Honoré de Balzac
Die Entmündigung
Honoré de Balzac

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Am nächsten Abend um neun Uhr stieg der Doktor Bianchon die staubige Treppe zu seinem Onkel hinauf und fand ihn bei der Arbeit an einem schwierigen Urteil. Der von Lavienne bestellte Anzug war vom Schneider nicht gebracht worden, so daß Popinot seinen alten Rock voller Flecken nehmen mußte und wieder der Popinot ›incomptus‹ wurde, dessen Anblick diejenigen, denen sein intimes Leben unbekannt war, lächeln machen mußte. Bianchon gelang es immerhin, die Krawatte seines Onkels in Ordnung zu bringen und ihm seinen Rock anders zu knöpfen, dessen Flecken er dadurch verbarg, daß er die Aufschläge von rechts nach links zuknöpfte und so den noch neuen Teil des Tuches sehen ließ. Aber einige Augenblicke später schob der Richter seinen Rock über der Brust, durch die Art, wie er die Hände gewohnheitsmäßig in die Taschen steckte, wieder in die Höhe. Der vorne und hinten übermäßig faltige Rock bildete mitten auf dem Rücken einen Buckel und ließ zwischen Weste und Hose eine freie Stelle sehen, in der das Hemd erschien. Zu seinem Unglück bemerkte Bianchon diesen Zuwachs an Lächerlichkeit erst in dem Augenblick, wo sein Onkel sich bei der Marquise zeigte.

Eine kurze Skizze des Lebens der Persönlichkeit, zu der sich jetzt der Doktor und der Richter begaben, muß hier gegeben werden, um die Konferenz verständlich zu machen, die Popinot mit ihr abhalten sollte.

