Honoré de Balzac
Eine dunkle Geschichte
Honoré de Balzac

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Nach dem Friedensschluß zwischen Frankreich und Österreich, gegen Ende Februar 1806, kam ein Verwandter, der sich bei dem Antrag auf Streichung für die Herren von Simeuse verwendet hatte und der ihnen auch später große Beweise von Anhänglichkeit geben sollte, der frühere Marquis von Chargeboeuf, dessen Besitzungen sich vom Departement Seine-et-Marne bis ins Departement Aube erstreckten, von seinem Landgut nach Cinq-Cygne, und zwar in einer Art von Kalesche, die man zum Spott eine Halbberline nannte. Als das armselige Gefährt über das Pflasterstück fuhr, platzten die Schloßbewohner, die beim Frühstück waren, heraus. Als sie aber den Kahlkopf des Greises erkannten, der zwischen den beiden ledernen Vorhängen des Wagens hervorsah, nannte Herr von Chargeboeuf seinen Namen, und alle erhoben sich, um dem Haupt der Familie von Chargeboeuf entgegenzugehen.

»Es war unrecht von uns, daß wir ihn uns zuvorkommen ließen«, sagte der Marquis von Simeuse zu seinem Bruder und den Hauteserres. »Wir hätten ihn aufsuchen und uns bei ihm bedanken müssen.«

Ein als Bauer gekleideter Diener, der von einem Sitz auf dem Wagenkasten kutschierte, steckte eine Fuhrmannspeitsche in einen Halter aus grobem Leder und half dem Marquis beim Aussteigen. Aber Adrien und der jüngere Simeuse kamen ihm zuvor, öffneten die Wagentür, die an Messingknöpfen festgemacht war, und halfen dem Biedermann trotz seines Einspruchs heraus. Der Marquis bildete sich ein, daß seine gelbe Halbberline mit den Ledervorhängen ein ausgezeichneter und bequemer Wagen war. Der Diener spannte bereits mit Gotthards Hilfe die beiden braven dicken Gäule mit den glänzenden Kruppen aus, die zweifellos ebenso oft zu landwirtschaftlichen Arbeiten wie als Wagenpferde benutzt wurden.

»Trotz der Kälte? Aber Sie sind ein Ritter aus alten Tagen!« sagte Laurence zu ihrem alten Verwandten, indem sie seinen Arm ergriff und ihn in den Salon führte.

»Es ist nicht Ihre Sache, einen alten Kerl wie mich zu besuchen«, sagte er fein mit einem versteckten Vorwurf für seine jungen Verwandten.

»Warum kommt er?« fragte sich der alte Herr von Hauteserre.

Herr von Chargeboeuf war ein schöner Greis von siebzig Jahren mit gebrechlichen Beinchen, die in gemusterten Strümpfen steckten. Er trug eine helle Kniehose, einen Haarbeutel, Puder und »Taubenflügel«, einen Jagdrock aus grünem Tuch mit goldnen Knöpfen und Verschnürungen, darunter eine weiße Weste mit riesiger blinkender Goldstickerei. Dieser unter den alten Leuten damals noch übliche Aufputz paßte gut zu seinem Gesicht, das dem des großen Friedrich ziemlich ähnlich sah. Nie setzte er seinen Dreispitz auf, um nicht die Wirkung des Halbmondes zu zerstören, den eine Puderschicht auf seinen Schädel beschrieb. Mit der Rechten stützte er sich auf einen Stock mit schnabelförmiger Krücke, wobei er Stock und Hut mit einer Ludwigs XIV. würdigen Geste zusammenhielt. Der würdige Greis entledigte sich eines gesteppten seidenen Überrocks und ließ sich in einen Lehnstuhl sinken, indem er Dreispitz und Hut zwischen den Beinen behielt. Diese Pose, deren Geheimnis stets nur den Lebemännern am Hofe Ludwigs XV. vertraut war, ließ die Hände frei, so daß sie mit der Tabaksdose, einem stets kostbaren Schmuckstück, spielen konnten. Und so zog der Marquis denn auch eine reiche Tabaksdose aus der Tasche seiner Weste, die mit einem mit Goldarabesken bestickten Schutzstreifen abschloß. Während er sich anschickte, eine Prise zu nehmen, und mit einer zweiten reizenden Geste, die er mit freundlichen Blicken begleitete, im Kreise herum Tabak anbot, bemerkte er, welches Vergnügen sein Besuch bereitete. Nun schien er zu begreifen, warum die jungen Emigranten ihre Pflicht ihm gegenüber verabsäumt hatten. Er schien sich zu sagen: »Wenn man den Hof macht, macht man keine Besuche.«

»Wir können Sie doch ein paar Tage hier behalten?« fragte Laurence.

»Unmöglich«, entgegnete er. »Wären wir nicht so durch die Ereignisse getrennt gewesen, denn Sie haben größere Entfernungen durchmessen als die, welche uns von einander trennen, so wüßten Sie, liebes Kind, daß ich Töchter, Schwiegertöchter und Enkelkinder habe. Die ganze Gesellschaft wäre besorgt, wenn sie mich heute abend nicht sähe, und ich habe achtzehn (französische) Meilen zu fahren!«

»Sie haben recht gute Pferde«, versetzte der Marquis von Simeuse.

»Oh, ich komme von Troyes, wo ich gestern Geschäfte hatte.«

Nach den obligaten Fragen über die Familie, die Marquise von Chargeboeuf und all die tatsächlich gleichgültigen Dinge, an denen die Höflichkeit lebhaften Anteil zu nehmen gebietet, dünkte es Herrn von Hauteserre, als sei Herr von Chargeboeuf gekommen, um seine jungen Verwandten vor jeder Unvorsichtigkeit zu warnen. Wie der alte Marquis sagte, hatten die Zeiten sich sehr geändert, und niemand konnte mehr sagen, wozu der Kaiser es noch bringen würde.

»Oh,« sagte Laurence, »er wird zum Gott werden.«

Der gute Greis sprach von Konzessionen, die man machen müsse. Als Herr von Hauteserre die Notwendigkeit, sich zu unterwerfen, betonen hörte, und zwar mit weit mehr Bestimmtheit und Nachdruck, als er selbst bei allen seinen Lehren anzuwenden pflegte, blickte er seine Söhne fast flehentlich an.

»Würden Sie diesem Manne dienen?« fragte der Marquis von Simeuse den Marquis von Chargeboeuf.

»Gewiß, wenn das im Interesse meiner Familie läge.«

Schließlich ließ der Greis in unbestimmter Weise ferne Gefahren durchblicken; als Laurence ihn aufforderte, sich deutlicher zu erklären, riet er den vier Edelleuten, nicht mehr zu jagen und sich still zu Hause zu halten.

»Sie sehen das Gebiet von Gondreville noch immer als Ihr Eigentum an,« sagte er zu den Herren von Simeuse; »damit entfachen Sie furchtbaren Haß. An Ihrem Erstaunen sehe ich, daß Sie nicht wissen, daß in Troyes, wo man noch Ihres Mutes gedenkt, Übelwollen gegen Sie besteht. Jedermann erzählt unverblümt, wie Sie den Nachforschungen der Polizei des Kaiserreiches entgangen sind; die einen loben Sie dafür, die andern sehen Sie als Feinde des Kaisers an. Einige Parteigänger wundern sich über Napoleons Milde gegen Sie. Das ist noch nichts. Sie haben Leute zum besten gehabt, die sich für schlauer als Sie hielten; Niedriggestellte verzeihen nie. Früher oder später wird die Justiz, die in Ihrem Departement von Ihrem Feinde, dem Senator Malin, ausgeht, denn er hat überall seine Kreaturen angebracht, selbst in den ministeriellen Beamtenstellen – seine Justiz wird also sehr froh sein, Sie in eine schlimme Geschichte verwickelt zu sehen. Ein Bauer wird mit Ihnen Streit anfangen, wenn Sie auf seinen Feldern sind. Sie haben geladene Waffen, sind lebhaft, und ein Unglück ist bald geschehen. In Ihrer Lage muß man hundertmal recht haben, um nicht unrecht zu kriegen. Ich rede nicht ohne Grund so mit Ihnen. Die Polizei überwacht noch immer den Kreis, in dem Sie sich befinden, und hält in dem Nest Arcis einen Kommissar, bloß um den kaiserlichen Senator vor Ihren Anschlägen zu schützen. Er hat Angst vor Ihnen und sagt es.«

»Aber er verleumdet uns!« rief der jüngere Simeuse.

