Honoré de Balzac
Der Dorfpfarrer
Honoré de Balzac

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II

Tascheron

In diesem nämlichen Jahre hatte Limoges das schreckliche Schauspiel und das merkwürdige Drama des Prozesses Tascheron, in welchem der junge Vicomte de Granville die Talente entfaltete, die ihm später die Ernennung zum stellvertretenden Generalprokurator eintrugen.

Ein alter Mann, der ein einsam gelegenes Haus in der Vorstadt Saint-Étienne bewohnte, wurde ermordet. Ein großer Obstgarten trennt von der Vorstadt dies Haus, das in gleicher Weise vom Felde durch einen Gemüsegarten getrennt ist, an dessen Ende alte, nicht mehr benutzte Gewächshäuser stehen. Das Ufer der Vienne bildet vor dieser Besitzung eine steile Böschung, deren Hang den Fluß zu sehen gestattet. Der abfallende Hof endigt am steilen Ufer mit einer kleinen Mauer, wo von Zwischenraum zu Zwischenraum Pilaster sich erheben, durch Gitter zusammengehalten, die mehr zum Schmuck als zum Schutze da sind, denn die Latten bestehen aus gestrichenem Holz. Dieser Alte namens Pingret war seines Geizes wegen berüchtigt und lebte mit nur einer einzigen Magd, einem Landmädchen zusammen, die er seine Arbeiten verrichten ließ. Er selber hielt seine Spaliere in Ordnung, beschnitt seine Bäume, erntete sein Obst ein und schickte es zum Verkauf in die Stadt, ebenso wie die ersten Gemüse seiner Kultur, worin er sich auszeichnete. Die Nichte dieses Greises und einzige Erbin, die mit einem kleinen Rentier der Stadt, Monsieur des Vanneaulx, verheiratet war, hatte ihren Onkel des öfteren gebeten, einen Mann als Schutz in sein Haus zu nehmen, indem sie ihm darlegte, daß er dann die Produkte nicht eingehegter, von Bäumen bepflanzter Gevierte erzielen würde, wo er nur Körner säte; er aber hatte sich ständig dagegen gesträubt. Dieser Widerspruch in einem Geizhals gab Stoff zu vielen Vermutungen in den Häusern, in denen die Vanneaulx verkehrten. Mehr als einmal unterbrachen die voneinander abweichenden Ueberlegungen die Bostonpartien. Einige ganz schlaue Gemüter hatten die letzte Folgerung daraus gezogen, indem sie einen in den Luzernefeldern vergrabenen Schatz mutmaßten.

»Wenn ich an Madame des Vanneaulx Stelle wäre,« erklärte ein angenehmer Spötter, »würde ich meinem Onkel nicht zusetzen. Wenn man ihn ermordet, schön, so wird man ihn halt ermorden. Ich würd' ja erben!«

Madame des Vanneaulx wollte ihren Onkel bewachen lassen, wie die Unternehmer des Théâtre-Italien ihren Einnahme-Tenor bitten, sich den Hals gut zu bedecken und ihm ihren Mantel leihen, wenn er seinen vergessen hat. Sie hatte dem kleinen Pingret einen prachtvollen Hofhund angeboten, der Alte hatte ihn durch Jeanne Malassis, seine Magd, zurückgeschickt.

»Ihr Onkel will kein Maul mehr im Hause haben,« sagte sie zu Madame des Vanneaulx.

Das Ereignis bewies, wie berechtigt der Nichte Befürchtungen waren. Pingret wurde während einer dunklen Nacht mitten in einem Luzernefeld getötet, wo er zweifelsohne einige Louis in einen vollen Goldtopf tat. Die durch den Kampf aufgeweckte Magd hatte den Mut besessen, dem alten Geizhals zu Hilfe zu kommen und der Mörder hatte sich in der Zwangslage befunden auch sie zu töten, um ihre Zeugenschaft zu unterdrücken. Solche Rechnung, die fast immer die Mörder bestimmt, die Zahl ihrer Opfer zu vermehren, ist ein durch die Todesstrafe, der sie sich zu gewärtigen haben, erzeugtes Unglück. Der Doppelmord war von so seltsamen Umständen begleitet, daß sie sowohl der Anklage wie auch der Verteidigung ebenso viele Möglichkeiten boten. Als die Nachbarn einen Morgen über weder den kleinen Vater Pingret noch seine Magd sahen, als sie beim Kommen und Gehen sein Haus durch die Holzgitter beobachteten und die Türen und Fenster gegen alle Gewohnheiten geschlossen fanden, entstand in der Vorstadt Saint-Étienne eine Aufregung, welche sich bald bis in die rue des Cloches fortpflanzte, wo Madame des Vanneaulx wohnte. Die Nichte hatte beständig eine Katastrophe befürchtet; sie benachrichtigte das Gericht, das die Türen erbrach. Man sah bald in den vier Gevierten vier leere und im Umkreise mit den Scherben der am Vorabend noch vollen Goldtöpfe bestreute Löcher. In zwei der schlecht wieder zugeschütteten Löcher waren die Leichen des Vaters Pingret und der Jeanne Malassis mit ihren Kleidern eingescharrt. Das arme Mädchen war mit bloßen Füßen und im Hemde herbeigeeilt.

Während der Staatsanwalt, der Polizeikommissar und der Untersuchungsrichter die wesentlichen Bestandteile zum Prozeßverfahren sammelten, sammelte die unglückliche des Vanneaulx die Scherben der Töpfe und schätzte die gestohlene Summe nach ihrem Fassungsvermögen. Die Beamten anerkannten die Richtigkeit der Schätzungen, indem sie die gestohlenen Reichtümer auf tausend Goldstücke pro Topf veranschlagten; waren es nun aber Stücke zu achtundvierzig oder vierzig, vierundzwanzig oder zwanzig Franken? Alle die in Limoges Erbschaften erwarteten, teilten den Schmerz der des Vanneaulx.

Durch das Schauspiel dieser zerbrochenen Goldtöpfe wurden die Limousiner Einbildungskräfte lebhaft angeregt. Was den kleinen Vater Pingret anlangte, der häufig selber Gemüse auf dem Markte verkaufte, der von Zwiebeln und Brot lebte, der keine dreihundert Franken jährlich ausgab, der keinem Menschen eine Gefälligkeit erwies noch unfreundlich begegnete und in der Vorstadt Saint-Étienne niemandem etwas Gutes getan hatte, so gab er keinerlei Anlaß zu irgendwelchem Bedauern. Jeanne Malassis' Heldenmut, den ihr der Alte kaum würde gelohnt haben, hielt man für unangebracht; die Zahl der Leute, die sie bewunderte, war klein im Verhältnis zu denen, die da sagten: »Ich, ich würde hübsch weitergeschlafen haben.« Die Gerichtsleute fanden in dem nackten, verwohnten, kalten und unheilvollen Hause weder Feder noch Tinte, um ein Protokoll aufzunehmen. Die Neugierigen und der Erbe sahen nun die Widersinnigkeiten, die sich bei gewissen Geizhälsen bemerkbar machen. Der Abscheu des kleinen Greises vor Ausgaben blickte durch die nicht reparierten Dächer, die ihre Seiten dem Licht, dem Regen und dem Schnee öffneten, durch die grünen Risse, welche die Mauern furchten, durch die klaffenden, verfaulten Türen, die bereit waren, beim geringsten Stoß einzufallen, und die mit ungeöltem Papier verklebten Fenster. Ueberall waren die Fenster ohne Vorhänge, ohne Spiegel und Brennböcke die Kamine, deren sauberes Feuerloch mit einem Holzscheit oder Splitterholz versehen war, das durch den Schweiß der Ofenröhre beinahe lackiert worden war. Dann wacklige Stähle, zwei dürftige, plattgelegene Betten, rissige Töpfe, abgestoßene Teller, dreibeinige Sessel; an Pingrets Bett hingen Vorhänge, welche die Zeit mit kühnen Händen bestickt hatte, ein von den Würmern aufgefressener Sekretär, wo hinein er seine Sämereien schloß, durch Stopfen und Nähen dicker gemachtes Leinenzeug; kurz ein Haufen Lumpen, die nur von dem Geist des Besitzers zusammengehalten, als er tot war, in Fetzen, in Staub, in chemische Auflösung, in Trümmern, und ich weiß nicht in was für einen namenlosen Zustand zerfielen, als die brutalen Hände des wütenden Erben oder die Gerichtsleute daran rührten. Die Dinge verschwanden wie erschreckt vor einem öffentlichen Verkaufe. Die große Mehrheit der Hauptstadt Limousins interessierte sich lange für die beiden des Vanneaulx, die zwei Kinder hatten; als aber das Gericht den mutmaßlichen Urheber des Verbrechens gefunden zu haben glaubte, nahm diese Persönlichkeit die Aufmerksamkeit für sich in Anspruch, sie wurde ein Held und die des Vanneaulx blieben im Schatten des Gemäldes.

