Honoré de Balzac
Der Dorfpfarrer
Honoré de Balzac

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V

Véronique am Grabesrande

Zu Beginn des folgenden Jahres bemerkten die Freunde trotz Madame Graslins Gemütsruhe die Vorboten und Symptome eines nahen Todes an ihr. Auf alle Einwände Roubauds, auf die erfinderischsten aller scharfsinnigsten Fragen gab Véronique die nämliche Antwort: »sie fühle sich vortrefflich gut.« Im Frühling aber besuchte sie ihre Wälder, ihre Pächtereien und ihre schönen Wiesen und bekundete eine kindliche Freude dabei, die auf traurige Vorahnungen in ihr hindeuteten.

Als Gérard sich genötigt sah, eine kleine Betonmauer von dem Gabouwehr bis zum Montégnacer Park am Fuße des besagten Hügels der Corrèze entlang zu ziehen, kam er auf die Idee, den Wald von Montégnac einzuschließen und mit dem Park zu vereinigen. Madame Graslin wies jährlich dreißigtausend Franken für dies Unternehmen an, das eine mindestens siebenjährige Arbeit erforderte, den schönen Wald aber den Rechten entzog, welche die Verwaltungsbehörde auf die nicht eingefriedigten Wälder der Privatleute ausübt. Die drei Weiher des Gaboutales mußten dann im Parke liegen. Jeder dieser, stolz See genannten Weiher hatte seine Insel. Dieses Jahr hatte Gérard in Uebereinstimmung mit Grossetête eine Ueberraschung für Madame Graslins Geburtstag vorbereitet. Auf der größten dieser Inseln, der zweiten, hatte er eine kleine Kartause gebaut, die ziemlich ländlich, innen aber von vollkommener Eleganz war. Der alte Bankier hatte teil an dieser Verschwörung, bei der Farrabesche, Fresquin und die meisten reichen Leute Montégnacs und Clousiers Neffen mitwirkten. Grossetête sandte ein hübsches Mobiliar für die Kartause. Der nach dem von Vevay kopierte Glockenturm war von einer reizenden Wirkung in der Landschaft. Sechs Boote, für jeden Weiher zwei, waren in der Winterzeit von Farrabesche und Guépin unter Beihilfe des Montégnacer Zimmermanns gebaut, bemalt und aufgetakelt worden.

Mitte Mai also, nach dem Frühstück, das Madame Graslin ihren Freunden gab, wurde sie von ihnen durch den Park, der von Gérard, welcher ihn seit fünf Jahren als Architekt und als Naturfreund pflegte, prachtvoll ausgestaltet worden war, nach der hübschen Wiese des Gaboutales geleitet, wo am Ufer des ersten Sees die beiden Boote schwammen. Diese von einigen klaren Bächen benetzte Wiese war am Fuße des schönen Amphitheaters angelegt worden, wo das Gaboutal anfängt. Sorgsam veredelte Bäume, die anmutige Gruppen oder reizende Ausschnitte für das Auge bildeten, umfaßten die Wiese und verliehen ihr ein für die Seele süßes Bild der Einsamkeit. Auf einer Anhöhe hatte Gérard ganz gewissenhaft jene Sennhütte aus dem Sittener Tale nachgebaut, die auf dem Wege nach Brig steht und von allen Reisenden bewundert wird. Man wollte dort Kühe und die Milchwirtschaft für das Schloß unterbringen. Von der Galerie aus überblickte man die von dem Ingenieur geschaffene Landschaft, welche die Seen einem der hübschesten Schweizer Eindrücke gleichwertig machten. Der Tag war köstlich. Am blauen Himmel nicht eine Wolke; auf dem Erdboden tausend anmutige Ueberraschungen, wie sie der schöne Maimond mit sich bringt. Die vor zehn Jahren an den Rändern angepflanzten Bäume: Trauerweiden, Salweiden, Erlen, Eschen, holländische Weißbuchen, italienische und virginische Pappeln, Weiß- und Rotdornsträucher, Akazien, Birken, alle in auserlesenen Exemplaren, alle so verteilt, wie der Boden sowohl wie ihre Physiognomie es verlangte, hielten in ihrem Blätterwerk einige aus den Gewässern entstandene Nebelschwaden zurück, die leichten Rauchwolken glichen. Das Wasserbecken, klar wie der Spiegel und ruhig wie der Himmel, strahlte die hohen grünen Waldmassen zurück, deren rein in der feuchten Atmosphäre abgezeichnete Gipfel lebhaft gegen die in ihre hübschen Schleier gehüllten Buschwerke unter ihnen abstachen. Die durch breite Dammwege getrennten Seen bildeten drei Spiegel mit verschiedenen Reflexen, in melodischen Kaskaden strömten die Gewässer des einen in den anderen.

Diese Dammwege ermöglichten es, vom einen Ufer zum anderen zu gelangen, ohne das Tal zu umschreiten. Durch eine Schneise erblickte man von der Sennhütte aus die undankbare Steppe der kreidigen und unfruchtbaren Gemeindeweiden, die, vom letzten Balkon aus gesehen, dem offenen Meere glich und mit der frischen Natur des Sees und seiner Ufer kontrastierte. Als Véronique die Freude ihrer Freunde sah, die ihr die Hand hinreichten, um sie in das größte der Boote einsteigen zu lassen, standen ihr Tränen in den Augen und sie schwieg bis zu dem Augenblick, wo sie am ersten Dammweg landete. Als sie hinaufstieg, um sich auf dem zweiten Kahne einzuschiffen, sah sie die Kartause und dort Grossetête mit seiner ganzen Familie auf einer Bank sitzen.

– »Alle wollen sie mich wohl das Leben bedauern lassen?« sagte sie zum Pfarrer.

»Wir wollen Sie am Sterben hindern,« antwortete Clousier.

»Toten gibt man kein Leben zurück,« erwiderte sie.

Monsieur Bonnet warf einen strengen Blick auf sein Beichtkind, der es in sich selbst Einkehr halten ließ.

»Lassen Sie mich doch nur für Ihre Gesundheit sorgen,« sagte Roubaud mit sanfter flehender Stimme zu ihr; »ich werde dem Bezirke ganz sicher seinen lebenden Ruhm und allen Ihren Freunden das Band ihres gemeinsamen Lebens erhalten.«

Véronique senkte den Kopf und Gérard ruderte langsam nach der Insel, die inmitten dieses breitesten der drei Seen lag, und wo das Gemurmel der Gewässer des ersten, damals allzu vollen von ferne widerhallte und der reizenden Landschaft eine Stimme verlieh.

»Recht tun Sie, mich dieser entzückenden Schöpfung Lebewohl sagen zu lassen,« sagte sie, als sie die Schönheit der Bäume sah, die alle so dicht belaubt waren, daß sie die beiden Ufer verbargen.

Die einzige Mißbilligung, die ihre Freunde sich erlaubten, war ein düsteres Schweigen, und auf einen neuerlichen Blick Monsieur Bonnets hin, sprang Véronique leicht an Land und nahm eine fröhliche Miene an, die sie nicht mehr aufgab. Wieder Schloßherrin geworden, war sie reizend, und die Familie Grossetête erkannte in ihr von neuem die schöne Madame Graslin früherer Tage.

»Sicherlich kannst du noch leben!« flüsterte ihr ihre Mutter ins Ohr.

An diesem schönen Festtage, inmitten der erhabenen, einzig mit Hilfsmitteln der Natur hervorgezauberten Schöpfung, schien Véronique nichts verwunden zu dürfen, und doch empfing sie hier ihren Gnadenstoß. Man wollte um neun Uhr über die Wiesen zurückkehren, deren Wege, die alle ebenso schön wie englische oder italienische Straßen waren, den Stolz des Ingenieurs bildeten. Der Ueberfluß an Kieseln, die bei der Säuberung der Ebene massenweise an den Seiten aufgeschichtet worden waren, erlaubte es, sie so wohl zu unterhalten, daß sie seit fünf Jahren wie makadamisiert waren. Die Wagen standen am Ende des letzten Tales auf der Seite der Ebene, fast am Fuße der Roche-Vive. Die Gespanne, alle aus in Montégnac gezüchteten Pferden bestehend, waren die ersten, die verkauft werden konnten. Der Gestütdirektor hatte ein Dutzend davon für die Schloßställe abrichten lassen, und sie zum ersten Male zu versuchen, bildete einen Teil des Festprogramms. Vor Madame Graslins Kalesche, einem Geschenke Grossetêtes, stampften die vier schönsten, einfach angeschirrten Pferde. Nach dem Mittagessen wollte die frohe Gesellschaft den Kaffee in einem kleinen Holzkiosk, einer Kopie derer vom Bosporus, einnehmen, der an der Inselspitze lag, wo der Blick über den letzten Weiher hinstreifte. Colorats Haus – denn der Wächter war, als er die Unmöglichkeit einsah, ein so schwieriges Amt wie das eines Hauptwächters von Montégnac auszuüben, Farrabesches Nachfolger geworden – und das alte restaurierte Haus bildete eines der Gebäude in dieser Landschaft, die mit dem großen Gabouwehr abschloß, und die Blicke liebenswürdig an eine reiche und kräftige Vegetationsmasse fesselte.

Von dort aus glaubte Madame Graslin ihren Sohn Francis in der Nähe der von Farrabesche angelegten Baumschule zu sehen. Sie suchte ihn mit dem Blick, fand ihn aber nicht, und Monsieur Ruffin zeigte ihn ihr: tatsächlich spielte der Knabe mit den Kindern von Grossetêtes Enkelinnen längs der Ufer. Véronique fürchtete einen Unfall. Ohne auf jemanden zu hören, stieg sie aus dem Kiosk hinunter, sprang in eines der Boote, ließ sich zum Dammweg übersetzen und suchte eilig ihren Sohn. Dieser kleine Zwischenfall war Anlaß zum Aufbruch. Der ehrwürdige Ururgroßvater Grossetête schlug als erster vor, auf dem schönen Saumpfade zu lustwandeln, der sich längs der beiden letzten Seen hinstreckte, indem er sich den Launen des gebirgigen Bodens anpaßte. Madame Graslin bemerkte Francis von weitem in den Armen einer Dame in Trauer. Nach der Hutform und dem Kleiderschnitte zu urteilen, mußte die Frau eine Ausländerin sein. Erschreckt rief Véronique ihren Sohn, der zurückkam.

»Wer ist die Frau?« fragte sie die Kinder, »und warum ist Francis von euch fortgegangen?«

»Die Dame hat ihn bei seinem Namen gerufen,« sagte ein kleines Mädchen.

In diesem Augenblick kamen die Sauviat und Gérard an, die der ganzen Gesellschaft vorangelaufen waren.

»Wer ist die Frau, liebes Kind?« fragte Madame Graslin Francis.

»Ich kenne sie nicht,« antwortete er, »aber nur du und meine Großmutter umarmen mich so . . . Sie hat geweint!« flüsterte er seiner Mutter ins Ohr.

»Wollen Sie, daß ich ihr nachlaufe?« fragte Gérard.

»Nein!« sagte Madame Graslin mit einem rauhen Tone, den man nicht an ihr kannte.

Voller Zartgefühl, das Véronique zu schätzen wußte, führte Gérard die Kinder fort und ging der Gesellschaft entgegen. So blieben denn die Sauviat, Madame Graslin und Francis allein.

»Was hat sie zu dir gesagt?« fragte die Sauviat ihren Enkel.

»Ich weiß es nicht, sie sprach nicht französisch.«

»Hast du nichts verstanden?« forschte Véronique.

»Ach, sie hat mehrere Male, und darum hab ich's behalten können, ›Dear brother!‹ gesagt.«

Véronique ergriff den Arm ihrer Mutter und führte ihren Sohn an der Hand; kaum aber machte sie einige Schritte, als ihre Kräfte sie verließen.

»Was hat sie? . . . Was ist geschehen??« fragte man die Sauviat.

»Oh, meine Tochter ist in Gefahr!« erwiderte die alte Auvergnatin mit tiefer und hohler Stimme.

Man mußte Madame Graslin in ihren Wagen tragen, sie wünschte, daß Aline mit Francis einstiege, und gab Gérard ein Zeichen, sie zu begleiten.

»Sie sind, glaube ich, in England gewesen,« sagte sie zu ihm, als sie ihre Lebensgeister wiedererlangt hatte, »und verstehen Englisch? Was bedeuten die Worte: dear brother?«

»Wer weiß das nicht?« rief Gérard. »Sie heißen: lieber Bruder.«

Véronique tauschte einen Blick mit Aline und der Sauviat aus, der sie schaudern machte, aber sie verbargen ihre Erregung. Die Freudenschreie aller derer, die der Abfahrt der Wagen beiwohnten, die Pracht des Sonnenuntergangs auf den Wiesen, der vollendete Gang der Pferde, das Gelächter ihrer folgenden Freunde, der Galopp, zu dem die, welche sie zu Pferde begleiteten, ihre Tiere anspornten, nichts zog Madame Graslin aus ihrer Betäubung. Ihre Mutter ließ den Kutscher sich beeilen und ihr Wagen kam als erster im Schlosse an. Als die Gesellschaft dort vereinigt war, erfuhr man, daß Véronique sich in ihrem Zimmer eingeschlossen habe und keinen Menschen sehen wolle.

