Honoré de Balzac
Der Dorfpfarrer
Honoré de Balzac

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Der Pfarrer von Montégnac

Priester und fromme Leute haben die Neigung, sich, wenn ihr eigener Vorteil in Frage kommt, streng an das Verordnete zu halten. Ist es Armut? Ist's eine Wirkung des Egoismus, zu dem sie ihre Absonderung verdammt, und der in ihnen den Hang des Menschen zum Geiz begünstigt? Ist es eine Berechnung der durch die Ausübung der Barmherzigkeit gebotenen Knickrigkeit? Häufig unter einer anmutigen Biederkeit verborgen, oft auch ohne Umschweife verrät sich diese Unlust des In-die-Tasche-Greifens besonders auf der Reise. Gabriel de Rastignac, seit langem der hübscheste junge Mann, den die Altäre sich unter ihren Tabernakeln verneigen gesehen hatten, gab den Postillonen nur dreißig Sous Trinkgeld: er reiste daher langsam. Die Postillone fahren die Bischöfe, welche den durch die Verordnung zugebilligten Lohn nur verdoppeln, sehr respektvoll, verursachen dem bischöflichen Wagen aber keinen Schaden, aus Furcht, sich irgendwelche Ungnade zuzuziehen. Abbé Gabriel, der zum ersten Male allein reiste, sagte bei jeder Poststation mit sanfter Stimme:

»Fahren Sie doch schneller, meine Herren Postillone!«

»Wir greifen nur nach der Peitsche,« antwortete ein alter Postillon, »wenn die Reisenden in die Taschen greifen!«

Der junge Abbé vergrub sich in die Wagenecke, ohne sich diese Antwort erklären zu können. Um sich zu zerstreuen studierte er das Land, das er durchfuhr, und stieg mehrere der steilen Stellen, welche die Straße von Bordeaux nach Lyon sich hinaufschlängelt, zu Fuß hinan.

Fünf Meilen über Limoges hinaus nach den anmutigen Abhängen der Vienne und den hübschen sich abdachenden Wiesen Limousins, die an manchen Stellen und besonders bei Saint-Léonard an die Schweiz erinnern, bekommt das Land einen traurigen und melancholischen Anblick. Man stößt dann auf unbebaute wüste Flächen, Steppen ohne Gras und Pferde, die aber am Horizont von den Höhen der Corrèze eingesäumt werden. Dies Gebirge bietet den Augen des Reisenden weder die senkrecht aufsteigenden Höhen der Alpen und ihre erhabene Zerrissenheit, noch die warmen Schlünde und die öden Gipfel des Apennins, noch die Großartigkeit der Pyrenäen dar; seine durch die Bewegung der Gewässer entstandenen Wellenlinien zeugen von der Besänftigung der großen Katastrophe und der Ruhe, mit welcher die flüssigen Massen zurückgewichen sind.

Diese, der Mehrzahl der Erdbewegungen Frankreichs gemeinsame Physiognomie hat vielleicht ebensoviel dazu beigetragen, dem Klima die Bezeichnung sanft einzutragen, welche Europa ihm beigelegt hat. Wenn dieser flache Uebergang zwischen den Landschaften des Limousins, der Marche und der Auvergne dem Denker und Dichter, der sich der Bilder des Unendlichen bedient, den Schrecken mancher Seelen darstellt, wenn er die Frau, die sich im Wagen langweilt, in Träumerei versetzt, für den Bewohner ist diese Natur rauh, wüst und ohne Hilfsquellen. Der Boden dieser großen, grauen Planen ist undankbar. Einzig die Nachbarschaft einer Hauptstadt könnte hier das Wunder erneuern, welches während der letzten beiden Jahrhunderte in der Brie geschehen ist. Dort aber fehlen jene großen Residenzen, die manchmal solche Einöden zum Leben erwecken, wo der Landmann Lücken sieht, wo die Zivilisation seufzt, wo der Tourist weder Herbergen, noch was ihn begeistert, das Malerische, findet. Bedeutende Geister hassen solche Steppen, diese auf dem unendlich großen Gemälde der Natur notwendigen Schatten, nicht. Kürzlich hat Cooper dies so melancholische Talent, die Poesie dieser Einöden in der »Prärie« wundervoll enthüllt. Diese vom Pflanzengeschlecht vergessene Landstrecke, die unfruchtbare mineralogische Ueberreste, Kieselgeröll und tote Erdmassen bedecken, fordern die Zivilisation zum Kampfe heraus. Frankreich muß sich die Lösung solcher Schwierigkeiten angelegen sein lassen, wie die Engländer jene betreiben, welche ihnen in Schottland geboten werden, wo ihre Geduld, ihre heroische Agrikultur die trockensten Ginsterfelder in fruchtbare Pachtungen verwandelt hat. Ihrer Wüstheit und ihrem Anfangsstadium überlassen, erzeugen derartige soziale Brachfelder aus Mangel an Nahrung Entmutigung, Faulheit, Schwäche und das Verbrechen, wenn die Bedürfnisse zu laut sprechen. Diese wenigen Worte erzählen die alte Geschichte von Montégnac. Was tun, in einem weiten unbebauten Landstriche, der von der Verwaltung vernachlässigt, vom Adel aufgegeben und von der Industrie verwünscht worden ist? Krieg führen mit der Gesellschaft, die ihre Pflichten verkennt! So lebten denn die Bewohner Montégnacs ehedem von Diebstahl und Mord, wie vormals die Schotten im Hochland. Beim Anblick des Landes verstand ein Denkender sehr wohl, warum die Bewohner dieses Dorfes vor zwanzig Jahren mit der Gesellschaft im Krieg lebten. Dies große Plateau, das auf einer Seite vom Tale der Vienne, auf der anderen von den hübschen kleinen Tälern der Marche, dann der Auvergne eingeschnitten und von den Bergen der Corrèze abgesperrt wird, gleicht, abgesehen von der Landwirtschaft, der Hochebene der Beauce, welche das Loirebecken von dem Seinebecken trennt, denen der Touraine und des Berri und so vielen anderen, welche gleichsam kleine Rauten auf Frankreichs Oberfläche und zahlreich genug sind, um die Gedanken der größten Administratoren zu beschäftigen. Es ist unerhört, daß man sich über das ständige Aufsteigen der Volksmassen nach den sozialen Höhen hin beklagt, und daß eine Regierung in einem Lande, wo die Statistik mehrere Millionen Hektar Brachfeld bedauert, von denen bestimmte Teile, wie in Berri, sieben oder acht Fuß Humus haben, kein Heilmittel dafür findet! Viele dieser Ländereien, die ganze Dörfer ernähren würden, die ungeheuer fruchtbar sind, gehören widerspenstigen Gemeinden, die sich weigern, sie an Spekulanten zu verkaufen, um sich das Recht zu bewahren, hundert Kühe dort weiden zu lassen. Ueber allen diesen bestimmungslosen Ländereien steht das Wort: »Unfähigkeit« geschrieben. Jedes Land besitzt irgendeine besondere Fruchtbarkeit. Weder Arme noch guter Wille fehlen, sondern Gewissen und Verwaltungstalent. In Frankreich sind diese Hochebenen bislang den Tälern aufgeopfert worden; die Regierung hat nur da, wo die Interessen sich selber schützten, Hilfe gewährt und ihre Sorgfalt walten lassen. Den meisten solcher unglückseliger Einöden fehlt es an Wasser, dem ersten Grundstoff jeder Produktion. Die Nebel, welche diese grauen und toten Ländereien fruchtbar machen könnten, indem sie ihre Oxyde dort abladen, bestreichen sie schnell, vom Winde aus Mangel an Bäumen fortgetragen, die sie anderswo überall festhalten und ihre nebelhaften Substanzen an sich saugen. Mehrere solche ähnliche Punkte bepflanzen, hieße ihnen das Heil bringen. Von der nächsten großen Stadt durch einen für arme Leute unüberwindbaren Entfernungsraum, der eine Einöde zwischen beide legte, getrennt, hatten sie keine Abnehmer für ihre Produkte, wenn sie etwas produziert hätten, und bei einem nicht ausgebeutet werdenden Wald angesiedelt, der ihnen Holz und die unsichere Nahrung der Wilddieberei gab, waren die Bewohner den Winter über vom Hunger hart bedrängt. Da die Ländereien nicht die für Getreidebau nötigen Bedingungen besaßen, hatten die Unglücklichen weder Tiere noch Ackerbaugeräte, sie lebten von Kastanien.

Kurz, die Leute, welche, in einem Museum die Summe der zoologischen Produktionen betrachtend, die unsagbare Melancholie empfanden, die der Anblick der braunen Farben, welche die europäischen Produkte kennzeichnen, verursacht, werden vielleicht begreifen, wie sehr der Anblick solcher grauen Flächen die moralischen Anlagen durch den trostlosen Gedanken an die Unfruchtbarkeit, die sie fortwährend zur Schau stellen, beeinflussen muß. Da gibt's keine Frische, keinen Schatten, keinen Kontrast, keine Ideen, keines der Schauspiele, die das Herz erfreuen. Man möchte dort einen elenden verkümmerten Kartoffelacker ins Herz schließen, wie man es mit einem Freunde tun würde.