Madame d'Espard war seit sieben Jahren sehr in Mode in Paris, wo die Mode Personen, eine nach der andern, in die Höhe bringt und wieder fallen läßt, die, bald große, bald kleine, – das heißt abwechselnd im Vordergrunde oder vergessen –, später unerträgliche Menschen werden, wie es alle in Ungnade gefallenen Minister und alle abgesetzten Majestäten werden. Unbequem durch ihre veralteten Ansprüche, wissen diese Verherrlicher des Alten alles, schimpfen über alles und sind wie ruinierte Verschwender Allerweltsfreunde. Da sie von ihrem Manne im Jahre 1815 verlassen worden war, mußte sich Madame d'Espard zu Beginn des Jahres 1812 verheiratet haben; ihre Kinder mußten also, das eine fünfzehn, das andere dreizehn Jahre alt sein. Durch welchen Zufall war eine Familienmutter von ungefähr dreiunddreißig Jahren in Mode gekommen? Obgleich die Mode launenhaft ist und niemand im voraus ihre Günstlinge zu bezeichnen vermag, sie auch häufig sich für die Frau eines Bankiers oder für irgendeine Person von zweifelhafter Eleganz und Schönheit begeistert, muß es doch ganz ungewöhnlich erscheinen, wenn die Mode verfassungsmäßige Formen annimmt, indem sie eine »Altersvorsitzende« erkürt. Hier hatte die Mode es wie alle Welt gemacht, indem sie Madame d'Espard als junge Frau akzeptierte. Nach dem Standesregister war die Marquise dreiunddreißig Jahre alt und Abends im Salon zweiundzwanzig. Aber welche Sorgfalt und welche Kunstmittel wendete sie an! Kunstvolle Locken verhüllten ihre Schläfen. Sie lebte zu Hause bei gedämpftem Licht, indem sie die Kranke spielte, um in der vorteilhaften Beleuchtung eines von Musselin abgeblendeten Lichts zu bleiben. Wie Diana von Poitiers bevorzugte sie kaltes Wasser für ihr Bad; wie sie, schlief die Marquise auf Roßhaar und auf Kopfkissen von Maroquinleder, um ihr Haar zu schonen, aß wenig, trank nur Wasser, regelte ihre Bewegungen, um sich nicht zu ermüden, und vollzog die geringsten Handlungen mit mönchischer Genauigkeit. Diese harte Lebensweise wurde, wie man sagt, bis zum Gebrauch von Eis statt Wassers und bis zu kalten Speisen von einer berühmten Polin getrieben, die in unsern Tagen ein beinahe hundertjähriges Leben mit dem Verhalten und den Sitten einer kleinen Geliebten ausfüllt. Bestimmt dazu, ebenso lange zu leben wie Marion de Lorme, der die Biographen hundertunddreißig Jahre zubilligen, besitzt die Vizekönigin von Polen, die auch fast hundertjährig ist, jugendlichen Geist und Herz, ein reizendes Gesicht und eine zierliche Figur; sie vermag bei der Unterhaltung Männer und Bücher der modernen Literatur mit Männern und Büchern des achtzehnten Jahrhunderts zu vergleichen. Von Warschau bestellt sie ihre Hauben bei Herbault. Eine vornehme Dame, ist sie hingebend wie ein junges Mädchen; sie schwimmt, sie rennt wie ein Lyzeumsschüler und versteht es, sich auf ein Sofa ebenso graziös wie eine junge Kokette fallen zu lassen; sie schilt auf den Tod und mokiert sich über das Leben. Sie setzte einstmals den Kaiser Alexander in Erstaunen, und kann heute den Kaiser Nikolaus durch die Üppigkeit ihrer Feste überraschen. Sie läßt noch heute irgend einen verliebten jungen Mann Tränen vergießen, denn sie ist so alt, wie sie sein will. Kurz, sie ist ein wahres Feenmärchen, wenn sie auch nicht die Fee eines Märchen ist. Hatte Madame d'Espard Madame Zayoucek kennengelernt? Wollte sie von neuem ebenso beginnen? Wie dem auch sei, die Marquise bewies die Richtigkeit dieser Lebensweise, ihr Teint war rein, ihre Stirn besaß keine Runzeln, ihr Körper bewahrte, wie der der Geliebten Heinrichs II., seine Geschmeidigkeit, seine Frische, geheime Anziehungskräfte, die die Liebe bei einer Frau herbeiführen und festhalten. Die so einfachen Vorsichtsmaßregeln dieser von der Kunst, von der Natur, vielleicht von der Erfahrung angezeigten Lebensweise hatte sie übrigens in ein allgemeines System gebracht, das sie noch verstärkte. Die Marquise besaß eine ausgesprochene Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht sie selbst betraf; die Männer amüsierten sie, aber keiner von ihnen hatte ihr eine große Erregung verursacht, wie sie zwei Menschen tief bewegen und den einen durch den andern erschöpfen. Sie empfand weder Haß noch Liebe. Beleidigt, rächte sie sich, mit kalter Ruhe abwartend, indem sie auf die Gelegenheit harrte, wo sie ihre bösen Absichten gegen irgend jemanden ausführen konnte, der in ihrer Erinnerung einen üblen Platz hatte. Sie war nicht sehr beweglich und ließ sich von nichts erregen; sie sprach nur, weil sie wußte, daß eine Frau durch zwei Worte drei Männer töten kann. Als Herr d'Espard sie verließ, empfand sie ein besonderes Vergnügen: nahm er nicht die beiden Kinder mit sich, die sie jetzt langweilten und die ihr später bei ihren Ansprüchen schädlich werden konnten? Weder ihre intimsten Freunde noch ihre am wenigsten ausdauernden Anbeter erblickten bei ihr eins dieser Kleinode à la Cornelia, die beim Kommen und Gehen unbewußt das Alter der Mutter verraten; alle hielten sie für eine junge Frau. Die beiden Kinder, um die sich die Marquise in ihrer Klageschrift so zu sorgen schien, waren, ebenso wie ihr Vater, der Gesellschaft so unbekannt wie die Nordostpassage den Seeleuten. Herr d'Espard galt für ein Original, der seine Frau verlassen hatte, ohne gegen sie auch nur den geringsten Grund zur Klage zu haben. Herrin ihrer Person mit zweiundzwanzig Jahren, Herrin ihres Vermögens, das ihr eine Rente von sechsundzwanzigtausend Franken gewährte, zögerte die Marquise lange, bevor sie einen Entschluß faßte, wie sie leben wollte. Obgleich sie von den Ausgaben, die ihr Mann in seinem Hause gemacht hatte, Nutzen hatte, obgleich sie die Möbel, die Equipagen, die Pferde, kurz ein vollkommen ausgestattetes Haus behielt, führte sie doch zuerst ein zurückgezogenes Leben während der Jahre 16, 17 und 18, in der Zeit, wo sich die Familien von den Zusammenbrüchen, die die politischen Stürme verursacht hatten, erholten. Da sie übrigens zu einem der bemerkenswertesten und berühmtesten Häuser des Faubourg Saint-Germain gehörte, rieten ihr ihre Verwandten, nach der erzwungenen Trennung, zu der sie die unerklärliche Laune ihres Mannes genötigt hatte, häuslich zu leben. Im Jahre 1820 schüttelte die Marquise ihre Lethargie ab, erschien bei Hofe, bei den Festen und empfing bei sich; sie hatte ihren Jour, ihre Besuchsstunden; dann nahm sie bald Platz auf dem Throne, auf dem vorher die Frau Vicomtesse de Beauséant, die Herzogin von Langeais, Madame Firmiani geglänzt hatten, die nach ihrer Verheiratung mit Herrn de Camps, auf das Szepter zugunsten der Herzogin von Maufrigneuse verzichtet hatte, der es Madame d'Espard dann entriß. Die Gesellschaft wußte nichts von dem intimen Leben der Marquise d'Espard. Sie schien lange Zeit am Pariser Horizont leben zu sollen, wie eine Sonne, die im Begriff ist, unterzugehen, die aber niemals untergehen will. Die Marquise war eng befreundet mit einer Herzogin, die weniger berühmt durch ihre Schönheit als durch ihre hingebende Liebe zu einem Prinzen war, der damals in Ungnade stand, aber immer bereit war, als Leiter in eine künftige Regierung einzutreten. Madame d'Espard war ferner die Freundin einer Ausländerin, bei der ein berühmter und schlauer russischer Diplomat die politischen Angelegenheiten klarlegte. Endlich hatte eine alte Gräfin, gewöhnt daran, im großen politischen Spiel die Karten zu mischen, sie in mütterlicher Weise adoptiert. Für jeden Mann von großen Gesichtspunkten bereitete sich Madame d'Espard darauf vor, einen verschwiegenen, aber tatsächlichen Einfluß dem offenen und leichtsinnigen, den sie der Mode schuldete, folgen zu lassen. Ihr Salon nahm eine politische Färbung an. Die Worte: »Was sagt man darüber bei Madame d'Espard? Der Salon Madame d'Espards ist gegen eine solche Maßnahme,« begannen von einer ziemlich großen Anzahl von Dummköpfen wiederholt zu werden, so daß sie ihrer Truppe Getreuer die Autorität einer Koterie verliehen. Einige verletzte Politiker, die von ihr getröstet und gestreichelt wurden, wie der Günstling Ludwigs XVIII., dem keine Beachtung mehr geschenkt wurde, und ehemalige Minister, die bald wieder zur Macht kommen sollten, erklärten sie für ebenso erfahren in der Diplomatie wie die Frau des russischen Gesandten in London. Die Marquise hatte mehrfach vor Deputierten oder vor Pairs Worte und Gedanken geäußert, die von der Kammertribüne her in Europa Widerhall gefunden hatten. Sie hatte häufig Ereignisse richtig beurteilt, über die ihre Stammgäste nicht wagten, eine Meinung zu äußern. Die bedeutendsten Hofleute spielten Abends bei ihr Whist. Sie hatte übrigens auch die Vorzüge ihrer Fehler. Sie galt als diskret und war es auch. Ihre Freundschaft hielt jeder Probe stand. Sie unterstützte ihre Günstlinge mit einer Zähigkeit, die bewies, daß sie weniger Gewicht darauf legte, sich Kreaturen zu schaffen, als das Vertrauen zu ihr zu erhöhen. Dieses Verhalten war ihr von ihrer Hauptleidenschaft eingegeben, von ihrer Eitelkeit. Eroberungen und Vergnügungen, an denen so viele Frauen hängen, schienen ihr nur Hilfsmittel zu sein: sie wollte an allen Stellen des größten Kreises, den das Leben umschreiben kann, leben. Unter den noch jungen Männern, die sich an großen Tagen in ihren Salons drängten, fielen die Herren de Marsay, de Ronquerolles, de Montriveau, de la Roche-Hugon, de Sérizy, Ferrand, Maxime de Trailles, de Listomère, die beiden Vandenesse, du Châtelet u. a. auf. Häufig ließ sie einen Mann bei sich zu, ohne seine Frau empfangen zu wollen, und ihre Macht war stark genug, um solche harten Bedingungen gewissen ehrgeizigen Personen aufzuerlegen, wie den beiden berühmten royalistischen Bankiers, den Herren de Nucingen und Ferdinand du Tillet. Sie hatte die starken wie die schwachen Seiten des Pariser Lebens so genau studiert, daß sie ihr Benehmen so einzurichten wußte, um keinem Mann auch nur den geringsten Vorteil über sich einzuräumen. Man hätte eine ungeheure Summe für ein Billett oder einen Brief, worin sie sich kompromittierte, aussetzen können, ohne auch nur einen einzigen zu finden. Wenn die Unempfindlichkeit ihrer Seele ihr gestattete, ihre Rolle natürlich zu spielen, so kam ihr ihr Äußeres dabei nicht weniger zustatten. Sie besaß eine jugendliche Figur. Ihre Stimme war, wie sie es wünschte, biegsam, frisch, klar und hart. Sie besaß in höchstem Grade das Geheimnis aristokratischer Haltung, mit der eine Frau das Gewesene auslöscht. Die Marquise verstand die Kunst sehr wohl, einen ungeheuren Zwischenraum zwischen sich und den Mann zu legen, der nach einem flüchtigen Glück ein Recht auf Vertraulichkeit zu haben glaubt. Ihr gebietender Blick verstand, alles zu leugnen. Bei ihrer Unterhaltung schienen erhabene schöne Gefühle, vornehme Grundsätze in natürlicher Weise einer reinen Seele und einem reinen Herzen zu entspringen; in Wirklichkeit aber war alles bei ihr Berechnung, sie war fähig, einen ungeschickten Mann in seiner Tätigkeit zunichte zu machen, sobald sie schamlos ihren eigenen Interessen damit dienen zu können glaubte. Als er versuchte, sich an sie anzuschließen, hatte Rastignac wohl gut in ihr das geschickteste Instrument erkannt, aber er hatte sich seiner noch nicht bedient; fern davon, es handhaben zu können, ließ er sich davon bereits zerbrechen. Dieser junge Condottiere der Intelligenz, verurteilt dazu, wie Napoleon, immer zu kämpfen mit dem Bewußtsein, daß eine einzige Niederlage das Grab seines Glücks sein würde, war in seiner Beschützerin einem gefährlichen Gegner begegnet. Zum ersten Mal in seinem stürmischen Leben spielte er eine ernsthafte Partie mit einem seiner würdigen Partner. In der Eroberung der Madame d'Espard winkte ihm ein Ministerium. Deshalb diente er ihr, bevor er sich ihrer bediente: ein gefährlicher Anfang.