»Er verleumdet Sie! Das will ich glauben . . . Aber was glaubt das Publikum? Darauf kommt es an. Michu hat den Senator aufs Korn genommen, und der hat es nicht vergessen. Seit Ihrer Rückkehr hat die Gräfin Michu zu sich genommen. Für viele Leute und für die Mehrheit des Publikums hat Malin also recht. Sie wissen nicht, wie heikel die Lage der Emigranten denen gegenüber ist, die im Besitz ihrer Güter sind. Der Präfekt, ein geistvoller Mann, hat mir gestern ein paar Worte über Sie gesagt, die mich beunruhigt haben. Kurz, ich möchte, Sie wären nicht hier.«

Diese Antwort wurde mit tiefer Bestürzung vernommen. Maria Paul schellte heftig.

»Gotthard,« sagte er, als der kleine Bursche erschien, »holen Sie Michu.«

Der frühere Verwalter von Gondreville ließ nicht auf sich warten.

»Michu, mein Freund,« fragte der Marquis von Simeuse, »ist es wahr, daß du Malin totschießen wolltest?«

»Ja, Herr Marquis, und wenn er wiederkommt, werd' ich ihm auflauern . . .«

»Weißt du, daß man uns im Verdacht hat, wir hätten dich dazu angestiftet? Daß unsere Base, weil sie dich zum Pächter genommen hat, beschuldigt wird, deinen Plan zu teilen?«

»Gütiger Himmel!« rief Michu aus, »bin ich denn verflucht? Kann ich Sie denn nie in Ruhe von Malin befreien?«

»Nein, mein Junge, nein«, entgegnete Paul Maria. »Aber du wirst die Gegend und unsern Dienst verlassen müssen; wir werden für dich sorgen und dich in die Lage setzen, dein Hab und Gut zu vermehren. Verkaufe, was du hier besitzt, mach dein Eigentum zu Gelde. Wir werden dich nach Triest zu einem unsrer Freunde schicken, der weite Beziehungen hat und dich sehr nutzbringend beschäftigen wird, bis die Dinge hier für uns alle besser stehen.«

Tränen traten in Michus Augen, und er blieb wie angenagelt auf dem Parkettstück stehen, auf dem er sich befand.

»Waren Zeugen da, als du dich in den Hinterhalt legtest, um Malin totzuschießen?« fragte der Marquis von Chargeboeuf.

»Grévin, der Notar, sprach mit ihm. Das hat mich gehindert, auf ihn zu schießen, und das war ein Glück! Die Frau Gräfin weiß, warum«, sagte Michu und blickte seine Herrin an.

»Dieser Grévin ist nicht der einzige, der es weiß?« fragte Herr von Chargeboeuf, dem dies Verhör, wenn auch in der Familie, unangenehm schien.

»Der Spion, der damals kam, um meine Herren einzuwickeln, wußte es auch«, entgegnete Michu.

Herr von Chargeboeuf erhob sich, wie um in die Gärten hinauszusehen, und sagte: »Aber Sie haben Cinq-Cygne wirklich recht hochgebracht!« . . . Dann ging er hinaus, gefolgt von den beiden Brüdern und von Laurence, die den Sinn dieses Verhörs errieten.

»Sie sind freimütig und hochherzig, aber stets unvorsichtig«, sagte der Greis zu ihnen. »Daß ich Sie von einem öffentlichen Gerücht in Kenntnis setze, das eine Verleumdung sein muß, ist höchst natürlich, aber da machen Sie nun für schwache Menschen, wie Herrn und Frau von Hauteserre und ihre Söhne, eine Wahrheit daraus . . . Oh, ihr jungen Leute! Ihr jungen Leute! . . . Sie sollten Michu hier lassen und selbst fortgehen! Jedenfalls aber, wenn Sie in dieser Gegend bleiben, schreiben Sie dem Senator ein Wort über Michu. Schreiben Sie ihm, Sie hätten durch mich von den Gerüchten gehört, die über Ihren Pächter umliefen, und hätten ihn entlassen.«

»Wir!« riefen die beiden Brüder, »an Malin schreiben, an den Mörder unsrer Eltern, den schamlosen Räuber unsres Vermögens!«

»Das ist alles richtig, aber er gehört zu den Hauptpersonen am kaiserlichen Hofe und ist König der Aube.«

»Er, der für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hat, falls die Armee Condés nach Frankreich eindringen sollte, andernfalls für ewige Haft!« sagte die Gräfin von Cinq-Cygne.

»Er, der vielleicht den Tod des Herzogs von Enghien angeraten hat!« rief Paul Maria aus.

»Je nun, wenn Sie alle seine Adelstitel aufzählen wollen,« rief der Marquis aus, »er, der Robespierre am Rockschoß gezogen hat, um ihn zu Fall zu bringen, als er sah, daß die, welche sich zu seinem Sturze erhoben, in der Mehrzahl waren; er, der Bonaparte hätte erschießen lassen, wenn der Staatsstreich vom 18. Brumaire mißlungen wäre; er, der die Bourbonen zurückführen würde, wenn Napoleon wankte, er, den der Stärkere stets auf seiner Seite finden wird, um ihm das Schwert oder die Pistole zu geben, mit denen man einem Gegner, der Befürchtungen erregt, den Garaus macht! . . . Aber das ist nur ein Grund mehr!«

»Wir sinken recht tief!« sagte Laurence.

»Kinder,« sagte der alte Marquis von Chargeboeuf, indem er alle drei bei der Hand nahm und sie abseits nach einer der Wiesen führte, die damals mit einer leichten Schneeschicht bedeckt waren, »Sie werden böse werden, wenn Sie die Ratschläge eines verständigen Mannes hören, aber ich bin sie Ihnen schuldig, und ich täte folgendes: Ich nähme zum Vermittler einen alten Biedermann, zum Beispiel mich, und beauftragte ihn, Malin gegen Anerkennung des Verkaufs von Gondreville eine Million abzufordern . . . Oh! er würde einwilligen und die Sache geheimhalten. Sie hätten dann beim jetzigen Zinsfuß der Staatspapiere hunderttausend Franken Jahresrente und könnten sich in irgendeinem andern Winkel Frankreichs ein schönes Landgut kaufen. Sie ließen Cinq-Cygne durch Herrn von Hauteserre verwalten und losten darum, wer von Ihnen beiden der Gatte dieser schönen Erbin sein soll. Aber die Rede eines Greises klingt den jungen Leuten ebenso ins Ohr wie die Rede junger Leute den Greisen: es ist ein Geräusch, dessen Sinn einem entgeht.«

Der alte Marquis gab seinen drei Verwandten einen Wink, daß er keine Antwort wünschte, und kehrte in den Salon zurück, in dem während seiner Abwesenheit der Abbé Goujet mit seiner Schwester erschienen war. Der Vorschlag, über die Hand ihrer Base zu losen, hatte die beiden Simeuses empört, und Laurence fühlte sich von der bitteren Arznei angeekelt, die ihr Verwandter ihr anriet. Und so waren denn alle drei weniger freundlich gegen den Greis, ohne es an Höflichkeit fehlen zu lassen. Die Herzlichkeit war gestört. Herr von Chargeboeuf merkte diese Kälte und warf mehrmals mitleidige Blicke auf diese drei reizenden Menschen. Obgleich die Unterhaltung allgemein wurde, kam er auf die Notwendigkeit zurück, sich den Ereignissen zu fügen, und lobte Herrn von Hauteserre für seinen beharrlichen Wunsch, daß seine Söhne Dienste nahmen.