Eine kürzlich gebaute Bezirksstraße schlug ihren Weg durch diese Ebene ein bis zu einem Gabelungspunkte der Hauptstraße. Nach einigen Meilen stieß man am Fuße eines Hügels, wie sein Name es anzeigt, auf Montégnac, den Hauptort eines Kreises, wo einer der Bezirke der Haute-Vienne anfängt. Der Hügel fällt nach Montégnac hin ab, das in seiner Umgrenzung die Gebirgsnatur und die Natur der Ebenen zugleich besitzt. Die Gemeinde ist mit seinem Tief- und Hochland ein Schottland im kleinen. Hinter dem Hügel, an dessen Fuße der Flecken liegt, erhebt sich in einer Meile Entfernung etwa eine erste Spitze der corrèziennischen Bergkette. In diesem Zwischenräume dehnt sich der nach Montégnac genannte große Wald aus, der am Hügel von Montégnac beginnt, ihn überschreitet, die Täler und die unfruchtbaren Hänge, wo es große kahle Plätze gibt, füllt, die Bergspitze überzieht und bis an die Aubussonner Straße mit einer Zunge reicht, deren Ende an einer steilen Böschung dieser Straße verläuft. Die steile Böschung beherrscht eine Schlucht, durch welche die große Straße von Bordeaux nach Lyon führt. Oft waren Wagen, Reisende und Fußgänger im Grunde dieser gefährlichen Schlucht von Dieben aufgehalten worden, deren Handstreiche unbestraft blieben: die Lage begünstigte sie, auf ihnen bekannten Fußpfaden gewannen sie die unzugänglichen Teile des Waldes. Ein solches Land bot den Nachforschungen der Justiz wenig Handhaben. Niemand kam dorthin. Ohne Verkehr konnte sich dort weder Handel noch Industrie, noch Ideenaustausch, keine Art von Reichtum behaupten: die physischen Wunder der Zivilisation sind stets das Ergebnis angewandter Grundideen. Ständig ist der Gedanke der Ausgangs- und Endpunkt jeder Gemeinschaft. Die Geschichte von Montégnac ist ein Beweis dieses Axioms der Sozialwissenschaft. Als die Verwaltung sich mit den dringenden und materiellen Bedürfnissen des Landes befassen konnte, holzte sie die Waldzunge ab, legte dort einen Gendarmerieposten hin, der die Verkehrsmittel nach beiden Wechselstationen begleitete; doch zur Schande der Gendarmerie war es das Wort und nicht das Schwert, der Pfarrer Bonnet und nicht der Unteroffizier Chervin, welcher diese bürgerliche Schlacht gewann, indem er die Moral der Bevölkerung änderte. Dieser Pfarrer, der von religiöser Liebe für das arme Land entflammt war, versuchte es sittlich zu erneuern und kam zu seinem Ziele.

Nachdem der Abbé Gabriel eine Stunde lang durch diese bald steinigen bald staubigen Ebenen, wo die Rebhühner friedlich in Ketten leben und beim sich Nähern eines Wagens beim Auffliegen das dumpfe und schwere Geräusch ihrer Flügel hören lassen, gefahren war, sah er, wie alle Reisenden, welche hier durchgekommen sind, mit einer gewissen Freude die Dächer des Fleckens auftauchen. Beim Eingange von Montégnac ist eine jener wunderlichen Poststationen, wie man ihnen nur in Frankreich begegnet. Ihr Merkmal besteht in einem Eichenbrett, in das ein anmaßlicher Postillon folgende Worte: »Pohst und Ferde« eingegraben, sie dann mit Tinte geschwärzt und das Holz mit vier Nägeln über einem elenden Pferdestall ohne Pferde angebracht hat. Die beinahe immer offene Tür hat als Schwelle eine Planke, die in die Erde eingegraben ist, um den Stallboden, der tiefer als der des Weges liegt, vor Regenüberschwemmungen zu bewahren. Der trostlose Reisende erblickt blanke, abgescheuerte, geflickte Geschirre, die bereit sind, beim ersten Anziehen der Pferde zu zerreißen. Die Pferde sind bei der Arbeit, auf der Wiese, immer wo anders als im Stalle. Wenn sie zufällig im Stalle sind, fressen sie; wenn sie gefressen haben, ist der Postillon bei seiner Tante oder Base; fährt Heu ein oder er schläft, niemand weiß, wo er ist. Man muß warten, bis man ihn holt; er kommt erst, nachdem er sein Geschäft verrichtet hat. Wenn er angelangt ist, braucht er eine unendliche Zeit, bis er einen Rock, seine Peitsche gefunden oder seine Pferde angeschirrt hat. Auf der Hausschwelle steht eine gute dicke Frau, die immer ungeduldiger ist als der Reisende, und sich, um ihn am Loswettern zu hindern, mehr Bewegung macht, als die Pferde sich dabei machen würden. Sie stellt die Postmeisterin vor, deren Mann auf dem Felde ist.

Der Günstling Hochwürdens ließ seinen Wagen vor einem Stalle dieser Art, dessen Mauern einer Landkarte glichen und dessen Strohdach, das wie ein Beet blühte, unter der Last des Hauswurzes nachgab. Nachdem er die Meisterin gebeten hatte, alles für seine Abreise vorzubereiten, die in einer Stunde stattfinden sollte, erkundigte er sich nach dem Wege zum Pfarrhofe. Die gute Frau zeigte ihm zwischen zwei Häusern ein Gäßchen, das nach der Kirche führte, die Pfarrei war daneben.

Während der junge Abbé diesen steinbesäten und von Hecken eingefaßten Pfad hinanging, fragte die Postmeisterin den Postillon aus. Seit Limoges hatte jeder ankommende Postillon seinem abfahrenden Kollegen die Mutmaßungen des Bischofs, die von dem Hauptstadtpostillon geäußert worden waren, mitgeteilt. Daher teilten sich, während die Bewohner von Limoges aufstanden und sich über die Hinrichtung des Mörders des Vater Pingret unterhielten, auf dem ganzen Wege die Landleute die vom Bischof erlangte Begnadigung des Unschuldigen mit und schwatzten über die angeblichen Irrungen der menschlichen Gerechtigkeit. Wenn Jean-François später hingerichtet sein wird, muß er vielleicht für einen Märtyrer gehalten werden.