Gegen Ende März hatte Madame Graslin schon einige jener Beschwerden ausgestanden, die eine erste Schwangerschaft verursacht, und die sich nicht mehr verbergen. Das Gericht leitete damals die Untersuchung wegen des in der Vorstadt Saint-Étienne verübten Verbrechens ein, und der Mörder war noch nicht festgenommen worden. Véronique empfing ihre Freunde in ihrem Schlafzimmer, wo man ein Spiel machte. Seit einigen Tagen ging Madame Graslin nicht mehr aus; sie hatte bereits mehrere jener Grillen gehabt, die bei allen Frauen der Schwangerschaft zugeschrieben werden; ihre Mutter besuchte sie fast jeden Tag und alle beide blieben lange Stunden über beieinander. Es war neun Uhr, die Spieltische blieben ohne Spieler, alle Welt plauderte über den Mord und die des Vanneaulx. Der stellvertretende Generalprokurator trat ein.

»Wir haben Vater Pingrets Mörder!« sagte er mit froher Stimme.

»Wer ist's?« fragte man ihn von allen Seiten.

»Ein Porzellanarbeiter, dessen Aufführung ausgezeichnet war und der es zu was bringen mußte . . . Er arbeitete übrigens in Ihres Mannes ehemaliger Manufaktur,« sagte er, sich an Madame Graslin wendend.

»Wer ist's?« fragte Véronique mit einer schwachen Stimme.

»Jean-François Tascheron.«

»Der Unglückliche!« rief sie. »Ja, ich habe ihn mehrere Male gesehen; mein armer Vater hatte ihn mir als einen wertvollen Menschen anempfohlen . . .«

»Vor Sauviats Tode war er schon nicht mehr da; war in die Fabrik der Philippart eingetreten, die ihm vorteilhafte Angebote machten,« bemerkte die alte Sauviat. »Doch ist meine Tochter wohl genug, um solch eine Unterhaltung mit anzuhören?« sagte sie, Madame Graslin anblickend, die weiß wie ihre Bettücher geworden war.

Seit diesem Abend gab die alte Mutter Sauviat ihr Haus auf und machte sich trotz ihrer Sechsundsechzig Jahre zur Krankenwärterin ihrer Tochter. Sie verließ das Zimmer nicht, Madame Graslins Freunde fanden sie dort zu jeder Stunde heroisch am Kopfende des Bettes sitzen, wo sie sich wie zuzeiten der Blattern, kein Auge von Véronique wendend, für sie antwortend und nicht immer Besuche zulassend, mit ihrem ewigen Strickstrumpfe beschäftigte. Die mütterliche und töchterliche Liebe von Mutter und Tochter war so bekannt in Limoges, daß sich kein Mensch über das Benehmen der alten Frau wunderte.

Als der stellvertretende Generalprokurator einige Tage später die Einzelheiten über Jean-François Tascheron, auf welche die ganze Stadt begierig war, im Glauben, die Kranke damit zu unterhalten, erzählen wollte, unterbrach ihn die Sauviat jäh, indem sie erklärte, daß er Madame Graslin noch üble Träume bereiten würde. Véronique bat Monsieur de Granville fertig zu berichten, und sah ihn dabei fest an. So erfuhren denn Madame Graslins Freunde bei ihr und als erste durch den stellvertretenden Generalprokurator das Untersuchungsergebnis, das bald allgemein bekannt werden sollte.

Nachstehendes waren, doch der Reihenfolge nach, in gedrängter Kürze die Grundbestandteile der Anklageschrift, welche die Staatsanwaltschaft damals vorbereitete.