»Bonaparte«, sagte er, »ernennt Herzöge. Er hat kaiserliche Lehen geschaffen; er wird Grafen ernennen. Malin möchte Graf von Gondreville werden. Das ist ein Gedanke,« setzte er mit einem Blick auf die Herren von Simeuse hinzu, »der Ihnen Nutzen bringen kann.«

»Oder Unheil«, bemerkte Laurence.

Sobald seine Pferde angespannt waren, brach der Marquis auf, und alle gaben ihm das Geleit. Als er im Wagen saß, winkte er Laurence zu sich heran, und leicht wie ein Vogel sprang sie auf das Trittbrett.

»Sie sind keine Durchschnittsfrau, und Sie sollten mich verstehen«, sagte er ihr ins Ohr. »Malin hat zuviel Gewissensbisse, um Sie in Frieden zu lassen; er wird Ihnen irgendeine Falle stellen. Wenigstens achten Sie auf alle Ihre Handlungen, auch auf die geringsten! Kurz, vergleichen Sie sich, das ist mein letztes Wort.«

Die beiden Brüder blieben neben ihrer Base mitten auf der Wiese stehen und blickten starr dem Wagen nach, der um das Gitter herumbog und auf dem Wege nach Troyes davonfuhr; denn Laurence hatte ihnen das letzte Wort des Biedermanns wiederholt. Die Erfahrung wird stets unrecht haben, wenn sie sich in einer Halbberline, in gemusterten Strümpfen und mit einem Haarbeutel im Nacken zeigt. Keins dieser jungen Herzen konnte die Wandlung begreifen, die sich in Frankreich vollzog. Entrüstung zitterte in ihren Nerven, und in aller Adern kochte ihr adliges Blut und ihr Ehrgefühl.

»Das Haupt der Chargeboeufs!« sagte der Marquis von Simeuse, »ein Mann, der die Devise hat: Adsit fortior! Es komme ein Stärkerer! einen der schönsten Kriegsrufe . . .«

»Er ist zum Boeuf (Ochsen) geworden«, sagte Laurence bitter.

»Wir sind nicht mehr in der Zeit Ludwigs des Heiligen!« versetzte der jüngere Simeuse.

»Singend sterben!« rief die Gräfin. »Dieser Ruf der fünf Jungfrauen, die unser Haus begründeten, soll auch der meine sein.«

»Ist der unsre nicht: Hier stirb! Also Pardon wird nicht gegeben!« fuhr der ältere Simeuse fort. Denn recht bedacht, müssen wir finden, daß unser Verwandter Le Boeuf das, was er uns eben sagte, gründlich wiedergekäut hat. Gondreville als Name eines Malin!«

»Als Wohnsitz!« rief der Jüngere aus.

»Der große Mansard hat den Bau für den Adel entworfen, und das Volk sollte darin nisten!« sagte der Ältere.

»Wenn das geschähe, so sähe ich Gondreville lieber in Flammen aufgehen!« rief Fräulein von Cinq-Cygne aus.

Ein Mann aus dem Dorfe, der ein Kalb besichtigen kam, das der biedere Hauteserre ihm verkaufen wollte, hörte diesen Satz beim Verlassen des Stalles.

»Wir wollen hineingehen«, sagte Laurence lächelnd. »Fast hätten wir eine Unvorsichtigkeit begangen und dem Boeuf (Ochsen) aus Anlaß eines Kalbes recht gegeben.«

»Mein armer Michu,« sagte sie, als sie den Salon betraten, »ich hatte deinen Streich schon vergessen. Aber wir stehen in der Gegend nicht im Geruch der Heiligkeit; also stelle uns nicht bloß. Hast du dir sonst noch irgendeine kleine Sünde vorzuwerfen?«

»Ich werfe mir vor, daß ich den Mörder meiner alten Herrschaft nicht getötet habe, bevor ich der neuen zu Hilfe kam.«

»Michu!« rief der Pfarrer aus.

»Aber ich werde die Gegend nicht verlassen,« fuhr er fort, ohne auf den Ausruf des Pfarrers zu achten, »bevor ich nicht weiß, daß Sie in Sicherheit sind. Ich sehe Burschen umherstreifen, die mir gar nicht gefallen. Als wir das letztemal im Walde jagten, kam der sogenannte Verwalter, der mich in Gondreville abgelöst hat, auf mich zu und fragte mich, ob wir da auf unserm Grund und Boden wären, ›Oh, mein Junge,‹ sagte ich zu ihm, ›es ist schwer, sich in zwei Monaten Dinge abzugewöhnen, die man seit zweihundert Jahren getrieben hat.‹«

»Du hast unrecht, Michu«, sagte der Marquis von Simeuse, vor Vergnügen schmunzelnd.

»Was gab er zur Antwort?« fragte Herr von Hauteserre.

»Er sagte,« entgegnete Michu, »er würde den Senator über unsere Ansprüche in Kenntnis setzen.«

»Graf von Gondreville!« rief der ältere Hauteserre aus. »Ha, was für eine Maskerade! Allerdings sagt man zu Bonaparte ›Euer Majestät‹ . . .«

»Und ›Euer Hoheit‹ zum Herrn Großherzog von Berg«, versetzte der Pfarrer.

»Wer ist denn das?« fragte Herr von Simeuse.

»Murat, Napoleons Schwager«, entgegnete der alte Hauteserre.

»Gut!« versetzte Fräulein von Cinq-Cygne. »Sagt man auch zu der Witwe des Marquis von Beauharnais ›Euer Majestät‹?«

»Ja, gnädiges Fräulein«, sagte der Pfarrer.

»Wir sollten nach Paris fahren und uns das alles ansehen!« rief Laurence aus.

»Ach, gnädiges Fräulein,« sagte Michu, »ich bin nach Paris gefahren, um Franz aufs Gymnasium zu bringen. Ich kann Ihnen schwören, mit der sogenannten kaiserlichen Garde ist nicht zu spaßen. Ist die ganze Armee so, dann kann die Sache uns überdauern.«

»Man spricht von adligen Familien, die Dienste nehmen«, sagte Herr von Hauteserre.

»Und nach den jetzigen Gesetzen«, sagte der Pfarrer, »werden Ihre Kinder zum Dienen gezwungen werden. Das Gesetz kennt weder Stand noch Namen mehr.«

»Der Mann schadet uns mit seinem Hofe mehr als die Revolution mit ihrem Beil!« rief Laurence aus.

»Die Kirche betet für ihn«, versetzte der Pfarrer.

