Honoré de Balzac
Eine dunkle Geschichte
Honoré de Balzac

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am nächsten Morgen reiste Michu nach Paris und kehrte nach ein paar Tagen mit vier schönen Pferden für seine neuen Herren zurück. In sechs Wochen sollte die Jagd aufgehen, und die junge Gräfin hatte weislich bedacht, daß die gewaltsamen Anstrengungen dieses Sports eine Abhilfe gegen die Schwierigkeiten des Beieinanderseins im Schlosse sein würden. Zunächst trat eine unerwartete Wirkung ein, welche die Zeugen dieser seltsamen Liebschaft überraschte und mit Bewunderung erfüllte. Ohne jede vorbedachte Verabredung wetteiferten beide Vettern bei ihrer Base in Fürsorge und Zärtlichkeit und fanden darin einen seelischen Genuß, der ihnen zu genügen schien. Sie lebten mit Laurence ebenso brüderlich wie unter einander. Nichts war natürlicher. Nach so langer Trennung empfanden sie das Bedürfnis, ihre Base gründlich kennen zu lernen und sich ihr ebenso beide bekannt zu machen, indem sie ihr das Recht der Wahl ließen. Unterstützt wurden sie bei dieser Prüfung von der gegenseitigen Zuneigung, die ihr Doppelleben zu einem einzigen Leben machte. Wie einst die Mutterliebe, konnte auch die Liebe zwischen beiden Brüdern keinen Unterschied machen. Um sie zu erkennen und sich nicht zu täuschen, mußte Laurence ihnen verschiedene Halsbinden geben, eine weiße dem älteren, eine schwarze dem jüngeren. Ohne diese völlige Ähnlichkeit, ohne diese Gleichheit des Lebens, die jedermann täuschte, erschiene eine solche Lage mit Recht unmöglich. Sie wird auch nur durch die Tatsache erklärlich, denn sie gehört zu denen, an die man nur glaubt, wenn man sie sieht; und hat man sie gesehen, so ist der Geist noch mehr in Verlegenheit, sie sich zu erklären, als sie zu glauben. Sprach Laurence, so hallte ihre Stimme in gleicher Weise in zwei gleich liebenden und treuen Herzen wider. Drückte sie einen geistvollen, scherzhaften oder schönen Gedanken aus, so sah ihr Blick den Ausdruck des Vergnügens in zwei Blicken, die allen ihren Bewegungen folgten, sich ihre geringsten Wünsche deuteten und ihr stets mit neuem Ausdruck zulächelten, der eine heiter, der andre mit zärtlicher Schwermut. Wenn es sich um ihre Geliebte handelte, hatten beide Brüder jene wunderbaren raschen Eingebungen des Herzens, die mit den Taten im Einklang stehen, und die nach der Meinung des Abbé Goujet bis zum Erhabenen gingen. So geschah es oft, wenn etwas geholt werden sollte, wenn es sich um eine jener kleinen Aufmerksamkeiten handelte, die Männer einer geliebten Frau so gern erweisen, daß der ältere seinem Bruder das Vergnügen ließ, sie zu erfüllen, während er seiner Base einen rührenden und zugleich stolzen Blick zuwarf. Der jüngere setzte seinen Stolz darein, derartige Schulden zu bezahlen. Dieser Wettstreit des Edelsinns bei einer Empfindung, in der der Mann bis zur eifersüchtigen Wildheit des Tieres geht, verwirrte alle Begriffe der alten Leute, die ihm zusahen.

Diese kleinen Einzelheiten lockten oft Tränen in die Augen der Gräfin. Eine einzige Empfindung, die aber bei gewissen begnadeten Wesen vielleicht ungeheuer ist, kann einen Begriff von Laurences Gefühlen geben; man wird sie begreifen, wenn man sich des völligen Zusammenklangs zweier schöner Stimmen, wie die der Sonntag und der Malibran, in einem harmonischen Duett erinnert, oder des völligen Zusammenklangs zweier Instrumente in den Händen genialer Spieler, deren melodische Töne wie die Seufzer eines einzigen leidenschaftlichen Wesens in die Seele dringen. Sah der Pfarrer bisweilen den Marquis von Simeuse, in einen Lehnstuhl gesunken, einen tiefen, schwermütigen Blick auf seinen Bruder richten, der mit Laurence plauderte und lachte, so hielt er ihn eines ungeheuren Opfers für fähig; aber bald fing er in seinen Augen den Blitz der unbezwinglichen Leidenschaft auf. Sooft einer der Zwillinge sich mit Laurence allein sah, konnte er sich für ausschließlich geliebt halten. »Dann scheinen sie mir nur noch ein Wesen zu sein«, sagte die Gräfin zum Abbé Goujet, der sie nach dem Zustand ihres Herzens fragte.