Jean-François Tascheron war der Sohn eines familienreichen kleinen Richters, der in dem Marktflecken Montégnac wohnte. Zwanzig Jahre vor diesem in Limousin berühmt gewordenen Verbrechen empfahl sich der Bezirk Montégnac durch seine schlechten Sitten. Die Staatsanwaltschaft in Limoges sagte sprichwörtlich, daß unter hundert Verurteilten der Provinz fünfzig dem Kreise zugehörten, dem Montégnac unterstellt war. Seit 1816, zwei Jahre nach des Pfarrers Bonnet Ankunft, hatte Montégnac seinen traurigen Ruf verloren, seine Bewohner hatten aufgehört, ihren Beitrag zum Schwurgericht zu schicken. Dieser Wechsel wurde durchgehends dem Einflüsse zugeschrieben, den Monsieur Bonnet auf die Gemeinde ausübte, die ehemals Sitz der üblen Subjekte war, welche die Gegend peinigten. Jean-François Tascherons Verbrechen verlieh Montégnac plötzlich seinen früheren Ruf wieder. Durch ganz besondere Zufallswirkung war die Familie Tascheron beinahe die einzige des Landes, welche die alten musterhaften Sitten und jene frommen Gewohnheiten bewahrt hatte, welche Beobachter heute mehr und mehr auf dem Lande verschwinden sehen; daher hatte sie einen Stützpunkt für den Pfarrer gebildet, der sie natürlich in seinem Herzen trug. Jene, ihrer Rechtschaffenheit, Eintracht und Arbeitsfreude wegen bemerkenswerte Familie hatte Jean-François Tascheron nur gute Beispiele gegeben. Aus dem löblichen Ehrgeiz, in der Industrie ein anständiges Brot zu verdienen nach Limoges gelockt, hatte der Bursche zu seiner Verwandten und Freunde lebhaftem Bedauern den Marktflecken verlassen, wo man ihn gern sah. Während der zweijährigen Lehrzeit war seine Aufführung nur Lobes würdig, keine merkliche Unordentlichkeit hatte das schreckliche Verbrechen, durch das er sein Leben endigte, vorausahnen lassen. Jean-François Tascheron hatte die Zeit, die andere Arbeiter in Liederlichkeit und in der Kneipe verleben, mit Lernen und Sichunterrichten zugebracht. Die genauesten Nachforschungen der Provinzjustiz, die viel Zeit dazu hat, konnten kein Licht in die Geheimnisse dieser Existenz bringen. Die sorgfältig ausgefragte Wirtin des möblierten Hauses, in welchem Jean-François wohnte, hatte, wie sie sagte, nie einen jungen Mann beherbergt, dessen Sitten so rein gewesen waren. Er besaß einen liebenswürdigen und sanften, beinahe heiteren Charakter. Etwa ein Jahr vor dem begangenen Verbrechen schien seine Gemütsart verändert, er schlief mehrere Male im Monat, und oft einige Nächte hintereinander, auswärts: in welchem Stadtteile verbrachte er diese Nächte? Sie wußte es nicht. Nur meinte sie mehrere Male dem Aussehen seiner Schuhe nach zu schließen, daß ihr Mieter vom Lande zurückkäme. Obwohl er die Stadt verließ, trug er, anstatt Nagelstiefel anzuziehen, leichte Schuhe. Bevor er wegging, rasierte und parfümierte er sich und zog frische Wäsche an. Die Untersuchung dehnte ihre Nachforschungen bis auf die öffentlichen Häuser und die Weiber von schlechtem Lebenswandel aus, doch Jean-François Tascheron war dort unbekannt. Man suchte Aufschlüsse in der Klasse der Arbeiterinnen und Grisetten, keines aber der Mädchen, die ein lockeres Leben führten, hatte Beziehungen zu dem Angeklagten gehabt. Es war ein motivloses und unbegreifliches Verbrechen, besonders für einen jungen Menschen, den sein Hang, sich zu unterrichten, und sein Ehrgeiz auf Ideen bringen und einen Verstand verleihen mußte, die hoch über denen anderer Arbeiter standen. Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter schrieben den von Tascheron begangenen Mord der Spielwut zu, doch durch peinlichste Nachforschungen ließ sich beweisen, daß der Angeklagte nie gespielt hatte. Ganz im Anfang beschränkte sich Jean-François auf ein System der Ableugnung, das er den Beweisen gegenüber angesichts der Geschworenen fallen lassen mußte, was aber auf das Vorhandensein einer mit reichen juristischen Kenntnissen oder mit überlegenem Geiste begabten Person hindeutete. Die Beweise, deren hauptsächlichste hier folgen, waren wie bei sehr vielen Mordtaten, schwerwiegend und zugleich nichtssagend: Tascherons Abwesenheit in der Nacht des Verbrechens ohne daß er sagen wollte, wo er gewesen war; der Angeklagte wollte kein Alibi ersinnen. Ein Fetzen seiner ohne sein Wissen von der armen Magd im Fallen zerrissenen Bluse, den der Wind fortgetragen hatte und der in einem Baume gefunden worden war. Seine Anwesenheit bei dem Hause am Abend, die von Vorübergehenden und Vorstadtleuten, die sich dessen ohne das Verbrechen nicht erinnert haben würden, bemerkt worden war. Ein von ihm selber hergestellter Nachschlüssel, um durch die Türe gehen zu können, die auf die Felder führte, welchen er ziemlich geschickt zwei Fuß tiefer in einem der Löcher vergraben hatte, wo Monsieur des Vanneaulx aber zufällig wühlte, um zu sehen, ob der Schatz nicht zwei Abteilungen hätte. Die Untersuchung bekam schließlich heraus, wer das Eisen verschafft, den Schraubstock geliehen und wer die Feile hergegeben hatte. Dieser Schlüssel war Indizium und führte auf Tascherons Spur, der an der Provinzgrenze an einem Walde verhaftet wurde, wo er auf die vorbeifahrende Schnellpost wartete. Eine Stunde später wäre er nach Amerika abgereist gewesen. Kurz, trotz der Sorgfalt, mit der die Fußspuren in den bestellten Ländereien und im Straßenkot verwischt worden waren, hatte der Feldhüter leichte Schuheindrücke gefunden, die sorgsam beschrieben und aufgehoben wurden. Als man Durchsuchungen bei Tascheron machte, stimmten die auf diese Spuren gehaltenen Sohlen seiner leichten Schuhe vollkommen damit überein. Dies verhängnisvolle Zusammentreffen bekräftigte die Beobachtungen der neugierigen Wirtin. Die Untersuchung schrieb das Verbrechen einem fremden Einflusse und keinem persönlichen Entschlusse zu; sie glaubte an eine Mittäterschaft, was die Unmöglichkeit, die vergrabenen Summen fortzubringen, bewies. Wie stark ein Mensch auch ist, fünfundzwanzigtausend Franken in Gold kann er nicht weit bringen. Wenn jeder Topf diese Summe enthielt, hatten die vier vier Wege nötig gemacht. Ein sonderbarer Umstand nun bestimmte die Stunde, in der die Tat begangen sein mußte. In dem Schrecken, welchen ihres Herren Schreie ihr verursachen mußten, hatte Jeanne Malassis beim Aufstehen den Nachttisch umgeworfen, auf dem ihre Uhr lag. In dieser Uhr, – das einzige Geschenk, welches der Geizhals ihr in fünf Jahren gemacht hatte, – war beim Fallen die Hauptfeder entzweigegangen; sie zeigte zwei Uhr nach Mitternacht an. Gegen Mitte März, dem Zeitpunkte des Verbrechens, wird es zwischen fünf und sechs Uhr morgens Tag. In welche Entfernung die Summen auch getragen sein mochten, Tascheron hatte nach den von der Untersuchung und Staatsanwaltschaft vertretenen hypothetischen Zirkelschlüssen doch den Raub nicht allein bewerkstelligen können. Die Sorgfalt, mit der Tascheron die Schrittspuren ausgelöscht hatte, indem er seine darüber vernachlässigte, offenbarte eine geheimnisvolle Mitwirkung. Da das Gericht sich genötigt sah zu erfinden, schrieb sie das Verbrechen einer Liebesraserei zu; und da der Gegenstand dieser Leidenschaft sich nicht in der unteren Volksschicht fand, hob es seine Augen höher. Hatte vielleicht eine Bürgersfrau, der Verschwiegenheit eines jungen Mannes von restloser Treue sicher, einen Roman angeknüpft, dessen Lösung fürchterlich war? Für diese Annahme wurde durch die Nebenerscheinungen der Mordtat beinahe der Nachweis geliefert. Der Alte war mit Spatenhieben getötet worden. Folglich war seine Ermordung das Ergebnis eines plötzlichen, unvorhergesehenen, zufälligen Verhängnisses. Die beiden Liebenden konnten sich vorgenommen haben zu stehlen und nicht zu morden. Der verliebte Tascheron und der geizige Pingret, zwei unversöhnliche Leidenschaften, waren sich auf demselben Gebiete begegnet, beide in den dichten Finsternissen der Nacht durch das Gold angelockt. Um irgendeinen Lichtschimmer in diese gegebene Finsternis zu bringen, wandte das Gericht gegen eine innig geliebte Schwester des Jean-François das Hilfsmittel der Verhaftung und des engeren Gewahrsams an, in der Hoffnung, durch sie in die Geheimnisse des brüderlichen Privatlebens einzudringen. Denise Tascheron beschränkte sich auf ein von der Klugheit diktiertes System des Leugnens, das sie in den Verdacht brachte, von den Ursachen des Verbrechens unterrichtet zu sein, obwohl sie nichts wußte. Diese Gefangenschaft brandmarkte ihr Leben. Der Angeklagte zeigte einen bei Leuten aus dem Volke sehr seltenen Charakter: er hatte die geschicktesten Spione, mit denen man ihn zusammen eingesperrt, ohne ihren Auftrag durchschaut zu haben, in Verwirrung gebracht. Für die vornehmen Geister des Richterstandes war Jean-François daher Verbrecher aus Leidenschaft und nicht aus Not, wie die Mehrzahl der gewöhnlichen Mörder, die alle erst die Zuchtpolizei und das Bagno durchmachen, ehe sie zu ihrer letzten Tat schreiten. Aktive und kluge Nachforschungen wurden im Sinne dieser Idee angestellt; doch die unveränderliche Verschwiegenheit des Verbrechers ließ die Untersuchung ohne wesentliche Bestandteile. Nachdem der ziemlich einleuchtende Roman dieser Leidenschaft für eine Weltdame zugegeben worden war, wurde an Jean-François mehr als eine verfängliche Frage gestellt; doch seine Verschwiegenheit triumphiert über alle moralischen Torturen, denen die Geschicklichkeit des Untersuchungsrichters ihn unterwarf. Als der Gerichtsbeamte als letzten Versuch zu Tascheron sagte, daß die Person, für die er das Verbrechen begangen, erkannt und verhaftet worden sei, verzog er keine Falte seines Gesichts und begnügte sich mit der ironischen Antwort:

»Ich würde sie sehr gern sehen!«

Als man diese Umstände vernahm, teilten viele Leute die Verdachtgründe der Richter, die dem Anscheine nach durch das ungewohnte Schweigen, das der Angeklagte wahrte, bekräftigt wurden. Lebhaftestes Interesse haftete sich an einen jungen Menschen, der ein Problem wurde. Jedermann wird leichtlich begreifen, wie sehr diese wesentlichen Bestandteile die allgemeine Neugierde erregten, und mit welch einer Begierde Debatten geführt wurden. Trotz des Sondierens der Polizei wurde die Untersuchung an der Schwelle der Hypothese festgehalten, ohne es zu wagen, in das Geheimnis einzudringen: sie fand dort zu große Gefahren! In gewissen richterlichen Fällen genügen die Halb-Gewißheiten den Juristen nicht. Man hoffte daher die Wahrheit am großen Tage des Schwurgerichts – ein Augenblick, wo viele Missetäter sich widersprechen – ans Licht kommen zu sehen.