Nachdem er diesen, von Herbstblättern roten, von Brombeeren und Schlehen schwarzen Pfad hinaufkletternd, einige Schritte getan, drehte Abbé Gabriel sich um, durch eine unwillkürliche Regung getrieben, die uns alle überkommt, die Orte, wo wir zum ersten Male gehen, kennenzulernen, eine Art angeborener physischer Neugierde, welche die Pferde und Hunde teilen. Die Lage von Montégnac erklärte sich ihm durch einige Quellen, die der Hügel aussendet, und durch einen kleinen Fluß, an dem die Bezirksstraße entlang führt, welche den Kreishauptort mit der Präfektur verbindet. Wie alle Dörfer dieser Hochebene ist Montégnac aus an der Sonne getrocknetem und in gleiche Vierecke geformtem Lehm gebaut. Nach einem Brande kann man ein aus Ziegeln erbautes Haus finden. Die Dächer sind aus Stroh. Alles wies damals auf Armut hin. Vor Montégnac dehnten sich mehrere Roggen-, Rüben- und Kartoffelfelder aus, die der Ebene abgerungen waren. Auf dem Hügelabhang sah er einige bewässerte Wiesen, wo man die berühmten Limousiner Pferde aufzieht, die, wie es heißt, ein Vermächtnis der Araber sind, als sie über die Pyrenäen nach Frankreich kamen, um zwischen Tours und Poitiers unter den Aexten der von Karl Martell befehligten Franken zu sterben. Das Aussehen der Höhen deutete auf Trockenheit hin. Verbrannte, rötliche, heiße Plätze kündigten das trockene Erdreich an, welches die Kastanienbäume lieben. Die zur Bewässerung sorgsam verwendeten Wasserläufe belebten nur die von Kastanienbäumen umrandeten, von Hecken eingeschlossenen Wiesen, wo jenes zarte und seltene, beinahe zuckersüße Gras wächst, das jene Rasse stolzer und kostbarer Pferde hervorbringt, die bei Strapazen wenig Widerstand zeigen, doch an den Orten, wo sie geboren werden, ganz ausgezeichnet sind, sich jedoch verändern, wenn man sie verpflanzt. Einige erst kürzlich gepflanzte Maulbeerbäume wiesen auf die Absicht hin, Seidenraupen zu züchten. Wie die meisten Dörfer der Welt hatte Montégnac nur eine einzige Straße, durch welche die Fahrstraße ging. Aber es gibt ein oberes und ein unteres Montégnac, beide durch Gassen getrennt, die im rechten Winkel auf die Straße stoßen. Eine Reihe Häuser, die auf dem Hügelrücken stehen, bietet den heiteren Anblick stufenweise ansteigender Gärten; ihr Eingang von der Straße her machte mehrere Stufen nötig; die einen hatten sie aus Erde, andere mit Steinbelag, und hier und da saßen einige alte Frauen, spinnend oder die Kinder betreuend, belebten die Szene, stellten den Verkehr zwischen dem oberen und unteren Montégnac her, indem sie sich über die gewöhnlich friedliche Straße weg unterhielten, und schickten sich schnell die Neuigkeiten von einem Ende zum anderen Ende des Fleckens zu. Die Gärten, voller Obstbäume, voll Kohl, Zwiebeln und Gemüse, hatten alle längs ihren Terrassen Bienenkörbe stehen. Dann erstreckte sich noch eine andere Häuserreihe mit Gärten nach dem Flusse hin, dessen Lauf durch prachtvolle Hanffelder und die Obstbäume, die feuchtes Erdreich bevorzugen, angezeigt wurde, in gleichlaufender Richtung. Mehrere, wie die Post, standen in einer Bodensenkung und begünstigen so die Industrie einiger Leinweber. Fast alle wurden von Nußbäumen beschattet, dem Baume kräftigen Erdbodens. Auf dieser Seite, an dem der weiten Ebene entgegengesetzten Ende, stand eine Behausung, die umfangreicher und gepflegter als die anderen war, um die sich andere gleichfalls gut instand gehaltene Häuser gruppierten. Dieser vom Flecken durch seine Gärten getrennte Weiler hieß bereits les Tascherons, ein Name, den er noch heute bewahrt hat. Die Gemeinde an sich war klein, es gehörten aber zu ihr einige dreißig zerstreut liegende Meiereien. Im Tale gegen den Fluß zu kündigten einige Schleppkähne, ähnlich denen in der Marche und im Berri, die Wasserläufe an, die ihre grünen Säume um die wie ein Schiff auf hoher See dort hingeworfene Gemeinde zeichneten. Wenn ein Haus, eine Besitzung, ein Dorf, ein Land aus einem beklagenswerten Zustande in einen befriedigenden, aber weder glänzenden noch gar reichen, übergegangen sind, kann der Betrachter beim ersten Sehen die ungeheueren, an Geringfügigkeiten unendlich großen, an Beharrlichkeit gewaltigen Anstrengungen, die in den Fundamenten begrabene Arbeit und die vergessenen Mühsale, auf denen die anfänglichen Veränderungen sich aufbauen, nie überblicken. So schien denn auch dies Schauspiel für den jungen Abbé nichts Außerordentliches an sich zu haben, als er diese anmutige Landschaft mit einem Blicke umfing. Er kannte ja den Zustand des Landes vor Pfarrer Bonnets Ankunft nicht. Er ging, den Pfad beibehaltend, noch einige Schritte weiter, und erblickte bald wieder einige hundert Meter weiter oberhalb der zu den Häusern des oberen Montégnac gehörenden Gärten, Kirche und Pfarrhof, die er von weitem zuerst gesehen hatte, unordentlich verbunden mit den mächtigen und von Schlinggewächsen überzogenen Ruinen des alten Kastells von Montégnac, eine der Residenzen der Navarra im zwölften Jahrhundert. Der Pfarrhof, ein Haus, das ursprünglich zweifelsohne für den Hauptwächter oder den Verwalter erbaut worden war, kündigte sich durch eine lange lindenbestandene Terrasse an, von wo aus der Blick über das Land schweifte. Die Treppe dieser Terrasse und die Mauern, die sie stützten, waren von einem Alter, welches durch die Verheerungen der Zeit bestätigt wurde. Zwischen den durch die unmerkliche, aber ständige Kraft der Vegetation von ihrem Platze fortgeschobenen Treppensteinen wucherten hohe Gräser und Unkräuter. Das flache Moos, das sich an Steinen festhaftet, hatte seinen dragonergrünen Teppich über jede Stufenoberfläche gebreitet. Die zahlreichen Familien der Mauerkräuter, Kamille und Venushaar kamen in mannigfaltigen und üppigen Büscheln zwischen den Abzugslöchern der Mauer, die trotz ihrer Dicke rissig war, heraus. Die Botanik hatte dort die anmutigste Stickerei aus schöngeformten Farnkräutern, veilchenblauen Wolfsmäulern mit goldenem Stempel, blauen Natterköpfen, braunen Kryptogamen so schön gebildet, daß der Stein eine Nebensache zu sein schien und den frischen Teppich nur in sparsamen Zwischenräumen durchlöcherte. Auf dieser Terrasse entwarf der Buchsbaum die geometrische Figuren eines Lustgartens, der das Pfarrhaus einrahmte, über welchem der Fels einen weißlichen, gefiederartig mit kümmerlichen schiefen Bäumen bestandenen Saum bildete. Die Schloßruinen beherrschten sowohl dieses Haus als auch die Kirche. Das aus Feldsteinen und Mörtel aufgeführte Pfarrhaus hatte einen Stock, der von einem weitausladenden hohen Dache mit zwei Giebeln überragt wurde, unter dem sich geräumige, nach dem Zustande zu schließen, zweifelsohne leere Speicher hinzogen. Das Erdgeschoß bestand aus zwei Zimmern, die durch einen Korridor getrennt wurden, in dessen Hintergrunde eine Holztreppe war, auf der man in den ersten Stock stieg, der sich gleichfalls aus zwei Räumen zusammensetzte. Eine kleine Küche war an dies Gebäude auf der Hofseite angelehnt, wo man einen Pferdestall und einen Kuhstall sah, beide völlig leer, zwecklos, aufgegeben. Der Gemüsegarten trennte das Haus von der Kirche. Eine zerfallene Galerie führte vom Pfarrhof in die Sakristei. Als der junge Abbé die vier bleigefaßten Fenster, die braunen und moosigen Mauern und die rohe Holztür des Pfarrhauses sah, die rissig war wie ein Paket Streichhölzer, war er weit davon entfernt, durch die anbetungswürdige Naivität dieser Einzelheiten, durch die Anmut der Vegetation, welche die Dächer, die verfaulten, hölzernen Fensterbrüstungen und die Ritzen schmückte, aus denen üppige Schlinggewächse wucherten, durch die gezogenen Weinstöcke, deren gabelige Ranken und Träubchen in die Fenster hingen, wie um heitere Gedanken hineinzutragen, gefesselt zu sein, sondern fühlte sich sehr glücklich, später einmal wahrscheinlich Bischof zu sein statt Dorfpfarrer. Das immer offene Haus schien allen Leuten zu gehören. Abbé Gabriel trat in den Saal, der mit der Küche in Verbindung stand, und sah dort einen ärmlichen Hausrat: einen Tisch mit vier gedrehten Säulen aus alter Eiche, einen Sessel mit Stickereibezug, Stühle ganz aus Holz, eine Truhe als Anrichte. Niemand, außer einer Katze, die eine Frau in der Wohnung vermuten ließ, war in der Küche. Der andere Raum diente als Besuchszimmer. Die Täfelung und die Deckenbalken bestanden aus ebenholzschwarzem Kastanienholz. Dort gab's eine Uhr in einem blumenbemalten Kasten, einen mit einem abgenutzten grünen Teppich bedeckten Tisch, einige Stühle, und auf dem Kamin zwei Leuchter, zwischen denen ein wächsernes Jesuskind unter einem Glassturze stand. Der mit plumpen Holzschnitzereien bekleidete Kamin war hinter einem papierenen Ofenschirm versteckt, auf dem der gute Hirte mit seinem Lamm auf der Schulter dargestellt worden war, zweifelsohne ein Geschenk, durch das die Bürgermeister- oder Friedensrichtertochter die ihrer Erziehung gewidmete Sorgfalt dankbar hatte anerkennen wollen. Der klägliche Zustand des Hauses war peinlich anzusehen; die ehemals mit Kalk geweißten Mauern waren stellenweise entfärbt und in Manneshöhe durch Scheuern grau. Die Treppe mit dicken Geländerdocken und hölzernen, aber doch sauber gehaltenen Stufen, schien unter den Füßen beben zu müssen. Im Hintergrunde, der Eingangstür gegenüber, erlaubte eine andere nach dem Gemüsegarten sich öffnende Tür dem Abbé de Rastignac die geringe Tiefe dieses Gartens zu ermessen. Er war eingeschachtelt wie in eine in den weißlichen und leichtbröckelnden Stein des Gebirges eingeschnittene Befestigungsmauer, die reiche Spaliere, schlecht gehaltene Weingeländer bekleideten, deren sämtliche Blätter von Aussatz zerfressen waren. Er kehrte um, ging auf und ab in den Alleen des ersten Gartens, von wo aus sich seinen Augen über das Dorf hinaus der köstliche Anblick des Tales eröffnete, eine wirkliche Oase, an dem Rande unendlicher Ebenen gelegen, die durch leichte Morgennebel verschleiert, einem ruhigen Meere glichen.

Im Rücken erblickte man auf einer Seite die weiten dunkelschattierten Gegenstellungen des bronzefarbnen Waldes; auf der anderen die Kirche und die auf dem Felsen sich brüstenden Schloßruinen, welche sich aber lebhaft von dem Blau des Aethers abhoben. Indem er unter den Schritten den Sand der kleinen, stern-, kreis- und rautenförmig gezogenen Wege knirschen machte, überschaute Abbé Gabriel nach und nach das ganze Dorf, dessen in Gruppen zusammenstehende Bewohner ihn bereits prüfend ansahen, dann das frische Tal mit seinen Dornenwegen und seinen weidenbestandenen Fluß, das einen so großen Gegensatz zu der Unendlichkeit der Flächen bildete.

Da wurde er von Empfindungen überströmt, welche die Natur seiner Gedanken änderten, er bewunderte die Ruhe der Orte, er wurde dem Einflusse dieser reinen Luft und dem Frieden unterworfen, den die Offenbarung eines auf die biblische Einfachheit zurückgeführten Lebens einflößte. Undeutlich mutmaßte er die Schönheiten dieser Pfarrei, in die er wieder hineinging, um die Einzelheiten mit einer ernsthaften Neugier zu betrachten. Ein kleines, zweifelsohne mit der Beaufsichtigung des Hauses betrautes Mädchen, das aber damit beschäftigt war, im Garten zu naschen, hörte auf den großen Fliesen, mit denen die beiden unteren Räume belegt waren, die Schritte eines Mannes in knarrenden Stiefeln: sie kam. In ihrer Scheu, mit einer Frucht in der Hand, einer anderen zwischen den Zähnen überrascht worden zu sein, antwortete sie nicht auf die Fragen des schönen, jungen und artigen Abbés. Nimmer hätte die Kleine geglaubt, daß es einen derartigen Abbé geben könnte, dessen Batistwäsche blendete, der wie geleckt aussah und in schönes flecken- und faltenloses schwarzes Tuch gekleidet war. »Monsieur Bonnet?« sagte sie schließlich. »Monsieur Bonnet liest die Messe und Mademoiselle Ursule ist in der Kirche.«

Der Abbé Gabriel hatte die Galerie noch nicht gesehen, die das Pfarrhaus mit der Kirche verband; er ging auf den Pfad zurück, um von dort aus durchs Hauptportal einzutreten. Diese Art Portikus mit Schutzdach blickte auf das Dorf; man gelangte auf steinernen, schlechtgefegten und abgenutzten Stufen hinein, die einen durch Gewässer ausgewaschenen und mit jenen hohen Ulmen bestandenen Platz beherrschten, deren Pflanzung von dem Protestanten Sully befohlen worden war. Die Kirche, eine der armseligsten Frankreichs, wo es doch sehr viele armselige gibt, glich jenen Riesenspeichern, die über ihrer Tür ein vorragendes Dach haben, das von Holz- oder Ziegelpfeilern gestützt wird. Wie das Pfarrhaus aus Feldstein und Mörtel aufgeführt, von einem viereckigen Glockenturm ohne Spitze und mit dicken runden Ziegeln bedeckt flankiert, hatte die Kirche als äußeren Schmuck die reichsten Schöpfungen der Skulptur, die aber von Licht und Schatten bereichert, von der Natur, die sich ebensogut darauf verstand wie Michelangelo, hervorgehoben, gruppiert und gefärbt worden waren.