Der Priester erkannte an ihr nur den völligen Mangel an Gefallsucht. Laurence glaubte sich wirklich nicht von zwei Männern geliebt.

»Aber, liebe Kleine,« sagte zu ihr eines Abends Frau von Hauteserre, deren Sohn in stiller Liebe zu Laurence dahinstarb, »du wirst doch wählen müssen!«

»Laß uns glücklich sein«, entgegnete sie. »Gott wird uns vor uns selbst retten!«

Adrien von Hauteserre verbarg im Herzensgrunde eine verzehrende Eifersucht und bewahrte das Geheimnis seiner Qualen für sich, denn er begriff, wie wenig Hoffnung er hatte. Er begnügte sich mit dem Glück, dies reizende Mädchen zu sehen, das in den paar Monaten, die dieser Kampf dauerte, in all ihrem Glanze strahlte. Seit Laurence kokett geworden war, verwandte sie nämlich all die Sorgfalt auf sich, die ein geliebtes Weib sich selbst angedeihen läßt. Sie machte die Moden mit und fuhr mehrmals nach Paris, um in Putz oder in irgendeiner Neuheit schöner zu erscheinen. Schließlich machte sie ihr Schloß trotz des lauten Geschreis ihres Vormunds zu dem allerbehaglichsten Wohnsitz in der ganzen Champagne, um ihren Vettern auch die geringsten Genüsse der Häuslichkeit zu verschaffen, die sie so lange entbehrt hatten.

Von diesem stummen Drama begriff Robert von Hauteserre nichts. Er merkte nicht mal, daß sein Bruder in Laurence verliebt war. Er neckte das junge Mädchen gern mit ihrer Koketterie, denn er verwechselte diesen abscheulichen Fehler mit dem Wunsche, zu gefallen. Aber so täuschte er sich in allem, was Empfindung, Geschmack oder höhere Bildung war. Und so machte denn auch Laurence, wenn der mittelalterliche Mensch in Szene trat, ihn alsbald, ohne daß er es merkte, zum »Einfältigen« im Drama. Sie belustigte ihre Vettern, indem sie mit Robert disputierte, und führte ihn Schritt für Schritt in die Sümpfe, in denen Dummheit und Unwissenheit versinken. Sie glänzte in jenen geistreichen Mystifikationen, deren Opfer glücklich bleiben muß, wenn sie vollkommen sein sollen. Aber so grob Roberts Wesen auch war, in dieser schönen Zeit, der einzigen glücklichen, die diese drei reizenden Menschen erleben sollten, trat er nie durch ein männliches Wort, das die Frage vielleicht entschieden hätte, zwischen die Simeuses und Laurence. Die Aufrichtigkeit der beiden Brüder machte ihm Eindruck. Zweifellos erriet Robert, wie sehr ein Weib davor zittern konnte, dem einen Zärtlichkeitsbeweise zu geben, die sie dem andern versagte oder die ihn gegrämt hätten; wie glücklich einer der Brüder über alles Gute war, das dem andern zuteil ward, und wie sehr er im Herzensgrunde darunter leiden mochte. Diese Achtung Roberts erklärt die Lage vortrefflich; in den glaubensstarken Zeiten, wo der Papst die Macht hatte, den gordischen Knoten solcher seltenen Erscheinungen zu durchschneiden, die an die undurchdringlichsten Geheimnisse stoßen, hätte sie gewiß Vorrechte erlangt. Die Revolution hatte diese Herzen im katholischen Glauben gestählt, und so machte die Religion die Krise noch furchtbarer, denn die Größe der Charaktere erhöht die Größe der Situationen. Und so erwartete auch weder Herr noch Frau von Hauteserre noch der Pfarrer und dessen Schwester irgend etwas Gewöhnliches von den beiden Brüdern oder von Laurence.