Das Hotel d'Espard verlangte eine zahlreiche Dienerschaft, der Aufwand der Marquise war bemerkenswert. Die großen Empfänge fanden im Erdgeschoß statt, die Marquise selbst bewohnte das erste Stockwerk ihres Hauses. Das Aussehen der reich geschmückten Treppe, die in dem vornehmen Geschmack, der einst in Versailles geherrscht hatte, geschmückten Räume sprachen von einem ungeheuren Vermögen. Als der Richter das Tor vor dem Kabriolett seines Neffen sich öffnen sah, prüfte er mit schnellem Blick die Portiersloge, den Schweizer, den Hof, die Ställe, die Verteilung der Räume, die Blumen, die die Treppe zierten, die peinliche Sauberkeit der Treppengeländer, die Wände, die Teppiche, und zählte die livrierten Diener, die beim Anschlagen der Glocke auf dem Treppenabsatz erschienen. Seine Augen, die am Tage vorher in seinem Sprechzimmer die Größe des Elends im schmutzigen Gewande des Volkes geprüft hatten, untersuchten jetzt mit der gleichen Klarheit des Blickes das Mobiliar und die Ausschmückung der Zimmer, durch die er ging, um hier das Elend der menschlichen Größe zu finden:

»Herr Popinot. Herr Bianchon.«

Die beiden Namen wurden am Eingang zum Boudoir, in dem sich die Marquise befand, einem hübschen, neu möblierten Zimmer, das nach dem Garten des Hotels hinausging, angemeldet. Madame d'Espard saß hier in einem alten Rokokofauteuil, den »Madame« in Mode gebracht hatte. Rastignac befand sich neben ihr zur Linken auf einem Lehnstuhl, in dem er sich wie der ›Primo‹ einer italienischen Dame niedergelassen hatte. Aufrecht, an der Kaminecke stehend, war noch eine dritte Person zugegen. Wie es der gelehrte Doktor vermutet hatte, war die Marquise eine Dame von trocknem, nervösem Temperament; ohne ihre Lebensweise hätte ihr Teint die rötliche Farbe gezeigt, die ein ständiges Sicherregen verleiht; aber sie verstärkte noch ihre falsche Blässe durch die Nuancen und die kräftigen Töne der Stoffe, mit denen sie sich umgab oder in die sie sich kleidete. Braunrot, Kastanienbraun, Schwarzbraun mit goldenen Lichtern standen ihr vortrefflich. Ihr Boudoir, dem einer berühmten Lady, damals in London in Mode, nachgebildet, war in lohefarbenem Samt gehalten; aber sie hatte noch zahlreiche Verzierungen hinzufügen lassen, deren hübsche Muster das ungewöhnlich Pompöse dieser königlichen Farbe milderten. Sie war wie eine jugendliche Person, mit zusammengefaßten Scheiteln frisiert, die das etwas längliche Oval ihres Gesichts hervortreten ließen; denn ebenso wie die runde Form unfein wirkt, ebenso wirkt die längliche majestätisch. Geschliffene Doppelspiegel, die nach Belieben ein Gesicht verlängern oder verbreitern, geben einen überzeugenden Beweis davon, wie sich dieser Grundsatz auf die Physiognomie anwenden läßt.