Von zwei Seiten umspannte der Efeu die Mauern mit seinen nervigen Zweigen, indem er durch sein Blattwerk ebensoviele Adern zeichnete, wie sich auf einer Muskelfigur befinden. Dieser Mantel, von der Zeit angelegt, um die Wunden zu bedecken, die sie geschlagen hatte, war durch die Herbstblumen buntfarbig gemacht, die in den Spalten wuchsen und gewährte den Singvögeln ein Asyl. Das Rosettenfenster über dem Schutzdache der Vorhalle war wie die erste Seite eines reichgemalten Missales, von Glockenblumen eingehüllt. Die mit dem Pfarrhause zusammenhängende Nordseite war weniger beblümt. Die Mauer blickte dort grau und rot durch große Steilen, wo sich Moosmassen ausbreiteten. Die andere Seite aber und die Chorhaube, die vom Friedhof umgeben waren, zeigten üppige und manigfaltige Blumenflächen. Einige Bäume, darunter ein Mandelbaum, eins der Embleme der Hoffnung, hatten sich in den Spalten eingenistet. Zwei riesige, an die Chorhaube angeschmiegte Pinien dienten als Blitzableiter. Der Kirchhof war von einer kleinen zerfallenen Mauer umgeben, die ihre eigenen Trümmer in Brusthöhe zusammenhielten, und hatte ein auf einem Sockel errichtetes Eisenkreuz als Zierde, das mit Buchs geschmückt worden war, der in einem jener rührenden, in der Stadt vergessenen christlichen Gedanken zu Ostern geweiht worden sein mochte. Der Dorfpfarrer ist der einzige Priester, der zu seinen Toten am Tage der österlichen Wiederauferstehung sagt: Ihr werdet glücklich von neuem leben. Hier und da ragten einige verfaulte Kreuze aus den grasbedeckten Hügeln.

Das Innere stand in vollem Einklange mit der poetischen Vernachlässigung dieses bescheidenen Aeußeren, dessen Luxus durch die einmal barmherzige Zeit zugestanden worden war. Inwendig heftete sich das Auge zuerst auf die Bedachung, die immer mit Kastanienholz verschalt war, dem das Alter die reichsten Töne der alten Hölzer Europas gegeben hatte, und die in gleichen Abständen kräftige, auf Querbalken ruhende Stützpfeiler hielten. Die vier mit Kalk geweißten Mauern hatten keinen Schmuck. Das Elend machte die Gemeinde zu Bilderstürmern, ohne daß sie es wußte. Die mit Fliesen ausgelegte und mit Bänken versehene Kirche wurde durch vier spitzbogige Seitenfenster mit bleigefaßten Scheiben erhellt. Der Altar, in Form eines Sarkophags, hatte über einem Nußbaumtabernakel mit einigen sauberen und blinkenden Schnitzereien ein großes Kruzifix als einzigen Schmuck, daneben acht Leuchter aus weißgemaltem Holz mit spärlichen Kerzen, dann zwei Porzellanvasen voll künstlicher Blumen, die der Portier eines Wechselmaklers verschmäht haben würde und mit denen Gott sich zufrieden gab. Die Lampe des Allerheiligsten war ein Nachtlicht, das man in einen tragbaren Weihwasserkessel aus versilbertem Kupfer gestellt hatte, sie hing an Seidenkordeln, die aus irgendeinem zerstörten Schlosse stammten. Das Taufbecken bestand aus Holz, wie der Altar und eine Art von Stuhl für die Kirchenvorsteher, die Patrizier des Fleckens. Ein Altar der heiligen Jungfrau bot der allgemeinen Bewunderung zwei kolorierte Lithographien, die in kleine Goldleisten eingerahmt waren. Er war weiß gestrichen, mit künstlichen Blumen geschmückt, die in vergoldete gedrechselte Holzvasen gesteckt worden waren, und mit einem mit erbärmlichen roten Spitzen besetzten Tuche bedeckt. Im Hintergrunde der Kirche war ein langes Fenster; man hatte es mit einem langen Vorhang aus rotem Zitz bedeckt, was eine magische Wirkung erzeugte. Dieser reiche Purpurmantel warf einen rosigen Farbenton auf die geweißten Mauern: ein göttlicher Gedanke schien vom Altar auszugehen und das armselige Kirchenschiff zu umfangen, um es zu erwärmen. Der Wandelgang, welcher nach der Sakristei führte, zeigte an einer seiner Wände den Schutzheiligen des Dorfes, einen großen St. Johannes mit seinem Lamm, der aus Holz geschnitzt und fürchterlich bemalt war. Trotz so vieler Armut gebrach es der Kirche nicht an sanften Harmonien, die schönen Seelen wohlgefallen und die Farben so gut hervortreten lassen. Das reiche Braun des Holzes hob sich wundervoll von dem reinen Weiß der Wände ab und vereinigte sich ohne Mißton mit dem auf die Chorhaube fallenden triumphierenden Purpur. Diese strenge Dreieinigkeit der Farben erinnerte an den großen katholischen Gedanken. Beim Anblick dieses armseligen Gotteshauses folgte, wenn das erste Gefühl Ueberraschung war, eine mit Mitleid vermischte Bewunderung: drückte es nicht das Elend des Landes aus? Stimmte es nicht mit der naiven Einfachheit des Pfarrhauses überein? Im übrigen war es sauber und gutgehalten. Man atmete dort gleichsam einen Duft ländlicher Tugenden ein; nichts verriet dort Ueberfluß. Obwohl es ländlich und einfach war, wurde es vom Gebet bewohnt, besaß es eine Seele, das fühlte man, ohne sich das Wie erklären zu können.

Abbé Gabriel schlich sich leise, um die Andacht zweier Gruppen nicht zu stören, die auf den Bänken saßen, zum Hauptaltar, der vom Schiffe an der Stelle, wo die Lampe hing, durch eine ziemlich plumpe, ebenfalls aus Kastanienholz bestehende Balustrade getrennt und mit der für die Kommunion bestimmten Decke geschmückt war. Auf jeder Seite des Schiffs saßen etwa zwanzig in heißeste Gebete versenkte Bauern und Bäuerinnen und gaben nicht acht auf den Fremden, als er den engen Gang hinaufging, der beide Bankreihen voneinander trennte. Als er unter der Lampe angekommen war, einer Stelle, von der aus man die beiden kleinen Schiffe, die das Kreuz bildeten, von denen eines nach der Sakristei, das andere nach dem Friedhof führte, übersehen konnte, bemerkte Abbé Gabriel auf der Kirchhofseite eine in Schwarz gekleidete und auf den Fliesen kniende Familie; diese beiden Teile der Kirche hatten keine Bänke. Der junge Abbé kniete auf dem Balustradengang nieder, der den Chor vom Schiffe trennte, und fing an zu beten, indem er mit einem Seitenblick das Schauspiel prüfte, das sich ihm bald erklärte. Das Evangelium war gelesen. Der Pfarrer legte das Meßgewand ab und stieg vom Altar herunter, um nach der Balustrade zu kommen. Der junge Abbé sah diesen Moment voraus und lehnte sich an die Mauer, ehe Monsieur Bonnet ihn sehen konnte. Es schlug zehn Uhr.

»Liebe Brüder,« sagte der Pfarrer mit einer bewegten Stimme, »in diesem selben Augenblick soll ein Kind unserer Gemeinde der menschlichen Gerechtigkeit seine Schuld bezahlen, indem es die Todesstrafe erleidet; wir bieten das heilige Meßopfer für die Ruhe seiner Seele dar. Laßt uns unsere Gebete vereinigen, um bei Gott zu erlangen, daß er dies Kind in seinen letzten Augenblicken nicht verläßt, und daß seine Reue ihm im Himmel die Gnade erwirbt, die man ihm hier unten verweigert. Das Verderben dieses Unglücklichen, der einer von denen war, auf die wir am meisten gerechnet haben, um gute Beispiele zu geben, kann nur dem Verkennen der religiösen Grundsätze zugeschrieben werden . . .«