Monsieur Graslin war einer der für die Sitzungsperiode ausgelosten Geschworenen, so daß Véronique, sei es durch ihren Mann, sei es durch Monsieur de Granville, die geringfügigsten Einzelheiten des Kriminalprozesses, der vierzehn Tage lang Limousin und Paris in Atem hielt, erfahren mußte. Die Haltung des Angeklagten rechtfertigte die von der Stadt nach den Schlüssen des Gerichts sich angeeignete Nutzanwendung; mehr als einmal tauchte sein Auge sich in die Versammlung bevorzugter Frauen, welche die tausend Emotionen dieses wirklichen Dramas auskosten wollten. Jedesmal, wenn dieses Mannes Blick das elegante Parterre mit einem klaren, aber undurchdringlichen Strahl umfing, verursachte er dort lebhafte Erschütterungen, so sehr fürchtete jede Frau in den inquisitorischen Augen der Staatsanwaltschaft und des Gerichtshofes als seine Mitwisserin zu erscheinen. Die nutzlosen Anstrengungen der Untersuchung wurden nun öffentlich bekannt und enthüllten die Vorsichtsmaßregeln, welche der Angeklagte getroffen hatte, um seinem Verbrechen einen vollen Erfolg zu sichern. Einige Monate vor der verhängnisvollen Nacht hatte Jean-François sich mit einem Paß für Nordamerika versehen. Demnach war der Plan, Frankreich zu verlassen, gefaßt worden; die Frau mußte also verheiratet sein, denn zweifelsohne hätte es keinen Sinn gehabt, mit einem jungen Mädchen zu entfliehen. Vielleicht hatte das Verbrechen den Zweck gehabt, der Bequemlichkeit dieser Unbekannten Unterhalt zu gewähren. Das Gericht hatte in den Registern der Staatsverwaltung keinen Paß für diesen Landstrich auf den Namen einer Frau gefunden. Für den Fall, daß die Mitwisserin sich ihren Paß in Paris besorgt haben sollte, waren die dortigen Register nachgesehen worden, doch vergeblich; das gleiche Resultat ergab sich bei den benachbarten Präfekturen. Die geringsten Einzelheiten der Verhandlungen brachten die tiefen Reflexionen einer überlegenen Intelligenz zutage. Wenn die tugendhaftesten Limousiner Damen die im gewöhnlichen Leben ziemlich unerklärliche Benutzung leichter Stiefeln, um durch Dreck und über Land zu gehen, der Notwendigkeit zuschrieben, den alten Pingret zu belauern, erklärten die wenigst albernen Männer mit Begeisterung, wie nützlich leichtes Schuhwerk wäre, um in ein Haus zu gehen, dort in den Korridoren herumzulaufen und geräuschlos durch die Fenster zu steigen. Abends wurden in allen Salons die Spielpartien unterbrochen durch die böswilligen Kommentare der Leute, die, sich in den März 1829 zurückversetzend, nachforschten, welche Frauen zu diesem Zeitpunkt nach Paris gereist wären, welche anderen offensichtlich oder heimlich die Vorbereitungen zu einer Flucht hätten treffen können. Limoges kostete damals seinen Prozeß Fualdès aus, der mit einer unbekannten Madame Manson ausgeschmückt war. Niemals wurde in einer Provinzstadt mehr intrigiert als es jeden Abend nach der Gerichtsverhandlung in Limoges der Fall war. Man träumte dort von dem Prozesse, worin alles den Angeklagten vergrößerte, dessen weise wiederholten, kommentierten, auseinandergezerrten Antworten ausführliche Unterhaltungen zur Folge hatten. Wenn einer der Geschworenen fragte, warum Tascheron sich einen Paß für Amerika verschafft hatte, antwortete der Arbeiter, daß er dort eine Porzellanmanufaktur habe einrichten wollen. So schützte er, ohne seinem Verteidigungssystem untreu zu werden, seine Mitwisserin noch dadurch, daß er jedermann erlaubte, sein Verbrechen der Notwendigkeit zuzuschreiben, Mittel zu erlangen, um einen ehrgeizigen Plan auszuführen. Mitten in den lebhaftesten Verhandlungen konnten Véroniques Freunde bei einer Abendgesellschaft, wo sie weniger zu leiden schien, nicht umhin, des Verbrechers Verschwiegenheit zu erklären zu suchen. Am Vortage hatte der Arzt Véronique einen Spaziergang verordnet. Am selben Tage hatte sie also den Arm ihrer Mutter genommen, um, die Stadt umgehend, bis nach dem Landhause der Sauviat zu wandern, wo sie sich ausgeruht hatte. Bei ihrer Rückkehr hatte sie aufzubleiben versucht und ihren Mann erwartet. Graslin kam erst um acht Uhr vom Schwurgericht zurück; ihrer Gewohnheit gemäß setzte sie ihm das Mittagessen vor und hörte notgedrungen die Unterhaltung ihrer Freunde.

»Wenn mein armer Vater noch lebte,« sagte Véronique ihnen, »würden wir mehr darüber wissen, oder der Mann würde vielleicht kein Verbrecher geworden sein . . . Aber ich sehe Sie alle ausschließlich mit einem seltsamen Gedanken beschäftigt! Sie wollen, daß die Liebe die Grundursache des Verbrechens sei; darüber bin ich Ihrer Meinung. Warum aber glauben Sie, daß die Unbekannte verheiratet ist? Kann er nicht ein junges Mädchen geliebt haben, die Vater und Mutter ihm verweigerten?«

»Ein junges Mädchen würde ihm später legitim angehört haben,« antwortete Monsieur de Granville. »Tascheron ist ein Mensch, dem es nicht an Geduld fehlt; er würde Zeit gehabt haben, sich auf rechtschaffene Art Geld zu erwerben, indem er den Augenblick erwartete, wo es jedem Mädchen freisteht, sich gegen den Willen seiner Eltern zu verheiraten.«

»Ich wußte nicht, daß eine solche Heirat möglich sei,« entgegnete Madame Graslin; »doch wie, in einer Stadt, wo man alles weiß, wo jeder sieht, was bei seinem Nachbar vorgeht, hat man nicht den leichtesten Verdacht? Um sich zu lieben, muß man sich mindestens sehen oder gesehen haben. Wie denken Sie, die Richter, darüber?« fragte sie, indem sie einen festen Blick in die Augen des stellvertretenden Generalprokurators tauchte.

»Wir glauben alle, daß die Frau dem Bürger- oder Kaufmannsstande angehört.«

»Ich meine das Gegenteil,« sagte Madame Graslin. »Eine Frau aus den Kreisen hat nicht gehobene Gefühle genug.« –

Diese Antwort lenkte die Blicke aller auf Véronique und jeder erwartete eine Erklärung dieser paradoxen Rede.

»Während der Nachtstunden, die ich schlaflos verbringe oder tagsüber in meinem Bett, ist es mir unmöglich, nicht an diese geheimnisvolle Sache zu denken, und ich habe Tascherons Motive zu erfassen geglaubt. Aus folgendem Grunde denke ich an ein junges Mädchen. Eine verheiratete Frau hat Interessen, wenn nicht Gefühle, die ihr Herz teilen und sie hindern, zu der vollkommenen Begeisterung zu gelangen, die eine so große Leidenschaft einflößt. Man braucht kein Kind zu haben, um eine Liebe zu verstehen, die mütterliche Gefühle mit denen vereinigt, die dem Verlangen vorhergehen. Ganz gewiß ist dieser Mann von einer Frau geliebt worden, die seine Stütze sein wollte. In seine Leidenschaft wird die Unbekannte das Genie gelegt haben, dem wir die schönsten Werke der Künstler, der Dichter verdanken, das in der Frau, aber unter anderer Form vorhanden ist: sie ist dazu ausersehen, Menschen und nicht Dinge zu erschaffen! Unsere Werke sind die Kinder. Die Kinder sind unsere Gemälde, unsere Bücher, unsere Statuen. Sind wir nicht Künstler bei ihrer ersten Erziehung? Auch wette ich und würde mir meinen Kopf abschneiden lassen, daß, wenn die Unbekannte nicht Mädchen, sie auch nicht Mutter ist. Die Leute der Staatsanwaltschaft müßten die Feinfühligkeit der Frauen besitzen, um tausend Nuancen zu erraten, die ihnen bei vielen Gelegenheiten fortwährend entgehen. Wenn ich Ihr Staatsanwaltsgehilfe gewesen wäre,« sagte sie zu dem stellvertretenden Generalprokurator, »würden wir die Schuldige gefunden haben, vorausgesetzt, daß die Unbekannte schuldig ist. Gleich dem Herrn Abbé Dutheil räume ich ein, daß die beiden Liebenden den Plan zur Flucht gefaßt hatten, und zwar mit des armen Pingrets Schätzen, da sie kein Geld hatten, um in Amerika leben zu können. Durch die verhängnisvolle Logik, welche die Todesstrafe Verbrechern einflößt, hat der Diebstahl den Mord erzeugt. So würde es denn,« sagte sie, dem Generalprokurator einen flehenden Blick zuwerfend, »Ihrer würdig sein, wenn Sie nicht von Vorbedacht reden wollten, Sie würden dann dem Unglücklichen das Leben retten! Trotz seines Verbrechens ist der Mann groß, durch eine wundervolle Reue würde er vielleicht seine Fehler wiedergutmachen. Die Werke der Reue müssen einigen Raum in den Gedanken der Justiz einnehmen. Gibt es heute nichts Besseres zu tun, als seinen Kopf herzugeben oder wie ehedem den Dom von Mailand zu bauen, um Missetaten wettzumachen?«

»Sie sind erhaben in Ihren Gedanken, Madame,« erwiderte der stellvertretende Generalprokurator; »doch wenn man auch von Vorbedacht absähe, würde Tascheron dennoch unter der Wucht der Todesstrafe stehen auf Grund der schwerwiegenden und bewiesenen Umstände, die den Diebstahl begleitet haben: die Nacht, das Eindringen, der Einbruch usw. . . .«

»Sie glauben also, daß er verurteilt werden wird?« fragte sie, ihre Wimpern senkend.