Diese Schlag auf Schlag gesprochenen Worte waren ebenso viele Kommentare zu den weisen Worten des alten Marquis von Chargeboeuf, aber die jungen Leute besaßen zuviel Gesinnung und Ehre, um einen Vergleich anzunehmen. Sie sagten sich auch, wie zu allen Zeiten die besiegten Parteien, daß das Glück der siegreichen Partei ein Ende nehmen würde, daß der Kaiser sich nur auf das Heer stützte, daß die tatsächliche Macht früher oder später dem Recht unterliege usw. Trotz aller Warnungen fielen sie in die vor ihnen gegrabene Grube, die vorsichtige und gelehrige Leute, wie der biedere Hauteserre, vermieden hätten. Wenn die Menschen ehrlich sein wollten, so würden sie vielleicht erkennen, daß das Unglück nie über sie hereingebrochen ist, ohne daß sie eine offene oder verborgene Warnung erhalten haben. Viele haben den tiefen Sinn dieser geheimnisvollen oder sichtbaren Warnung erst nach dem Unglück erkannt.

»Auf jeden Fall weiß die Frau Gräfin, daß ich das Land nicht verlassen kann, ohne Rechnung abgelegt zu haben«, flüsterte Michu Fräulein von Cinq-Cygne zu.

Statt jeder Antwort machte sie dem Pächter ein Zeichen des Einverständnisses, und er ging fort, Michu verkaufte sofort seine Ländereien an Beauvisage, den Pächter von Bellache, konnte aber vor drei Wochen keine Zahlung erhalten. Es war also ein Monat nach dem Besuch des Marquis, als Laurence ihren beiden Vettern, die sie von dem Vorhandensein ihres Vermögens in Kenntnis gesetzt hatte, den Vorschlag machte, zu Mittfasten die im Walde vergrabene Million zu heben. Die starken Schneefälle hatten Michu bisher am Ausgraben des Schatzes verhindert, aber er wollte dies Geschäft lieber mit seinem Herrn ausführen. Michu wollte durchaus die Gegend verlassen, er fürchtete sich vor sich selbst.

»Malin ist plötzlich in Gondreville eingetroffen, warum, ist unbekannt«, sagte er zu seiner Herrin. »Ich könnte der Versuchung nicht widerstehen, Gondreville durch den Tod seines Besitzers zum Verkauf zu bringen. Ich halte mich für schuldig, wenn ich meinen Eingebungen nicht folge!«

»Aus welchem Grunde mag er Paris mitten im Winter verlassen?«

»Ganz Arcis spricht davon«, entgegnete Michu. »Er hat seine Familie in Paris gelassen; nur sein Kammerdiener ist mitgekommen. Herr Grévin, der Notar aus Arcis, Frau Marion, die Gattin des Hauptsteuereinnehmers der Aube und Schwägerin des Marion, der Malin seinen Namen geliehen hat, leisten ihm Gesellschaft.«

Laurence hielt Mittfasten für einen sehr geeigneten Tag, denn an ihm konnte man sich der Leute entledigen. Das Maskentreiben lockte die Bauern in die Stadt, und kein Mensch war auf den Feldern. Aber gerade die Wahl des Tages diente dem Verhängnis, das man in so vielen Kriminalsachen antrifft. Der Zufall machte seine Berechnungen ebenso geschickt wie Fräulein von Cinq-Cygne die ihren. Da Herr und Frau von Hauteserre in größte Besorgnis geraten mußten, wenn sie elfhunderttausend Franken in Gold in einem Schloß am Waldrande verborgen wußten, so meinten selbst ihre Söhne, als man sie um Rat fragte, daß man ihnen nichts sagen sollte. Das Geheimnis des Unternehmens blieb also auf Gotthard, Michu, die vier Edelleute und Laurence beschränkt. Nach vielen Berechnungen schien es möglich, achtundvierzigtausend Franken in einem langen Sack auf die Kruppe jedes Pferdes zu laden. Drei Ritte würden genügen. Vorsichtshalber ward vereinbart, alle Leute, deren Neugier gefährlich sein konnte, nach Troyes zu schicken, um sich dort die Lustbarkeiten der Mittfasten anzusehen. Katharina, Martha und Durieu, auf die man zählen konnte, sollten das Schloß bewachen. Die Leute waren froh über diese Erlaubnis und zogen vor Tag ab. Gotthard, von Michu unterstützt, putzte und sattelte die Pferde frühmorgens. Der Reitertrupp schlug den Weg durch die Schloßgärten ein, und von da ging es in den Wald. In dem Augenblick, als alle aufsaßen, denn das Parktor war so niedrig, daß jeder zu Fuß durch den Park ging und sein Pferd am Zügel führte, kam der alte Beauvisage, der Pächter von Bellache, vorbei.

»Halt!« rief Gotthard, »da ist jemand . . .«

»Oh, ich bin es«, sagte der ehrliche Pächter und trat vor. »Guten Morgen, meine Herren. Sie gehen also trotz der Erlasse der Präfektur auf die Jagd? Ich werde mich darüber nicht beschweren, aber sehen Sie sich vor! Wenn Sie Freunde haben, so haben Sie auch viele Feinde . . .«

»Oh,« entgegnete lächelnd der dicke Hauteserre, »Gott gebe, daß unsre Jagd glückt, und daß du deine Herrschaft wiederfindest.«

Diese Worte, denen die Ereignisse einen ganz andern Sinn gaben, trugen Robert einen strengen Blick Laurences ein. Der ältere Simeuse glaubte, Malin würde das Gut Gondreville gegen eine Entschädigung zurückgeben. Diese Kinder wollten das Gegenteil dessen tun, was der Marquis von Chargeboeuf ihnen angeraten hatte. Robert, der ihre Hoffnungen teilte, dachte hieran, als er seine verhängnisvolle Äußerung tat.

»Auf jeden Fall sei still, Alterchen!« sagte Michu zu Beauvisage und zog als letzter den Torschlüssel ab.

Es war einer jener schönen Tage am Ende des März, da die Luft und Erde trocken sind, der Himmel klar ist und die Luftwärme in einem gewissen Gegensatz zu den noch unbelaubten Bäumen steht. Das Wetter war so mild, daß das Auge auf den Feldern hier und da grüne Flecken erkannte.

»Wir ziehen aus, einen Schatz zu holen, während du, Base, der wahre Schatz unseres Hauses bist!« sagte der ältere Simeuse lachend.

Laurence ritt voran, rechts und links von ihren beiden Vettern begleitet; ihnen folgten die beiden Hauteserres, und Michu ritt hinterdrein. Gotthard war voraus, um den Weg aufzuklären.

»Da unser Vermögen sich wiederfinden wird, wenigstens teilweise, so heirate doch meinen Bruder«, flüsterte der Jüngere ihr zu. »Er betet dich an; ihr werdet dann so reich sein, wie es die Adligen heute sein müssen.«

»Nein, laß ihm das ganze Vermögen, und ich heirate dich. Ich bin reich genug für zwei«, entgegnete sie.

»So sei es!« rief der Marquis von Simeuse aus. »Ich verlasse euch und suche mir eine Frau, die wert ist, deine Schwester zu sein.«

»So liebst du mich weniger, als ich glaubte?« entgegnete Laurence und blickte ihn mit eifersüchtigem Ausdruck an.

»Nein! Ich liebe euch beide mehr, als Ihr mich liebt!« erwiderte der Marquis.

»So würdest du dich opfern?« fragte Laurence den älteren Simeuse und ihr Blick gab ihm in diesem Augenblick den Vorzug.

Der Marquis schwieg.

»Wohlan, ich dächte dann nur an dich, und das wäre unerträglich für meinen Gatten«, versetzte Laurence, bei der dies Schweigen eine Regung der Ungeduld hervorrief.

»Wie sollte ich ohne dich leben!« rief der Jüngere mit einem Blick auf seinen Bruder aus.