»Ich fürchte,« sagte Gérard zu seinen Freunden, »Madame Graslin hat einen Todesstoß erhalten.«

»Wo? . . . Wie? . . .« fragte man ihn.

»Im Herzen,« antwortete Gérard.

Am übernächsten Tage reiste Roubaud nach Paris. Er hatte Madame Graslin so schwer leidend gefunden, daß er, um sie dem Tode zu entreißen, die Ratschläge und Hilfe des besten Pariser Arztes holen wollte. Véronique hatte Roubaud aber nur empfangen, um den Zudringlichkeiten ihrer Mutter und Alines, die sie inständig baten, sich zu pflegen, ein Ziel zu stecken: sie fühlte sich zu Tode getroffen.

Sie weigerte sich, Monsieur Bonnet zu sehen. Sie ließ ihm antworten, es sei noch nicht Zeit. Obwohl alle ihre zum Geburtstag aus Limoges gekommenen Freunde bei ihr bleiben wollten, bat sie sie, zu entschuldigen, wenn sie die Pflichten der Gastfreundschaft nicht erfülle, doch sie wünsche in der tiefsten Einsamkeit zu bleiben. Nach Roubauds jäher Abreise kehrten die Gäste aus Schloß Montégnac weniger verstimmt als verzweifelt nach Limoges zurück, denn alle, die Grossetête mitgebracht hatte, beteten Véronique an. Man verlor sich in Mutmaßungen über das Ereignis, das diesen geheimnisvollen bösen Unfall hatte verursachen können.

Eines Abends, zwei Tage nach der Abreise der zahlreichen Familie der Grossetête, führte Aline Cathérine in Madame Graslins Gemach. Die Farrabesche stand wie angenagelt beim Anblick der Veränderung, die sich so plötzlich mit ihrer Herrin vollzogen hatte, deren Antlitz sie wie vom Tode verzerrt sah.

»Mein Gott, Madame,« rief sie, »welch ein Unglück hat das arme Mädchen angerichtet! Wenn wir das hätten vorausahnen können, würden wir, Farrabesche und ich, sie nie bei uns aufgenommen haben. Eben hat sie gehört, daß Madame krank sei, und schickt mich, um Madame Sauviat zu sagen, daß sie sie sprechen möchte!«

»Hier!« rief Véronique. »Schnell, wo ist sie?«

»Mein Mann hat sie nach der Sennhütte gebracht.«

»Es ist gut,« sagte Madame Graslin; »verlassen Sie uns, und sagen Sie Farrabesche, er solle sich entfernen. Melden Sie der Dame, daß meine Mutter sie aufsuchen würde, sie möge sie erwarten.«

Als die Nacht gekommen war, ging Véronique, auf ihre Mutter gestützt, langsam durch den Park bis zur Sennhütte. Der Mond schien in seinem ganzen Glanze, die Luft war mild, und die beiden sichtlich bewegten Frauen erhielten gewissermaßen Ermutigungen durch die Natur. Von Augenblick zu Augenblick blieb die Sauviat stehen und ließ ihre Tochter sich ausruhen, deren Leiden so qualvoll waren, daß Véronique erst gegen Mitternacht den Pfad erreichen konnte, der durch die Wälder nach der abfallenden Wiese hinunterführte, wo das silbrige Dach der Sennhütte glänzte. Das Mondlicht verlieh der Oberfläche der stillen Gewässer Perlenfarbe. Die feinen Geräusche der Nacht, die im Schweigen so widerhallen, bildeten einen sanften Wohlklang. Véronique setzte sich inmitten des schönen Schauspiels dieser Sternennacht auf die Sennhüttenbank. Das Murmeln zweier Stimmen und das Geräusch, welches die Schritte zweier noch entfernter Personen im Sande hervorriefen, wurden durch das Wasser hergetragen, das in der Stille Töne ebenso treu überliefert, wie es in der Ruhe Gegenstände zurückwirft. An ihrer köstlichen Sanftheit erkannte Véronique des Pfarrers Organ, das Knistern der Soutane und das Rauschen eines Seidenstoffs, der ein Frauenkleid sein mußte.

»Gehen wir hinein!« sagte sie zu ihrer Mutter.

Die Sauviat und Véronique setzten sich auf eine Krippe in dem niedrigen Raum, der ein Stall werden sollte.

»Mein Kind,« sagte der Pfarrer, »ich tadle Sie nicht, Sie sind entschuldbar; aber Sie können die Ursache eines nicht wiedergutzumachenden Unglücks sein, denn sie ist die Seele dieses Landes.«

»Oh, mein Herr, noch heute abend werde ich fortgehen,« sagte die Fremde; »doch ich kann Ihnen sagen, mein Vaterland noch einmal zu verlassen, hieße sterben für mich. Wenn ich noch einen Tag länger in diesem schrecklichen Neuyork und in den Vereinigten Staaten geblieben wäre, wo es weder Hoffnung, noch Glauben, noch Treue gibt, würde ich gestorben sein, ohne krank gewesen zu sein. Die Luft, die ich atmete, tat mir weh in der Brust, die Nahrungsmittel nährten mich dort nicht mehr, indem ich scheinbar voll Leben und Gesundheit war, starb ich. Meine Leiden haben aufgehört, sobald ich den Fuß aufs Schiff setzte: ich wähnte in Frankreich zu sein. O, mein Herr, meine Mutter und eine meiner Schwägerinnen hab' ich vor Gram sterben sehen. Kurz, mein Großvater Tascheron und meine Großmutter sind tot, tot, mein lieber Monsieur Bonnet, trotz des unerhörten Gedeihens von Tascheronville . . . Ja, mein Vater hat ein Dorf im Staate Ohio gegründet, dies Dorf ist fast eine Stadt geworden; und ein Drittel der Ländereien, die dazugehören, sind kultiviert worden von unserer Familie, die Gott ständig beschirmt hat. Unsere Kulturen gedeihen, unsere Erzeugnisse sind prachtvoll und wir sind reich! Auch haben wir eine katholische Kirche bauen können; die Stadt ist katholisch, wir dulden dort keinen anderen Kult und hoffen durch unser Beispiel die tausend Sekten, die um uns herum sind, zu bekehren. Die wahre Religion ist in Minderzahl in diesem traurigen Geld- und Interessenlande, wo die Seele friert. Nichtsdestoweniger will ich dorthin zurückkehren und lieber sterben als der Mutter unseres lieben Francis das geringste Unrecht zufügen und die leichteste Not bereiten. Führen Sie mich nur noch ins Pfarrhaus heute nacht, Monsieur Bonnet, daß ich an ›seinem‹ Grabe beten kann, das mich einzig und allein nach hier gezogen hat, denn in dem Maße wie ich mich dem Orte näherte, wo ›er‹ ist, fühlte ich mich ganz anders. Nein, ich glaubte nicht hier so glücklich zu sein . . .«

»Nun gut,« sagte der Pfarrer, »kommen Sie, gehen wir. Wenn Sie eines Tages ohne Nachteil zurückkommen können, werde ich Ihnen schreiben, Denise; vielleicht aber wird dieser Besuch in Ihrer Heimat Ihnen erlauben, da drüben zu wohnen, ohne zu leiden . . .«

»Dies Land verlassen, das jetzt so schön ist? Sehen Sie doch, was Madame Graslin aus dem Gabou gemacht hat!« sagte sie, auf den mondbeglänzten See hinweisend. »Kurz, alle diese Ländereien werden unserem teuren Francis gehören . . .«

»Sie sollen nicht abreisen, Denise,« sagte Madame Graslin, die sich in der Stalltür zeigte.

Jean-François Tascherons Schwester schlug die Hände zusammen beim Anblick des Gespenstes, das mit ihr sprach. In diesem Moment sah die mondbestrahlte, bleiche Véronique wie ein Schatten aus, der sich von den Finsternissen der geöffneten Stalltür abhob. Ihre Augen funkelten wie zwei Sterne.

»Nein, mein Kind, Sie werden das Land, das wiederzusehen Sie aus solcher Ferne hergekommen sind, nicht verlassen. Sie sollen hier glücklich sein, oder Gott würde sich weigern, meinen Werken beizustehen; sonder Zweifel schickte er Sie her!«

Sie faßte die erstaunte Denise bei der Hand und führte sie auf einem Pfade nach der anderen Seeseite. Ihre Mutter und den Pfarrer ließ sie zurück; sie setzten sich auf die Bank.

»Lassen wir sie tun, was sie will,« sagte die Sauviat.

Einige Minuten später kam Véronique allein wieder und wurde von ihrer Mutter und dem Pfarrer ins Schloß zurückgeführt. Zweifelsohne hatte sie irgendeinen Plan gefaßt, der geheim bleiben sollte, denn niemand im Lande sah weder Denise noch hörte er von ihr sprechen. Nachdem Madame Graslin ihr Bett wieder aufgesucht hatte, verließ sie es nicht mehr; es ging ihr tagtäglich schlechter, und sie schien gehindert zu sein, sich erheben zu können, da sie es zu mehreren Malen, doch vergebens versuchte, sich im Park zu ergehen. Einige Tage nach dieser Szene jedoch, zu Anfang des Junimonats, überwand sie sich nach hartem Kampfe, stand auf, zog sich an und schmückte sich wie zu einem Feste. Sie bat Gérard, ihr den Arm zu reichen: denn ihre Freunde kamen jeden Tag, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen; und als Aline erzählte, daß ihre Herrin lustwandeln wollte, eilten alle ins Schloß. Madame Graslin hatte alle ihre Kräfte gesammelt und erschöpfte sie, um diesen Spaziergang zu machen. Sie erfüllte ihren Plan in einem Willensparoxysmus, der eine furchtbare Reaktion nach sich ziehen mußte.

»Gehen wir nach der Sennhütte, und zwar allein,« sagte sie mit sanfter Stimme zu Gérard und blickte ihn dabei mit einer Art Koketterie an. »Das ist mein letzter mutwilliger Streich, denn ich habe heute nacht geträumt, meine Aerzte kämen.«

»Wollen Sie Ihre Wälder sehen?« fragte Gérard.

»Zum letztenmal,« antwortete sie. »Doch habe ich,« fügte sie mit einschmeichelnder Stimme hinzu, »Ihnen seltsame Vorschläge zu machen.«

Sie zwang Gérard, sich mit ihr auf dem zweiten See einzuschiffen, wohin sie sich zu Fuß begab. Als der Ingenieur, überrascht, sie eine solche Ueberfahrt machen zu sehen, die Ruder bewegte, kündigte sie ihm die Kartause als Reiseziel an.

»Lieber Freund,« sprach sie zu ihm nach einer langen Pause, während welcher sie den Himmel, das Wasser, die Hügel und Ufer betrachtet hatte, »ich habe das seltsamste Verlangen an Sie zu stellen, glaube aber, daß Sie der Mann sind, der mir gehorcht.«

»In allem; bin ich doch sicher, daß Sie nur Gutes von mir verlangen können,« rief er.

»Ich will Sie verheiraten,« sagte sie; »und sie erfüllen das Gelübde einer Sterbenden, die sicher ist, Ihr Glück zu machen.

»Ich bin zu häßlich,« erwiderte der Ingenieur.

»Die Person ist hübsch, sie ist jung, will in Montégnac leben; und wenn Sie sie heiraten, werden Sie dazu beitragen, mir meine letzten Augenblicke zu versüßen. Damit zwischen uns nicht die Rede von ihren guten Eigenschaften sei, gebe ich sie für ein Elitewesen aus, und da hinsichtlich Anmut, Schönheit und Jugend der erste Blick genügt, wollen wir sie in der Kartause sehen. Bei der Rückkehr sollen Sie mir ein ernsthaftes Ja oder Nein sagen.«

Nach dieser vertraulichen Mitteilung beschleunigte der Ingenieur die Bewegung der Ruder, was Madame Graslin ein Lächeln entlockte. Denise, die für alle Blicke verborgen in der Kartause lebte, erkannte Madame Graslin und machte ihr eilends auf. Véronique und Gérard traten ein. Das arme Mädchen konnte nicht umhin zu erröten, als sie des Ingenieurs Blicken begegnete, der von Denises Schönheit angenehm überrascht wurde.

»Die Curieux hat es Ihnen an nichts fehlen lassen?« fragte Véronique sie.

»Sehen Sie, Madame,« sagte sie, ihr das Frühstück zeigend.

»Hier ist Monsieur Gérard, von dem ich Ihnen erzählt habe,« fuhr Véronique fort; »er wird meines Sohnes Vormund sein, und nach meinem Tode werden Sie bis zu seiner Mündigkeit zusammen im Schlosse wohnen.«

»Oh, Madame, sprechen Sie nicht so.«

»Aber sehen Sie mich doch an, mein Kind!« sagte sie zu Denise, deren Augen sie sofort voll Tränen sah. – »Sie kommt aus Neuyork,« sagte sie zum Ingenieur.