Als sie Popinot bemerkte, der auf der Schwelle wie ein erschrecktes Tier stehen blieb, mit vorgestrecktem Halse, die linke Hand in seiner Tasche, die Rechte mit einem Hut bewaffnet, dessen Futter fettig war, warf die Marquise Rastignac einen Blick zu, in dem etwas von Mokanterie aufkeimte. Der ein bißchen lächerliche Anblick paßte so gut zu seiner grotesken Kleidung und seinem erschreckten Aussehen, daß beim Anblick des betrübten Gesichts Bianchons, der sich durch seinen Onkel gedemütigt fühlte, Rastignac sich nicht abhalten konnte, mit abgewendetem Kopf zu lachen. Die Marquise grüßte mit einer Neigung des Kopfes und machte eine vergebliche Anstrengung, sich aus ihrem Fauteuil zu erheben, in den sie, nicht ohne Grazie, wieder zurücksank, wobei sie sich wegen der Unhöflichkeit ihrer gespielten Schwäche entschuldigte. In diesem Moment grüßte die Person, die zwischen dem Kamin und der Tür stand, leicht, schob zwei Stühle vor und bot sie mit einer Handbewegung dem Doktor und dem Richter an; dann, als er sah, daß sie Platz genommen hatten, lehnte er seinen Rücken wieder gegen die Wand und kreuzte die Arme. Ein Wort über diesen Mann. Es gibt heute einen Maler, Descamps, der im höchsten Grade die Kunst versteht, für das zu interessieren, was er einem vor Augen führt, sei es ein Stein oder ein Mensch. Unter diesem Gesichtspunkt ist sein Bleistift wissender als sein Pinsel. Wenn er ein kahles Zimmer zeichnet und an der Mauer einen Besen stehen läßt, so wird man, wenn er es will, erzittern: man glaubt, daß dieser Besen eben das Instrument eines Verbrechens gewesen ist und von Blut trieft; es wird der Besen sein, dessen sich die Witwe Bancal bedient hat, um den Saal zu reinigen, in dem Fualdès hingeschlachtet wurde. Der Maler wird den Besen zerzaust aussehen lassen, wie wenn es ein Mensch in Zorn wäre, er wird die Haare emporsteigen lassen, als ob es unsere eigenen bebenden Haare wären; er wird dabei zum Dolmetscher zwischen der geheimen Poesie seiner Einbildungskraft und der, die sich bei uns entwickelt. Nachdem er uns heute durch die Lebendigkeit dieses Besens erschreckt hat, wird er morgen irgendeinen andern zeichnen, neben dem eine schlafende, aber in ihrem Schlaf geheimnisvolle Katze uns versichert, daß dieser Besen der Frau eines deutschen Schusters dient, die auf den Brocken reiten will. Oder es wird irgend ein friedlicher Besen sein, an dem er den Rock eines Angestellten beim Schatzamt aufhängen will. Descamps besitzt in seinem Pinsel das, was Paganini in seinem Bogen besaß, eine mitteilbare magnetische Kraft. Man müßte nun dieses ergreifende Genie, diesen »Schick« des Bleistifts in einen andern Stil übertragen, um diesen geraden, mageren großen Mann zu malen, in schwarzem Anzug, mit langen schwarzen Haaren, der still dastand, ohne ein Wort zu reden. Dieser Herr besaß ein Gesicht wie eine Messerklinge, kalt und scharf, dessen Farbe dem Wasser der Seine glich, wenn es aufgerührt ist und Kohlen von einem gesunkenen Schiff mitführt. Er blickte zur Erde, hörte zu und überlegte. Seine Haltung war erschreckend. Er stand da wie der berühmte Besen, dem Descamps die anklagende Macht verliehen hat, ein Verbrechen zu enthüllen. Manchmal versuchte die Marquise während der Besprechung seine stillschweigende Ansicht zu vernehmen, während sie ihren Blick für einen Moment auf ihn richtete; aber so schnell diese stumme Frage war, er blieb ernst und steif wie die Statue des Kommandeurs.

Der gute Popinot saß auf der Kante seines Stuhls, dem Feuer gegenüber, seinen Hut zwischen den Beinen, und betrachtete die mit geschlagenem Gold geschmückten Kandelaber, die Uhr, die auf dem Kamin in Fülle vorhandenen Merkwürdigkeiten, den Stoff und die Verzierungen der Wandbekleidung, kurz all die hübschen, so teuren Nichtigkeiten, mit denen sich eine Frau umgibt, die in Mode ist. Er wurde aus seiner bourgeoisen Betrachtung durch Madame d'Espard gerissen, die mit ihrer Flötenstimme sagte: »Mein Herr, ich muß Ihnen millionenmal danken . . .«

›Eine Million von Dank,‹ sagte der Biedermann zu sich, ›das ist zuviel, sie hat auch nicht einen für mich übrig.‹

». . . für die Mühe, daß Sie sich herabgelassen haben . . .«

›Herabgelassen?‹ dachte er, ›sie spottet über mich.‹

». . . herabgelassen haben, eine arme Klägerin zu besuchen, die zu krank ist, um ausgehen zu können . . .«

Hier schnitt der Richter der Marquise das Wort ab, indem er ihr einen forschenden Blick zuwarf, mit dem er den Gesundheitszustand der armen Klägerin prüfte. ›Es geht ihr ja ausgezeichnet!‹ sagte er sich.

»Gnädige Frau,« erwiderte er respektvoll, »Sie sind mir keinen Dank schuldig. Obgleich ein Besuch wie meiner beim Tribunal nicht üblich ist, dürfen wir uns doch keinen Schritt ersparen, um bei derartigen Angelegenheiten die Wahrheit aufzudecken. Unsere Urteile beruhen dann weniger auf dem Wortlaut des Gesetzes, als auf der Eingebung unseres Gewissens. Ob ich die Wahrheit in meinem Arbeitszimmer oder hier suche, das ist, vorausgesetzt daß ich sie finde, ganz gleich.«

Während Popinot so sprach, drückte Rastignac Bianchon die Hand, und die Marquise begrüßte den Doktor mit einer kleinen Neigung des Kopfes voll liebenswürdiger Freundlichkeit.

»Wer ist denn dieser Herr?« sagte Bianchon leise zu Rastignac und wies auf den Herrn in Schwarz.

»Der Chevalier d'Espard, der Bruder des Marquis.«

»Ihr Herr Neffe hat mir mitgeteilt«, erwiderte die Marquise Popinot, »wie stark Sie beschäftigt sind, und ich weiß bereits, daß Sie so gütig waren, eine Wohltat zu verheimlichen, um sich der Dankbarkeit Ihrer Schuldner zu entziehen. Es scheint, daß das Tribunal Sie außerordentlich ermüdet. Weshalb verdoppelt man nicht die Zahl der Richter?«

»Ach, Madame, da ist keine Not,« sagte Popinot, »das wäre nicht das Schlimmste. Aber ehe das geschieht, werden die Hühner Zähne bekommen.«

Bei diesen Worten, die so gut zu dem Gesicht des Richters paßten, sah ihm der Chevalier direkt ins Gesicht und schien sich zu sagen: ›Mit dem werden wir leicht fertig werden.‹

Die Marquise sah Rastignac an, der sich zu ihr herabneigte.

»So«, sagte er zu ihr, »sind die Leute beschaffen, die über die Interessen und das Leben der einzelnen zu entscheiden haben.«

Wie die Mehrzahl der Menschen, die in einem Beruf alt geworden sind, bewegte sich Popinot gern in den Formen, die er sich darin angeeignet hatte, das heißt in den geistigen Formen. Seine Unterhaltung schmeckte nach dem Untersuchungsrichter. Er liebte es, die Leute, mit denen er sprach, auszufragen, sie mit unerwarteten Schlüssen zu bedrängen und sie mehr sagen zu lassen, als sie verraten wollten. Pozzo di Borgo amüsierte sich damit, die Geheimnisse seiner Mitunterredner herauszubekommen, indem er sie durch die diplomatischen Fallen, die er stellte, in Verlegenheit brachte: Er entfaltete so in seiner unüberwindlichen Neigung seinen mit List gesättigten Geist. Sobald Popinot daher sozusagen das Terrain abgemessen hatte, auf dem er sich befand, war er der Meinung, daß es nötig sei, mit geschicktester, möglichst verstellter und am besten verheimlichter Schlauheit vorzugehen, wie es bei Gericht zu geschehen pflegt, wenn man die Wahrheit herausbekommen will.