Der Pfarrer wurde durch das Schluchzen unterbrochen, welches von der in Trauergewänder gekleideten Familie gebildeten Gruppe ausging, und in welcher der junge Priester an diesem Uebermaße von Herzeleid die Familie Tascheron erkannte, ohne sie jemals gesehen zu haben. Zuerst waren da gegen die Wand geschmiegt zwei greise, mindestens siebzigjährige Leute mit tieffaltigen und unbeweglichen Gesichtern, die wie Florentiner Bronzen gebräunt waren. Die beiden Personen, stoisch aufrechtstehend wie Statuen in ihren alten geflickten Gewändern, mußten des Verurteilten Großvater und Großmutter sein. Ihre roten und glasigen Augen schienen Blut zu weinen, ihre Arme zitterten so sehr, daß die Stöcke, auf die sie sich stützten, ein leises Geräusch auf den Fliesen vollführten. Bei ihnen zerflossen Vater und Mutter, das Gesicht in ihren Taschentüchern verborgen, in Tränen. Um diese vier Familienhäupter scharten sich kniend zwei verheiratete Töchter mit ihren Ehemännern. Fünf kniende kleine Kinder, deren ältestes kaum sieben Jahre alt war, verstanden zweifelsohne nicht, worum es sich handelte, sie blickten umher, hörten mit der anscheinend stumpfen Neugierde zu, welche dem Bauern eigentümlich, aber die bis zur äußersten Spitze getriebene Beobachtung der physischen Dinge ist. Endlich die auf das Verlangen der Justiz eingekerkerte arme Tochter, die zuletzt gekommene, jene Denise, eine Märtyrerin ihrer Bruderliebe, lauschte mit einer Miene, die Verwirrung und Ungläubigkeit zugleich ausdrückt. Wunderbar stellte sie jene der drei Marien dar, die nicht an Christi Tod glaubt, obwohl sie den Todeskampf mit erleidet. Bleich, mit trocknen Augen, wie die von Leuten, die viel gewacht haben, hatte ihre Frische weniger durch die ländlichen Arbeiten als durch den Kummer gelitten; aber sie besaß noch die Schönheit der Landmädchen, derbe und volle Formen, schöne rote Arme, ein ganz rundes Gesicht und klare Augen, die in diesem Augenblick vom Blitze der Verzweiflung entzündet waren. Unter dem Halse zeigte ein festes und weißes Fleisch, das die Sonne nicht gebräunt hatte, an mehreren Stellen eine reiche Hautfarbe und eine verborgene Weiße. Die beiden verheirateten Töchter weinten, ihre Männer, geduldige Landwirte, waren ernst. Die drei anderen Söhne hielten ihre Augen tieftraurig auf die Erde gesenkt. Auf diesem furchtbaren Gemälde der Ergebung und des hoffnungslosen Schmerzes zeigten Denise und ihre Mutter allein eine aufrührerische Farbe. Die anderen Bewohner nahmen teil an dem Kummer dieser respektablen Familie durch ein aufrichtiges und frommes Mitleid, das allen Gesichtern den gleichen Ausdruck verlieh, und der sich bis zum Entsetzen steigerte, als der Pfarrer durch seine Worte zu verstehen gab, daß in diesem Augenblicke das Messer auf den Kopf des jungen Mannes fiele, den alle kannten, hatten geboren werden sehen, und der Begehung eines Verbrechens gewißlich für unfähig gehalten hatten. Die Schluchzer, welche die einfache und kurze Ansprache unterbrachen, die der Priester an seine Pfarrkinder halten mußte, verstörten ihn derartig, daß er sofort aufhörte, indem er sie zu einem inbrünstigen Gebete aufforderte. Obwohl dies Schauspiel nicht solcher Natur war, einen Priester zu überraschen, war Gabriel de Rastignac doch zu jung, um nicht tief gerührt zu sein. Er hatte das Priesteramt noch nicht ausgeübt, wußte sich zu anderen Schicksalen berufen; er hatte nicht durch alle sozialen Breschen zu gehen, wo einem das Herz angesichts der Leiden, die sie anfüllen, blutet; seine Mission war die des hohen Klerus, der den Opfergeist unterstützt, die bedeutende Intelligenz der Kirche darstellt und bei glänzenden Gelegenheiten dieselben Tugenden auf größeren Schaubühnen entfaltet, wie die berühmten Bischöfe von Marseille und Meaux, wie die Erzbischöfe von Arles und Cambrai.

Diese kleine Schar weinender Landleute, die für den beteten, den sie auf einem großen öffentlichem Platze hingerichtet zu werden wähnten, vor Tausenden von Leuten, die von allen Seiten herbeigeströmt waren, um die Todesstrafe durch eine ungeheure Schande noch zu vergrößern, dies schwache Gegengewicht von Sympathien und Gebeten, die dieser Menge wilder Neugierden und gerechter Verwünschungen entgegenstand, war solcherart, daß es, besonders in dieser armen Kirche, ihn rühren mußte. Abbé Gabriel fühlte sich versucht zu den Tascheron zu sagen: »Euer Sohn, euer Bruder hat einen Aufschub erhalten!« hatte aber Furcht, die Messe zu stören; überdies wußte er, daß diese Frist die Hinrichtung nicht verhindern würde. Anstatt dem Gottesdienste zu folgen, sah er sich unwiderstehlich gezwungen, den Seelenhirten zu beobachten, von welchem man das Bekehrungswunder des Verbrechers erwartete.

Nach dem Muster des Pfarrhofs hatte Gabriel de Rastignac sich ein imaginäres Bild des Pfarrers Bonnet gemacht: ein dicker und kurzer Mann, mit starkem und rotem Gesicht, ein halbbäuerlicher harter, von der Sonne verbrannter Arbeiter. Weit davon entfernt begegnete der Abbé seinesgleichen. Von kleiner und anscheinend schwacher Figur überraschte Monsieur Bonnet zuerst durch das leidenschaftliche Gesicht, welches man sich bei dem Apostel denkt: ein fast dreieckiges Antlitz, das mit einer breiten, von Falten durchfurchten Stirn begann und von den Schläfen bis zur Spitze des Kinns mit den beiden mageren Linien abschloß, welche sich auf seinen hohlen Wangen abzeichneten. In diesem Antlitze, das durch eine wie das Wachs einer Kerze gelbe Hautfarbe schmerzvergrämt war, glänzten zwei blaue Augen, die von Glauben strahlten und von lebhafter Hoffnung brannten. Es war gleichmäßig geteilt durch eine lange, schwache und gerade Nase mit gut geschnittenen Nüstern, unter der ständig, auch wenn er geschlossen war, ein breiter Mund mit hervortretenden Lippen sprach, und aus dem eine jener zu Herzen gehenden Stimmen drang. Das kastanienbraune, spärliche, feine und glatt über den Kopf gekämmte Haar zeigte eine schwache Leibesbeschaffenheit an, die einzig durch eine nüchterne Lebensweise aufrecht erhalten wurde. Der Wille machte die ganze Kraft dieses Mannes aus. Das waren seine Kennzeichen. Seine kurzen Hände hätten bei jedem anderen einen Hang zu derben Vergnügungen angekündigt, und vielleicht hatte er wie Sokrates seine bösen Neigungen besiegt. Seine Magerheit war anmutlos: seine Schultern traten zu sehr hervor und seine Knie waren nach einwärts gebogen. Der im Verhältnis zu den Extremitäten zu sehr entwickelte Oberkörper verlieh ihm das Aussehen eines buckellosen Buckligen. Alles in allem, er mußte mißfallen. Leute, denen die Wunder des Gedankens, des Glaubens und der Kunst bekannt sind, können allein jenen entflammten Blick des Märtyrers, jene Blässe der Beharrlichkeit und jene Stimme der Liebe anbeten, die den Pfarrer Bonnet auszeichnete. Dieser der anfänglichen Kirche würdige Mann, die nur noch auf den Bildern des XVI. Jahrhunderts und auf den Seiten des Martyrologiums vorhanden ist, war mit dem Siegel der menschlichen Größen, die sich am meisten den göttlichen Größen nähern, durch die Ueberzeugung gestempelt worden, deren unerklärliches Relief die gewöhnlichsten Gesichter verschönt, das Antlitz der sich irgendeinem Kult widmenden Menschen mit einer heißen Farbe vergoldet, wie es mit einer Art von Licht das Gesicht der von irgendeiner schönen Liebe verklärten Frau begabt. Die Ueberzeugung ist der zu seiner größten Macht gelangte menschliche Wille. Wirkung und Ursache zugleich, macht sie auf die kältesten Gemüter Eindruck, ist sie wie eine Art stummer Beredsamkeit, welche die Menge packt.

Als er vom Altar hinunterstieg, begegnete der Pfarrer Abbé Gabriels Blick; er erkannte ihn wieder; und als der Sekretär des Bischofs sich in der Sakristei einfand, war Ursule, welcher ihr Herr bereits seine Befehle erteilt hatte, allein dort und lud den jungen Abbé ein, ihr zu folgen.

»Mein Herr,« sagte Ursule, eine Frau im kanonischen Alter, als sie den Abbé Rastignac durch die Galerie in den Garten führte, »der Herr Pfarrer hat mir gesagt, ich sollte Sie fragen, ob Sie gefrühstückt hätten. Sehr zeitig haben Sie von Limoges aufbrechen müssen, um zehn Uhr hier zu sein, ich will daher alles zum Frühstück vorbereiten. Der Herr Abbé wird freilich Hochwürdens Tisch hier nicht vorfinden, wir wollen jedoch unser Bestes tun. Monsieur Bonnet wird nicht lange auf sich warten lassen, er ist die armen Leute . . . die Tascheron . . . trösten gegangen . . . Heute ist der Tag, wo ihr Sohn ein sehr furchtbares Ende findet . . .«

»Aber wo liegt denn dieser braven Leute Haus?« sagte Abbé Gabriel endlich. »Ich muß Monsieur Bonnet sofort auf Hochwürdens Befehl nach Limoges bringen. Der Unglückliche wird heute nicht hingerichtet werden; Hochwürden hat einen Aufschub erlangt . . .«

»Ach,« sagte Ursule, der die Zunge juckte, da sie eine solche Nachricht unter die Leute bringen konnte, »der Herr hat wohl Zeit, ihnen diesen Trost zu bringen, während ich das Frühstück fertigmache. Das Haus der Tascheron liegt am Ende des Dorfes. Gehen Sie dem Pfad nach, der unten an der Terrasse entlang führt, er wird Sie hinbringen.«

Als Ursule den Abbé Gabriel aus den Augen verloren hatte, ging sie, um diese Neuigkeit zu verbreiten, ins Dorf hinunter, indem sie die zum Frühstück nötigen Sachen dort zusammenholte.