»Dessen bin ich gewiß; die Staatsanwaltschaft wird den Sieg davontragen!«

Ein leichter Schauer machte Madame Graslins Kleid knistern; sie sagte:

»Mich friert!«

Sie nahm den Arm ihrer Mutter und legte sich zu Bett.

»Es geht ihr heute sehr viel besser,« sagten ihre Freunde.

Am folgenden Tage war Véronique todkrank. Da ihr Arzt sein Erstaunen ausdrückte, als er sie fast mit dem Tode ringend vorfand, sagte sie lächelnd zu ihm:

»Hatte ich Ihnen nicht vorausgesagt, daß dieser Spaziergang mir nicht guttun würde?«

Seit der Eröffnung der Verhandlungen gab Tascheron sich ohne Prahlerei wie ohne Heuchelei. Immer um die Kranke abzulenken, suchte der Arzt diese Haltung, die seine Verteidiger ausbeuteten, zu erklären. Das Talent seiner Advokaten täusche den Angeklagten über das Resultat; er glaube dem Tode zu entgehen, sagte der Arzt. Für Augenblicke bemerke man auf seinem Gesichte eine Hoffnung, die von einem viel größeren Glücke als dem zu leben herrühre. Die Antezedenzien des Lebens dieses dreiundzwanzigjährigen Mannes widersprächen den Handlungen, durch die es zu Ende gehe, so sehr, daß seine Verteidiger seine Haltung als eine Schlußfolgerung einwürfen. Kurz, die erdrückenden Beweise in der Hypothese der Anklage würden so schwach dem Roman der Verteidigung gegenüber, daß dieser Kopf mit günstigen Aussichten von dem Advokaten streitig gemacht würde. Um seinem Klienten das Leben zu retten, schlüge der Advokat sich mit aller Macht auf das Gebiet des Vorbedachts, hypothetisch räume er den vorbedachten Diebstahl, nicht aber die vorbedachten Morde ein, die das Resultat zweier unerwarteter Kämpfe seien. Der Erfolg erschien zweifelhaft für das Parkett wie für die Schranke.

Nach dem Arztbesuch hatte Véronique den des stellvertretenden Generalprokurators, der allmorgendlich zu ihr kam, ehe er in die Verhandlungen ging.

»Ich habe die Plädoyers gestern gelesen,« sagte sie zu ihm, »heute sollen die Antworten beginnen. Ich interessiere mich so sehr für den Angeklagten, daß ich ihn gerettet sehen möchte. Können Sie nicht einmal in Ihrem Leben auf einen Triumph verzichten? Lassen Sie sich doch vom Advokaten besiegen. Machen Sie mir ein Geschenk mit diesem Leben, und Sie sollen meins vielleicht eines Tages dafür haben! . . . Nach dem schönen Plädoyer des Tascheronschen Verteidigers ist alles doch fraglich; nun . . .«

»Ihre Stimme klingt besorgt,« sagte der Vicomte beinahe überrascht.

»Wissen Sie warum?« antwortete sie. »Mein Mann hat eben ein furchtbares Zusammentreffen entdeckt, das infolge meiner Sensibilität derartig sei, daß es meinen Tod verursachen könnte: ich werde niederkommen, wenn Sie den Befehl geben, daß dieser Kopf fällt . . .«

»Kann ich das Gesetzbuch reformieren?« antwortete der stellvertretende Generalprokurator.

»Gehen Sie, Sie verstehen nicht zu lieben!« antwortete sie, die Augen schließend.

Sie legte ihren Kopf auf das Kissen und schickte den Beamten mit befehlender Gebärde fort.

Monsieur Graslin trat lebhaft, aber vergebens, für die Freisprechung ein, indem er einen Grund angab, den zwei mit ihm befreundete Geschworene sich zu eigen machten, und der ihm von seiner Frau eingegeben worden war. »Wenn wir dem Menschen sein Leben lassen, wird die Familie des Vanneaulx Pingrets Hinterlassenschaft wiederfinden.« Dies unwiderstehliche Argument führte zwischen den Geschworenen eine Spaltung von sieben gegen fünf Stimmen herbei, was die Stellungnahme des Gerichtshofes notwendig machte. Der Gerichtshof schlug sich aber zu der Minorität der Geschworenen. Der Rechtsprechung jener Zeit zufolge entschied dieses Zusammengehen für die Verurteilung.

Als ihm sein Urteil verkündigt wurde, geriet Tascheron in eine bei einem kraft- und lebensvollen Menschen sehr natürliche Wut, die aber die Gerichtsbeamten, Advokaten, Geschworenen und die Zuhörerschaft fast noch nie bei unschuldig verurteilten Angeklagten bemerkt haben. Durch das Urteil schien das Drama für alle Welt noch nicht erledigt zu sein. Ein solch erbitterter Kampf ließ, wie das bei derartigen Fällen fast immer die Regel ist, zwei diametral entgegengesetzte Meinungen über die Schuldfrage des Helden aufkommen, in welchem die einen die unterdrückte Unschuld erblickten, die anderen einen zu Recht verurteilten Verbrecher. Die Liberalen erklärten sich weniger aus Gewißheit wie um der Gewalt zu widersprechen für Tascherons Unschuld.

»Wie,« sagten sie, »einen Menschen auf die Aehnlichkeit seines Fußes mit dem Abdruck eines anderen Fußes hin verurteilen? Auf Grund seiner Abwesenheit? Als ob alle jungen Leute nicht lieber sterben würden als eine Frau zu kompromittieren? Weil man sich Werkzeuge geliehen und Eisen gekauft hat; denn es ist nicht bewiesen worden, daß er den Schlüssel hergestellt hat. Eines blauen Leinewandlappens wegen, der an einem Baume hängt, den der alte Pingret vielleicht dort als Spatzenscheuche hingetan hat, der zufällig in einen Riß in unserer Bluse paßt. Wovon hängt ein Menschenleben doch ab! Kurz, Jean-François hat alles abgeleugnet; die Staatsanwaltschaft hat keinen Zeugen aufgestellt, der das Verbrechen gesehen hat!«

Sie bekräftigten, vergrößerten, paraphrasierten das System und die Plädoyers des Advokaten. Was war der alte Pingret? »Ein krepierter Geldschrank!« sagten die Freigeister. Einige sogenannte Fortschrittler, die heiligen Rechte des Eigentums kennend, welche schon die Saint-Limousinisten in den abstrakten ökonomischen Gedankenkreisen angegriffen hatten, gingen noch weiter: »Vater Pingret war der erste Urheber des Verbrechens. Da er sein Geld aufhäufte, hatte er sein Vaterland bestohlen. Welche Unternehmungen hätten durch seine nutzlos liegenden Kapitalien befruchtet werden können! Er hatte die Industrie betrogen, mit Recht war er bestraft worden.« Die Magd? Man beklagte sie.

Denise, die, nachdem sie die Ränke des Gerichts vereitelt hatte, bei den Verhandlungen sich keine Antwort durchgehen ließ, ohne lange überlegt zu haben, was sie sagen sollte, erregte lebhaftestes Interesse. In einem anderen Sinne wurde sie eine Jenny Deans vergleichbare Figur, deren Anmut und Bescheidenheit, Religiosität und Schönheit sie besaß. François Tascheron reizte also fortgesetzt die Neugierde nicht nur der Stadt, sondern auch noch der ganzen Provinz, und einige romantische Frauen zollten ihm offen ihre Bewunderung.

»Wenn er darüber hinaus noch eine Liebe zu einer über ihm stehenden Frau fühlt, ist der Mann wahrlich kein gewöhnlicher Mensch,« sagten sie. »Sie sollen sehen, er wird gut sterben!«

Die Frage »Wird er reden, wird er nicht reden?« hatte Wetten zur Folge. Seit dem Wutanfall, mit dem er seine Verurteilung aufnahm, und die ohne die Anwesenheit der Gendarmen einigen Gerichtspersonen oder Zuhörern hätte gefährlich werden können, bedrohte der Verbrecher alle Leute, die sich ihm näherten, ohne Unterschied und mit der Wut eines wilden Tieres. Der Gefangenenwärter sah sich genötigt, ihm die Zwangsjacke anzulegen, ebensosehr um ihn zu hindern, sein Leben anzutasten, wie um den Wirkungen seiner Raserei zu entgehen. Als er durch dies siegreiche Mittel gegen Gewalttaten jeder Art einmal in Schach gehalten wurde, tobte Tascheron seine Verzweiflung in konvulsivischen Bewegungen, die seine Wächter erschreckten, in Worten und in Blicken aus, die man im Mittelalter dem Besessensein würde zugeschrieben haben. Er war so jung, daß die Frauen mit diesem Leben voller Liebe, das ein Ende finden sollte, Erbarmen hatten. »Der letzte Tag eines Verurteilten,« eine düstere Elegie, ein zweckloses Plädoyer gegen die Todesstrafe, diese starke Stütze der menschlichen Gesellschaften, und die seit kurzem wie ausdrücklich für diese Gelegenheit da zu sein schien, war in allen Unterhaltungen an der Tagesordnung.