Damit wollte sie das Paar miteinander bekannt machen. Gérard stellte einige Fragen an Denise, und Véronique ließ sie miteinander plaudern: sie ging und besah sich den letzten Gabousee. Um sechs Uhr kamen Gérard und Véronique im Schiff nach der Sennhütte.

»Nun?« sagte sie, ihren Freund anblickend.

»Sie haben mein Wort.«

»Obwohl Sie vorurteilslos sind,« fuhr sie fort, »müssen Sie doch den grausamen Umstand wissen, der das arme Kind unser Land, in das es aus Heimweh zurückgeführt wurde, verlassen ließ.«

»Ein Fehltritt?«

»O nein!« sagte Véronique; »würde ich sie Ihnen dann vorschlagen? Sie ist die Schwester eines Arbeiters, der auf dem Schafott gestorben ist . . .«

»Ach, Tascheron,« sagte er, »Vater Pingrets Mörder! . . .«

»Ja, sie ist eines Mörders Schwester!« wiederholte Madame Graslin mit tiefer Ironie; »Sie können Ihr Wort zurücknehmen.«

Sie vollendete nicht, Gérard sah sich genötigt, sie nach der Sennhüttenbank zu tragen, wo sie einige Minuten über ohne Bewußtsein blieb. Sie fand Gérard zu ihren Füßen, als sie die Augen aufschlug; er sagte zu ihr:

»Ich werde Denise heiraten!«

Madame Graslin hob Gérard auf, nahm seinen Kopf, küßte ihn auf die Stirn; und als Véronique ihn erstaunt sah über diesen Dank, streichelte sie ihm die Hand und sagte zu ihm:

»Des Rätsels Lösung werden Sie bald erfahren. Versuchen wir die Terrasse zu erreichen, wo wir unsere Freunde wiederfinden werden, Es ist recht spät, ich bin sehr schwach, will aber nichtsdestoweniger meiner teuren Ebene von weitem Lebewohl sagen.«

Obwohl der Tag unerträglich heiß gewesen war, hatten die Stürme, die während dieses Jahres einen Teil Europas und Frankreichs verheerten, Limousin aber verschonten, im Loirebecken gewütet, und die Luft begann frischer zu werden. Der Himmel war so klar, daß das Auge die kleinsten Einzelheiten am Horizonte erfaßte. Welch ein Wort kann den köstlichen Einklang ausmalen, den die gedämpften Geräusche des Fleckens, der durch die Arbeiter auf ihrer Heimkehr von den Feldern belebt wird, hervorbringen? Um gut wiedergegeben zu werden, erfordert diese Szene zugleich einen großen Landschafter wie einen Figurenmaler. Besteht nicht tatsächlich in der Müdigkeit der Natur und in der des Menschen ein merkwürdiges und schwer wiederzugebendes Einverständnis? Die erschlaffende Wärme eines Hundstags und die Verdünnung der Luft geben dann dem durch die Lebewesen verursachten Geräusch seine volle Bedeutung. Die vor der Türe sitzenden Frauen erwarten ihre Männer, welche oft die Kinder mit heimbringen, plaudern miteinander und arbeiten noch. Die Dächer lassen Rauchwolken entweichen, die auf die letzte Tagesmahlzeit hinweisen, die froheste für die Landleute; und hernach werden sie schlafen. Die Bewegung drückt dann die glücklichen und ruhigen Gedanken derer aus, die ihr Tagwerk beendigt haben. Gesänge hört man, deren Charakter sicherlich sehr verschieden ist von denen des Morgens. Darin ahmen die Dörfler die Vögel nach, deren abendliches Gezwitscher in nichts dem morgendlichen Jubel gleicht. Die ganze Natur singt einen Hymnus der Ruhe, wie sie bei Sonnenaufgang einen Hymnus des Jubels singt. Die geringsten Handlungen beseelter Wesen scheinen sich dann in die sanften und harmonischen Farben zu kleiden, die der Sonnenuntergang über die Felder streut, und die dem Sand der Wege einen stillen Charakter verleihen. Wenn irgend jemand den Einfluß dieser Stunde, der schönsten des Tages, zu verneinen wagte, würden ihn die Blumen Lügen strafen, indem sie ihn mit ihren durchdringendsten Wohlgerüchen berauschten, die sie dann ausströmen und mit den zärtlichsten Insektentönen, dem verliebten Vogelflüstern vermischen.

Die Schleppen, welche die Ebene jenseits des Fleckens furchen, hatten sich mit zarten und leichten Nebeln verschleiert. In den großen Wiesen, die die Bezirkshauptstraße teilt, welche nun von Pappeln, Ahornen und japanischen Firnisbäumen beschattet wurde, die in gleichen Abständen vermischt standen und alle so gut gekommen waren, daß sie bereits Schatten spendeten, erblickte man die großen und berühmten Großviehherden, die Tiere einzeln und in Gruppen, die einen wiederkäuend, die anderen noch weidend. Die Männer, Frauen und Kinder vollendeten die hübscheste der Landarbeiten, die des Heumachens. Die durch die plötzliche Frische, durch die Stürme belebte Abendluft trug die nahrhaften Düfte geschnittener Kräuter und aufgeschichteter Heuhaufen herbei. Die geringsten Ereignisse dieses schönen Panoramas sah man vollkommen: sowohl die, welche den Sturm fürchtend, in aller Hast Fuder aufluden, um welche die Heuerinnen mit beladenen Heugabeln herumliefen, wie die, welche die Karren inmitten der Heubinder füllten, wie die Leute, die in der Ferne noch mähten, wie die, welche die langen, wie Schraffierungen über die Wiese hin verteilten Reihen geschnittenen Grases umwendeten, und die, welche sich beeilten, sie zu häufeln. Man hörte das Gelächter derer, die sich freuten, vermischt mit den Schreien der Kinder, die sich in die Heuhaufen stießen. Man unterschied rosa oder rote oder blaue Röcke, die Halstücher, die nackten Beine, die Frauenarme, alle geschmückt mit jenen breitrandigen Hüten aus gewöhnlichem Stroh, und die Hemden der Männer, die fast alle in weißen Hosen waren. Die letzten Sonnenstrahlen stäubten durch die langen Pappelreihen, die längs der Wasserrinnen gepflanzt waren, welche die Ebene in ungleiche Wiesenflächen teilten, und liebkosten die aus Pferden, Karren, Männern, Frauen, Kindern und Tieren zusammengesetzten Gruppen. Die Rinderwächter, die Hirtinnen begannen ihre Trupps zu vereinigen, indem sie sie mit dem Tone ländlicher Hörner riefen. Diese Szene war geräuschvoll und still zugleich, eine sonderbare Antithese, die nur Leute, denen die Herrlichkeiten des Landes unbekannt sind, wundern wird. Auf der einen wie auf der anderen Seite des Fleckens folgten Wagenzüge mit Grünfutter dicht aufeinander. Dies Schauspiel hatte etwas unbeschreiblich Abspannendes. Auch Véronique ging schweigend zwischen Gérard und dem Pfarrer. Da ein ländlicher Weg zwischen den stufenweise aufsteigenden Häusern unter der Terrasse, dem Pfarrhaus und der Kirche den Durchblick auf die Montégnacer Hauptstraße erlaubte, sahen Gérard und Monsieur Bonnet die Augen der Frauen, Männer und Kinder, kurz, aller Gruppen auf sie gerichtet und zweifelsohne hauptsächlich Madame Graslin verfolgen. Wieviel Zärtlichkeit und Dankbarkeit drückte sich in dieser Haltung aus! Mit welch frommer Andacht wurden die drei Wohltäter des Landes betrachtet! So fügte der Mensch zu allen Gesängen des Abends einen Hymnus der Dankbarkeit hinzu. Wenn aber Madame Graslin dahinschritt, die Augen auf jene langen und prächtigen grünen Flächen, ihre liebste Schöpfung, gerichtet, und der Priester und der Bürgermeister nicht aufhörten, die Gruppen da unten zu betrachten, so konnte man unmöglich ihren Ausdruck verkennen: Schmerz, Trauer, mit Hoffnung vermischtes Bedauern malten sich darauf ab. Niemand in Montégnac wußte, daß Monsieur Roubaud Männer der Wissenschaft aus Paris holte und daß die Wohltäterin des Bezirks dem Ende einer tödlichen Krankheit nahe war. Auf allen Märkten, auf zehn Meilen im Umkreise, fragten die Bauern die Montégnacer: »Wie geht's eurer Bürgerin?« So schwebte der Todesgedanke über dem Lande, inmitten dieses ländlichen Gemäldes. Fern in den Wiesengründen hielt mehr als ein Mäher beim Mähen inne, stützte mehr als ein junges Mädchen den Arm auf ihren Rechen, saß mehr als ein Pächter lässig auf seinem Fuder, als sie Madame Graslin sahen, blieben nachdenklich, blickten die große Frau, den Ruhm der Corrèze prüfend an, und suchten in dem, was sie sehen konnten, ein Zeichen günstiger Vorbedeutung, oder schauten sie bewundernd, von einem Gefühl getrieben, das schwerer wog als die Arbeit, an: »Sie lustwandelt, also geht's ihr besser!« Dies so einfache Wort war auf allen Lippen. Madame Graslins Mutter saß auf der Eisenbank, die Véronique am Terrassenende an der Eiche hatte aufstellen lassen, wo der Blick quer durch die Balustrade auf den Friedhof fiel, und beobachtete die Bewegungen ihrer Tochter. Sie sah sie gehen und einige Tränen rollten aus ihren Augen. Eingeweiht wie sie in die Anstrengungen dieses übermenschlichen Mutes war, wußte sie, daß Véronique in diesem Augenblicke bereits die Schmerzen eines furchtbaren Todeskampfes erlitt und sich nur mit einem heroischen Willen so aufrecht hielt. Diese fast blutroten Tränen, die ihren Weg über dies sonnenverbrannte, faltige, siebzigjährige Gesicht suchten, dessen pergamentartige Haut unter keiner Erregung nachgeben zu müssen schien, preßten dem jungen Graslin, den Monsieur Ruffin zwischen seinen Beinen hielt, Tränen ab.

»Was hast du, mein Kind?« fragte sein Lehrer ihn lebhaft.

»Meine Großmutter weint . . .« antwortete er.

Monsieur Ruffin, dessen Augen auf Madame Graslin gerichtet waren, die auf sie zukam, blickte die Mutter Sauviat an und fühlte sich beim Anblick dieses alten römischen Matronenhauptes, das von Schmerz versteinert und von Tränen feucht war, lebhaft getroffen.

»Warum haben Sie sie nicht gehindert auszugehen, Madame?« sagte der Lehrer zu der alten Mutter, die ihr stummer Schmerz erhaben und heilig machte.

Während Véronique mit majestätischem Schritte in einer Haltung von bewundernswerter Eleganz herankam, ließ die Sauviat, von der Verzweiflung getrieben, ihre Tochter überleben zu sollen, sich das Geheimnis vieler Dinge entschlüpfen, welche die Neugierde reizten.

»Gehen«, rief sie, »und ein furchtbares Büßerhemd aus Roßhaar tragen, das ihr beständig die Haut zersticht!«

Dies Wort erstarrte den jungen Mann, der der erlesenen Anmut von Véroniques Bewegungen gegenüber nicht hatte unempfindlich bleiben können, und der bei dem Gedanken an die furchtbare und ständige Herrschaft, welche die Seele über den Leib hatte gewinnen müssen, bebte, zu Eis. Die der Ungezwungenheit ihrer Figur, ihrer Haltung und ihres Ganges wegen berühmteste Pariserin wäre in diesem Momente vielleicht von Véronique besiegt worden.