»Aber du kannst uns doch nicht beide heiraten«, sagte der Marquis. »Und«, fuhr er in dem schroffen Tone eines bis ins Herz getroffenen Mannes fort, »es wird Zeit, sich zu entscheiden!«

Er trieb sein Pferd an, damit die beiden Hauteserres nichts hörten. Seines Bruders und Laurences Pferde ahmten diese Bewegung nach. Als sie einen angemessenen Abstand zwischen sich und den drei anderen hatten, wollte Laurence sprechen, aber zuerst waren die Tränen ihre einzige Sprache.

»Ich will in ein Kloster gehen«, sagte sie schließlich.

»Und du willst die Cinq-Cygnes aussterben lassen?« sagte der jüngere Simeuse. »Und statt einem, der sich in sein Unglück fügt, willst du zwei unglücklich machen! Nein, der, welcher nur dein Bruder sein wird, wird sich darein ergeben. Als wir erfuhren, daß wir nicht so arm sind, wie wir glaubten, haben wir uns auseinandergesetzt«, sagte er mit einem Blick auf den Marquis. »Bin ich der Bevorzugte, so gehört unser ganzes Vermögen meinem Bruder. Bin ich der Unglückliche, so gibt er es mir, ebenso die Titel der Simeuse, denn er wird dann ja ein Cinq-Cygne! Jedenfalls hat der, der nicht glücklich wird, die Möglichkeit, sich standesgemäß zu verheiraten. Fühlt er, daß er vor Kummer stirbt, so wird er im Heere den Tod suchen, um die Ehe nicht zu trüben!«

»Wir sind echte Ritter des Mittelalters, wir sind unserer Väter würdig!« rief der Ältere aus. »Sprich, Laurence!«

»So kann es nicht weitergehen«, versetzte der Jüngere.

»Glaube nicht, Laurence, daß die Hingebung nicht süß sei«, sprach der Ältere.

»Geliebte Freunde,« entgegnete sie, »ich bin außerstande, mich zu entscheiden. Ich liebe euch beide, als wäret ihr nur ein Wesen, liebe euch, wie eure Mutter euch liebte. Gott wird uns helfen. Ich werde nicht wählen. Wir wollen es dem Zufall anheimgeben. Ich mache nur eine Bedingung.«

»Welche?«

»Daß der, welcher mein Bruder wird, bei mir bleibt, bis ich ihm erlaube, mich zu verlassen. Ich allein will entscheiden, wann eine Trennung angezeigt ist.«

»Ja«, sagten beide Brüder, ohne die Absicht ihrer Base zu verstehen.

»Der erste von euch, den Frau von Hauteserre heute abend nach dem Tischgebet anredet, soll mein Gatte sein. Aber keiner von euch soll eine List gebrauchen und sie zu einer Frage veranlassen.«

»Wir werden ein ehrliches Spiel spielen«, sagte der Jüngere.

Beide Brüder küßten Laurence die Hand. Die Gewißheit einer Lösung, die jeder für günstig halten konnte, stimmte beide Zwillinge äußerst fröhlich.

»Jedenfalls, liebe Laurence,« versetzte der Ältere, »wirst du einen zum Grafen von Cinq-Cygne machen.«

»Und wir spielen darum, wer kein Simeuse bleiben soll«, sagte der Jüngere.

»Ich glaube jetzt, das gnädige Fräulein wird nicht mehr lange ledig bleiben«, sagte Michu hinter den beiden Hauteserres. »Meine Herren sind sehr aufgeräumt. Wenn meine Herrin ihre Wahl trifft, gehe ich nicht fort. Ich will die Hochzeit mitmachen!«

Die beiden Hauteserres gaben keine Antwort. Eine Elster flog plötzlich zwischen den Hauteserres und Michu auf, der wie alle ursprünglichen Menschen abergläubisch war und Totenglocken zu hören glaubte. Der Tag begann also heiter für die Liebenden, die selten Elstern sehen, wenn sie im Walde beisammen sind. Michu erkundete mit seinem Plan in der Hand die Stellen. Jeder Edelmann hatte sich mit einem Spaten versehen, und das Geld wurde gefunden. Der Teil des Waldes, worin es vergraben lag, war einsam, fern von jedem Verkehr und jeder Wohnstätte, und so begegnete die goldbeladene Karawane keinem Menschen. Das war ein Unglück. Als man Cinq-Cygne verließ, um die letzten zweihunderttausend Franken zu holen, schlug man, vom Erfolge kühn gemacht, einen kürzeren Weg ein als bei den ersten Ritten. Dieser Weg führte über eine Anhöhe, von der man den Park von Gondreville sah.

»Feuer!« rief Laurence, als sie eine bläuliche Flammensäule sah.

»Das ist irgendein Freudenfeuer«, entgegnete Michu.

Laurence, die die kleinsten Waldpfade kannte, verließ den Trupp, gab ihrem Pferde die Sporen und ritt bis zum Pavillon von Cinq-Cygne, Michus früherer Wohnung. Obwohl der Pavillon verlassen und geschlossen war, stand das Gitter offen und die Hufspuren mehrerer Pferde fielen Laurence auf. Die Rauchsäule erhob sich aus einer Wiese des englischen Parks; wie sie annahm, wurde dort Gras verbrannt.

»Ach, Sie sind auch dabei, Fräulein!« rief Violette, der auf seinem Klepper in vollem Galopp aus dem Park kam und vor Laurence halt machte.

»Aber es ist nur ein Karnevalsstreich, nicht wahr? Man wird ihn nicht töten?«

»Wen denn?«

»Ihre Vettern wollen nicht seinen Tod?«

»Wessen Tod?«

»Den des Senators.«

»Du bist toll, Violette!«

»Nun, was machen sie denn da?« fragte er.

Bei dem Gedanken, daß ihren Vettern Gefahr drohte, gab die unerschrockene Reiterin ihrem Pferde die Sporen und erreichte den Schauplatz, als die Säcke gerade gefüllt wurden.

»Vorwärts! Ich weiß nicht, was vorgeht, aber zurück nach Cinq-Cygne!«

Während die Edelleute mit dem Transport des von dem alten Marquis geretteten Vermögens beschäftigt waren, spielte sich auf Schloß Gondreville eine seltsame Szene ab. Um zwei Uhr nachmittags saß der Senator mit seinem Freund Grévin in dem großen Saal im Erdgeschoß vor dem Feuer und spielte Schach. Frau Grévin und Frau Marion plauderten in der Kaminecke auf einem Sofa. Alle Leute des Schlosses waren fortgegangen, um sich einen seltsamen Maskenzug anzusehen, der seit lange im Kreis Arcis angekündigt war. Die Familie des Verwalters, der im Pavillon von Cinq-Cygne an Michus Stelle getreten war, hatte sich gleichfalls dorthin begeben. Der Kammerdiener des Senators und Violette waren allein im Schloß. Der Pförtner, zwei Gärtner und deren Frauen waren auf ihrem Posten; aber ihr Häuschen lag am Eingang der Höfe, am Ende der Allee nach Arcis, und bei dem Abstand zwischen diesem Nebengebäude und dem Schloß konnte man dort selbst einen Gewehrschuß nicht hören. Zudem standen die Leute auf ihrer Schwelle und blickten nach Arcis aus, das nur eine halbe Stunde entfernt liegt, in der Hoffnung, den Maskenzug ankommen zu sehen. Violette wartete in einem großen Vorzimmer auf den Augenblick, da der Senator und Grévin ihn empfangen würden, um über die Verlängerung seiner Pacht zu verhandeln. In diesem Augenblick stürzten fünf maskierte und behandschuhte Männer, die in Wuchs, Benehmen und Haltung den Herren von Hauteserre, von Simeuse und Michu glichen, sich auf den Kammerdiener und Violette, steckten ihnen ein Taschentuch als Knebel in den Mund und banden sie in einer Vorratskammer an Stühle. Trotz der Geschwindigkeit der Angreifer stießen der Kammerdiener und Violette doch einen Schrei aus, der in dem Salon gehört ward. Die beiden Frauen glaubten, es sei ein Warnruf.