Dies Drama, das im Rahmen der Familie geheimnisvoll eingeschlossen blieb, wo jeder es schweigend beobachtete, verlief so rasch und zugleich so langsam, brachte so viele unverhoffte Freuden, kleine Kämpfe, enttäuschte Wünsche, gestürzte Hoffnungen, grausame Erwartungen, Verschiebungen der Aussprache auf den nächsten Tag und stumme Erklärungen mit sich, daß die Bewohner von Cinq-Cygne die Kaiserkrönung Napoleons gar nicht beachteten. Diese Leidenschaften schlossen übrigens einen Waffenstillstand, indem sie gewaltsame Ablenkung in dem Jagdvergnügen suchten, das den Körper überanstrengt und dadurch der Seele die Gelegenheit raubt, in den so gefährlichen Steppen der Träumerei umherzustreifen. Weder Laurence noch ihre Vettern dachten an die Welthändel, denn jeder Tag hatte ein pochendes Interesse.

»Wahrhaftig,« sagte Fräulein Goujet eines Abends, »ich weiß nicht, wer von allen diesen Liebenden am meisten liebt!«

Adrien war mit den vier Bostonspielern allein im Salon; er blickte sie an und wurde bleich. Seit ein paar Tagen hing er am Leben nur noch durch das Vergnügen, Laurence zu sehen und sie sprechen zu hören.

»Ich glaube«, sagte der Pfarrer, »die Gräfin liebt als Frau mit mehr Hingabe.«

Gleich darauf kehrte Laurence mit den beiden Brüdern und Robert zurück. Die Zeitungen waren eben eingetroffen. England, das die Unwirksamkeit der Verschwörungen im Innern sah, waffnete Europa gegen Frankreich. Der Schicksalsschlag von Trafalgar hatte einen der außerordentlichsten Pläne vernichtet, die der Menschengeist je ersonnen hat, und durch den der Kaiser Frankreich seine Gegengabe für seine Wahl mit dem Untergang der englischen Macht dargebracht hätte. In diesem Augenblick war das Lager von Boulogne aufgehoben. Napoleon, dessen Soldaten wie stets zahlenmäßig unterlegen waren, wollte Europa auf Schlachtfeldern entgegentreten, auf denen er noch nicht erschienen war. Die ganze Welt war auf den Ausgang dieses Feldzuges gespannt.

»Oh, diesmal wird er unterliegen«, meinte Robert, als er die Zeitung zu Ende gelesen hatte.

»Er hat alle Kräfte Österreichs und Rußlands auf dem Halse«, sagte Maria Paul.

»Er hat nie in Deutschland Krieg geführt«, setzte Paul Maria hinzu.

»Von wem redet Ihr da?« fragte Laurence.

»Vom Kaiser«, entgegneten die drei Edelleute.

Laurence warf ihren beiden Liebhabern einen verächtlichen Blick zu, der sie demütigte, aber Adrien entzückte. Der Verachtete machte eine bewundernde Gebärde, und sein stolzer Blick sagte zur Genüge, daß er an weiter nichts dachte als an Laurence.

»Sie sehen, die Liebe hat ihn seinen Haß vergessen lassen«, flüsterte der Abbé Goujet.

Das war der erste und letzte, der einzige Vorwurf, der die zwei Brüder traf, aber in diesem Augenblick waren sie ihrer Base in der Liebe unterlegen. Zwei Monate darauf erfuhr sie den erstaunlichen Triumph von Austerlitz nur durch das Gespräch des biederen Hauteserre mit seinen zwei Söhnen. Seinem Plane getreu, wollte der Greis, daß seine Kinder um Dienst im Heere baten; zweifellos würde man sie in ihrem Dienstgrade verwenden, und sie konnten noch eine schöne militärische Laufbahn haben. Die Partei des reinen Royalismus war in Cinq-Cygne die stärkere geworden. Die vier Edelleute und Laurence spotteten über den vorsichtigen Greis, der Unheil in der Zukunft zu wittern schien. Vorsicht ist vielleicht weniger eine Tugend als die Betätigung eines geistigen Sinnes.


 << zurück weiter >>