art zärtlichem Ausdruck zu dem Gesicht des Herrn d'Espard zurück, dessen Züge, Haltung und Manieren ihm die Ehrenhaftigkeit in ihrer schönsten Form darstellten, die geistige und ritterliche Zuverlässigkeit, den Adel in all seiner Schönheit.

»Sie, mein Herr, Sie sehen,« sagte der Marquis, der wieder zu stottern begann, »Sie sehen, daß die Justiz hier jederzeit eintreten kann; ja jederzeit. Wenn es Verrückte gibt, wenn es Verrückte gibt, so sind es vielleicht nur die Kinder, die ein bißchen vernarrt in ihren Vater sind, und der Vater, der sehr vernarrt in seine Kinder ist; aber das ist eine Verrücktheit von gesunder Beschaffenheit.«

In diesem Augenblick ließ sich die Stimme der Frau Jeanrenaud im Vorzimmer hören, und die gute Frau trat trotz der Vorhaltungen des Kammerdieners herein.

»Ich mache keine Umwege!« rief sie. »Jawohl, Herr Marquis,« sagte sie und machte eine Verbeugung vor der Gesellschaft, »ich muß sofort mit Ihnen reden. Wahrhaftig ich bin doch zu spät gekommen, hier ist ja schon der Herr Strafrichter.«

»Strafrichter?« riefen die beiden Kinder.

»Es hat schon seinen guten Grund, daß ich Sie nicht zu Hause getroffen habe, da Sie ja hier sind. Ja, wahrhaftig, die Justiz ist immer da, wenn es sich darum handelt, Übles zu tun. Ich komme, Herr Marquis, um Ihnen zu sagen, daß ich mit meinem Sohn übereingekommen bin, Ihnen alles wiederzugeben, da es sich um unsere Ehre handelt, die bedroht ist. Mein Sohn und ich, wir wollen Ihnen lieber alles zurückgeben, als Ihnen den geringsten Kummer verursachen. Man muß in Wahrheit so dumm sein wie ein Topf ohne Henkel, um Sie entmündigen zu lassen . . .«

»Unsern Vater entmündigen?« riefen die beiden Kinder und drängten sich an den Marquis. »Was gibt es denn?«

»Still, Frau Jeanrenaud!« sagte Popinot.

»Laßt uns allein, Kinder«, sagte der Marquis.

Die beiden jungen Leute gingen in den Garten.

»Gnädige Frau,« sagte der Richter, »die Beträge, die der Herr Marquis Ihnen wieder zugestellt hat, stehen Ihnen rechtmäßig zu, obwohl sie Ihnen auf Grund einer sehr weit getriebenen Ehrenhaftigkeit wiedergegeben wurden. Wenn die Leute, die konfiszierte Güter besitzen, aus welchem Grunde es auch immer sei, selbst infolge perfider Machenschaften, nach hundertfünfzig Jahren zur Rückgabe verpflichtet wären, dann würde sich in Frankreich wenig legitimer Besitz finden. Das Vermögen des Jacques Coeur hat zwanzig adlige Familien bereichert, die von den Engländern mißbräuchlich zugunsten ihrer Anhänger ausgesprochenen Konfiskationen, damals, als England einen Teil Frankreichs besaß, haben das Vermögen mehrerer vornehmer Häuser begründet. Unsere Gesetzgebung gestattet dem Herrn Marquis unentgeltlich über sein Einkommen zu verfügen, ohne daß er wegen Verschwendung angeklagt werden könnte. Die Entmündigung eines Menschen muß auf der Abwesenheit jeder Vernunft bei seinen Handlungen begründet sein; hier aber beruht der Anlaß für die Ihnen gemachten Rückzahlungen auf den heiligsten und ehrenhaftesten Gründen. Sie können also alles ohne Gewissensbisse behalten und die Welt eine so edle Handlung übel auslegen lassen. In Paris wird die reinste Tugend der Gegenstand schmutzigster Verleumdungen. Es ist traurig, daß der gegenwärtige Zustand unserer Gesellschaftsverhältnisse das Verhalten des Herrn Marquis so erhaben macht. Zur Ehre unseres Landes wünschte ich, daß ähnliche Handlungen nicht als etwas Besonderes angesehen würden; aber die Moral ist jetzt so, daß ich genötigt bin, im Vergleich mit andern Herrn d'Espard als einen Mann anzusehen, dem man eine Krone zuerkennen müßte, anstatt ihn mit einer Klage auf Entmündigung zu bedrohen. Während des ganzen Verlaufs meines langen richterlichen Lebens habe ich nichts gesehen noch gehört, was mich mehr erregt hätte als das, was ich soeben gesehen und gehört habe. Aber es liegt nichts so Außerordentliches darin, die Tugend in ihrer schönsten Form dort zu finden, wo sie von Männern ausgeübt wird, die zur höchsten Klasse gehören. Nachdem ich mich so über diesen Gegenstand ausgesprochen habe, hoffe ich, Herr Marquis, daß Sie meines Stillschweigens versichert sein werden und daß Sie keinerlei Beunruhigung bezüglich des Urteils, wenn eins gefällt werden sollte, zu haben brauchen.«

»Na, Gott sei Dank!« sagte Frau Jeanrenaud, »das ist doch noch ein Richter! Sehen Sie, mein werter Herr, ich würde Sie umarmen, wenn ich nicht so häßlich wäre; Sie reden wie ein Buch.«

Der Marquis reichte Popinot die Hand, und Popinot drückte sie sanft mit der seinigen, indem er diesem großen Manne des Privatlebens einen Blick voll durchdringenden Einverständnisses zuwarf, auf den der Marquis mit einem liebenswürdigen Lächeln antwortete. Diese beiden Naturen, so voll und reich, der eine bürgerlich und erhaben, der andere adlig und großdenkend, hatten sich unmerklich geeinigt, ohne Gewalt, ohne Leidenschaftsausbruch, wie wenn zwei reine Flammen miteinander verschmelzen. Der Vater eines ganzen Bezirks fühlte sich würdig, die Hand dieses zwiefach adligen Mannes zu drücken, und der Marquis empfand tief im Herzen eine Bewegung, die ihm anzeigte, daß die Hand des Richters eine von denen war, aus der unaufhörlich Schätze unerschöpflichen Wohltuns entströmen.