»Horch,« sagte Frau Grévin, »da sind Diebe . . .«

»Bah, das ist ein Fastnachtsschrei!« versetzte Grévin. »Wir bekommen die Masken aufs Schloß.«

Diese Erörterung gab den fünf Unbekannten Zeit, die Tore nach dem Ehrenhof zu schließen und den Kammerdiener und Violette einzusperren. Die ziemlich eigensinnige Frau Grévin wollte durchaus die Ursache des Lärms erfahren; sie stand auf und geriet unter die fünf Masken, die sie ebenso behandelten wie Violette und den Kammerdiener. Dann drangen sie gewaltsam in den Salon ein, wo die beiden Stärksten sich des Grafen von Gondreville bemächtigten, ihn knebelten und ihn durch den Park fortschleppten, während die drei anderen Frau Marion und den Notar gleichfalls knebelten und jeden auf einen Lehnstuhl festbanden. Die Ausführung dieses Anschlages nahm nicht mehr als eine halbe Stunde in Anspruch. Die drei Unbekannten, zu denen bald die anderen stießen, die den Senator weggeschleppt hatten, durchsuchten das Schloß vom Keller bis zum Boden, öffneten alle Schränke, ohne einen Dietrich zu gebrauchen, beklopften die Wände und blieben bis fünf Uhr abends die Herren. In diesem Augenblick hatte der Kammerdiener mit seinen Zähnen die Stricke durchgenagt, mit denen Violettes Hände gefesselt waren, und Violette, der sich seines Knebels entledigte, begann um Hilfe zu schreien. Als die fünf Unbekannten diese Schreie hörten, liefen sie in die Gärten, sprangen auf Pferde, die denen von Cinq-Cygne ähnlich sahen, und machten sich davon, aber nicht schnell genug, daß Violette sie nicht sehen konnte. Nachdem er den Kammerdiener losgebunden hatte, der seinerseits die Frauen und den Notar befreite, bestieg Violette seinen Klepper und verfolgte die Missetäter. Als er am Pavillon ankam, war er ebenso verblüfft, die beiden Flügel des Gittertors offen zu finden, wie Fräulein von Cinq-Cygne dort postiert zu sehen.

Als die junge Gräfin verschwunden war, ritt Grévin hinter Violette her, begleitet vom Feldhüter der Gemeinde Gondreville, dem der Pförtner ein Pferd aus den Schloßställen gegeben hatte. Die Pförtnersfrau war nach Arcis gelaufen, um die Gendarmerie zu benachrichtigen. Sofort erzählte Violette Herrn Grévin seine Begegnung mit Laurence und die Flucht des verwegenen jungen Mädchens, deren tiefen, entschlossenen Charakter beide kannten.

»Sie stand Posten«, sagte Violette.

»Ist's möglich, daß die Adligen von Cinq-Cygne den Streich ausgeführt haben?« rief Grévin aus.

»Wie!« entgegnete Violette, »haben Sie den dicken Michu nicht erkannt? Er hat sich auf uns geworfen! Ich habe seinen Griff wohl gespürt. Zudem waren die fünf Pferde die von Cinq-Cygne.«

Als der Notar die Hufspuren auf dem Sande des Rondels und im Park erblickte, ließ er den Feldhüter zur Beobachtung am Gitter, damit die kostbaren Hufspuren erhalten blieben, und schickte Violette zum Friedensrichter nach Arcis, damit er den Tatbestand feststellte. Dann kehrte er schleunigst in den Salon des Schlosses Gondreville zurück, wo der Leutnant und der Unterleutnant der Kaiserlichen Gendarmerie soeben eintrafen, von vier Leuten und einem Brigadier begleitet. Dieser Leutnant war, wie man sich denken kann, der Brigadier, dem Franz vor zwei Jahren ein Loch im Kopf beigebracht hatte und der damals durch Corentin erfahren hatte, wer sein boshafter Gegner war. Dieser Mann namens Giguet, dessen Bruder Soldat war und einer der besten Artillerieobersten wurde, zeichnete sich durch seine Fähigkeit als Gendarmerieoffizier aus. Später befehligte er die Schwadron der Aube. Der Unterleutnant Welff hatte seinerzeit Corentin von Cinq-Cygne nach dem Pavillon und von da nach Troyes gefahren. Unterwegs hatte der Pariser den Ägyptenkämpfer hinreichend über das aufgeklärt, was er die Durchtriebenheit von Laurence und Michu nannte. Diese beiden Offiziere mußten also großen Eifer gegen die Bewohner von Cinq-Cygne zeigen und taten es auch. Malin und Grévin hatten beide für einander an dem sogenannten Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV mitgearbeitet, dem Gesetzgebungswerk des sogenannten Nationalkonvents, das vom Direktorium veröffentlicht worden war. Somit konnte Grévin, der diese Gesetzgebung gründlich kannte, in dieser Sache mit furchtbarer Schnelligkeit vorgehen, allerdings unter der fast zur Gewißheit gewordenen Voraussetzung, daß Michu, die Herren von Hauteserre und von Simeuse schuldig waren. Außer ein paar alten Richtern entsinnt sich heute kein Mensch mehr der Einrichtung dieser Rechtsprechung, die Napoleon gerade damals durch die Veröffentlichung seiner Gesetzbücher und die Einsetzung seines Richterstandes umstieß, wie er heute in Frankreich herrscht.

Das Gesetzbuch vom Brumaire des Jahres IV behielt dem Direktor der Jury des Departements die unmittelbare Strafverfolgung des auf Gondreville begangenen Vergehens vor. Man bemerke nebenbei, daß der Konvent das Wort Verbrechen aus der Rechtssprache gestrichen hatte. Er erkannte nur Vergehen gegen das Gesetz an, die mit Geldstrafen, Gefängnis, Ehren- oder Leibesstrafen bedacht waren. Der Tod war eine Leibesstrafe. Jedoch sollte die Todesstrafe im Frieden aufgehoben und durch vierundzwanzig Jahre Zwangsarbeit ersetzt werden. Somit hielt der Konvent vierundzwanzig Jahre Zwangsarbeit der Todesstrafe für gleichwertig. Was soll man von einem Strafgesetzbuch sagen, das lebenslängliche Zwangsarbeit verhängt? Die damals von Napoleons Staatsrat ausgearbeitete Gerichtsverfassung hob das Richteramt des Direktors der Jury auf, das in der Tat eine ungeheure Macht verlieh. Bezüglich der Strafverfolgung und der Erhebung der Anklage war der Direktor der Jury gewissermaßen Kriminalpolizist, Staatsanwalt, Untersuchungsrichter und Gerichtshof in einer Person. Sein Strafverfahren und seine Erhebung der Anklage unterlag nur dem Visum eines Kommissars der vollziehenden Gewalt und dem Verdikt von acht Geschworenen, denen er die Tatsachen seiner Untersuchung darlegte, die die Zeugen und Angeklagten verhörten und ein erstes Urteil, das sogenannte Anklageurteil, fällten. Der Direktor mußte auf die in seinem Arbeitszimmer vereinigten Geschworenen eine solche Macht ausüben, daß sie nur seine Mitarbeiter sein konnten. Diese Geschworenen bildeten die Anklagejury. Es gab noch andere Geschworene, die die Jury des Strafgerichts bildeten, das die Angeklagten abzuurteilen hatte. Im Gegensatz zu den Anklagegeschworenen hießen diese Urteilsgeschworene. Das Strafgericht, dem Napoleon soeben den Namen Kriminalgericht gegeben hatte, bestand aus einem Präsidenten, vier Richtern, dem öffentlichen Ankläger und einem Regierungskommissar. Indes gab es von 1799 bis 1806 sogenannte Sondergerichte, die in gewissen Departements bestimmte Anschläge ohne Geschworene aburteilten; sie bestanden aus Zivilrichtern, die zu einem besonderen Gerichtshofe zusammentraten. Der Konflikt zwischen den Sondergerichten und den Kriminalgerichten führte zu Kompetenzstreitigkeiten, die der Kassationshof entschied. Hätte das Departement Aube sein Sondergericht gehabt, so wäre das Attentat auf einen Senator der Kaiserreichs ihm zweifellos überwiesen worden, aber dies friedliche Departement hatte keine Ausnahmegerichte. Grévin schickte also den Unterleutnant zum Direktor der Jury in Troyes. Der Ägyptenkämpfer sprengte mit verhängten Zügeln hin und kehrte dann in Begleitung dieses fast unumschränkten Richters nach Gondreville zurück.