Wer zeigte sich endlich nicht mit den Fingern die Unbekannte, aufrecht, die Füße im Blute, hochgereckt auf den Brettern des Gerichts wie auf einem Piedestal stehend, von furchtbaren Schmerzen zerfleischt, und zur vollkommensten Ruhe in ihrem Haushalte verurteilt. Man bewunderte diese Limousiner Medea, mit weißem Busen, unter dem ein ehernes Herz schlug, und der undurchdringlichen Stirne fast! Vielleicht war sie bei dem und dem, Schwester oder Base, oder Frau oder Tochter des und des. Welcher Schrecken im Schoße der Familien! Einem erhabenen Worte Napoleons gemäß ist besonders in der Domäne der Einbildungskraft die Macht des Unbekannten unermeßlich groß. Was die dem p. p. und der p. p. des Vanneaulx gestohlenen hunderttausend Franken anging, die keine polizeiliche Nachforschung zu finden gewußt hatte, so war das ständige Schweigen des Verbrechers eine befremdende Schlappe für die Staatsanwaltschaft. Monsieur de Granville, der dem Oberstaatsanwalt, der jetzt in der Deputiertenkammer saß, im Amte nachfolgte, versuchte das übliche Mittel, den Glauben an eine Strafmilderung im Geständnisfalle zu erwecken; aber wenn er sich sehen ließ, empfing ihn der Verurteilte mit verdoppeltem Wutgeschrei und epileptischen Zuckungen und schleuderte ihm wilde Blicke zu, aus denen das Bedauern sprach, ihm nicht den Tod geben zu können. Das Gericht zählte nur noch auf die Anwesenheit der Kirche beim letzten Augenblick. Die des Vanneaulx waren zu often Malen zum Abbé Pascal, dem Gefängnisgeistlichen, gegangen. Dem Abbé ging das besonders notwendige Talent, sich bei den Gefangenen Gehör zu verschaffen, nicht ab. Fromm bot er Tascherons Ausbrüchen die Stirn, versuchte einige Worte durch die Stürme dieser verkrampften machtvollen Natur zu schleudern. Doch der Kampf dieser geistigen Vaterschaft mit dem Orkan dieser entfesselten Leidenschaften schwächte und ermüdete den armen Abbé Pascal.

»Der Mensch hier hat sein Paradies auf Erden gefunden,« erklärte der Greis mit sanfter Stimme.

Die kleine Madame des Vanneaulx fragte ihre Freundinnen um Rat, sie wollte wissen, ob sie einen Schritt bei dem Verbrecher tun sollte. Der p. p. des Vanneaulx sprach von einem Vergleich. In seiner Verzweiflung schlug er Monsieur de Granville vor, er wolle um die Begnadigung des Mörders seines Onkels bitten, wenn der Mörder die hunderttausend Franken herausgäbe. Der stellvertretende Generalprokurator erwiderte, die Königliche Majestät lasse sich nicht zu solchen Kompromissen herbei. Die des Vanneaulx wandten sich an Tascherons Advokaten, dem sie zehn Prozent der Summe anboten, wenn es ihm gelänge, sie ausfindig zu machen. Der Advokat war der einzige Mensch, bei dessen Anblick Tascheron nicht außer sich geriet. Die Erben bevollmächtigten ihn, dem Verbrecher andere zehn Prozent anzubieten, über die er zugunsten seiner Familie verfügen sollte. Trotz der Benagungen, die diese Biber an ihrer Erbschaft vornehmen wollten, und trotz seiner Beredsamkeit konnte der Advokat bei seinem Klienten nichts durchsetzen. Die wütenden des Vanneaulx schmähten und verfluchten den Verurteilten.

»Nicht nur ein Mörder ist er, sondern er hat auch kein Zartgefühl im Leibe!« schrie des Vanneaulx allen Ernstes, ohne Fualdès berühmtes Klagelied zu kennen, als er Abbé Pascals Mißerfolg vernahm und durch die mögliche Verwerfung der Nichtigkeitsbeschwerde alles verloren sah. »Was kann ihm unser Vermögen nützen, wo er abschrammt? Ein Mord läßt sich verstehen, ein zweckloser Diebstahl aber ist unbegreiflich. In welchen Zeiten leben wir, daß Leute der Gesellschaft sich für einen solchen Räuber interessieren? Nichts spricht doch für ihn!«

»Wenig Ehre hat er,« sagte Madame des Vanneaulx.

»Wenn indessen die Herausgabe seine gute Freundin bloßstellt?« sagte eine alte Jungfer.

»Wir würden ihr Verschwiegenheit zusichern,« schrie der p. p. des Vanneaulx.

Eine der Frauen aus Madame Graslins Gesellschaft, die ihr lachend die des Vanneaulxschen Redereien erzählte, eine sehr geistreiche Frau, eine von denen, die von hohen Idealen träumen und wünschen, daß alles vollkommen sei, bedauerte des Verurteilten Wut. Sie hätte ihn gern kalt, ruhig und würdig gehabt.

»Sehen Sie denn nicht,« sagte Véronique zu ihr, »daß er so die Verführungen von sich weist und die Versuche vereitelt? Aus Berechnung gibt er sich als wildes Tier.«

»Uebrigens ist er kein vornehmer Mann,« sagte die verbannte Pariserin, »er ist Arbeiter.«

»Ein vornehmer Mann hätte mit der Unbekannten schnell ein Ende gemacht,« antwortete Madame Graslin.

Diese sich überstürzenden Ereignisse, die in den Salons von allen Seiten beleuchtet, in den Haushalten auf tausenderlei Arten kommentiert, von den geschicktesten Zungen der Stadt zerpflückt wurden, erweckten ein grausames Interesse für die Hinrichtung des Verurteilten, dessen Berufung vom obersten Gerichtshofe zwei Monate später verworfen wurde. Wie würde in seinen letzten Augenblicken die Haltung des Verurteilten sein, der sich schmeichelte seine Hinrichtung zu vereiteln, indem er eine verzweifelte Verteidigung ankündigte? Wird er reden? Wird er gestehen? Wer wird die Wette gewinnen? Wollen wir hingehen? Wollen wir nicht hin? Wie hingehen? Die Lage der Lokalitäten, welche den Verbrechern die Aengste einer langen Ueberführung erspart, beschränkt in Limoges die Zahl der eleganten Zuschauer. Das Justizgebäude, in dem das Gefängnis ist, nimmt die Ecke der rue du Palais und der rue du Pont-Hérisson ein. Die rue du Palais wird in gerader Linie durch die kurze rue de Monte-à Regret fortgesetzt, die auf die place d'Aisne oder des Arènes führt, wo die Hinrichtungen stattfinden, und die diesem Umstande zweifelsohne ihren Namen verdankt. Es gibt also nur einen kurzen Weg, folglich wenige Häuser, wenige Fenster. Doch die von Tag zu Tag erwartete Hinrichtung wurde von Tag zu Tag verschoben; und das aus folgendem Grunde. Die fromme Ergebung schwerer Verbrecher, die in dem Tod gehen, ist einer der Triumphe, welche die Kirche sich aufspart, und die ihre Wirkung auf die Menge fast nie verfehlen. Die Reue der Verurteilten bestätigt zu sehr die Macht religiöser Gedanken, als daß – abgesehen von jedem christlichen Interesse, obwohl es der Hauptgesichtspunkt der Kirche sein sollte – dem Klerus bei der Erfolglosigkeit in diesen glänzenden Gelegenheiten nicht das Herz bluten sollte. Im Juli 1829 wurde der Umstand durch den Parteigeist, der die kleinsten Einzelheiten des politischen Lebens vergiftet, verschärft. Die liberale Partei freute sich bei einer so öffentlichen Szene die »Pfaffenpartei« – ein von Montlosier, einem Royalisten, der zu den Konstitutionellen übergegangen war und von ihnen über seine Absichten hinaus mit fortgerissen wurde, erfundener Ausdruck – scheitern zu sehen. Die Parteien als Ganzes begehen Handlungen, die einen Einzelnen mit Schimpf bedrohen würden; auch wird ein Mensch, wenn er sie vor den Augen der Menge kurz zusammenfaßt, ein Robespierre, Jeffries, Lauberdemont, die eine Art von Sühnealtären sind, an die alle Mitschuldigen versteckte Votivtafeln anheften.