Bianchon verhielt sich kühl und ernst, wie ein Mann, der sich entschieden hat, eine Qual auf sich zu nehmen und seine Schmerzen nicht laut werden zu lassen; aber innerlich wünschte er seinem Onkel die Macht, diese Frau wie eine Schlange zu zertreten: ein Vergleich, zu dem ihn das lange Kleid, die gekrümmte Haltung, der schlanke Hals, der kleine Kopf und die sich schlängelnden Bewegungen der Marquise veranlaßten.

»Nun, mein Herr«, entgegnete die Marquise, »wie stark auch meine Abneigung ist, den Egoisten zu spielen, ich leide schon seit zu langer Zeit, um nicht zu wünschen, daß Sie mit der Sache schnell zu Ende kämen. Werde ich auf eine baldige glückliche Lösung hoffen können?«

»Gnädige Frau, ich werde alles, was an mir liegt, tun, um sie zu Ende zu bringen,« sagte Popinot mit einem Gesichtsausdruck voller Biederkeit. »Kennen Sie den Grund, der die Trennung zwischen Ihnen und dem Marquis d'Espard veranlaßt hat?« fragte der Richter und sah die Marquise an.

»Nein, mein Herr«, sagte sie und setzte sich zurecht, um einen vorbereiteten Bericht zu erstatten. »Zu Beginn des Jahres 1816 schlug mir Herr d'Espard, dessen Laune sich seit drei Monaten völlig geändert hatte, vor, mit ihm bei Briançon, auf einem seiner Güter zu leben, ohne Rücksicht auf meine Gesundheit zu nehmen, die das Klima dort ruiniert haben würde, und ohne meine Lebensgewohnheiten in Betracht zu ziehen; ich weigerte mich, ihm zu folgen. Meine Ablehnung brachte ihn zu so unbegründeten Vorwürfen, daß ich von diesem Moment an Verdacht über die Klarheit seines Geistes schöpfte. Am nächsten Tage verließ er mich und überließ mir sein Hotel, die freie Verfügung über mein Einkommen, mietete sich in der Rue de la Montagne-Sainte-Geneviève ein und nahm meine beiden Kinder mit sich.«

»Gestatten Sie, gnädige Frau,« unterbrach sie der Richter, »wie hoch war dieses Einkommen?

»Sechsundzwanzigtausend Franken Rente«, antwortete sie nebenhin. »Ich konsultierte sofort den alten Herrn Bordin, um zu wissen, was ich zu tun hätte,« fuhr sie fort; »aber es scheint, daß die Schwierigkeiten, einem Vater die Erziehung seiner Kinder zu nehmen, so groß sind, daß ich mich darauf beschränken mußte, mit zweiundzwanzig Jahren allein zu leben, einem Alter, in dem viele junge Frauen Torheiten begehen können. Sie haben jedenfalls meinen Antrag gelesen, mein Herr; Sie kennen die Haupttatsachen, auf die ich mich stütze, um die Entmündigung des Herrn d'Espard zu verlangen?«

»Haben Sie, gnädige Frau«, fragte der Richter, »Schritte getan, um Ihre Kinder von ihm wieder zu erhalten?«

»Jawohl, mein Herr, aber sie waren alle vergeblich. Es ist sehr grausam für eine Mutter, der Liebe ihrer Kinder beraubt zu sein, besonders wenn sie einem die Freuden gewähren könnten, an denen alle Frauen hängen.«

»Der Ältere muß sechzehn Jahre alt sein«, sagte der Richter.

»Fünfzehn«, erwiderte die Marquise schnell.

Hier sah Bianchon Rastignac an. Madame d'Espard biß sich auf die Lippen.

»Inwiefern kommt das Alter meiner Kinder für Sie in Betracht?«

»Ach, gnädige Frau,« sagte der Richter, ohne daß er auf die Bedeutung seiner Worte zu achten schien, »ein junger Mensch von fünfzehn Jahren und sein Bruder, der sicher dreizehn Jahr alt sein wird, besitzen doch Beine und Intelligenz, sie würden Sie doch heimlich besuchen; wenn sie nicht kommen, so gehorchen sie ihrem Vater, und um ihm so weit zu gehorchen, müssen sie ihn sehr liebhaben.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die Marquise.

»Sie wissen vielleicht nicht,« erwiderte Popinot, »daß Ihr Anwalt in Ihrem Klageantrag behauptet, daß Ihre lieben Kinder sehr unglücklich bei ihrem Vater sind . . .«

Madame d'Espard sagte mit reizender Harmlosigkeit: »Ich weiß nicht, was der Anwalt mich hat sagen lassen.«

»Verzeihen Sie mir meine Schlüsse, aber die Justiz muß alles abwägen«, fuhr Popinot fort. »Was ich Sie frage, ist von dem Wunsche diktiert, die Angelegenheit genau kennen zu lernen. Nach Ihrer Ansicht hätte Herr d'Espard Sie unter dem frivolsten Vorwand verlassen. Anstatt nach Briançon zu gehen, wohin er Sie bringen wollte, ist er in Paris geblieben. Dieser Punkt ist nicht klar. Kannte er diese Frau Jeanrenaud vor seiner Heirat?«

»Nein, mein Herr«, antwortete die Marquise mit einer Art Mißfallen, das nur für Rastignac und für den Chevalier d'Espard bemerkbar war.

Sie fühlte sich verletzt, daß sie von diesem Richter so auf das Sünderstühlchen gesetzt wurde, während sie sich vorgenommen hatte, sein Urteil zu verwirren; aber da die Haltung Popinots absichtlich harmlos blieb, so schob sie seine Fragen dem »Ausfragegeist« von Voltaires Schultheißen zu.

»Meine Eltern«, fuhr sie fort, »haben mich im Alter von sechzehn Jahren mit Herrn d'Espard verheiratet, dessen Name, Vermögen und Lebensweise dem entsprach, was meine Familie von dem Mann, der mein Gatte werden sollte, verlangte. Herr d'Espard war damals sechsundzwanzig Jahr alt, er war ein Gentleman im englischen Sinne des Wortes: sein Wesen gefiel mir, er schien viel Ehrgeiz zu besitzen, und ich liebe die Ehrgeizigen«, sagte sie und blickte Rastignac an. »Wäre Herr d'Espard nicht dieser Frau Jeanrenaud begegnet, so hätten ihn seine Anlagen, sein Wissen, seine Beziehungen nach dem damaligen Urteil seiner Freunde an die Spitze der Staatsgeschäfte gebracht; König Karl X., damals noch ›Monsieur‹, schätzte ihn hoch, und die Pairschaft, ein Hofamt, eine hohe Stellung warteten seiner. Diese Frau hat ihm den Kopf verdreht und die Zukunft einer ganzen Familie zerstört.«

»Wie waren die religiösen Anschauungen des Herrn d'Espard?«

»Er war«, sagte sie, »und ist auch jetzt noch sehr fromm.