Der Pfarrer hatte in der Kirche kurz von einem verzweifelten Entschlusse gehört, welcher den Tascheron durch die abschlägige Bescheidung des Gnadengesuchs eingegeben worden war. Die braven Leute verließen das Land und sollten an diesem Morgen den Preis für ihre vorher verkauften Güter erhalten. Der Verkauf hatte Verzug und von ihnen nicht vorhergesehene Formalitäten gefordert. So waren sie nach Jean-François' Verurteilung gezwungen gewesen, im Lande zu bleiben, und jeder Tag hatte für sie einen Kelch der Bitterkeit bedeutet, der getrunken werden mußte. Dieser so heimlich bewerkstelligte Plan wurde erst am Vorabend des Tages bekannt, an dem die Hinrichtung stattfinden sollte. Die Tascheron hatten vor diesem verhängnisvollen Tage abreisen zu können geglaubt; der Käufer ihrer Besitztümer aber war im Bezirke fremd, ein Correziner, dem ihre Gründe gleichgültig gewesen wären, und der überdies Verzögerungen beim Eingange seiner Gelder erlitten hatte. So war denn die Familie genötigt gewesen, ihr Unglück bis zum Ende auszukosten. Das Gefühl, welches diese Auswanderung diktierte, war in diesen einfachen, an Gewissensausgleiche so wenig gewöhnten Leuten so stark, daß der Großvater und die Großmutter, die Töchter mit ihren Ehemännern, der Vater und die Mutter, alles, was den Namen Tascheron trug oder mit ihnen nahe verbunden war, das Land verließ. Diese Auswanderung machte der ganzen Gemeinde Kummer. Der Bürgermeister hatte den Pfarrer gebeten, die armen Leute zurückzuhalten zu suchen. Dem neuen Gesetze nach ist der Vater nicht mehr verantwortlich für den Sohn und des Vaters Verbrechen befleckte seine Familie nicht mehr. In Uebereinstimmung mit bürgerlichen Gleichstellungen, welche die väterliche Macht so sehr geschwächt haben, ließ dies System den Individualismus, der die moderne Gesellschaft verschlingt, triumphieren. So sieht denn auch, wer an Zukunftsdinge denkt, den Familiengeist da vernichtet, wo die Herausgeber des neuen Gesetzbuches den freien Willen und die Gleichheit aufgestellt haben. Da sie notwendigerweise vergänglich ist, unaufhörlich geteilt wieder zusammengesetzt wird, um sich abermals aufzulösen, und ohne Band zwischen Zukunft und Vergangenheit ist, gibt es die Familie von ehedem in Frankreich nicht mehr. Die, welche die Zerstörung des alten Gebäudes vorgenommen haben, sind logisch vorgegangen, indem sie auch die Güter der Familien teilten, indem sie die väterliche Autorität verminderten, da sie ja jedes Kind zum Haupte einer neuen Familie machten, und indem die großen Verantwortlichkeiten unterdrückt wurden. Ist aber der soziale Staat ebenso solide mit seinen jungen, noch nicht lange erprobten Gesetzen, als es die Monarchie mit ihren alten Mißbräuchen war? Dadurch daß sie die Familiensolidarität verlor, ist der Gesellschaft jene fundamentale Macht abhandengekommen, die Montesquieu entdeckt und »die Ehre« genannt hatte. Sie hat alles isoliert, um besser zu herrschen, alles geteilt, um zu schwächen. Sie herrscht über Einheiten, über wie Getreidekörner auf einen Haufen zusammengeschüttete Zahlen. Können Allgemeininteressen Familien ersetzen? Die Zeit hat das Wort in dieser großen Frage. Nichtsdestoweniger besteht das alte Gesetz weiter, es hat so tiefe Wurzeln gefaßt, daß man deren starke in den Volksschichten noch finden kann. Es gibt Provinzwinkel, wo es das, was man Vorurteil nennt, noch gibt, wo die Familie unter dem Verbrechen eines seiner Kinder oder eines seiner Väter mit zu leiden hat. Dieser Glaube machte das Land für die Tascheron unbewohnbar. Ihre tiefe Religiosität hatte sie am Morgen in die Kirche geführt; war es denn möglich, ohne daran teilzunehmen, die Messe lesen zu lassen, die man Gott darbot, um ihn zu bitten, ihrem Sohne eine Reue einzuflößen, die ihn dem ewigen Leben wiedergäbe, und mußten sie außerdem nicht dem Altare ihres Dorfes Lebewohl sagen? Der Plan aber war ausgeführt worden. Als der Pfarrer, der ihnen folgte, in das Haupthaus eintrat, fand er die Reisebündel geschnürt. Der Käufer erwartete mit seinem Gelde die Verkäufer. Der Notar machte gerade die Quittungen fertig. Im Hofe, hinter dem Hause, stand ein angeschirrter Wagen, der die Alten und Jean-François' Mutter mit dem Gelde fortfahren sollte. Der Rest der Familie wollte in der Nacht zu Fuß wandern.

Im Augenblick, da der junge Abbé in das niedrige Zimmer trat, wo all die Persönlichkeiten vereinigt waren, hatte der Pfarrer von Montégnac schon alle Hilfsquellen seiner Beredsamkeit erschöpft. Die beiden Alten, gefühllos in ihrem Schmerz, hatten sich in einem Winkel auf ihre Säcke gekauert und betrachteten ihr altes Erbhaus, seine Möbel und den Käufer, dann sahen sie sich gegenseitig an wie um zu sagen: »Hätten wir jemals geglaubt, daß uns ein derartiges Ereignis treffen könnte?« Diese alten Leute, die ihrem Sohne ihre Autorität schon lange übergeben hatten, waren wie alte Könige nach ihrer Abdankung zu der passiven Rolle der Untertanen und Kinder herabgestiegen. Tascheron stand aufrecht, er hörte den Pastor an, dem er mit leiser Stimme einsilbige Worte erwiderte. Dieser etwa achtundvierzigjährige Mann, hatte jenes schöne Gesicht, das Tizian für alle seine Apostel gefunden hat: ein Antlitz voller Treue, ernster und nachdenklicher Billigkeit, ein strenges Profil, eine im rechten Winkel geschnittene Nase, blaue Augen, eine edle Stirn, regelmäßige Züge, kurze schwarze, hochstehende Haare, die mit jener Gleichmäßigkeit gewachsen waren, welche den durch die Arbeiten im vollen Lichte gebräunten Gesichtern Reiz verleiht. Leicht war zu merken, daß die Reden des Pfarrers an einem unbeugsamen Willen machtlos abprallten. Denise hatte sich an den Backtrog gelehnt und sah den Notar an, der sich dieses Möbels als Schreibtisch bediente, und dem man den Sessel der Großmutter gegeben hatte. Der Käufer saß auf einem Stuhle neben dem Notar. Die beiden verheirateten Schwestern legten ein Tischtuch auf den Tisch und trugen die letzte Mahlzeit auf, welche die Alten anbieten und in ihrem Hause, in ihrer Heimat essen wollten, ehe sie unter unbekannte Himmelsstriche reisten. Die Männer saßen halb auf einem großen, grünen Sergesofa. Die Mutter war am Herde beschäftigt und buk dort einen Eierkuchen. Die Enkel versperrten die Tür, vor welcher die Familie des Käufers war. Das alte verräucherte Zimmer mit schwarzen Deckenbalken, durch dessen Fenster man in einen gutgepflegten Garten blickte, dessen sämtliche Bäume von den beiden Siebzigjährigen gepflanzt worden waren, stand im Einklang mit ihren konzentrierten Schmerzen, die in so vielen verschiedenen Ausdrücken auf diesen Gesichtern zu lesen standen. Die Mahlzeit war hauptsächlich für den Notar, den Käufer, für die Kinder und die Männer zubereitet worden. Der Vater und die Mutter, Denise und ihre Schwestern hatten ein viel zu bedrücktes Herz, um ihren Hunger zu stillen. Eine tiefe und grausame Ergebung lastete auf diesen letzten Pflichten erfüllter ländlicher Gastfreundschaft. Die Tascheron, diese Leute alten Schlages, hörten auf, wie man beginnt, indem sie die Wirte spielten. Dies Gemälde ohne jede Emphase und trotzdem voller Feierlichkeit, überraschte die Blicke des bischöflichen Sekretärs, als er dem Pfarrer von Montégnac des Prälaten Absicht mitteilte.

»Der Sohn des braven Mannes hier lebt noch,« sagte Gabriel zum Pfarrer.

Bei diesen Worten, die inmitten des Schweigens von allen verstanden wurden, stellten sich die beiden greisen Leute auf ihre Füße, wie wenn die Trompete des letzten Gerichts geblasen worden wäre. Die Mutter ließ ihre Pfanne ins Feuer fallen. Denise stieß einen Freudenschrei aus, alle anderen verharrten in einer Betäubung, die sie versteinerte.

»Jean-François hat seine Begnadigung!« schrie plötzlich das ganze Dorf, das auf das Tascheronsche Haus zustürzte.

»Hochwürden der Bischof hat . . .«

»Ich wußte wohl, daß er unschuldig sei,« sagte die Mutter.

»Das legt dem Geschäft doch nichts in den Weg?« fragte der Käufer, dem der Notar mit einem befriedigenden Zeichen antwortete.

Abbé Gabriel wurde in diesem Moment der Zielpunkt aller Blicke; seine Traurigkeit ließ einen Irrtum argwöhnen, und um ihn nicht selber berichtigen zu müssen, ging er vom Pfarrer gefolgt hinaus und stellte sich vor dem Hause auf, um die Menge zurückzuschicken, indem er zu den ersten Leuten, die um ihn herumstanden, sagte, daß die Hinrichtung nur aufgeschoben worden wäre. Der Tumult machte daher sofort einem düstren Schweigen Platz. Im Augenblick, wo der Abbé Gabriel und der Pfarrer zurückkamen, sahen sie auf allen Gesichtern den Ausdruck eines furchtbaren Schmerzes, man hatte das Schweigen des Dorfes richtig ausgelegt.

»Liebe Freunde, Jean-François ist nicht begnadigt worden,« sagte der junge Abbé, als er sah, daß der Schlag geführt worden war; »sein Seelenzustand aber hat Hochwürden derartig beunruhigt, daß er Ihres Sohnes letzten Tag hat hinausschieben lassen, um ihn wenigstens für die Ewigkeit zu retten.«

»Er lebt also?« rief Denise.

Der junge Abbé zog den Pfarrer beiseite, um ihm die gefährliche Lage auseinanderzusetzen, in die seines Pfarrkindes Gottlosigkeit die Kirche brachte, und was der Bischof von ihm erwartete.