»Herr Marquis,« fügte Popinot hinzu, indem er sich verabschiedete, »ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, daß ich nach den ersten Worten dieser Unterredung meinen Schreiber für überflüssig gehalten habe.« Dann näherte er sich dem Marquis, zog ihn in eine Fensterecke und sagte zu ihm:

»Es ist Zeit, daß Sie nach Hause zurückkehren, mein Herr; ich glaube daß in dieser Sache die Frau Marquise Einflüsse geltend macht, die Sie schon von heute ab bekämpfen müssen.«

Popinot entfernte sich, drehte sich mehrmals im Hofe und auf der Straße um und fühlte sich im Gedanken an diese Szene gerührt. Sie gehörte zu den Eindrücken, die sich tief ins Gedächtnis einpflanzen, um in gewissen Stunden, wenn die Seele Trost sucht, wieder aufzublühen.

»Diese Wohnung würde mir gut gefallen«, sagte er sich, als er nach Hause kam.

Am nächsten Tage, gegen zehn Uhr morgens, ging Popinot, der am Abend vorher seinen Bericht abgefaßt hatte, in den Justizpalast in der Absicht, prompt und richtig Recht zu sprechen. Als er in die Garderobe trat, um seine Robe und seine Krause anzulegen, sagte ihm der Saaldiener, daß der Gerichtspräsident ihn bäte, in sein Arbeitszimmer zu kommen, wo er auf ihn warte. Popinot begab sich sogleich dorthin.

»Guten Tag, mein lieber Popinot«, sagte der Richter und führte ihn in eine Fensternische.

»Handelt es sich um eine wichtige Sache, Herr Präsident?«

»Eine Albernheit«, sagte der Präsident. »Der Großsiegelbewahrer, mit dem ich gestern zu speisen die Ehre hatte, hat mich in einer Ecke beiseite genommen. Er hat erfahren, daß Sie bei Madame d'Espard den Tee genommen haben anläßlich der Angelegenheit, mit der Sie betraut worden waren. Er hat mir zu verstehen gegeben, daß es schicklicher wäre, wenn Sie in dieser Sache nicht mitsäßen . . .«

»Oh, Herr Präsident, ich kann Ihnen versichern, daß ich in dem Moment Madame d'Espard verlassen habe, wo der Tee serviert wurde; übrigens ist mein Gewissen . . .«

»Jawohl, jawohl,« sagte der Präsident, »das ganze Tribunal, der Gerichtshof, der Justizpalast kennen Sie ja; ich will Ihnen nicht wiederholen, was ich Seiner Exzellenz gesagt habe; aber Sie wissen doch: Cäsars Gattin darf auch nicht einmal beargwöhnt werden. Deshalb wollen wir auch aus dieser Albernheit kein Disziplinarsache machen, sondern eine Taktfrage. Unter uns gesagt, es handelt sich weniger um Sie, als um das Tribunal.«

»Aber, Herr Präsident, wenn Sie die Sache kennen würden«, sagte der Richter und versuchte seinen Bericht aus der Tasche zu ziehen.

»Ich bin im voraus davon überzeugt, daß Sie in dieser Affäre die strengste Unparteilichkeit bewahrt haben. Und ich selbst habe als einfacher Richter in der Provinz oftmals mehr als eine Tasse Tee bei Leuten genommen, über die ich zu Gericht zu sitzen hatte, aber es genügt, daß der Großsiegelbewahrer davon gesprochen hat, daß man über Sie reden kann, um das Tribunal eine Diskussion darüber vermeiden zu lassen. Jeder Konflikt mit der öffentlichen Meinung ist für eine Körperschaft immer gefährlich, selbst wenn sie im Recht gegen sie ist, weil die Waffen nicht gleich sind. Der Journalismus kann alles sagen, alles annehmen; unsere Würde untersagt uns alles, selbst eine Antwort. Übrigens habe ich schon mit Ihrem Präsidenten gesprochen, und Herr Camusot ist eben mit der Berichterstattung, die Sie geben wollten, beauftragt worden. Das ist eine unter uns vereinbarte Sache; ich verlange Ihre Absage als einen persönlichen Dienst, und als Entgelt sollen Sie das Kreuz der Ehrenlegion erhalten, das man Ihnen schon seit langer Zeit schuldig ist. Das soll meine Sache sein.

Als er Herrn Camusot erblickte, einen Richter, der kürzlich von einem Provinzgericht nach Paris versetzt war und vortrat, um ihn zu begrüßen, konnte Popinot ein ironisches Lächeln nicht zurückhalten. Dieser blonde, blasse junge Mann, voll heimlichen Ehrgeizes, schien ebenso bereit, je nach dem Belieben der Könige der Erde, die Unschuldigen wie die Schuldigen zu hängen oder freizusprechen, und eher dem Beispiel der Laubardemont als der Molé zu folgen. Popinot zog sich mit einem Gruße zurück und verschmähte es, die gegen ihn vorgebrachte lügnerische Anschuldigung aufzuklären.

 


 


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