»Sie denken nicht, daß Frau Jeanrenaud mit einem geheimen Mittel auf ihn eingewirkt hat?«

»Nein, mein Herr.«

»Sie besitzen ein schönes Hotel, gnädige Frau«, sagte Popinot abbrechend und erhob sich, während er die Hände aus den Taschen nahm, um die Schöße seines Rocks beiseite zu schieben und sich zu wärmen. »Dieses Boudoir ist sehr schön, die Stühle sind prächtig, Ihre Zimmer sind kostbar: Sie müssen sich in der Tat darüber beklagen, während Sie sich hier aufhalten, Ihre Kinder so schlecht untergebracht, gekleidet und ernährt zu wissen. Für eine Mutter kann ich mir nichts Abscheulicheres vorstellen!«

»Gewiß, mein Herr. Ich möchte den armen Kleinen einige Annehmlichkeiten verschaffen, die ihr Vater von früh bis abends an diesem beklagenswerten Werk über China arbeiten läßt.«

»Sie geben schöne Bälle, die Kinder würden sich amüsieren, aber dabei Geschmack an der Zerstreuung finden; trotzdem könnte ihr Vater sie Ihnen wohl ein- oder zweimal im Winter schicken.«

»Er bringt sie mir zu Neujahr und zu meinem Geburtstage her. An diesen Tagen erweist mir Herr d'Espard die Gefälligkeit, mit ihnen bei mir zu speisen.«

»Das ist ein sehr eigenartiges Benehmen«, sagte Popinot und sah aus, als ob er überzeugt wäre. »Haben Sie die Frau Jeanrenaud einmal gesehen?«

»Eines Tages hat mein Schwager, aus Interesse für seinen Bruder . . .«

»Ach,« unterbrach der Richter die Marquise, »der Herr ist der Bruder des Herrn d'Espard?«

Der Chevalier verneigte sich, ohne ein Wort zu sagen.

»Herr d'Espard, der die Angelegenheit verfolgte, hat mich in das Oratorium geführt, wohin diese Frau zur Predigt geht, sie ist Protestantin. Ich habe sie gesehen, sie hat nichts Anziehendes, sie sieht aus wie eine Fleischerfrau; sie ist äußerst fett und hat fürchterliche Pockennarben; sie hat Hände und Füße wie ein Mann, sie schielt, kurz, sie ist ein Monstrum.«

»Unbegreiflich!« sagte der Richter und schien der harmloseste aller Richter im Königreiche zu sein. »Und diese Person wohnt hier in der Nähe, in der Rue Verte, in einem Hotel! Es gibt keine Bourgeois mehr!«

»Ein Hotel, für das ihr Sohn unsinnige Ausgaben gemacht hat.«

»Gnädige Frau,« sagte der Richter, »ich wohne im Faubourg Saint-Marceau, ich kenne diese Art Ausgaben nicht; was nennen Sie unsinnige Ausgaben?«

»Nun,« sagte die Marquise, »einen Stall, fünf Pferde, drei Wagen, eine Kalesche, ein Coupé, ein Kabriolett.«

»Das kostet so viel?« sagte Popinot erstaunt.

»Kolossal«, unterbrach ihn Rastignac. »Ein solcher Haushalt braucht für den Stall, den Unterhalt der Wagen und die Kleidung der Leute zwischen fünfzehn und sechzehntausend Franken.«

»Meinen Sie, gnädige Frau?« fragte der Richter mit erstaunter Miene.

»O ja, wenigstens«, erwiderte die Marquise.

»Und das Möblement des Hotels hat auch noch mächtig viel gekostet?«

»Mehr als hunderttausend Franken«, antwortete die Marquise, die sich nicht enthalten konnte, über die Einfalt des Richters zu lächeln.

»Die Richter,« bemerkte der gute Mann, »sind ziemlich ungläubig, sie werden sogar dafür bezahlt, daß sie es sein sollen, und ich bin solch einer. Der Herr Baron Jeanrenaud und seine Mutter hätten also, wenn sich das so verhält, in merkwürdiger Weise Herrn d'Espard beraubt. Sie haben also einen Stall, der nach Ihrer Schätzung jährlich sechzehntausend Franken kostet. Die Tafel, die Löhne der Leute, die erheblichen häuslichen Ausgaben müssen das Doppelte betragen, was jährlich einen Betrag von fünfzig- bis sechzigtausend Franken ausmachen würde. Glauben Sie, daß diese Leute, vorher in so elenden Verhältnissen, ein so großes Vermögen haben können? Eine Million bringt kaum vierzigtausend Franken Rente.«

»Der Sohn und die Mutter haben das von Herrn d'Espard hergegebene Geld ins Staatsschuldbuch eintragen lassen, als die Rente auf 60 bis 80 stand. Ich glaube, daß sie ein Einkommen von mehr als sechzigtausend Franken haben müssen. Der Sohn hat außerdem ein sehr schönes Gehalt.«

»Wenn sie sechzigtausend Franken ausgeben,« sagte der Richter, »wie hoch sind denn Ihre Ausgaben?«

»Nun,« erwiderte Madame d'Espard, »annähernd ebenso hoch.«

Der Chevalier machte eine Bewegung, die Marquise errötete, Bianchon sah Rastignac an; aber der Richter sah so harmlos aus, daß die Marquise getäuscht wurde. Der Chevalier beteiligte sich nicht weiter an der Unterhaltung, er hielt alles für verloren.

»Diese Leute, gnädige Frau«, sagte Popinot, »gehören vor ein Sondergericht.«

»Das war auch meine Ansicht,« bemerkte die Marquise entzückt. »Wären sie mit der Sittenpolizei bedroht worden, so hätten sie mit sich reden lassen.«

»Gnädige Frau,« sagte Popinot, »als Herr d'Espard Sie verließ, hat er Ihnen da nicht Vollmacht gegeben für die Anlage und die Verwaltung Ihres Vermögens?«

»Ich verstehe den Sinn dieser Fragen nicht«, sagte die Marquise schnell. »Mir scheint, daß Sie, wenn Sie den Zustand in Betracht ziehen, in den mich der Wahnsinn meines Mannes versetzt, sich mehr mit ihm als mit mir beschäftigen sollten.«

»Gnädige Frau,« sagte der Richter, »wir kommen schon noch dahin. Bevor es Ihnen oder anderen die Verwaltung des Vermögens des Herrn d'Espard, wenn er entmündigt werden sollte, anvertraut, muß das Gericht wissen, wie Sie Ihr eigenes verwalten. Hätte Ihnen Herr d'Espard Vollmacht gegeben, so hätte er Ihnen sein Vertrauen bewiesen, und das Gericht würde diese Tatsache würdigen. Haben Sie Vollmacht von ihm? Dürfen Sie Immobilien ankaufen oder verkaufen oder Geld anlegen?«

»Nein, mein Herr; es gehört nicht zu den Gewohnheiten der Blamont-Chauvry, sich mit Geschäften zu befassen«, sagte sie, stark in ihrem Adelsstolz verletzt und ihre Angelegenheit vergessend. »Mein Vermögen ist unberührt, und Herr d'Espard hat mir keine Vollmacht gegeben.«

Der Chevalier hielt sich die Hand vor die Augen, um nicht seine starke Bestürzung sehen zu lassen, die ihm die geringe Vorsicht seiner Schwägerin verursachte, welche sich mit ihren Antworten zugrunde richtete. Popinot war, trotz der Umwege seines Verhörs, gerade aufs Ziel losgegangen.