»Sie trägt es seit dreizehn Jahren, hat es angelegt, als sie den Kleinen entwöhnt hatte,« sagte die Alte, auf den jungen Graslin weisend. »Sie hat hier Wunder getan, doch wenn man ihr Leben kennte, müßte sie heiliggesprochen werden! Seit sie hier ist, hat niemand sie essen sehen; wissen Sie warum? Aline bringt ihr dreimal täglich ein Stück trocknes Brot auf einer großen Aschenschüssel und in Wasser, ohne Salz, gekochte Gemüse in einem roten irdenen Napf, ähnlich jenen, in denen man den Hunden das Futter hinstellt! Ja, so nährt die sich, die diesem Bezirk das Leben gegeben hat! . . . Sie hält ihre Gebete kniend auf dem Rande ihres Büßerhemdes. Ohne diese Kasteiungen, sagt sie, könnte sie nicht die lachende Miene haben, die Sie an ihr sehen. Ich sage Ihnen das,« fuhr die Alte mit leiser Stimme fort, »damit Sie es dem Arzte wiederholen, den Monsieur Roubaud aus Paris herbringen will. Wenn er meine Tochter hinderte, ihre Bußübungen fortzusetzen, würde er sie vielleicht noch retten, obwohl des Todes Hand bereits auf ihrem Haupte ruht. Sehen Sie! Ach, ich muß wohl recht stark sein, daß ich seit fünfzehn Jahren all diesen Dingen widerstanden habe!«

Die alte Frau nahm die Hand ihres Enkelkindes, hob sie auf und legte sie sich auf die Stirn und auf die Wangen, wie wenn diese Kindesfaust einen stärkenden Balsam ausströme; dann drückte sie einen Kuß voll der Liebe darauf, deren Geheimnis den Großmüttern ebensogut wie den Müttern gehört. Véronique war in Clousiers, des Pfarrers und Gérards Begleitung bis auf einige Schritte an die Bank herangekommen. Durch den sanften Glanz der untergehenden Sonne erhellt, erstrahlte sie in furchtbarer Schönheit. Ihre gelbe Stirn, von langen Falten, die wie Wolken eine über der anderen lagen, gefurcht, gab, durch innere Unruhen hindurch, einen festen Gedanken zu erkennen. Ihr aller Farbe bares Gesicht war vollkommen weiß wie die matte und grünliche Weiße sonnenloser Pflanzen, zeigte magere Linien ohne Härte und trug die Spuren großer physischer, durch moralische Leiden hervorgerufener Schmerzen. Sie bekämpfte den Geist durch den Körper und umgekehrt. Sie war so völlig zerstört, daß sie sich selber nur glich wie eine alte Frau ihrem jungen Mädchenbilde gleicht. Der glühende Ausdruck ihrer Augen zeigte die despotische Herrschaft, welche ein christlicher Wille über den Leib ausübt, der auf das zurückgeführt ist, was er nach der Religion Willen sein soll. Bei dieser Frau schleifte die Seele das Fleisch hinter sich her wie der Achilles der Profandichtung Hektor hinter sich herschleifte; sie zog es siegreich über die steinigen Straßen des Lebens, hatte es fünfzehn lange Jahre um das himmlische Jerusalem, das sie nicht listig, sondern inmitten triumphierender Zurufe zu betreten hoffte, herumgeschleift. Niemals war einer der Einsiedler, die in den trockenen und dürren afrikanischen Einöden hausten, mehr Herr seiner Sinne gewesen, als es Véronique inmitten dieses herrlichen Schlosses, in diesem reichen Lande weicher und wollüstiger Ausblicke, unter dem schützenden Mantel dieses unermeßlichen Waldes war, in welchem die Wissenschaft, die Erbin des Mosesstabes, Ueberfluß, Reichtum und Glück für eine ganze Gegend hervorsprudeln ließ. Sie betrachtete die Ergebnisse zwölfjähriger Geduld, ein Werk, das den Stolz eines überlegenen Mannes gebildet hätte, mit der sanften Bescheidenheit, die Pontormos Pinsel dem erhabenen Antlitze seiner »Christlichen Keuschheit, die das himmlische Einhorn liebkost«, verliehen hat. Die fromme Schloßherrin, deren Schweigen von ihren beiden Gefährten geachtet wurde, als sie sahen, daß ihre Augen auf den unendlichen, ehedem dürren und jetzt fruchtbaren Weiden verweilten, ging mit gekreuzten Armen, die Augen auf die Straße am Horizont geheftet.

Plötzlich blieb sie zwei Schritte vor ihrer Mutter, die sie betrachtete, wie Christi Mutter ihren Sohn am Kreuze muß angeblickt haben, stehen, hob die Hand auf und wies auf die Abzweigung des Montégnacer Weges von der Hauptstraße hin.

»Sehen Sie«, sagte sie lächelnd, »die mit vier Postpferden bespannte Kalesche dort? Monsieur Roubaud kommt zurück. Bald werden wir wissen, wie viele Stunden ich noch zu leben habe.«

»Stunden?« sagte Gérard.

»Hab' ich Ihnen nicht gesagt, daß ich meinen letzten Spaziergang mache?« antwortete sie Gérard. »Bin ich nicht gekommen, um dies schöne Schauspiel in all seinem Glanze zum letzten Male zu betrachten?«

Sie zeigte abwechselnd auf den Flecken, dessen gesamte Bevölkerung in diesem Augenblicke auf dem Kirchenplatze vereinigt war, und dann auf die von den letzten Sonnenstrahlen beschienenen schönen Wiesen.

»Ach,« fuhr sie fort, »laßt mich einen Segen Gottes in der seltsamen atmosphärischen Verfassung sehen, der wir die Erhaltung unserer Ernte zu verdanken haben. Um uns herum haben Stürme, Regenfälle, Hagel und Blitz unaufhörlich und erbarmungslos gewütet. Das Volk denkt so, warum sollte ich es nicht nachahmen? Habe ich es doch so sehr nötig, darin ein gutes Vorzeichen für das zu sehen, was meiner harrt, wenn ich die Augen werde geschlossen haben!«

Das Kind stand auf, nahm seiner Mutter Hand und legte sie auf seinen Kopf. Gerührt über solch eine Bewegung voller Beredsamkeit, faßte Véronique ihren Sohn mit einer übernatürlichen Kraft, hob ihn auf, setzte ihn, wie wenn er noch ein Säugling wäre, auf ihren linken Arm, umarmte ihn und sagte zu ihm:

»Siehst du das Land dort, mein Sohn? Vollende, wenn du ein Mann bist, deiner Mutter Werke!«

»Es gibt eine kleine Anzahl starker und bevorzugter Wesen, denen es erlaubt ist, den Tod von Angesicht zu Angesicht zu betrachten, mit ihm einen langen Zweikampf zu kämpfen und dabei einen Mut und eine Geschicklichkeit zu entfalten, die Bewunderung erregen; Sie bieten nun dieses schreckliche Schauspiel,« sagte der Pfarrer mit ernster Stimme; »vielleicht aber fehlt es Ihnen an Mitleid mit uns: lassen Sie uns wenigstens hoffen, daß Sie sich täuschen, und daß Gott erlauben wird, daß Sie alles vollenden, was Sie begonnen haben.«

»Alles habe ich nur durch euch getan, meine Freunde,« sagte sie. »Ich habe euch nützlich sein können und bin es nicht mehr. Alles ist grün um uns herum, außer meinem Herzen gibt es hier nichts Trostloses mehr. Sie wissen es, mein lieber Pfarrer; Frieden und Verzeihung kann ich nur dort finden . . .«

Sie reckte ihre Hand nach dem Friedhof aus. Niemals hatte sie so viel gesagt seit dem Tage ihrer Ankunft, wo es ihr auf diesem Platze schlecht geworden war.

Der Pfarrer betrachtete sein Beichtkind, und da er lange gewohnt war, sie zu durchdringen, konnte er verstehen, daß sie mit diesem einfachen Worte einen neuen Triumph errungen hatte. Véronique hatte furchtbar sich selber überwinden müssen, um nach diesen zwölf Jahren das Schweigen durch ein Wort zu brechen, das so viel sagte. So faltete denn der Pfarrer die Hände mit einer salbungsvollen Geste, die ihm eigentümlich war, und betrachtete mit frommer tiefer Bewegung die Gruppe, welche diese Familie bildete, deren sämtliche Geheimnisse in seinem Herzen ruhten. Gérard, dem die Worte von Frieden und Verzeihung unverständlich erscheinen mußten, stand höchst erstaunt da. Monsieur Ruffin, dessen Augen auf Véronique geheftet waren, war wie stumpfsinnig. In diesem Augenblick nahm die Kalesche, welche rasend schnell gefahren wurde, Baum um Baum.

»Es sind ihrer fünf Personen,« sagte der Pfarrer, der die Reisenden sehen und zählen konnte.

»Fünf?« rief Monsieur Gérard, »sollten denn fünf mehr wissen als zwei?«

»Ach,« murmelte Madame Graslin, die sich auf des Pfarrers Arm stützte, »der Generalprokurator ist dabei! . . . Was will der hier?«

»Und Papa Grossetête auch!« rief Francis.

»Madame,« sagte der Pfarrer, der Madame Graslin hielt und einige Schritte abseits führte, »haben Sie Mut und seien Sie Ihrer selbst würdig.«

»Was will er?« antwortete sie, sich an die Balustrade lehnend. »Mutter!«

Die alte Sauviat lief mit einer Schnelligkeit herbei, die alle ihre Jahre Lügen strafte.

»Ich werde ihn wiedersehen!« sagte Véronique.

»Wenn er mit Monsieur Grossetête kommt,« erwiderte der Pfarrer, »hat er gewißlich nur gute Absichten.«

»Ach, Herr, meine Tochter stirbt!« schrie die Sauviat, als sie den Eindruck sah, den diese Worte auf Madame Graslins Physiognomie hervorriefen. »Könnte ihr Herz denn so grausame Aufregungen ertragen? Monsieur Grossetête hatte diesen Menschen bislang gehindert, Véronique anzusehen . . .«

Madame Graslins Antlitz stand in Feuer.

»Sie hassen ihn also sehr?« fragte Abbé Bonnet sein Beichtkind.

»Sie ist aus Limoges fortgegangen, um nicht ganz Limoges in ihre Geheimnisse hineinsehen zu lassen,« sagte die Sauviat, erschrocken über den jähen Wechsel, der sich in Madame Graslins bereits entstellten Zügen vollzog.

»Sehen Sie nicht, daß er die Stunden vergiften wird, die mir noch bleiben und während welcher ich nur an den Himmel denken muß? Er nagelt mich an der Erde fest!« schrie Véronique.

Der Pfarrer nahm wieder Madame Graslins Arm und zwang sie, einige Schritte mit ihm zu gehen; als sie allein waren, betrachtete er sie und warf ihr einen jener engelhaften Blicke zu, mit denen er die heftigsten seelischen Erregungen beruhigte.

»Wenn es sich so verhält,« sagte er zu ihr, »so befehle ich Ihnen als Ihr Beichtiger, ihn zu empfangen, gut und liebenswürdig gegen ihn zu sein, dies Kleid des Zornes abzulegen und ihm zu verzeihen, wie Gott Ihnen verzeihen wird. Es gibt also noch einen Rest Leidenschaft in dieser Seele, die ich geläutert wähnte! . . . Verbrennen Sie dies letzte Korn Weihrauch auf dem Altare der Buße, wenn nicht alles in Ihnen Lüge sein soll.«

»Noch diese Anstrengung galt es zu machen, sie ist geschehen,« antwortete sie, ihre Augen trocknend. »Der Dämon hauste in dieser letzten Falte meines Herzens und Gott hat sonder Zweifel den Gedanken, der ihn hier herschickt, in Monsieur de Granvilles Herz gelegt. . . . Wie viele Male will Gott mich denn noch schlagen?« schrie sie.

Sie blieb stehen, wie um ein stilles Gebet zu tun; sie kam zu der Sauviat zurück und sagte mit leiser Stimme zu ihr:

»Seien Sie sanft und gut zum Herrn Generalprokurator, liebe Mutter.«

Die alte Auvergnatin zitterte wie im Fieberschauer.

»Es gibt keine Hoffnung mehr,« sagte sie, des Pfarrers Hand ergreifend.

In diesem Moment kam die durch des Postillons Peitschenknall angekündigte Kalesche die Rampe herauf, das Tor war offen, der Wagen fuhr in den Hof und die Reisenden kamen sofort auf die Terrasse. Es waren der berühmte Erzbischof Dutheil, der Hochwürden Gabriel de Rastignac weihen wollte, der Generalprokurator, Monsieur Grossetête und Monsieur Roubaud, der einem der berühmtesten Pariser Aerzte, Horace Bianchon, den Arm reichte.

»Seien Sie willkommen,« sagte Véronique zu ihren Gästen. »Und Sie vor allem,« fuhr sie fort, dem Generalprokurator die Hand hinstreckend, der ihr eine Hand gab, die sie heftig drückte.

Monsieur Grossetêtes, des Erzbischofs und der Sauviat Erstaunen war so groß, daß es über die erworbene tiefe Verschwiegenheit, die Greise auszeichnet, obsiegte. Alle drei blickten sich an.

»Ich rechnete auf Hochwürdens Vermittlung,« antwortete Monsieur de Granville, »und auf die meines Freundes Grossetête, um eine günstige Aufnahme bei Ihnen zu finden. Es ist ein Kummer für mein ganzes Leben gewesen, Sie nicht wiedergesehen zu haben . . .«

»Ich danke dem, der Sie hierher geführt hat,« erwiderte sie, den Grafen von Granville seit fünfzehn Jahren zum ersten Male anblickend. »Ich habe Ihnen lange Zeit über übelgewollt, habe aber die Ungerechtigkeit meiner Gefühle Ihnen gegenüber eingesehen, und Sie werden wissen warum, wenn Sie bis übermorgen in Montégnac bleiben. – Der Herr hier«, sagte sie, sich zu Horace Bianchon wendend, und ihn begrüßend, »wird meine Ahnungen sicherlich bestätigen. – Gott schickt Sie, Hochwürden,« fuhr sie fort und verneigte sich vor dem Erzbischofe. »Werden Sie es unserer alten Freundschaft nicht abschlagen, mir in meinen letzten Augenblicken beizustehen? Durch welche Gnade habe ich alle die Wesen um mich, die mich geliebt und in meinem Leben gestützt haben? . . .«

Bei dem Worte »geliebt« wandte sie sich mit anmutiger Aufmerksamkeit an Monsieur de Granville, den dieser Liebesbeweis bis zu Tränen rührte. Tiefstes Schweigen herrschte in der Gesellschaft; die beiden Aerzte fragten sich, durch welchen Zauber diese Frau sich aufrechterhielte, indem sie leide, was sie leiden mußte. Die drei anderen waren so entsetzt über die Veränderungen, welche die Krankheit in ihr hervorgerufen hatte, daß sie sich ihre Gedanken nur durch die Augen mitteilten.