In Uebereinstimmung mit dem Episkopat verschob die Staatsanwaltschaft die Hinrichtung, ebenso sehr in der Hoffnung zu erfahren, was die Justiz von dem Verbrechen noch nicht wußte, wie um die Religion bei dieser Gelegenheit triumphieren zu lassen. Da indessen der Macht der Staatsanwaltschaft Grenzen gesetzt waren, mußte das Urteil früher oder später vollzogen werden. Die nämlichen Liberalen, die aus Opposition Tascheron für unschuldig hielten und in das Gerichtsurteil Bresche zu legen versucht hatten, murrten nun darüber, daß das Urteil nicht vollstreckt würde. Wenn die Opposition systematisch ist, kommt sie zu ähnlichem Nonsens; denn für sie handelt es sich ja nicht darum, recht zu haben, sondern stets mit der Macht unzufrieden zu sein. Der Staatsanwaltschaft waren daher in den ersten Augusttagen durch diese, oft so dumme Bewegung, welche öffentliche Meinung heißt, die Hände gebunden. Die Hinrichtung wurde angezeigt. In letzter Stunde nahm Abbé Dutheil es auf sich, dem Bistum einen letzten Entschluß zu unterbreiten, dessen Erfolg den Effekt haben mußte, in dieses richterliche Drama die außerordentliche Persönlichkeit einzuführen, die sich aller anderen als Band bedient, die sich als größte aller Figuren dieser Szene erweist, und die auf den, der Vorsehung vertrauten Wegen Madame Graslin auf den Schauplatz führen sollte, wo ihre Tugenden im hellsten Lichte strahlten und wo sie sich als erhabene Wohltäterin und engelgleiche Christin zeigte.

Der Limoger Bischofspalast ist auf einem Hügel gelegen, den die Vienne umsäumt, und seine Gärten, die starke, mit Balustraden gekrönte Mauern stützen, steigen absatzweise auf, indem sie dem natürlichen Bodengefälle nachgeben. Das Steigen dieses Hügels ist solcherart, daß die auf dem entgegengesetzten Ufer liegende Vorstadt Saint-Étienne an den Fuß der letzten Terrasse gebettet zu sein scheint. Von dort aus ist der Fluß je nach der Richtung, welche die Spaziergänger einschlagen, teils in gerader Linie fließend, teils im Querschnitt inmitten eines reichen Panoramas zu sehen. Gegen Westen strömt die Vienne hinter den bischöflichen Gärten in einer zierlichen Krümmung, welche die Vorstadt Saint-Martial einfaßt, auf die Stadt zu. Eine kleine Entfernung über diese Vorstadt hinaus liegt ein hübsches Landhaus, das le Cluzeau heißt, dessen Gebäude man von den am weitesten vorgeschobenen Terrassen sieht und durch eine Perspektivewirkung mit den Glockentürmen der Vorstadt ein Ganzes bilden. Le Cluzeau gegenüber liegt jene ausgebogte, mit Obstbäumen und Pappeln reichbesetzte Insel, die Véronique in ihrer ersten Jugend ihre Île-de-France genannt hatte. Im Westen ist die Ferne mit amphitheatralisch aufsteigenden Hügeln besetzt. Die zauberhafte Lage und die Einfachheit des Baus machen den Palast zu dem bemerkenswertesten Denkmal der Stadt, deren Bauwerke weder durch gewählte Materialien noch durch Architektur hervorstechen. Seit langem mit diesen Ausblicken vertraut, welche die Gärten der Aufmerksamkeit der Leute, die gern malerische Reisen machen, empfehlen, stieg Abbé Dutheil, der sich von Monsieur de Granville begleiten ließ, von Terrasse zu Terrasse, ohne die roten Farben, die Orangetöne, die violetten Tinten zu beachten, welche die untergehende Sonne über die alten Mauern und die Balustraden der Rampen, über die Häuser der Vorstadt und die Gewässer des Flusses breitete. Er suchte den Bischof. Dieser saß in der Ecke seiner letzten Terrasse in einer Weinlaube, wo er seinen Nachtisch verspeiste, indem er sich dem zauberhaften Abend hingab. Die Pappeln der Insel schienen in diesem Augenblick die Gewässer mit den verlängerten Schatten ihrer bereits gelbgefärbten Wipfel zu teilen, denen die Sonne den Anschein eines goldenen Blätterdachs verlieh. Die Schimmer des Sonnenuntergangs, verschieden zurückgestrahlt durch die Massen von verschiedenem Grün, erzeugten eine wunderbare Mischung aller schwermutsvollen Töne. Im Talgrunde bebte unter der leichten Abendbrise eine weite Fläche mit Flittern bestreuter Sprudel in der Vienne und ließ die braunen Flächen hervortreten, welche die Dächer der Vorstadt Saint-Étienne vorstellten. Die in Licht getauchten Glockentürme und Giebel der Vorstadt Saint-Martial vermischten sich mit den Reben der Weingeländer. Das leise Murmeln einer in dem zurückweichenden Bogen des Flusses halb versteckten Provinzstadt, die milde Luft, alles trug dazu bei, den Prälaten in die Ruhe zu versenken, welche von allen Autoren, die über die Verdauung geschrieben haben, gefordert wird. Seine Augen waren mechanisch auf das rechte Flußufer geheftet, auf die Stelle, wo die langen Schatten der Inselpappeln auf der Seite der Vorstadt Saint-Étienne die Mauern des Gehöfts berührten, wo der Doppelmord an dem alten Pingret und seiner Magd geschehen war. Als aber seine kleine augenblickliche Glückseligkeit durch die Schwierigkeiten, an die ihn seine Großvikare erinnerten, getrübt wurde, füllten sich seine Blicke mit undurchdringlichen Gedanken. Die beiden Priester schrieben diese Ablenkung der Langeweile zu, während der Prälat im Gegenteil in den Sandflächen der Vienne das damals von den des Vanneaulx und der Justiz gesuchte Rätselwort sah.

»Hochwürden,« sagte, sich dem Bischof nähernd der Abbé de Grancour, »alles ist nutzlos, wir werden den Schmerz haben, den unglücklichen Tascheron gottlos sterben zu sehen: er wird die furchtbarsten Verwünschungen gegen die Religion lostoben, wird den armen Abbé Pascal mit Beleidigungen überhäufen, wird auf das Kruzifix speien und wird alles, selbst die Hölle verneinen!«

»Er wird das Volk erschrecken,« sagte Abbé Dutheil. »Hinter dem großen Skandal und dem Entsetzen, das er einflößen wird, soll sich unsere Niederlage und unsere Ohnmacht verbergen. Auch sagte ich beim Kommen zu Monsieur de Grancour, dies Schauspiel würde mehr als einen armen Sünder in den Schoß der Kirche zurückführen!«

Durch solche Worte verwirrt, stellte der Bischof die Schale mit Trauben, von denen er naschte, auf einen ländlichen Holztisch und wischte sich die Finger ab; dann lud er seine beiden Großvikare durch ein Zeichen zum Platznehmen ein.

»Der Abbé Pascal hat es dumm angefangen!« sagte er endlich.

»Er ist krank von seiner letzten Gefängnisszene,« erwiderte Abbé de Grancour. »Ohne sein Unwohlsein würden wir ihn mitgebracht haben, um die Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, die alle die Versuche, die Hochwürden anzustellen befehlen möchte, unmöglich machen.«

»Der Verurteilte singt aus vollem Halse unzüchtige Lieder, sobald er einen von uns erblickt, und übertönt mit seiner Stimme alle Worte, die man ihn hören lassen will,« sagte ein bei dem Bischof sitzender junger Priester. Dieser mit einem reizenden Gesichte begabte junge Mann hielt seinen rechten Arm auf den Tisch gestützt, seine weiße Hand fiel nachlässig auf die Traubenbüschel, von denen er die rötesten Beeren mit der Ungezwungenheit und Vertraulichkeit eines Tischgenossen und Günstlings auswählte. Tischgenosse und Günstling des Prälaten zugleich war dieser junge Mann der jüngste Bruder des Barons von Rastignac, den Familienbande und Verehrung an den Bischof von Limoges knüpften. Bekannt mit den Vermögensgründen, die den jungen Mann der Kirche zugeführt, hatte ihn der Bischof zum Privatsekretär genommen, um ihm Zeit zu lassen, eine Beförderungsgelegenheit abzuwarten. Abbé Gabriel trug einen Namen, der ihn für die höchsten Würden der Kirche bestimmte.

»Bist du denn hingegangen, mein Sohn?« fragte der Bischof.