»Gnädige Frau«, sagte der Richter und wies auf den Chevalier, »der Herr ist doch jedenfalls mit Ihnen verwandt? Wir können also offen vor diesen Herren reden.«

»Reden Sie nur«, sagte die Marquise, erstaunt über diese Vorsicht.

»Also, gnädige Frau, ich gebe zu, daß Sie nur sechzigtausend Franken jährlich ausgeben, und dieser Betrag erscheint wohl angewendet, wenn man Ihre Ställe, Ihr Hotel, Ihre zahlreiche Dienerschaft und die Lebensweise in einem Hause in Rechnung zieht, dessen Luxus mir dem der Jeanrenauds überlegen zu sein scheint.«

Die Marquise machte eine zustimmende Bewegung.

»Also«, fuhr der Richter fort, »wenn Sie nur sechsundzwanzigtausend Franken Rente haben, dann müssen Sie, unter uns gesagt, an die hunderttausend Franken Schulden haben. Der Gerichtshof würde also mit Recht annehmen, daß unter den Gründen, die Sie dazu veranlassen, die Entmündigung Ihres Herrn Gemahls zu verlangen, ein persönliches Interesse steckt, ein Bedürfnis, sich Ihrer Schulden zu entledigen, wenn . . . Sie . . . welche . . . haben. Das an mich gerichtete Gesuch hat mich für Ihre Lage interessiert, überlegen Sie es sich genau und beichten Sie mir. Es wäre noch Zeit, wenn meine Vermutungen richtig sein sollten, den Skandal eines Tadels zu vermeiden, der in den Voraussetzungen enthalten sein würde, die das Gericht in seiner Erwägung ausspräche, wenn Sie Ihre Lage nicht klar und deutlich darstellen würden. Wir sind gezwungen, die Motive der Antragsteller ebenso zu prüfen wie die Verteidigung des zu entmündigenden Mannes anzuhören und festzustellen, ob die Antragsteller nicht von der Leidenschaft verführt oder in nur allzu verbreiteter Begehrlichkeit vom geraden Wege abgekommen sind . . .«

Die Marquise fühlte sich wie auf dem Rost des heiligen Laurentius.

. . . »Und ich muß Erklärungen in bezug auf diesen Punkt haben«, sagte der Richter.

»Ich will mit Ihnen, gnädige Frau, keine Rechnung aufstellen, aber ich möchte nur wissen, wie Sie einen solchen Haushalt von sechzigtausend Franken Rente führen konnten, und zwar seit mehreren Jahren. Es gibt viele Frauen, die in ihrem Haushalt ein solches Phänomen darstellen, aber Sie gehören doch nicht zu diesen Frauen. Sprechen Sie, Sie können doch durchaus rechtmäßige Unterhaltsmittel haben, königliche Gnadenbeweise, gewisse Hilfsmittel aus den kürzlich bewilligten Schadloshaltungen; aber in diesen Fällen wäre die Autorisation Ihres Gemahls erforderlich gewesen, um sie anzunehmen.« Die Marquise war stumm geworden

»Denken Sie daran,« sagte Popinot, »daß Herr d'Espard sich vielleicht verteidigen will, sein Advokat wird das Recht haben, nachzuforschen, ob Sie Gläubiger haben. Dieses Boudoir ist neu möbliert, Ihre Zimmer haben auch nicht mehr das Mobiliar, das Ihnen im Jahre 1816 der Marquis überlassen hat. Wenn, wie Sie die Güte hatten, mir zu sagen, das Mobiliar für die Jeanrenauds teuer kam, so wird es Sie, die Sie eine vornehme Dame sind, noch mehr gekostet haben. Wenn ich auch ein Richter bin, so bin doch ein Mensch, ich kann mich täuschen, klären Sie mich auf. Denken Sie an die Verpflichtungen, die mir das Gesetz auferlegt, an die peinlich genauen Nachforschungen, die es verlangt, wenn es sich darum handelt, einen Familienvater zu entmündigen, der sich noch in der vollen Kraft seiner Jahre befindet. Deshalb werden Sie, Frau Marquise, die Einwände entschuldigen, die ich die Ehre habe, Ihnen zu unterbreiten, und über die es Ihnen leicht sein wird, mir einige Erklärungen zu geben. Wenn ein Mann wegen Irrsinns entmündigt werden soll, braucht er einen Kurator, wer soll dieser Kurator sein?«

»Sein Bruder«, sagte die Marquise.

Der Chevalier verbeugte sich. Es trat ein Moment des Stillschweigens ein, der für die fünf anwesenden Personen peinlich war. Indem er zu scherzen schien, hatte der Richter den wunden Punkt bei dieser Frau entdeckt. Popinots gutmütiges, bourgeoises Gesicht, über das die Marquise, der Chevalier und Rastignac zu lachen geneigt waren, hatte in ihren Augen seine wahren Züge gezeigt. Als sie ihn verstohlen beobachteten, bemerkten alle drei die tausend Charakteristiken dieses beredten Mundes. Der lächerliche Mensch wurde zu einem scharfsichtigen Richter. Seine Sorgsamkeit, das Boudoir zu bewerten, erklärte sich jetzt: er war von dem vergoldeten Elefanten ausgegangen, der die Uhr trug, um sich über diesen Luxus zu informieren, und hatte dabei im tiefsten Inneren dieser Frau gelesen.

»Wenn der Marquis d'Espard in China vernarrt ist,« sagte Popinot und zeigte auf die Kamingarnitur, »so freue ich mich zu sehen, daß seine Erzeugnisse Ihnen gleichfalls gefallen. Aber vielleicht ist es der Herr Marquis, dem Sie die reizvollen Chinoiserien hier verdanken«, sagte er und wies auf das kostbare Spielzeug.