»Gestatten Sie,« sagte sie mit ihrer üblichen Anmut, »daß ich mit den Herren hier gehe, das Geschäft drängt . . .«

Sie grüßte alle ihre Gäste, reichte jedem Arzte einen Arm und wandte sich dem Schlosse zu, indem sie mit einer Mühe und Langsamkeit schritt, die auf eine nahe Katastrophe hindeuteten.

»Monsieur Bonnet,« sagte der Erzbischof, den Pfarrer ansehend, »Sie haben Wunder getan!«

»Nicht ich, Gott, Hochwürden,« antwortete er.

»Man sagte, sie läge im Sterben,« rief Monsieur Grossetête, »aber sie ist tot. Sie ist nur noch Geist . . .«

»Seele,« sagte Monsieur Gérard.

»Sie ist immer die gleiche,« rief der Generalprokurator.

»Sie ist stoisch in der Weise der alten Zenoschüler,« sagte der Lehrer.

Schweigend gingen alle die Balustrade entlang und schauten in die Ebene, auf welche die Feuer der untergehenden Sonne Schimmer des schönsten Rot warfen.

»Für mich, der ich dies Land vor dreizehn Jahren gesehen habe,« sagte der Erzbischof, auf die fruchtbaren Flächen, das Tal und das Gebirge von Montégnac hindeutend, »ist dies Wunder ebenso außergewöhnlich wie das, dessen Zeuge ich eben gewesen bin: denn warum lassen Sie Madame Graslin aufbleiben, sie müßte im Bett liegen . . .«

»Sie tat es,« sagte die Sauviat; »nach zehn Tagen aber, während welchen sie das Bett nicht verlassen hat, wollte sie aufstehen, um das Land zum letzten Male zu sehen.«

»Ich begreife, daß sie gewünscht hat, ihrer Schöpfung Lebewohl zu sagen,« sagte Monsieur de Granville, »aber sie lief Gefahr, hier auf der Terrasse zu sterben.«

»Monsieur Roubaud hatte uns befohlen, ihr nicht zu widersprechen,« sagte die Sauviat.

»Welch ein Wunder!« rief der Erzbischof, dessen Augen nicht müde wurden, über die Landschaft hinzuschweifen. »Sie hat die Wüste fruchtbar gemacht! – Doch wir wissen, mein Herr,« fügte er, Gérard ansehend, hinzu, »daß Ihre Wissenschaft und Ihre Arbeiten viel dazu beigetragen haben.«

»Wir sind nur ihre Arbeiter gewesen,« sagte der Bürgermeister, »wir sind nur die Hände, der Gedanke ist sie!«

Die Sauviat verließ die Gruppe, um den Entscheid des Pariser Arztes zu hören.

»Wir haben Heroismus nötig,« sagte der Generalprokurator zum Erzbischof und zum Pfarrer, »um Zeugen dieses Todes zu sein.«

»Ja,« sagte Monsieur Grossetête; »doch für solch eine Freundin muß man Großes tun.«

Nachdem diese Personen, die sich alle den ernstesten Gedanken hingaben, einige Male hin und her gegangen waren, sahen sie zwei von Madame Graslins Pächtern auf sich zu kommen, die erklärten, von dem ganzen Flecken abgeschickt worden zu sein, der in schmerzlicher Ungeduld auf den Befund des Pariser Arztes harre.

»Man konsultiert gerade, und wir wissen noch nichts, meine Freunde,« antwortete ihnen der Erzbischof.

Da eilte Monsieur Roubaud herbei und sein beschleunigter Schritt trieb den eines jeden an.

»Nun?« fragte der Bürgermeister ihn.

»Sie hat keine achtundvierzig Stunden mehr zu leben!« antwortete Monsieur Roubaud. »In meiner Abwesenheit ist das Uebel zur völligen Entfaltung gekommen. Monsieur Bianchon begreift nicht, wie sie noch hat gehen können. Diese so seltenen Phänomene entspringen immer einer großen Exaltation. Folglich, meine Herren,« sagte der Arzt zum Erzbischof und zum Pfarrer, »gehört sie Ihnen. Die Wissenschaft ist machtlos; und mein berühmter Kollege meint, Sie würden kaum die für Ihre Zeremonien notwendige Zeit haben.«

»Beginnen wir mit den vierundzwanzigstündigen Gebeten,« sagte der Pfarrer zu seinen Pfarrkindern, indem er sich zurückzog. »Zweifelsohne geruht Seine Gnaden die letzte Oelung zu erteilen?«

Der Erzbischof neigte sein Haupt, er vermochte nichts zu sagen, seine Augen schwammen in Tränen. Jeder setzte sich, lehnte und stützte sich auf die Balustrade und blieb in Gedanken versunken. Die Kirchenglocken sandten einige Trauertöne herüber. Dann hörte man die Schritte der ganzen Bevölkerung, die sich nach der Kirchenhalle stürzte. Die Schimmer angezündeter Kerzen drangen durch die Bäume von Monsieur Bonnets Garten, Gesänge wurden laut.

Auf den Feldern herrschten nur noch die roten Schimmer der Dämmerung, alle Vogelgesänge hatten aufgehört. Nur der Laubfrosch gab noch seinen langen, klaren und melancholischen Ton von sich.

»Tun wir unsere Pflicht,« sagte der Erzbischof, der langsamen Schritts und wie entmutigt ging.

Die Konsultation hatte im großen Schloßsalon stattgefunden. Dieser riesige Raum stand in Verbindung mit einem mit roten Damastmöbeln versehenen Galazimmer, worin der prunkliebende Graslin einen Bankiersaufwand entfaltet hatte. In vierzehn Jahren hatte Véronique es keine sechs Mal betreten; große Räumlichkeiten hatten gar keinen Zweck für sie gehabt, hatte sie doch niemals empfangen. Doch die Anstrengung, die sie eben gemacht, um ihrer letzten Verpflichtung nachzukommen und um ihre letzte Empörungen zu bändigen, hatte ihr ihre Kräfte genommen, sie konnte nicht mehr in ihr Zimmer hinaufgehen. Als der berühmte Arzt die Hand der Kranken ergriffen und den Puls gefühlt hatte, sah er Monsieur Roubaud an, indem er ihm ein Zeichen machte. Beide hoben sie sie auf und trugen sie auf das Bett dieses Zimmers. Aline öffnete jäh die Türen. Wie alle Paradebetten, hatte das Bett keine Leintücher; die beiden Aerzte legten Madame Graslin auf die Bettdecke und streckten sie dort aus.

Roubaud öffnete die Fenster, stieß die Läden auf und rief. Die Dienerschaft und die alte Sauviat eilten herbei. Man zündete die gelben Kandelaberkerzen an.

»Das bedeutet,« rief die Sterbende lächelnd, »daß mein Tod sein wird, was er für eine Christenseele sein soll: ein Fest!«

Während der Konsultation sagte sie noch:

»Der Herr Generalprokurator hat nach seinem Berufe gehandelt, ich ging fort, er hat mich vertrieben . . .«

Die alte Mutter blickte ihre Tochter an und legte einen Finger auf ihre Lippen.

»Liebe Mutter, ich will sprechen,« antwortete ihr Véronique. »Sehen Sie, Gottes Finger liegt auf allem, ich werde in einem roten Zimmer sterben . . .« Entsetzt über dies Wort ging die Sauviat hinaus.

»Aline,« sagte sie, »sie spricht, sie spricht!«

»Ach, Madame hat ihren Verstand verloren,« rief die treue Kammerfrau, die Bettücher brachte. »Suchen Sie den Herrn Pfarrer, Madame.«

»Man muß Ihre Herrin entkleiden,« sagte Bianchon zu der Kammerfrau, als sie hereinkam.

»Das wird sehr schwierig sein; Madame ist in einem Büßerhemd aus Roßhaar eingehüllt.«

»Wie, im zwanzigsten Jahrhundert«, rief der berühmte Arzt, »verwendet man noch solche Greueldinge!«

»Madame Graslin hat mir nie erlaubt, ihr Herz zu untersuchen,« sagte Monsieur Roubaud. »Ein Bild von ihrer Krankheit habe ich mir nur nach ihrem Gesichtsausdruck, ihrem Puls und nach den Angaben machen können, die ich von ihrer Mutter und ihrer Kammerfrau erhielt!«

Während man das in den Hintergrund des Zimmers gestellte Paradebett herrichtete, hatte man Véronique auf ein Ruhesofa gelegt. Die Aerzte sprachen mit leiser Stimme. Die Sauviat und Aline bereiteten das Bett. Die Gesichter der beiden Auvergnatinnen waren schrecklich anzusehen. Der Gedanke: »Wir machen ihr zum letzten Male das Bett, sie wird darin sterben«, hatte ihr Herz durchbohrt. Die Konsultation währte nicht lange. Vor allem verlangte Bianchon, daß Aline und die Sauviat aus eigener Machtvollkommenheit trotz der Kranken das härene Büßergewand entzweischnitten und ihr ein Hemd anzögen. Während dies geschah, verließen die beiden Aerzte das Zimmer. Als Aline, dies schreckliche Bußwerkzeug in eine Serviette gehüllt tragend, vorbeiging, sagte sie zu ihnen:

»Madames Körper ist nur eine große Wunde!«

Die beiden Aerzte gingen wieder hinein.

»Ihr Wille ist stärker als der Napoleons, Madame,« sagte Bianchon nach einigen Fragen, die Véronique ganz klar beantwortet hatte, »Sie bewahren Ihren Verstand und Ihre Fähigkeiten in der letzten Krankheitsperiode, wo der Kaiser seine blendende Intelligenz verloren hatte. Nach allem, was ich von Ihnen weiß, muß ich Ihnen die Wahrheit sagen.«

»Das bitte ich Sie mit gefalteten Händen,« sagte sie; »Sie besitzen die Macht, was mir an Kräften bleibt, zu messen; und ich habe all mein Leben für einige Stunden nötig.«

»Denken Sie doch jetzt nur noch an Ihr Seelenheil,« sagte Bianchon.

»Wenn Gott mir die Gnade gewährt, mich ganz sterben zu lassen,« antwortete sie mit einem himmlischen Lächeln, »so glauben Sie, daß diese Gunst dem Ruhme seiner Kirche nützlich ist. Meine Geistesgegenwart habe ich nötig, um einen Gedanken Gottes auszuführen, während Napoleon sein ganzes Schicksal vollendet hatte.«

Erstaunt blickten die beiden Aerzte sich an, als sie solche Worte hörten, die so heiter geäußert wurden, wie wenn Madame Graslin in ihrem Salon gewesen wäre.

»Ach, da kommt der Arzt, der mich heilen wird!« sagte sie, als sie den Erzbischof eintreten sah.

Sie sammelte ihre Kräfte, um sich im Bette aufrecht zu setzen, um Monsieur Bianchon liebenswürdig zu grüßen und ihn zu bitten, etwas anderes wie Geld für die gute Nachricht, die er ihr gegeben hatte, anzunehmen. Sie sagte ihrer Mutter einige Worte ins Ohr, die den Arzt hinausführte. Dann vertröstete sie den Erzbischof, bis zu dem Momente, wo der Pfarrer kommen würde, und bekundete den Wunsch, etwas auszuruhen. Aline wachte bei ihrer Herrin. Um Mitternacht wachte Madame Graslin auf, verlangte nach dem Erzbischof und dem Pfarrer, die ihre Kammerfrau ihr zeigte: sie beteten für sie. Sie machte ein Zeichen, um ihre Mutter und ihre Dienerin hinauszuschicken, und auf ein neues Zeichen traten die beiden Priester an ihr Bett.