Der Direktor der Jury von Troyes war ein früherer Amtmann, ein früherer besoldeter Sekretär eines Konventsausschusses und ein Freund Malins, der ihm seine Stellung verschafft hatte. Dieser Richter, namens Lechesneau, ein rechter Praktikus der alten Strafjustiz, hatte Malin ebenso wie Grévin bei seinen juristischen Arbeiten im Konvent viel geholfen, und so empfahl Malin ihn an Cambacérès, der ihn zum Generalstaatsanwalt in Italien ernannte. Zum Unglück für seine Laufbahn hatte Lechesneau ein Verhältnis mit einer großen Dame in Turin angeknüpft und Napoleon mußte ihn absetzen, um ihn einem Strafprozeß zu entziehen, den der Gatte wegen Entführung eines außerehelichen Kindes angestrengt hatte. Lechesneau, der Malin alles verdankte und die Bedeutung eines solchen Attentats erriet, hatte den Gendarmeriehauptmann und eine Abteilung von zwölf Mann mitgebracht.

Bevor er aufbrach, hatte er sich natürlich mit dem Präfekten verständigt, der aber, da es dunkel wurde, den optischen Telegraphen nicht mehr benutzen konnte. Man schickte eine Stafette nach Paris, um den Polizeiminister, den Oberrichter und den Kaiser von diesem unerhörten Verbrechen zu benachrichtigen. Lechesneau fand im Salon von Gondreville die Damen Marion und Grévin, Violette, den Kammerdiener des Senators und den Friedensrichter nebst seinem Schreiber. Haussuchungen waren bereits im Schloß erfolgt. Mit Grévins Beihilfe nahm der Friedensrichter sorgfältig die ersten Elemente der Voruntersuchung auf. Der Richter war zunächst betroffen von den schlauen Berechnungen, die sich aus der Wahl des Tages und der Stunde ergaben. Die Stunde verbot es, sofort Indizien und Beweise zu sammeln. Zu dieser Jahreszeit war es um halb sechs Uhr, als Violette die Delinquenten hätte verfolgen können, schon fast dunkel, und für Missetäter ist die Nacht oft gleichbedeutend mit Straflosigkeit. Die Wahl eines Tages der Lustbarkeiten, wo jedermann nach Arcis ging, um sich den Maskenzug anzusehen, und wo der Senator allein zu Hause sein mußte, schloß alle Zeugen aus.

»Alle Achtung vor dem Scharfsinn der Agenten der Polizeipräfektur«, sagte Lechesneau. »Sie haben uns immerfort vor den Adligen von Cinq-Cygne gewarnt und uns gesagt, sie würden früher oder später einen schlimmen Streich spielen.«

Da Lechesneau des Eifers des Präfekten der Aube sicher war, der Stafetten zu allen Präfekturen der Umgegend von Troyes schickte, um die Spuren der fünf Maskierten und des Senators zu suchen, begann er, die Grundlagen der Untersuchung zu legen. Diese Arbeit war bei zwei so guten juristischen Köpfen wie Grévin und der Friedensrichter bald vollbracht. Dieser, namens Pigault, ein früherer erster Schreiber in dem Pariser Bureau, wo Malin und Grévin die Rechtspraxis gelernt hatten, wurde drei Monate darauf zum Gerichtspräsidenten in Arcis ernannt. Was Michu betraf, so kannte Lechesneau die Drohungen, die jener früher gegen Marion ausgestoßen, und den Hinterhalt, dem der Senator in seinem Park entgangen war. Diese beiden Tatsachen, deren eine die Folge der andern war, mußten die Voraussetzungen des jetzigen Attentats sein und stempelten den ehemaligen Verwalter umso mehr zum Führer der Missetäter, als Grévin, dessen Frau, Violette und Frau Marion erklärten, unter den fünf Maskierten einen Mann erkannt zu haben, der Michu völlig glich. Die Haar- und Bartfarbe, die untersetzte Figur des Mannes machten seine Verkleidung fast überflüssig. Wer außer Michu hätte auch das Tor von Cinq-Cygne mit einem Schlüssel öffnen können? Als der Verwalter und seine Frau aus Arcis zurückkamen und verhört wurden, sagten sie aus, sie hätten beide Tore verschlossen. Als die Tore von dem Friedensrichter in Gemeinschaft mit dem Feldhüter und seinem Schreiber untersucht wurden, zeigte sich keine Spur eines Einbruchs.

»Als wir ihn vor die Tür setzten,« sagte Grévin, »wird er die Doppelschlüssel des Schlosses behalten haben. Aber er muß einen verzweifelten Streich geplant haben, denn er hat binnen zwanzig Tagen seinen Besitz verkauft und vorgestern in meinem Bureau den Kaufpreis erhalten.«

»Sie werden ihm alles auf den Buckel geladen haben!« rief Lechesneau aus, dem dieser Umstand auffiel. »Er hat gezeigt, daß er ihnen mit Leib und Seele ergeben ist.«

Wer konnte auch bessere Ortskenntnis des Schlosses haben als die Herren von Simeuse und von Hauteserre? Keiner der Angreifer hatte sich bei seinem Suchen geirrt; die Sicherheit, mit der sie überall hingegangen waren, bewies, daß sie wohl wußten, was sie wollten, und vor allem, wo man ihn erwischen konnte. Keiner der offen gebliebenen Schränke war erbrochen, somit besaßen die Delinquenten die Schlüssel, und seltsam, sie hatten sich nicht die geringste Entwendung erlaubt! Um Diebstahl also handelte es sich nicht. Schließlich hatte Violette, nachdem er die Pferde des Schlosses Cinq-Cygne erkannt hatte, die Gräfin im Hinterhalt vor dem Pavillon des Verwalters getroffen. Aus der Gesamtheit dieser Tatsachen und Aussagen ergab sich auch für eine ganz unvoreingegenommene Justiz die Schuld der Herren von Simeuse, von Hauteserre und Michus; für einen Direktor der Jury mußte sie zur Gewißheit werden. Was hatten sie nun mit dem künftigen Grafen von Gondreville vor? Ihn zur Herausgabe seines Landgutes zu zwingen, für dessen Erwerb der Verwalter schon 1793 die Kapitalien zu haben behauptete? Hier bekam alles ein neues Antlitz.