»Hochwürden fordert meinen Tod,« antwortete der Pfarrer. »Der niedergebeugten Familie hier habe ich bereits abgeschlagen, dem unglücklichen Kinde beizustehen. Die Untersuchung und das Schauspiel, das meiner wartet, würden mich wie ein Glas zerbrechen. Die Schwäche meiner Organe oder vielmehr die allzugroße Beweglichkeit meiner nervösen Organisation verbietet es mir, diese Funktionen unseres Amtes auszuüben. Ich bin einfacher Dorfpfarrer geblieben, um meinesgleichen in der Sphäre, wo ich ein christliches Leben leben kann, nützlich zu sein. Ich habe es mir lange überlegt, ob ich die tugendhafte Familie hier befriedigen und meinen Pfarrerpflichten dem unglücklichen Kinde gegenüber nachkommen sollte, aber bei dem Gedanken allein, mit ihm den Henkerskarren zu besteigen, fühle ich einen Todesschauer in meinen Gliedern. Das würde man von einer Mutter auch nicht verlangen; und machen Sie sich klar, mein Herr, daß er im Schoße meiner armen Kirche geboren worden ist . . .«

»Also weigern Sie sich, Hochwürden zu gehorchen?« sagte Abbé Gabriel.

»Hochwürden kennt meinen Gesundheitszustand nicht, weiß nicht, daß meine Natur sich widersetzt . . .« sagte Monsieur Bonnet, den jungen Abbé anschauend.

»Es gibt Momente, wo wir, wie Belzunce in Marseille, dem gewissen Tode ins Auge blicken müssen,« erwiderte, ihn unterbrechend, der Abbé Gabriel.

In diesem Augenblick fühlte der Pfarrer seine Soutane von einer Hand angefaßt, er hörte Schluchzer, drehte sich um und sah die ganze Familie auf den Knien. Alle streckten die Hände flehend aus. Ein einziger Schrei ertönte, als er ihnen sein brennendes Gesicht zeigte:

»Retten Sie wenigstens seine Seele!«

Die alte Großmutter hatte den Saum seiner Soutane ergriffen und ihn mit ihren Tränen benetzt.

»Ich . . . werde gehorchen, mein Herr . . .«

Nachdem er dies Wort ausgesprochen hatte, sah sich der Pfarrer gezwungen, Platz zu nehmen, so sehr zitterten seine Beine. Der junge Sekretär setzte auseinander, in welchem Rasereizustande sich Jean-François befand.

»Glauben Sie,« sagte der Abbé Gabriel zum Schluß, »daß ihn der Anblick seiner jungen Schwester umzustimmen vermöchte?«

»Ja sicher,« antwortete der Pfarrer. – »Sie sollen uns begleiten, Denise.«

»Und ich auch!« sagte die Mutter.

»Nein!« rief der Vater; »das Kind ist nicht mehr da. Du weißt es. Keinen von uns soll er sehen.«

»Widersetzen Sie sich seinem Heile nicht,« sagte der junge Abbé, »Sie würden für seine Seele verantwortlich sein, wenn Sie die Mittel verweigern, sie zu rühren. In diesem Moment kann sein Tod noch viel nachteiliger sein, als es sein Leben gewesen ist.«

»Sie soll gehen,« sagte der Vater. »Das wird ihre Strafe dafür sein, daß sie sich allen Züchtigungen widersetzt hat, mit denen ich ihren Jungen bestrafen wollte.«

Abbé Gabriel und Monsieur Bonnet kehrten ins Pfarrhaus zurück, wo im Augenblicke der Abreise der beiden Geistlichen nach Limoges sich einzufinden Denise und ihre Mutter aufgefordert wurden. Als sie den Pfad entlanggingen, der den Außenlinien des oberen Montégnac folgte, konnte der junge Mann den vom Generalvikar so sehr gerühmten Pfarrer weniger oberflächlich als in der Kirche prüfen: sofort wurde er durch die einfachen und würdevollen Manieren, durch die zauberhafte Stimme, und durch die mit dieser Stimme in Einklang stehenden Worte zu seinen Gunsten eingenommen. Der Pfarrer war nur ein einziges Mal in den bischöflichen Palast gekommen, seit der Prälat Gabriel de Rastignac als Sekretär genommen hatte; er hatte den zum Episkopat ausersehenen Günstling kaum gesehen, wußte aber, welchen Einfluß er besaß; nichtsdestoweniger benahm er sich mit einer würdevollen Anmut, aus welcher die souveräne Unabhängigkeit sprach, welche die Kirche den Pfarrern in ihren Sprengeln gewährt. Anstatt Gabriels Gesicht zu beseelen, zeigten sich die Gefühle darauf in einer strengen Miene; er war mehr als kalt, er war eisig. Ein Mann, der fähig ist, die Moral einer Bevölkerung zu wandeln, muß mit einiger Beobachtungsgabe versehen und mehr oder weniger Physiognomiker sein; hätte der Pfarrer aber nur die Wissenschaft des Guten besessen, so hätte er eine seltene Empfindsamkeit bewiesen; er war daher betroffen über die Kälte, mit welcher der bischöfliche Sekretär sein Entgegenkommen und seine Liebenswürdigkeiten aufnahm. Da er diese Geringschätzung irgendeiner heimlichen Unzufriedenheit zuschreiben mußte, suchte er in sich selber, wie er ihn hatte verletzen können und worin seine Aufführung in den Augen seiner Vorgesetzten tadelnswert war. Es entstand ein momentanes peinliches Schweigen, das der Abbé de Rastignac durch eine Frage voller aristokratischen Dünkels unterbrach:

»Sie haben eine recht ärmliche Kirche, Herr Pfarrer?«

»Sie ist zu klein,« antwortete Monsieur Bonnet. »An hohen Festtagen setzen die alten Leute Bänke in die Vorhalle, die jungen Leute stehen im Kreise auf dem Platze; es herrscht aber ein solches Schweigen, daß alle draußen meine Stimme hören können.«

Gabriel wahrte einige Augenblicke das Schweigen.

»Wenn die Einwohner so fromm sind, warum lassen Sie sie in einem derartig kahlen Zustande?« fragte er weiter.

»Ach, Herr, ich habe nicht den Mut, Summen dafür auszugeben, die den Armen helfen können. Die Armen sind die Kirche. Übrigens würde ich mich vor Hochwürdens Besuche an einem Feiertage nicht fürchten! Die Armen geben dann der Kirche zurück, was sie von ihr erhalten haben! Haben Sie nicht die Nägel gesehen, Herr, die in bestimmten Zwischenräumen in den Mauern sind? Sie dienen dazu, eine Art Gitterwerk aus Eisendraht aufzuhängen, woran die Frauen Sträuße stecken. Die Kirche ist da ganz mit Blumen bekleidet, die bis zum Abend frisch sind. Meine arme Kirche, die Sie so nackt finden, ist geschmückt wie eine Braut, ist durchduftet, der Boden ist mit Blätterzweigen bedeckt und in der Mitte läßt man für den Durchgang des heiligen Sakraments einen Weg aus Rosenblättern. An einem solchen Tage würde ich den Pomp des Sankt Peter in Rom nicht fürchten. Der heilige Vater hat sein Gold, ich, ich habe meine Blumen: jeder hat sein Wunder . . . Ach, mein Herr, der Flecken Montégnac ist arm, aber er ist katholisch. Früher plünderte man die Reisenden, heute kann jemand, der hier durchkommt, einen Sack mit Talern fallen lassen, er würde ihn zu Hause wieder vorfinden.«

»Ein solches Ergebnis macht Ihnen Ehre,« sagte Gabriel.

»Es handelt sich nicht um mich,« erwiderte der Pfarrer, durch dieses ziselierte Epigramm getroffen, errötend, »sondern um das Wort Gottes, um das heilige Brot.«

»Ein etwas schwärzliches Brot,« erwiderte Abbé Gabriel lächelnd.

»Weißbrot ist nur etwas für die Mägen der Reichen,« erwiderte der Pfarrer bescheiden.

Der junge Abbé ergriff nun Monsieur Bonnets Hände und drückte sie ihm herzlich.

»Verzeihen Sie mir, Herr Pfarrer,« sagte er zu ihm, sich plötzlich mit ihm durch einen Blick seiner schönen blauen Augen versöhnend, der dem Pfarrer bis auf den Grund seiner Seele drang. »Hochwürden hatte mir befohlen, Ihre Geduld und Bescheidenheit zu prüfen; aber ich wüßte nicht, wie ich weitergehen sollte, ich sehe schon, wie sehr Sie durch die Lobsprüche der Liberalen verleumdet worden sind! . . .«

Das Frühstück war fertig: frische Eier, Butter, Honig und Früchte, Sahne und Kaffee, von Ursule inmitten von Blumensträußen, auf einem weißen Tafeltuch, auf dem alten Tische, in jenem alten Eßzimmer aufgetragen. Das Fenster, das auf die Terrasse hinausging, stand offen. Klematis, mit reinen weißen Sternen, die im Herzen von dem gelben Strauß ihrer gekreuzten Staubfäden hervorgehoben wurden, umrankte den Rahmen. Ein Jasminstrauß stand auf der einen Seite, auf der anderen kletterte Kapuziner hoch. Oben bildeten die bereits roten Trauben eines Weinspaliers einen reichen Rahmen, wie ihn ein Bildhauer nicht besser hätte schaffen können, während ihm das durch die Auszackungen der Blätter unterbrochene Licht Anmut verlieh.

»Sie finden hier das auf seine einfachste Ausdrucksform zurückgeführte Leben,« sagte lächelnd der Pfarrer, ohne die Miene aufzugeben, welche bei ihm die Traurigkeit, die er auf dem Herzen hatte, ausdrückte. »Wenn wir um Ihr Kommen gewußt hätten – und wer konnte die Motive dafür voraussehen? – würde Ursule sich einige Bachforellen aus den Bergen besorgt haben; es gibt da einen Wildbach im Walde, der ihrer ganz vortreffliche liefert. Aber ich vergesse, daß wir im August sind, und daß der Gabou trocken ist! Ich habe einen recht wirren Kopf . . .«

»Es gefällt Ihnen hier sehr gut?« fragte der junge Abbé.