»Ich werde Ihnen, Hochwürden und Ihnen, Herr Pfarrer, nichts mitteilen, was Sie nicht schon wissen. Sie, Hochwürden, haben als erster Ihren Blick in mein Gewissen geworfen, haben fast meine ganze Vergangenheit darin gelesen, und, was Sie dort gesehen haben, hat Ihnen genügt. Mein Beichtvater, dieser Engel, den der Himmel neben mich gestellt hat, weiß etwas mehr: ich habe ihm alles gestehen müssen. Sie beide, deren Intelligenz durch den Geist der Kirche erleuchtet ist, will ich um Rat fragen, auf welche Weise ich als wahre Christin das Leben lassen muß. Glauben Sie, die Sie erhabene und heilige Gemüter sind, daß, wenn der Himmel der vollkommensten, der tiefsten Reue, die jemals eine schuldbeladene Seele verspürt hat, zu verzeihen geruht, glauben Sie, daß ich allen meinen Pflichten hienieden genug getan habe?«

»Ja,« sagte der Erzbischof, »ja, meine Tochter.«

»Nein, mein Vater, nein,« sagte sie, sich mit blitzenden Augen aufrichtend. »Einige Schritte von hier gibt es ein Grab, wo ein Unglücklicher ruht, der die Last eines furchtbaren Verbrechens trägt; in der prunkenden Behausung hier gibt es eine Frau, die der Ruf der Wohltätigkeit und Tugend ziert. Dies Weib segnet man, den armen jungen Menschen verflucht man! Der Verbrecher ist mit Verwerfung geschlagen worden, ich erfreue mich der allgemeinen Wertschätzung; ich habe den größten Anteil an seiner Missetat, in vielem aber ist er an dem Guten beteiligt, das mir so viel Ruhm und Dankbarkeit einbringt. Ich, eine Betrügerin, habe die Verdienste, er, ein Märtyrer seiner Verschwiegenheit, ist mit Schande bedeckt! In einigen Stunden werde ich sterben und sehe einen ganzen Bezirk um mich weinen, eine ganze Provinz meine Wohltaten, meine Frömmigkeit und meine Tugenden feiern; während er inmitten der Beleidigungen, angesichts einer ganzen in Haß auf die Mörder zusammengeströmten Bevölkerung gestorben ist! Sie, meine Richter, sind duldsam, aber in mir selber höre ich eine gebieterische Stimme, die mir keine Ruhe läßt. Ach, Gottes Hand, die weniger sanft ist als die Ihre, hat mich tagtäglich geschlagen, wie um mich zu benachrichtigen, daß nicht alles gesühnt sei. Meine Fehler werden nur durch ein öffentliches Geständnis gebüßt. Er ist glücklich, er, der Verbrecher, der sein Leben mit Schmach im Angesichte von Himmel und Erde dahingegeben hat. Und ich, ich täusche noch die ganze Welt, wie ich die menschliche Gerechtigkeit getäuscht habe. Nicht eine Huldigung gab es, die mich nicht beleidigt, nicht ein Lob, das nicht mein Herz verbrannt hätte. Sehen Sie in der Ankunft des Generalprokurators nicht einen Befehl des Himmels, der mit der Stimme, die mir ›gestehe‹ zuruft, in Einklang steht?«

Die beiden Priester, der Kirchenfürst wie der einfache Priester, diese beiden großen Leuchten, hielten die Augen gesenkt und bewahrten Schweigen. Durch die Größe und die Resignation der Schuldigen allzu bewegt, konnten die beiden Richter kein Urteil aussprechen.

»Mein Kind,« sagte der Erzbischof nach einer Pause, sein schönes, durch die Sitten seines frommen Lebens kasteites Haupt erhebend, »Sie gehen über die Gebote der Kirche hinaus. Der Ruhm der Kirche besteht darin, ihre Dogmen mit den Sitten jeder Zeit in Einklang zu bringen, denn die Kirche ist dazu da, in Gesellschaft der Menschheit durch die Jahrhunderte der Jahrhunderte zu schreiten. Die geheime Beichte hat nach ihren Vorschriften die öffentliche Beichte ersetzt. Diese Umwandlung hat der neue Glaube bewirkt. Die Leiden, die Sie fortwährend erlitten haben, genügen. Sterben Sie in Frieden: Gott hat Sie sehr wohl gehört.«

»Steht das Gelübde der Verbrecherin nicht in Einklang mit den Gesetzen der anfänglichen Kirche, die den Himmel um so viel Heilige, Märtyrer und Bekenner, wie es Sterne am Firmament gibt, bereichert hat?« fuhr Véronique mit Heftigkeit fort. »Wer hat geschrieben: ›Bekennet einer dem anderen.‹ Taten das nicht die unmittelbaren Schüler unseres Heilandes? Lassen Sie mich öffentlich, auf den Knien meine Schande bekennen. Das soll die Wiedergutmachung meines Unrechts gegen die Welt, gegen eine durch meinen Fehler geächtete und beinahe erloschene Familie sein. Erfahren muß die Welt, daß meine Wohltaten keine Opfergabe sind, sondern eine Schuld, die ich bezahle. Wenn später, nach mir, irgendein Anzeichen den lügnerischen Schleier, der mich bedeckt, herunterreißen würde? . . . Ach, dieser Gedanke führt meine letzte Stunde schneller herbei.«

»Berechnungen sehe ich darin, mein Kind,« sagte der Erzbischof ernst. »In Ihnen hausen noch sehr starke Leidenschaften; die ich erloschen wähnte, ist . . .«

»Oh, ich schwöre es Ihnen, Hochwürden,« sagte sie, den Prälaten unterbrechend und ihm entsetzensstarre Augen zeigend, »mein Herz ist so geläutert, wie es das eines schuldigen und reuigen Weibes sein kann: in meinem ganzen Sein wohnt nur noch der Gedanke an Gott!«

»Lassen wir der himmlischen Gerechtigkeit ihren Lauf, Hochwürden,« sagte der Pfarrer mit bewegter Stimme. »Vier Jahre lang widersetze ich mich diesem Gedanken, er ist die Ursache der einzigen Meinungsverschiedenheiten, die zwischen meinem Beichtkinde und mir bestanden haben. Ich habe bis auf den Grund dieser Seele geschaut, die Erde hat kein Recht mehr auf sie. Wenn die Tränen, die Seufzer, die Zerknirschung, die nun schon fünfzehn Jahre währt, auf einem, zwei Wesen gemeinsamen Fehl gelastet haben, so dürfen Sie gewiß sein, daß diesen langen und schrecklichen Gewissensbissen nicht die mindeste Sinnenfreude innegewohnt hat. Seit langem mischt die Erinnerung ihre Flammen nur noch mit denen der glühendsten Reue. Ja, viele Tränen haben ein so großes Feuer ausgelöscht. Ich bürge,« sagte er, seine Hand über Madame Graslins Haupte mit tränenfeuchten Augen ausstreckend, »ich bürge für die Reinheit dieser erzengelgleichen Seele. Im übrigen sehe ich in diesem Verlangen den Gedanken einer Genugtuung einer abwesenden Familie gegenüber, die Gott hier durch eines jener Ereignisse, durch die seine Vorsehung offenbar wird, vor Augen gestellt zu haben scheint.«

Véronique ergriff des Pfarrers Hand und küßte sie.

»Oft sind Sie recht hart gegen mich gewesen, lieber Seelenhirt, doch in diesem Augenblick entdecke ich, wo Sie Ihre apostolische Sanftmut verschließen! Seien Sie,« sagte sie, den Erzbischof ansehend, »Sie, der Sie das Oberhaupt dieses Winkels des Königreichs Gottes sind, in diesem Augenblicke der Schmach meine Stütze. Als die letzte der Frauen werde ich mich neigen, und sie sollen mich als eine, der verziehen wurde und die vielleicht denen gleich ist, die nicht gefehlt haben, aufheben.«

Der Erzbischof verharrte in Schweigen, sonder Zweifel war er damit beschäftigt, alle Ueberlegungen, die sein Adlerauge erblickte, abzuwägen.

»Hochwürden,« sagte der Pfarrer, »die Religion hat schwere Wunden empfangen. Würde diese Rückkehr zu alten Bräuchen, die notwendig wird durch die Größe des Fehls und der Reue, nicht ein Triumph sein, den man uns anrechnen würde?«

»Man wird sagen, wir wären Fanatiker; man wird behaupten, wir hätten diese grausame Szene verlangt . . .« Und der Erzbischof versank wieder in Nachdenken.

In diesem Moment traten Horace Bianchon und Roubaud ein, nachdem sie angeklopft hatten. Véronique erblickte ihre Mutter, ihren Sohn und alle Leute des Hauses im Gebet. Die Pfarrer der beiden Nachbargemeinden waren zu Monsieur Bonnets Beistande und vielleicht zur Begrüßung des berühmten Prälaten gekommen, den der französische Klerus einstimmig für die Ehre des Kardinalats ausersah, indem er hoffte, daß das Licht seiner wahrhaft gallikanischen Einsicht das heilige Kollegium erleuchten würde. Horace Bianchon reiste nach Paris zurück; er wollte der Sterbenden Lebewohl sagen und ihr für ihre Freigebigkeit danken. Er kam mit langsamen Schritten, da er aus der Haltung der beiden Priester erriet, daß es sich um die Wunde des Herzens handelte, welche die des Leibes hervorgerufen hatte. Er nahm Véroniques Hand, legte sie auf das Bett und fühlte ihr den Puls. Eine Szene war das, die das tiefste Schweigen: das einer Sommernacht auf dem Lande, feierlich machte. Der große Salon, dessen Flügeltüre offen blieb, war erleuchtet, um der kleinen Gesellschaft von Leuten, die alle kniend beteten – nur die beiden Priester saßen und lasen in ihrem Brevier –, Licht zu spenden. Zu beiden Seiten des prachtvollen Paradebettes befanden sich der Erzbischof in seinem violetten Gewande, der Pfarrer und dann die beiden Männer der Wissenschaft.

»Sie ist bis in den Tod erregt!« sagte Horace Bianchon, der, ähnlich wie alle Menschen von höchstem Talent, oft ebenso große Worte wählte, wie es die Schauspiele waren, denen er beiwohnte.

Wie von einem inneren Feuer getrieben, erhob sich der Erzbischof; er rief Monsieur Bonnet und, sich nach der Türe wendend, durchquerten sie das Gemach, den Salon und traten auf die Terrasse hinaus, wo sie einige Momente hin und her gingen. Im Moment, wo sie zurückkehrten, nachdem sie diesen Fall geistlicher Disziplin beredet hatten, kam Roubaud ihnen entgegen.

»Monsieur Bianchon läßt Ihnen durch mich sagen, Sie möchten sich eilen; Madame Graslin stirbt in einer bei den außerordentlichen Schmerzen der Krankheit seltsamen Erregung.«

Der Erzbischof beeilte seine Schritte und sagte beim Eintreten zu Madame Graslin, die voller Angst nach ihn hinblickte:

»Sie sollen befriedigt werden.«

Bianchon hielt immer noch den Puls der Kranken; er ließ sich eine Bewegung der Ueberraschung merken und warf einen Blick auf Roubaud und die beiden Priester.

»Hochwürden, dieser Leib gehört nicht mehr zu unserer Kompetenz: Ihr Wort hat Leben verliehen, wo der Tod war. Sie machen an ein Wunder glauben!«

»Seit langem ist Madame Graslin nur noch Seele!« sagte Roubaud, dem Véronique mit einem Blicke dankte.

In diesem Augenblick gab ein Lächeln, worin sich das Glück aussprach, das ihr der Gedanke an eine vollständige Sühne verursachte, ihrem Gesichte genau die Unschuldsmiene zurück, die sie mit achtzehn Jahren besessen hatte. Alle die mit schrecklichen Falten darauf eingeprägten Erregungen, die dunklen Farben, die fahlen Male, die Einzelheiten, die das vor kurzem so schöne Antlitz so furchtbar machten, als es nur Schmerz ausdrückte, kurz, die Veränderungen jedweder Art verschwanden; allen schien es, als ob Véronique bislang eine Maske getragen habe und daß diese Maske falle. Zum letzten Male vollzog sich das wunderbare Phänomen, durch welches sich auf dem Gesichte dieses Geschöpfes Leben und Gefühle ausdrückten. Alles in ihr läuterte sich, erhellte sich, und es lag auf ihrem Antlitze etwas wie der Widerschein von den Flammenschwertern der wachehaltenden Engel, die sie umgaben. Sie wurde, was sie gewesen war, als Limoges sie die »schöne Madame Graslin« nannte. Die Gottesliebe zeigte sich viel machtvoller, als es die schuldvolle Liebe getan hatte: die eine hob einst die Kräfte des Lebens hervor, die andere entfernte alle Schwächen des Todes. Man hörte einen erstickten Schrei: die Sauviat zeigte sich, sie flog bis ans Bett und rief:

»Endlich sehe ich doch mein Kind wieder!«

Der Ausdruck dieser alten Frau, als sie die beiden Worte: mein Kind, ausstieß, erinnerte so lebhaft an die erste Kinderunschuld, daß die Zuschauer bei diesem schönen Tode alle den Kopf wegwandten, um ihre Bewegung zu verbergen. Der berühmte Arzt ergriff Madame Graslins Hand und küßte sie, dann reiste er ab. Das Geräusch seines Wagens tönte inmitten des ländlichen Schweigens wieder, indem es erklärte, daß keine Hoffnung bestünde, die Seele dieses Landes zu erhalten. Der Erzbischof, der Pfarrer, der Arzt, alle die sich ermüdet fühlten, gingen fort, um ein wenig Ruhe zu suchen, als Madame Graslin selbst für einige Stunden einschlummerte. Dann, als sie bei Morgengrauen aufwachte, forderte sie, daß man die Fenster öffne. Ihre letzte Sonne wollte sie aufgehen sehn.