Der gelehrte Kriminalist fragte sich, was das Ziel der eifrigen Nachforschungen im Schlosse gewesen sein mochte. Hätte es sich um eine Rache gehandelt, so hätten die Delinquenten Malin töten können. Vielleicht war der Senator dann schon tot und begraben. Immerhin bedeutete die Entführung eine Freiheitsberaubung. Warum diese Freiheitsberaubung, nachdem die Durchsuchung des Schlosses beendet war? Gewiß war es Wahnsinn zu glauben, die Entführung eines Würdenträgers des Kaiserreiches könnte lange geheim bleiben! Die rasche Entdeckung, die dieser Anschlag finden mußte, hob seinen Vorteil auf.

Auf diese Einwendungen erwiderte Pigault, daß die Justiz nie alle Beweggründe der Verbrecher erraten könne. In allen Strafprozessen gäbe es zwischen Richter und Verbrecher und umgekehrt dunkle Punkte; das Gewissen habe Abgründe, in die nur durch das Geständnis des Schuldigen Licht käme.

Grévin und Lechesneau nickten zustimmend, ohne jedoch den Blick von dem Dunkel abzuwenden, in das sie hineinleuchten wollten.

»Und doch hat der Kaiser sie begnadigt«, sagte Pigault zu Grévin und Frau Marion. »Er hat sie von der Liste gestrichen, obwohl sie an der letzten Verschwörung gegen ihn beteiligt waren!«

Lechesneau schickte unverzüglich seine ganze Gendarmerie nach dem Wald und dem Tal von Cinq-Cygne, wobei er Giguet dem Friedensrichter mitgab, der nach dem Ausdruck des Gesetzbuches zu seinem Hilfsoffizier der Kriminalpolizei wurde. Er beauftragte ihn, in der Gemeinde Cinq-Cygne die Grundlagen der Untersuchung zu sammeln, nach Bedarf alle Verhöre vorzunehmen, und zu größerer Beschleunigung diktierte er rasch und unterschrieb den Verhaftsbefehl gegen Michu, der offenbar schwer belastet war.

Nach dem Aufbruch der Gendarmen und des Friedensrichters machte Lechesneau sich an die wichtige Aufgabe, die Verhaftsbefehle gegen die Simeuses und die Hauteserres zu erlassen. Nach dem Gesetz mußten diese Erlasse alles aufführen, was den Delinquenten zur Last gelegt wurde. Giguet und der Friedensrichter begaben sich so schnell nach Cinq-Cygne, daß sie die Leute des Schlosses bei ihrer Rückkehr von Troyes trafen. Die wurden verhaftet und zum Bürgermeister geführt, wo sie verhört wurden. Ein jeder sagte ganz naiv, ohne die Bedeutung seiner Antwort zu kennen, sie hätten tags zuvor die Erlaubnis erhalten, für einen ganzen Tag nach Troyes zu gehen. Auf eine Zwischenfrage des Friedensrichters antwortete jeder ebenso, das gnädige Fräulein hätte ihnen diese unbeabsichtigte Zerstreuung selbst angeboten. Diese Aussagen erschienen dem Friedensrichter so belastend, daß er den Ägyptenkämpfer nach Gondreville schickte, um Herrn Lechesneau zu bitten, selbst zur Verhaftung der Edelleute nach Cinq-Cygne zu kommen, um gleichzeitig vorzugehen, denn er begäbe sich zu Michus Pachthof, um dort den vermutlichen Führer der Missetäter zu verhaften. Diese neuen Umstände schienen so entscheidend, daß Lechesneau sofort nach Cinq-Cygne aufbrach, nachdem er Grévin anempfohlen hatte, die Hufspuren der Pferde im Park sorgfältig bewachen zu lassen. Der Direktor der Jury wußte, welche Freude sein Vorgehen gegen frühere Adlige und Volksfeinde, die nun zu Feinden des Kaisers geworden waren, in Troyes erregen würde. Bei solchen Stimmungen nimmt ein Richter einfache Mutmaßungen leicht für offenkundige Beweise. Nichtsdestoweniger fand Lechesneau, als er im Wagen des Senators von Gondreville nach Cinq-Cygne fuhr, die Verwegenheit der jungen Leute und Michus recht töricht und wenig im Einklang mit dem Geiste des Fräuleins von Cinq-Cygne. War er doch ein tüchtiger Richter, der es ohne die Leidenschaft, der er seine Ungnade verdankte – denn der Kaiser wurde damals prüde – weit gebracht hätte. Er selbst glaubte an andere Absichten als die, von dem Senator einen Verzicht auf Gondreville zu erpressen. In allen Dingen, selbst im Richterstande, gibt es das, was man das Berufsgewissen nennen muß. Lechesneaus Ratlosigkeit entsprang aus diesem Gewissen, mit dem jeder Mensch ihm zusagende Pflichten erfüllt, das die Gelehrten in der Wissenschaft, die Künstler in der Kunst, die Richter in der Rechtsprechung bekunden. Daher bieten die Richter den Angeklagten vielleicht auch mehr Bürgschaften als die Geschworenen. Ein Richter vertraut nur auf die Gesetze der Vernunft, während die Geschworenen sich von Gefühlswallungen hinreißen lassen. Der Direktor der Jury stellte sich selbst mehrere Fragen und nahm sich vor, bei der Verhaftung der Delinquenten befriedigende Antworten darauf zu finden. Obwohl die Kunde von Malins Entführung bereits die Stadt Troyes in Aufregung versetzte, war sie in Arcis um acht Uhr noch unbekannt, denn alles war beim Abendbrot, als man die Gendarmerie und den Friedensrichter holte. In Cinq-Cygne endlich, dessen Tal und Schloß zum zweitenmal umstellt wurden, diesmal freilich von der Justiz und nicht von der Polizei, wußte noch niemand etwas davon; und Vergleiche, die mit der einen möglich sind, sind mit der anderen oft ausgeschlossen.

Laurence hatte Martha, Katharina und den Durieus nur zu sagen brauchen, sie sollten im Schloß bleiben, ohne es zu verlassen oder hinauszublicken, um pünktlichen Gehorsam zu finden. Nach jedem Ritt blieben die Pferde in dem Hohlweg gegenüber der Bresche stehen, und von dort hatten Robert und Michu, die kräftigsten des Trupps, die Säcke heimlich durch die Bresche in einen Keller bringen können, der sich unter der Treppe des sogenannten Damenturms befand. Als sie gegen halb sechs Uhr im Schlosse anlangten, begannen die vier Edelleute und Michu dort sofort mit dem Vergraben des Goldes. Laurence und die Hauteserres hielten es für zweckmäßig, den Keller zu vermauern. Michu übernahm diese Arbeit und ließ sich dabei von Gotthard helfen, der nach dem Pachthofe lief, um ein paar Säcke Kalk zu holen, die aus der Zeit des Baues dort liegen geblieben waren, und Martha kehrte nach Hause zurück, um Gotthard heimlich die Säcke zu geben. Der von Michu erbaute Pachthof stand auf der Anhöhe, von der aus er einst die Gendarmen erblickt hatte, und der Weg dorthin führte durch den Hohlweg. Michu, der sehr ausgehungert war, sputete sich so sehr, daß er seine Arbeit gegen halb acht Uhr beendet hatte. Er kehrte raschen Schritts zurück, um zu verhindern, daß Gotthard einen letzten Sack Kalk brachte, den er noch zu brauchen geglaubt hatte. Sein Pachthof war bereits von dem Feldhüter von Cinq-Cygne, dem Friedensrichter, seinem Schreiber und drei Gendarmen umstellt, die sich versteckten, als sie ihn kommen hörten, und ihn hineinließen.


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