Dieser geschmackvolle Spott ließ Bianchon lächeln, Rastignac erstarren, und die Marquise biß sich auf ihre schmalen Lippen.

»Mein Herr,« sagte Madame d'Espard, »anstatt der Verteidiger einer Frau zu sein, die vor die grausame Alternative gestellt ist, ihr Vermögen und ihre Kinder verloren zu sehen oder für die Feindin ihres Mannes zu gelten, klagen Sie mich noch an! Sie verdächtigen meine Absichten! Gestehen Sie, daß Ihr Verhalten eigenartig ist . . .«

»Gnädige Frau,« erwiderte der Richter lebhaft, »die Untersuchung, die das Gericht bei derartigen Sachen anstellt, hätte jeden anderen Richter zu einem vielleicht weniger nachsichtigen Kritiker gemacht, als ich es bin. Glauben Sie übrigens, daß der Advokat des Herrn d'Espard sehr entgegenkommend sein wird? Wird er nicht verstehen, Absichten, die rein und selbstlos sind, zu verdächtigen? Ihr Leben wird nun ihm gehören, er wird es durchstöbern, ohne bei seinen Nachforschungen die respektvolle Ergebenheit zu bezeigen, die ich für Sie hege.«

»Ich danke Ihnen, mein Herr«, erwiderte die Marquise ironisch. »Nehmen wir einmal an, daß ich dreißigtausend oder fünfzigtausend Franken schulde, so wäre das für die Häuser d'Espard und de Blamont-Chauvry eine Bagatelle; wenn aber mein Mann nun nicht im Besitz seiner Geisteskräfte wäre, würde das ein Hindernis für seine Entmündigung bedeuten?«

»Nein, gnädige Frau«, sagte Popinot.

»Obgleich Sie mich mit einer Art Schlauheit ausgefragt haben, die ich bei einem Richter nicht voraussetzen konnte, zumal die Verhältnisse so liegen, daß Freimütigkeit genügt hätte, um alles zu erfahren«, fuhr sie fort, »und ich mich für berechtigt halte, nichts weiter zu sagen, will ich Ihnen doch ohne Umschweife antworten, daß meine Stellung in der Welt, daß alle diese Bemühungen, um mir meine Beziehungen zu erhalten, meinem Geschmack nicht entsprechen. Ich habe mein Leben damit begonnen, daß ich es lange Zeit in Einsamkeit verbrachte; aber das Interesse meiner Kinder machte sich geltend, ich habe empfunden, daß ich ihnen den Vater ersetzen müsse. Indem ich meine Freunde empfing, indem ich alle diese Beziehungen pflegte und Schulden machte, habe ich ihre Zukunft gesichert, habe ihnen eine glänzende Karriere vorbereitet, bei der sie Hilfe und Unterstützung finden werden; und um das zu erreichen, was sie so erhalten haben, würden viel Spekulanten, Richter oder Bankiers gern alles, was sie mich gekostet haben, hergeben.«

»Ich erkenne Ihre Hingebung an, gnädige Frau«, antwortete der Richter. »Es ehrt Sie, und ich rüge nichts in Ihrem Verhalten. Aber der Richter gehört allen: er muß alles kennen, er muß alles abwägen.«

Der Takt der Marquise und ihre Übung, die Menschen zu beurteilen, ließen sie erkennen, daß Herr Popinot durch keine Bedenken beeinflußt werden könne. Sie hatte auf einen ehrgeizigen Richter gerechnet und war auf einen Mann mit reinem Gewissen gestoßen. Sie dachte sogleich an andere Mittel, um ihrer Sache Erfolg zu sichern. Die Diener brachten jetzt den Tee.

»Hat die gnädige Frau mir noch andere Erklärungen zu geben?« sagte Popinot, als er diese Zurüstungen sah.

»Tun Sie, was Ihres Amtes ist, mein Herr«, sagte sie hoheitsvoll. »Befragen Sie Herrn d'Espard, und Sie werden mich, dessen bin ich sicher, beklagen . . .«

Sie hob den Kopf und sah Popinot mit einer Mischung von Stolz und Überheblichkeit an; der Biedermann empfahl sich respektvoll.

»Er ist ja recht nett, dein Onkel«, sagte Rastignac zu Bianchon. »Begreift er denn nichts, weiß er denn nicht, daß er mit der Marquise d'Espard zu tun hat, kennt er denn ihren Einfluß, ihre geheime Macht über die Gesellschaft nicht? Morgen wird sie den Großsiegelbewahrer bei sich sehen . . .«

»Was soll ich dabei tun, mein Lieber,« sagte Bianchon, »habe ich dich nicht gewarnt? Das ist kein bequemer Mann.«

»Nein,« sagte Rastignac, »das ist ein Mann, der sehr unbequem werden kann.«

Der Doktor war genötigt, sich bei der Marquise und ihrem stummen Chevalier zu empfehlen und hinter Popinot herzueilen, der nicht der Mann war, in einer peinlichen Situation auszuharren.

»Diese Frau muß hunderttausend Taler schulden«, sagte der Richter, als er in das Kabriolett seines Neffen stieg.

»Was denken Sie von der Sache?«

»Ich bilde mir niemals eine Ansicht, bevor ich alles geprüft habe. Morgen ganz früh werde ich Frau Jeanrenaud auf vier Uhr zu mir in mein Arbeitszimmer vorladen, um Erklärungen von ihr über die Tatsachen, die sie betreffen, zu verlangen; denn sie ist kompromittiert.«

»Ich möchte gern das Ende dieser Sache erfahren.«

»Aber, mein Gott, siehst du denn nicht, daß die Marquise das Werkzeug dieses großen mageren Mannes ist, der kein Wort gesprochen hat? Er hat etwas von Kain an sich, aber von einem Kain, der beim Gericht nach seiner Keule sucht, wo wir leider nur Damoklesschwerter haben.«

»Ach, Rastignac!« rief Bianchon aus, »was tust du auf dieser Galeere?«

»Wir sind daran gewöhnt, solche kleinen Komplotte in den Familien zu beobachten: es vergeht kein Jahr, wo nicht Urteile gefällt werden, die Anträge auf Entmündigung abweisen. Bei unsern Gesellschaftsanschauungen fühlt man sich durch solche Versuche nicht entehrt, während wir einen armen Teufel auf die Galeeren schicken, weil er eine Scheibe zerbrochen hat, die ihn von einem Häufchen Goldstücke trennt. Unser Code ist nicht ohne Fehler.«

»Aber die Tatsachen des Klageantrags?«

»Kennst du denn die Gerichtsromane noch nicht, mein Junge, die die Klienten ihren Anwälten aufbinden? Wenn die Anwälte sich dazu verdammt sähen, nur die Wahrheit vorzubringen, würden sie nicht die Zinsen ihrer Einkünfte verdienen.«


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