Um zehn Uhr morgens kam der Erzbischof, in seine oberpriesterlichen Gewänder gekleidet, in Madame Graslins Gemach. Ebenso wie Monsieur Bonnet setzte der Prälat ein so großes Vertrauen in diese Frau, daß sie ihr keine Ermahnungen über die Grenzen zu teil werden ließen, in welchen sich ihre Geständnisse zu halten hatten. Véronique bemerkte einen zahlreicheren Klerus, als zur Montégnacer Kirche gehörte, denn der aus den Nachbargemeinden hatte sich mit ihm zusammengetan. Hochwürden sollten vier Pfarrer beistehen. Die prachtvollen Priestergewänder, die Madame Graslin ihrer lieben Pfarre geschenkt hatte, verliehen der Zeremonie einen großen Glanz. Acht Chorknaben in ihrem rot-weißen Kleide stellten sich vom Bett bis an den Salon in zwei Reihen auf; alle hielten sie einen jener prachtvollen bronzeverzierten Kerzenhalter, die Véronique aus Paris hatte kommen lassen. Kreuz und Kirchenbanner wurden auf jeder Seite der Estrade von zwei weißhaarigen Sakristanen gehalten. Dank der Hingebung der Leute hatte man bei der Salontür den der Sakristei entnommenen hölzernen Altar aufgestellt, geschmückt und hergerichtet, damit Hochwürden die Messe lesen konnte. Madame Graslin war gerührt über diese Sorgen, welche die Kirche nur königlichen Personen gewährt. Die beiden Flügel der nach dem Eßzimmer führenden Türe waren geöffnet worden, sie konnte das Erdgeschoß ihres Schlosses von einem großen Teile der Bevölkerung gefüllt sehen. Für alles hatten die Freunde dieser Frau gesorgt, denn der Salon war ausschließlich nur von den Leuten des Hauses besetzt. Vorn und vor ihrer Zimmertür gruppiert befanden sich die Freunde und Leute, auf deren Verschwiegenheit man rechnen konnte. Monsieur Grossetête, Roubaud, Gérard, Clousier, Ruffin waren in der ersten Reihe. Alle sollten sich erheben und stehenbleiben, um so zu verhindern, daß die Stimme der Beichtenden von anderen außer von ihnen gehört würde. Es gab übrigens noch einen glücklichen Umstand für die Sterbende: die Seufzer ihrer Freunde erstickten ihre Geständnisse. An der Spitze von allen boten zwei Personen ein furchtbares Schauspiel. Die erste war Denise Tascheron: ihre ausländische Kleidung von quäkerischer Einfachheit machte sie für alle Dorfbewohner, die sie erblicken konnten, unkenntlich; für jene andere Person aber war sie eine schwer zu vergessende Bekanntschaft, und ihre Erscheinung wirkte wie eine furchtbar aufdämmernde Erkenntnis. Der Generalprokurator sah die Wahrheit; die Rolle, welche er bei Madame Graslin gespielt hatte, erriet er in ihrer ganzen Ausdehnung. In seiner Eigenschaft als Kind des neunzehnten Jahrhunderts weniger als die anderen von der religiösen Frage beherrscht, empfand der Gerichtsbeamte einen wilden Schrecken im Herzen, denn nun konnte er das Drama von Véroniques innerem Leben im Hôtel Graslin während des Tascheronprozesses betrachten. Diese tragische Epoche stand wieder lebendig in seiner Erinnerung, aufgehellt durch die beiden Augen der alten Sauviat, die vom Hasse entfacht, wie zwei Strahlen geschmolzenen Bleis auf ihn fielen. Die zehn Schritte vor ihm stehende alte Frau verzieh ihm nichts. Den Mann, der die menschliche Gerechtigkeit vorstellte, überkam ein Schauder. Bleich, in sein Herz getroffen, wagte er nicht die Augen auf das Bett zu richten, wo die Frau, die er so sehr geliebt hatte, bleifarbig unter des Todes Hand ihre Kraft, um den Todeskampf zu bändigen, eben aus der Größe ihres Fehls sog; und Véroniques hartes Profil, das sich weiß von dem roten Damast abhob, machte ihn schwindlig. Um elf Uhr begann die Messe. Als die Epistel vom Pfarrer aus Vizay gelesen worden war, legte der Erzbischof seine Dalmatika ab und stellte sich auf die Türschwelle.

»Ihr Christen, die ihr hier versammelt seid, um der Feierlichkeit der letzten Oelung beizuwohnen, die wir an der Herrin dieses Hauses vornehmen wollen,« sagte er, »ihr, die ihr eure Gebete mit denen der Kirche vereinigt, um euch bei Gott für sie zu verwenden und ihr ewiges Heil zu erlangen, vernehmt, daß sie sich nicht für würdig befunden hat, in dieser letzten Stunde die heilige Wegzehrung zu erhalten, ehe sie nicht zur Erbauung ihres Nächsten die öffentliche Beichte des größten ihrer Vergehen abgelegt habe. Wir haben uns ihrem frommen Verlangen widersetzt, obwohl dieser Akt der Reue lange Zeit über in den ersten Tagen des Christentums üblich gewesen ist; da diese arme Frau uns aber gesagt hat, daß es sich dabei um die Ehrenrettung eines unglücklichen Kindes des hiesigen Pfarrsprengels handle, stellen wir es ihr frei, den Eingebungen ihrer Reue Folge zu leisten.«

Nachdem der Erzbischof diese Worte mit einer salbungsvollen seelenhirtlichen Würde geäußert hatte, wandte er sich um, um Véronique Platz zu machen. Die Sterbende erschien von ihrer alten Mutter und dem Pfarrer, zwei großen und verehrungswürdigen Gestalten gestützt: erhielt sie ihren Leib nicht von der Mutterschaft, ihre Seele von ihrer geistigen Mutter, der Kirche? Auf einem Kissen ließ sie sich auf die Knie nieder, faltete ihre Hände und sammelte sich einige Augenblicke, um in sich selber, in einem vom Himmel ausgegossenen Quell die Kraft zum Sprechen zu schöpfen. In diesem Moment hatte das Schweigen etwas unsäglich Erschreckliches. Niemand wagte seinen Nachbar anzusehen. Aller Augen waren gesenkt. Als Véroniques Blick indessen, da sie die Augen erhob, dem des Generalprokurators begegnete, ließ sie der Ausdruck dieses bleich gewordenen Gesichtes erröten.

»Ich würde nicht in Frieden sterben,« sagte Véronique mit erregter Stimme, »wenn ich in jedem von euch, die ihr mich hört, das falsche Bild, das er sich von mir hat machen können, zurückließe. Ihr seht in mir eine große Verbrecherin, die sich euren Gebeten empfiehlt und sich der Verzeihung durch das öffentliche Geständnis ihres Fehls würdig zu machen sucht. Dieser Fehl war so schwer, er hatte so verhängnisvolle Folgen, daß ihn vielleicht keine Reue wiedergutmachen kann. Doch je mehr Demütigungen ich in dieser Welt auf mich nehmen werde, desto weniger werde ich sonder Zweifel den Zorn in dem himmlischen Königreiche, nach welchem ich trachte, zu befürchten haben.

Mein Vater, der so viel Vertrauen in mich setzte, empfahl, es ist bald zwanzig Jahre her, meiner Sorgfalt ein Kind dieser Pfarre, in welchem er das Verlangen, sich gut zu halten, eine Lernbefähigung und ausgezeichnete Eigenschaften erkannt hatte. Dies Kind ist der unglückliche Jean-François Tascheron, der sich seitdem an mich wie an seine Wohltäterin heftete. Wie die Neigung, die ich zu ihm hegte, schuldig wurde, das zu erklären, davon glaube ich Abstand nehmen zu dürfen. Vielleicht würde man die reinsten Gefühle, die uns hienieden handeln lassen, unmerklich von ihrem Hange abgewendet sehen durch unerhörte Opfer, durch Gründe, die sich aus unserer Gebrechlichkeit ergeben, und durch eine Menge Dinge, welche die Ausdehnung meines Fehls scheinbar vermindern würden. Bin ich darum minder schuldig, weil die edelsten Liebesgefühle meine Mitschuldigen gewesen sind? Lieber will ich gestehen, daß ich, die ich durch Erziehung, durch meine Stellung in der Welt mich dem mir von meinem Vater anvertrauten Kinde, von dem ich mich durch das unserem Geschlechte natürliche Zartgefühl getrennt fand, überlegen halten konnte, unglücklicherweise der Stimme des Dämons gehorcht habe. Bald sah ich mich vielzusehr als die Mutter dieses jungen Mannes, als daß ich seiner stummen und zartfühlenden Bewunderung gegenüber unempfindlich geblieben wäre. Er allein wußte mich als erster nach meinem Werte zu schätzen. Vielleicht bin ich selber durch furchtbare Berechnungen verführt gewesen: ich habe gedacht, wie verschwiegen ein Kind sein würde, das mir alles verdanke, und das der Zufall so fern von mir hingestellt hatte, wiewohl wir durch unsere Geburt gleich waren. Kurz, ich habe in meinem Wohltätigkeitsruf und in meinen frommen Beschäftigungen einen meine Aufführung beschützenden Mantel gefunden. Ach! und das ist sonder Zweifel einer meiner größten Fehler, ich habe meine Leidenschaft im Schatten der Altäre verborgen. Die tugendhaftesten Handlungen, die Liebe, die ich zu meiner Mutter hege, die Akte einer wirklichen und strengen Frömmigkeit inmitten so großer Verirrungen, habe ich alle in den Dienst des elenden Triumphes einer unsinnigen Leidenschaft gestellt, und daraus ergaben sich um so mehr Bande, die mich anketteten. Meine arme angebetete Mutter, die mich hört, ist lange Zeit über, ohne etwas davon zu wissen, die unschuldige Mitschuldige des Uebels gewesen. Als sie die Augen geöffnet hat, gab es zu viele gefährliche Tatsachen, als daß sie in ihrem Mutterherzen nicht die Kraft gesucht hätte, zu schweigen. Bei ihr ist das Schweigen also die höchste der Tugenden geworden. Ihre Liebe zu ihrer Tochter hat über die Liebe zu Gott triumphiert. Ach, ich entlaste sie feierlich von dem drückenden Schleier, den sie getragen hat. Sie wird ihre letzten Tage vollenden, ohne weder ihre Augen noch ihre Stirn zur Lüge erniedrigen zu müssen. Möge ihre Mütterlichkeit rein von Tadel sein, möge ihr von Tugenden gekröntes edles und heiliges Alter in seinem vollen Glanze erstrahlen und möge sie von jenem Ringe, durch den sie mittelbar an so viel Ruchlosigkeit rührte, entlastet sein!«

Hier schnitten Seufzer für einen Augenblick Véroniques Wort ab; Aline ließ sie Riechsalz riechen.

»Es gab keinen bis zu der treuen Dienerin, die mir diesen letzten Dienst erweist, der nicht besser gegen mich gewesen wäre, als ich es verdiente; sie hat mindestens getan, als wisse sie, was sie wußte; aber sie hat um das Geheimnis der Kasteiungen gewußt, durch die ich dies Fleisch, das gefehlt hatte, gebrochen habe. Ich bitte also die Menschen um Verzeihung, daß ich sie, durch die schreckliche Logik der Welt fortgerissen, getäuscht habe. Jean-François Tascheron ist nicht so schuldig gewesen, als die Gesellschaft es hat annehmen können. Ach, ihr alle, die ihr mich hört, ich bitte euch inständigst, rechnet ihm seine Jugend und einen durch Gewissensbisse, die mich gepackt haben, ebensosehr wie durch unfreiwillige Verführungen gereizten Rausch zugute! Mehr noch, Rechtschaffenheit, aber doch eine schlecht verstandene Rechtschaffenheit verursachte das größte aller Unglücke. Weder der eine noch der andere ertrugen wir jene ständigen Täuschungen. Der Unglückliche appellierte an meine eigene Größe, und wollte die so verhängnisvolle Liebe so wenig verletzend wie nur möglich für den anderen machen. Ich bin also die Ursache seines Verbrechens gewesen. Von der Not getrieben, hatte der Unglückliche, der durch seine allzu große Hingebung an einen Abgott Schuldige, von allen sträflichen Taten die gewählt, deren Schäden nicht wieder gutzumachen waren. Ich habe alles erst erfahren, als es geschehen war. Bei der Ausführung hat Gottes Hand das ganze Gerüst falscher Berechnungen umgestürzt. Ich bin heimgekehrt, als ich Schreie gehört, die noch in meinen Ohren widerhallen, nachdem ich blutige Kämpfe erraten hatte, die zu verhindern nicht in meiner Macht gelegen hat, die ich der Gegenstand dieses Wahnsinns war. Tascheron war wahnsinnig geworden, ich bezeuge es . . .«

Hier blickte Véronique den Generalprokurator an, und man hörte einen tiefen Seufzer sich Denises Brust entringen.