»Ja, Hochwürden; sobald ich mich vor ihm gezeigt habe, hat der Unglücklichste die ekelhaftesten Beleidigungen gegen Sie und mich ausgespien; er führte sich in einer Weise auf, welche die Anwesenheit eines Prälaten bei ihm unmöglich macht. Wollen Hochwürden mir erlauben, Ihnen einen Rat zu geben?«

»Hören wir die Weisheit an, die Gott manchmal in den Mund der Kinder legt,« sagte der Bischof lächelnd.

»Hat er nicht Bileams Eselin sprechen lassen?« erwiderte lebhaft der junge Abbé de Rastignac.

»Nach gewissen Kommentatoren hat sie nicht allzu genau gewußt, was sie sagte,« erwiderte lachend der Bischof.

Die beiden Großvikare lächelten: erstens ging der Scherz von Hochwürden aus; zweitens verspottete er leise den jungen Abbé, auf den die Würdenträger und die ehrgeizigen Gruppen um den Prälaten eifersüchtig waren.

»Mein Rat,« sagte der junge Abbé, »würde sein, Monsieur de Granville zu bitten, die Hinrichtung noch aufzuschieben. Wenn der Verurteilte erfährt, daß er ein paar Tage Verzug unserer Fürsprache verdankt, wird er vielleicht so tun, als ob er uns zuhörte; und wenn er uns zuhört . . .«

»Er wird bei seinem Benehmen verharren, wenn er die Wohltaten sieht, die es ihm einträgt,« sagte der Bischof, seinen Günstling unterbrechend. – »Meine Herren,« fuhr er nach einem augenblicklichen Schweigen fort, »kennt die Stadt all die Einzelheiten?«

»In welchem Hause spricht man nicht darüber?« sagte Abbé de Grancour. »Der Zustand, in welchen den guten Abbé Pascal seine letzten Bemühungen versetzt haben, ist in diesem Augenblick Gegenstand aller Unterhaltungen.«

»Wann muß Tascheron hingerichtet werden?« fragte der Bischof.

»Morgen, am Markttage,« antwortete Monsieur de Grancour.

»Meine Herren, die Kirche darf nicht den kürzeren ziehen,« rief der Bischof. »Je mehr Aufmerksamkeit durch diese Angelegenheit erregt worden ist, desto mehr bestehe ich darauf, einen glänzenden Triumph davonzutragen. Die Kirche befindet sich dabei in schwieriger Lage. Wir sind verpflichtet, Wunder zu wirken in einer Industriestadt, wo der Geist der Auflehnung gegen kirchliche und monarchische Doktrinen tiefe Wurzeln geschlagen hat, wo das vom Protestantismus erzeugte Untersuchungssystem, das sich heute Liberalismus nennt und bereit ist, morgen einen anderen Namen zu führen, sich auf alle Dinge erstreckt. Gehen Sie, meine Herrn, zu Monsieur de Granville, er steht zu uns, und sagen Sie ihm, daß wir eine Frist von einigen Tagen verlangen. Ich will den Unglücklichen aufsuchen!«

»Sie, Hochwürden?« sagte der Abbé de Rastignac. »Würden Sie nicht zu viele Dinge aufs Spiel setzen, wenn Ihr Versuch scheitert? Sie dürfen nur gehn, wenn Sie des Erfolges gewiß sind.«

»Wenn Hochwürden mir erlaubt, meine Meinung zu äußern,« sagte Abbé Dutheil, »glaube ich ein Mittel vorschlagen zu können, das der Kirche den Triumph in dieser traurigen Angelegenheit sichert.«

Der Prälat antwortete mit einem etwas frostigen Einverständniszeichen, das bewies, wie wenig Kredit der Großvikar besaß.

»Wenn irgendwer die Macht über diese rebellische Seele zu besitzen und sie zu Gott zurückzuführen vermag,« sagte Abbé Dutheil fortfahrend, »so ist es der Pfarrer des Dorfes, wo er geboren ist, Monsieur Bonnet.«

»Einer Ihrer Schützlinge,« erklärte der Bischof.

»Hochwürden, Pfarrer Bonnet ist einer von den Menschen, die sich so wohl durch ihre streitbaren Tugenden als auch durch ihre evangelischen Arbeiten selber schützen.«

Diese so bescheidene und so einfache Antwort wurde mit einem Schweigen aufgenommen, das jedem anderen wie Abbé Dutheil peinlich gewesen wäre; sie sprach von verkannten Leuten, und die drei Priester wollten darin eine jener demütigen, aber unverwerflichen klug gefeilten Sarkasmen sehen, welche die Geistlichen ausgezeichnet vorbringen, die, wenn sie sagen, was sie sagen wollen, gewöhnt sind, die strengsten Ordensregeln zu wahren. Dem war aber nicht so; Abbé Dutheil dachte niemals an sich.

»Seit allzu langer Zeit höre ich von diesem heiligen Aristides sprechen,« antwortete lächelnd der Bischof. »Wenn ich dies Licht unter dem Scheffel ließe, würde es meinerseits eine Ungerechtigkeit oder ein Vorurteil sein. Ihre Liberalen rühmen Ihren Monsieur Bonnet, wie wenn er ihrer Partei angehörte; ich will mir über diesen ländlichen Apostel selber ein Urteil bilden. Gehen Sie, meine Herren, zum Oberstaatsanwalt und bitten Sie ihn vom mir aus um einen Aufschub. Ich werde seine Antwort abwarten, bevor ich unseren lieben Abbé Gabriel nach Montégnac sende, der uns den heiligen Mann herholen soll . . . Wir wollen Seine Glückseligkeit in den Stand setzen, Wunder zu wirken . . .«

Als der Abbé Dutheil diese Rede eines geistlichen Edelmanns hörte, errötete er, wünschte aber nicht richtigzustellen, was sie an Unfreundlichkeit für ihn enthielt. Die beiden Großvikare grüßten stumm und ließen den Bischof mit seinem Günstling.

»Die Geheimnisse der Beichte, die wir betreiben, sind zweifelsohne dort eingescharrt,« sagte der Bischof zu seinem jungen Abbé und wies auf die Schatten der Pappeln hin, welche ein einsam zwischen der Insel und der Vorstadt Saint-Étienne gelegenes Haus erreichten.

»Das hab' ich immer gedacht,« sagte Gabriel, »ich bin kein Richter, will kein Spion sein; aber wenn ich Staatsanwalt gewesen wäre, würde ich den Namen der Frau wissen, die bei jedem Geräusche, jedem Worte zittert, und deren Stirn nichtsdestoweniger klar und ruhig bleiben muß, da sie sonst den Verurteilten zum Schafott begleiten müßte. Sie hat indessen nichts zu befürchten: ich hab' den Mann gesehen, er wird das Geheimnis seiner glühenden Liebe mit ins Grab nehmen . . .«

»Kleiner Schlaukopf!« sagte der Bischof, seinem Sekretär ins Ohr kneifend und ihn zwischen der Insel und der Vorstadt Saint-Étienne auf den Raum hinweisend, welchen eine letzte rote Flamme der untergehenden Sonne erleuchtete, auf den die Augen des jungen Priesters gerichtet waren. »Dort hätte das Gericht wühlen müssen, nicht wahr?«

»Ich bin zu dem Verbrecher gegangen, um die Wirkungen meines Verdachts auf ihn zu prüfen; doch er ist von Spionen bewacht. Wenn ich laut gesprochen hätte, würde ich die Person, für die er stirbt, bloßgestellt haben.«

»Schweigen wir,« sagte der Bischof, »wir sind keine Männer des menschlichen Gerichts. Mit einem Kopf ist es genug. Früher oder später wird dies Geheimnis ja doch zur Kirche zurückkehren.«

Der Scharfblick, den die Gewohnheit des Nachsinnens den Priestern verleiht, ist dem der Staatsanwaltschaft und der Polizei überlegen.

Durch vieles Betrachten des Schauplatzes des Verbrechens von der Höhe ihrer Terrassen aus hatten der Prälat und sein Sekretär in Wahrheit die trotz der Nachforschungen der Untersuchung und der Schwurgerichtsverhandlungen noch unbekannten Einzelheiten durchdrungen.

Monsieur de Granville spielte Whist bei Madame Graslin, man mußte seine Rückkehr abwarten. Sein Entscheid wurde erst gegen Mitternacht im bischöflichen Palaste bekannt. Der Abbé Gabriel, dem der Bischof seinen Wagen gab, fuhr gegen zwei Uhr morgens nach Montégnac. Dieser etwa neun Meilen von der Stadt entfernte Ort liegt in dem Teile Limousins, der sich an den Bergen der Corrèze langzieht und an die Creuse grenzt. Der junge Abbé überließ also Limoges allen durch das versprochene Schauspiel, das doch noch nicht stattfinden sollte, entfachten Leidenschaften als Beute.

 


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