»Er war seiner Vernunft ledig, als er, was er für sein Glück hielt, durch unvorhergesehene Umstände zerstört sah. Der Unglückliche war, durch sein Herz außer sich geraten, in verhängnisvoller Weise von einem Vergehen zu einem Verbrechen, und von einem Verbrechen zum Doppelmord geschritten. Ganz gewiß ist er unschuldig von meiner Mutter fortgegangen und schuldig dorthin zurückgekehrt. Ich allein auf der Welt wußte, daß weder von Vorbedacht noch von den erschwerenden Umständen, die ihm das Todesurteil eingebracht haben, die Rede sein konnte. Hundertmal wollte ich mich stellen, um ihn zu retten, und hundertmal ließ ein furchtbarer Heroismus, der notwendig und mächtiger war, das Wort auf meinen Lippen ersterben. Daß ich ihm bis auf wenige Schritte nahe war, hat vielleicht dazu beigetragen, ihm den hassenswerten ruchlosen und unedlen Mördermut zu verleihen. Wäre er allein gewesen, wäre er geflohen . . . Ich hatte diese Seele gebildet, diesen Geist erzogen, dies Herz reicher gemacht, ich kannte es, es war weder der Feigheit noch der Niedrigkeit fähig. Laßt diesem unschuldigen Arm Gerechtigkeit widerfahren, laßt dem Gerechtigkeit widerfahren, den Gott in seiner Barmherzigkeit in Frieden in dem Grabe schlafen läßt, das ihr, die ihr zweifelsohne die Wahrheit errietet, mit euren Tränen benetzt habt! Straft und verflucht die Schuldige hier! Entsetzt über das einmal begangene Verbrechen habe ich alles getan, um es zu verbergen. Von meinem Vater war ich, die ich bar der Kinder war, beauftragt worden, Gott eins zuzuführen, ich habe es auf das Schafott geführt . . . Ach, ergießt alle Vorwürfe über mich, werft mich zu Boden, jetzt zur Stunde!«

Als sie diese Worte sagte, funkelten ihre Augen in wildem Stolz. Der Erzbischof, der aufrecht hinter ihr stand und sie mit seinem priesterlichen Krummstabe schirmte, gab seine unempfindliche Haltung auf und bedeckte seine Augen mit seiner rechten Hand.

Ein dumpfer Schrei ließ sich vernehmen, wie wenn jemand stürbe. Zwei Leute, Gérard und Roubaud empfingen Denise Tascheron in ihren Armen und trugen die völlig ohnmächtige fort. Dies Schauspiel erstickte in etwas das Feuer in Véroniques Augen; sie wurde unruhig, doch bald wieder erschien ihre Märtyrerheiterkeit.

»Ihr wißt es nun,« fuhr sie fort, »ich verdiene weder Lob noch Segen wegen meines Verhaltens hier. Für den Himmel habe ich ein heimliches Leben schwerer Bußen geführt, die der Himmel billigen wird! Mein bekanntes Leben ist eine ungeheure Wiedergutmachung der Uebel gewesen, die ich verursacht habe: mit unverlöschbaren Zügen habe ich meine Reue in die Erde hier geschrieben, sie wird fast ewig bestehen. Sie steht auf den bebauten Feldern, auf dem vergrößerten Flecken, in den aus dem Gebirge in diese ehedem unfruchtbare und wüste, jetzt grüne und fruchtbare Ebene geleiteten Bächen geschrieben. Kein Baum wird hier von nun ab in hundert Jahren gefällt werden, von dem die Leute nicht sagen werden, welchen Gewissensbissen man seinen Schatten verdankt habe. Die bereuende Seele, welche ein langes, diesem Lande nützliches Leben beseelt haben würde, wird also noch lange unter euch atmen. Was ihr seinen Talenten, einem rechtmäßig erworbenen Vermögen würdet verdankt haben, ist durch die Erbin seiner Reue, durch die, welche das Verbrechen verursachte, vollendet worden. Alles ist durch das, was der Gesellschaft zukommt, ersetzt worden, ich allein bin mit diesem in seiner Blüte vernichteten Leben, das mir anvertraut worden war und für das man mir Rechenschaft abverlangen wird, beladen! . . .«

Da verschleierten von neuem Tränen die Flammen ihrer Augen. Sie machte eine Pause.

»Es ist endlich unter euch ein Mann, der, weil er seiner Pflicht streng nachgekommen ist, für mich Gegenstand eines Hasses gewesen ist, der meiner Meinung nach ewig währen mußte,« fuhr sie fort. »Er ist das erste Werkzeug meiner Todesstrafe gewesen. Ich stand der Tat noch zu nahe, hatte die Füße noch allzu tief im Blute stehen, um die Gerechtigkeit nicht zu hassen. Solange dies Gran Haß mein Herz verwirren würde, das begriff ich, würde dort noch ein Rest verdammungswürdiger Leidenschaft sein; ich habe nichts zu verzeihen gehabt, ich habe nur den Winkel, wo der Böse sich verbarg, der Fäulnis überliefert. Wie mühsam dieser Sieg auch gewesen ist, er ist vollständig.«

Der Generalprokurator ließ Véronique ein tränenüberströmtes Antlitz sehen. Die menschliche Gerechtigkeit schien Gewissensbisse zu haben. Als die Büßerin ihren Kopf umdrehte, um fortfahren zu können, begegnete sie dem in Tränen gebadeten Gesichte eines Greises: Grossetêtes, der die Hände flehend nach ihr ausstreckte, wie wenn er sagen wollte: »Es ist genug!« In diesem Augenblicke hörte die erhabene Frau einen solchen Zusammenklang von Seufzern und Tränen, daß sie, von so viel Sympathien bewegt, den Balsam dieser allgemeinen Verzeihung nicht ertragen konnte und von einer Schwäche ergriffen wurde. Als sie die Quellen ihrer Kraft versiegt sah, fand ihre Mutter die Arme der Jugend wieder, um sie fortzutragen.

»Christen,« sagte der Erzbischof; »ihr habt die Beichte dieser Büßerin gehört; sie bestätigt das Urteil der menschlichen Gerechtigkeit und kann ihre Gewissensbisse oder Besorgnisse beruhigen. Hierin müßt ihr nun neue Gründe gefunden haben, eure Gebete mit denen der Kirche zu vereinigen, die Gott das heilige Meßopfer darbietet, um seine Barmherzigkeit zugunsten einer so großen Reue anzuflehen!«

Der Gottesdienst wurde wiederaufgenommen; Véronique folgte ihm mit einer Miene, auf der sich eine solche innere Zufriedenheit ausdrückte, daß sie in aller Augen nicht mehr die nämliche Frau zu sein schien. Ein lauterer Ausdruck lag auf ihrem Antlitz, der des naiven und reinen jungen Mädchens würdig war, das sie in ihrem alten Vaterhause gewesen. Der Anbruch der Ewigkeit ließ bereits ihre Stirn licht werden und vergoldete ihr Antlitz mit himmlischen Farben. Zweifelsohne hörte sie mystische Harmonien und schöpfte die Lebenskraft in dem Verlangen, sich zum letzten Male mit Gott zu vereinigen. Pfarrer Bonnet kam an ihr Bett und erteilte ihr die Absolution. Der Erzbischof verabreichte ihr die heiligen Oele mit einem väterlichen Gefühle, das allen Anwesenden bewies, wie teuer ihm dies verirrte, aber zurückgekehrte Lamm war. Durch eine heilige Salbung schloß der Prälat für die Dinge dieser Welt diese Augen, die so viel Leid verursacht hatten, und drückte auf die allzu beredten Lippen das Siegel der Kirche. Die Ohren, durch welche die schlechten Eingebungen eingedrungen waren, wurden für immer verschlossen. Alle die durch die Reue ertöteten Sinne wurden so geweiht und der Geist des Bösen konnte keine Macht über diese Seele haben. Niemals verstanden Anwesende die Größe und Tiefe eines Sakramentes besser, als die, welche die durch die Geständnisse dieser sterbenden Frau gerechtfertigten Sorgen der Kirche sahen. So vorbereitet, empfing Véronique Jesu Christi Leib mit einem Ausdruck der Freude und der Hoffnung, welcher das Eis der Ungläubigkeit schmolz, an dem sich der Pfarrer so viele Male gestoßen hatte; der vernichtete Roubaud wurde in dem Augenblicke Katholik! Dies Schauspiel war rührend und schrecklich zugleich, aber es wurde feierlich durch die Anordnung der Dinge bis zu dem Punkte, daß die Malerei dort vielleicht das Sujet für eines ihrer Meisterwerke gefunden haben würde. Als die Sterbende nach dieser Trauerepisode das Evangelium St. Johannis beginnen hörte, gab sie ihrer Mutter einen Wink, ihren Sohn heranzuführen, der von dem Lehrer herbeigebracht worden war. Als die der Verzeihung teilhaftig gewordene Mutter Francis auf der Estrade knien sah, glaubte sie das Recht zu haben, ihre Hände auf sein Haupt legen zu dürfen, um ihn zu segnen; dann stieß sie den letzten Seufzer aus. Die alte Sauviat stand da, aufrecht, immer auf ihrem Posten, wie seit zwanzig Jahren. Diese in ihrer Art heroische Frau schloß die Augen ihrer Tochter, die so viel gelitten hatte, und küßte sie, eins nach dem anderen. Alle die Priester gefolgt von dem Klerus umgaben dann das Bett. Beim flackernden Glanze der Kerzen stimmten sie den furchtbaren Gesang des: De profundis an, dessen Töne der ganzen vor dem Schlosse knienden Bevölkerung, den Freunden, die in den Sälen beteten und allen Dienern anzeigten, daß die Mutter des Bezirks soeben gestorben war. Diese Hymne wurde von Seufzern und einhelligem Wehklagen begleitet. Die Beichte der großen Frau war nicht über die Schwelle des Salons hinausgegangen und hatte nur Freundesohren als Zuhörer gehabt. Als die Bauern der Umgebung, unter die von Montégnac gemischt, einer nach dem anderen mit einem grünen Zweige kamen, um ihrer Wohltäterin ein mit Gebeten und Tränen verbundenes Lebewohl zu sagen, sahen sie einen von Schmerz überwältigten Mann der Justiz, der die kalte Hand der Frau hielt, die er, ohne es zu wollen, so grausam, aber so gerecht geschlagen hatte.

Zwei Tage später geleiteten der Generalprokurator, Grossetête, der Erzbischof und der Bürgermeister, die Enden des schwarzen Tuches haltend, Madame Graslins Leichnam nach seiner letzten Wohnung. In tiefem Schweigen wurde sie in ihr Grab gesenkt. Es wurde nicht ein Wort gesprochen, niemand fand die Kraft zu reden, alle Augen standen in Tränen. »Sie ist eine Heilige,« das sagten alle, als sie auf den im Bezirk, den sie bereichert hatte, angelegten Wegen fortgingen, das sagten alle zu ihren ländlichen Schöpfungen, wie um sie zu beseelen. Niemand fand es seltsam, daß Madame Graslin bei Jean-François Tascherons Körper beerdigt wurde; sie hatte nicht darum gebeten, doch die alte Mutter hatte in einem Rest zärtlichen Mitleides dem Sakristan befohlen, die zusammenzulegen, welche die Erde so heftig getrennt hatte, und die eine nämliche Reue im Fegefeuer vereinigte.

Madame Graslins Testament verwirklichte alles, was man von ihm erwartete. Sie errichtete Freistellen im Limoger Collège und Freibetten im Hospital, die nur für Arbeiter bestimmt waren; sie wies eine beträchtliche Summe – dreimalhunderttausend Franken in sechs Jahren – für die Erwerbung des les Tascherons genannten Teiles des Dorfes an, wo sie ein Hospital einzurichten befahl. Dies Hospital war für arme alte Leute des Bezirks, für seine Kranken, für im Augenblick ihrer Entbindung mittellose Frauen und für Findelkinder bestimmt und sollte Hospital der Tascheron heißen. Véronique wünschte, daß es von grauen Schwestern besorgt würde, und wies viertausend Franken Gehalt für den Arzt und für den Chirurgen an. Madame Graslin bat Roubaud, erster Hospitalarzt zu sein, beauftragte ihn, den Chirurgen zu wählen und, verbunden mit Gérard, welcher der Architekt sein sollte, in sanitärer Beziehung den Bau zu überwachen. Außerdem gab sie der Gemeinde Montégnac eine Wiesenbreite, die hinreichte, um die Steuern davon zu bezahlen. Die Kirche, die mit einem Hilfsfonds dotiert wurde, dessen Verwendung für bestimmte Ausnahmefälle bestimmt wurde, sollte die jungen Leute überwachen und den Fall suchen, wo ein Montégnacer Kind Begabung für Kunst, für Wissenschaft oder Industrie zeigen würde. Die kluge Wohltätigkeit der Erblasserin zeigte die Summe an, die diesem Fonds für Ermutigungen entnommen werden sollte.

Die Nachricht von dem Tode, der allerwärts als ein Unglück aufgefaßt wurde, war von keinem, das Gedächtnis dieser Frau beleidigenden Gerücht begleitet. Diese Verschwiegenheit war eine so vielen Tugenden dargebrachte Huldigung einer katholischen und arbeitsamen Bevölkerung, die in diesem Winkel Frankreichs die Wunder der »erbaulichen Briefe« wiederaufleben läßt.

Gérard war zu Francis Graslins Vormund ernannt worden und durch das Testament verpflichtet, das Schloß zu bewohnen. Er tat es. Denise Tascheron, in der Francis etwas wie eine zweite Mutter fand, aber heiratete er erst drei Monate nach Véroniques Tode.

 

Paris, Januar 1837 – März 1845

 


 


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