»Ja, mein Herr. Wenn Gott es erlaubt, werde ich als Pfarrer von Montégnac sterben. Ich möchte wünschen, daß mein Beispiel von ausgezeichneten Männern befolgt würde, die besser zu tun glauben, wenn sie Philanthropen werden. Die moderne Philanthropie ist das Unglück der Gesellschaften, die Grundsätze der katholischen Religion allein können die Krankheiten heilen, welche den sozialen Körper quälen. Anstatt die Krankheit zu beschreiben und ihre Verheerungen mit elegischen Klagen anzuhören, sollte jeder Hand ans Werk legen und als einfacher Arbeiter den Weinberg des Herrn betreten. Meine Arbeit hier ist weit davon entfernt, vollbracht zu sein: es genügt mir nicht, die Leute, die ich in einem Zustande gottloser Gefühle vorgefunden habe, zu moralisieren, ich will inmitten einer gänzlich überzeugten Generation sterben.«

»Sie haben nur Ihre Pflicht getan,« sagte wiederum trocken der junge Mann, der Neid an seinem Herzen nagen fühlte.

»Ja, mein Herr,« erwiderte der Priester bescheiden, nachdem er ihm einen feinen Blick zugeworfen hatte, wie wenn er fragen wollte: »Ist das noch eine Prüfung?« – »Zu jeder Stunde wünsche ich,« fügte er hinzu, »daß jeder im Königreiche das Seinige tue.«

Dieser Satz voll tiefer Bedeutung wurde noch durch eine Betonung verstärkt, die bewies, daß im Jahre 1829 dieser Priester, der ebensogroß war durch die Intelligenz wie durch die Demut seines Benehmens, und der seine Gedanken denen seiner Vorgesetzten unterordnete, in dem, was die Schicksale der Monarchie und der Kirche anlangte, klar sah.

Als die beiden verhärmten Frauen angekommen waren, ließ sie der junge Abbé, der sehr ungeduldig war, nach Limoges zurückzukehren, im Pfarrhof und sah nach, ob die Pferde angespannt worden waren. Einige Augenblicke später kam er zurück und zeigte an, daß alles für die Abreise bereit sei. Alle vier fuhren unter den Augen der ganzen Bevölkerung von Montégnac, die in Gruppen auf der Straße und vor der Post stand, ab. Die Mutter und Schwester des Verurteilten wahrten Schweigen. Die beiden Priester sahen Klippen in vielen Gesprächsstoffen und konnten weder gleichgültig erscheinen noch froh werden. Indem sie ein neutrales Gebiet für die Unterhaltung suchten, durchquerten sie die Ebene, deren Anblick auf die Dauer ihres melancholischen Schweigens Einfluß hatte.

»Aus welchen Gründen haben Sie den geistlichen Stand ergriffen,« fragte Abbé Gabriel plötzlich den Pfarrer in einer unbesonnenen Neugierde, die ihn überkam, als der Wagen in den Hauptweg einlenkte.

»Ich habe keinen Stand im Priestertum gesehen,« antwortete der Pfarrer einfach. »Ich begreife nicht, daß man Priester werden kann aus anderen Gründen wie aus den unerklärlichen Mächten der Berufung. Wie ich weiß, sind viele Männer Arbeiter im Weinberg des Herrn geworden, nachdem sie ihr Herz im Dienste der Leidenschaften verbraucht haben; die einen liebten hoffnungslos, andere sind verraten worden; die wiederum haben die Blume ihres Lebens verloren, indem sie sei es eine geliebte Gattin, sei es eine angebetete Geliebte begruben; andere sind vom sozialen Leben zu einer Zeit angewidert worden, wo das Ungewisse über allen Dingen, selbst über dem Gefühl, schwebt, wo der Zweifel mit den süßesten Gewißheiten sein Spiel treibt, indem er sie Glaubenssätze nennt. Viele gaben die Politik zu einer Zeit auf, wo die Macht Sühne zu sein scheint, wenn der Regierte den Gehorsam für ein Verhängnis hält. Viele verlassen eine Gemeinschaft ohne Banner, wo die Gegensätze sich zusammentun, um das Gute zu stürzen. Ich nehme nicht an, daß man sich Gott mit einem selbstsüchtigen Gedanken weiht. Einige Männer können im Priestertum ein Mittel sehen, unser Vaterland zu erneuern; nach meinen schwachen Begriffen jedoch ist der patriotische Priester ein Nonsens. Nur Gott darf der Priester angehören. Ich habe unserem Vater, der jedoch alles annimmt, nicht die Trümmer meines Herzens und die Reste meines Willens anbieten wollen, ich habe mich ihm ganz gegeben. Nach einer der rührendsten Theorien der heidnischen Religionen ging das den falschen Göttern bestimmte Opfer blumengeschmückt zum Tempel. Immer hat mich dieser Brauch gerührt. Ein Opfer ist nichts ohne die Gnade. Mein Leben ist daher einfach und ohne den kleinsten Roman. Wenn Sie indessen mein volles Bekenntnis wollen, werde ich Ihnen alles sagen. Meine Familie ist mehr als wohlhabend, sie ist beinah reich. Mein Vater, der sich sein Vermögen selber geschaffen hat, ist ein harter, unbeugsamer Mann; er behandelt seine Frau und seine Kinder übrigens genau so wie er sich selber behandelt. Niemals habe ich das geringste Lächeln auf seinen Lippen überrascht. Seine eherne Hand, sein Bronzegesicht, seine düstere und zugleich rauhe Wirksamkeit drückten uns alle, Frau, Kinder, Gehilfen und Dienstboten unter einen wilden Despotismus. Ich würde mich – ich spreche für mich allein, diesem Leben angepaßt haben, wenn diese Gewalt einen sich gleichbleibenden Druck ausgeübt hätte; da er aber launenhaft und unbeständig war, gab es unerträgliche Zweifel. Wir wußten nie, ob wir richtig handelten oder das Gegenteil, und das schreckliche Gespanntsein, das sich daraus ergab, ist im häuslichen Leben nicht auszuhalten. Man will dann noch lieber auf der Straße als bei sich sein. Wenn ich allein im Hause gewesen wäre, würde ich von meinem Vater noch alles ohne zu murren ertragen haben; doch mein Herz wurde durch die bitteren Schmerzen zerrissen, die einer heißgeliebten Mutter keine Ruhe gaben, deren erspähte Tränen Wutausbrüche in mir erweckten, bei denen ich nicht mehr bei Sinnen war. Die Zeit meines Schulaufenthalts, wo Kinder die Beute so vieler Mühen und Qualen sind, war für mich gleichsam ein goldenes Zeitalter. Ich fürchtete mich vor den freien Tagen. Meine Mutter selber war glücklich, wenn sie zu mir kam. Als ich das Gymnasium hinter mir hatte, als ich ins Vaterhaus zurückkehren und meines Vaters Gehilfe werden sollte, war es mir unmöglich, dort länger als einige Monate zu bleiben: meine durch die Gewalt des Jünglingsalters verwirrte Vernunft konnte unterliegen. Als ich an einem traurigen Herbstabend allein mit meiner Mutter den Boulevard Bourdon, damals einer der tristesten Plätze von Paris, entlang lustwandelte, entlastete ich mein Herz vor dem ihrigen und sagte ihr, daß ich ein für mich mögliches Leben nur in der Kirche sähe. Meine Geschmacksrichtungen, meine Ideen, selbst meine Liebesgefühle müßten, solange mein Vater lebte, auf Widerspruch stoßen. Unter der Priestersoutane würde er gezwungen sein, mich zu respektieren; ich könnte also bei bestimmten Anlässen der Schützer meiner Familie sein. Meine Mutter weinte viel. In diesem Moment hatte sich mein älterer Bruder, der später General geworden und bei Leipzig gefallen ist, durch die Gründe, welche meine Berufung entschieden, aus dem Hause getrieben, zum freiwilligen Dienst als einfacher Soldat gestellt. Ich riet meiner Mutter als Rettungsmittel für sie an, sich einen charaktervollen Schwiegersohn zu wählen, meine Schwester, sobald sie im mannbaren Alter wäre, zu verheiraten, und ihren Halt in der neuen Familie zu suchen. Unter dem Vorwande, der Konskription entgehen zu wollen, ohne daß es meinen Vater etwas koste, und indem ich auch meine Berufung vorbrachte, trat ich also 1807, im Alter von neunzehn Jahren, im Seminar von Saint-Sulpice ein. In diesen alten berühmten Gebäuden fand ich den Frieden und das Glück, das nur die mutmaßlichen Leiden meiner Mutter und meiner Schwester trübten; ihre häuslichen Schmerzen wuchsen zweifelsohne, denn wenn sie mich besuchten, bestärkten sie mich in meinem Entschlusse. Vielleicht durch meine Leiden in die Geheimnisse der Barmherzigkeit eingeweiht, wie sie der große Sankt Paulus in einem anbetungswürdigen Kapitel erörtert hat, wollte ich die Wunden der Armen in einem unbekannten Erdenwinkel verbinden, dann durch mein Beispiel beweisen, wenn Gott meine Mühen zu segnen geruhte, daß die katholische Religion, in ihren menschlichen Werken erfaßt, die einzig wahre, die einzige gute und schöne zivilisatorische Macht sei. Während der letzten Tage meines Diakonats hatte die Gnade mich zweifelsohne erleuchtet. Völlig verziehen hatte ich meinem Vater, in welchem ich das Werkzeug meines Schicksals gesehen habe. Trotz eines langen und zärtlichen Briefes, worin ich diese Dinge erklärte, indem ich zeigte, daß Gottes Finger sich überall abgedrückt habe, weinte meine Mutter viele Tränen, als sie meine Haare unter den Scheermessern der Kirche fallen sah; sie wußte, auf wieviele Freuden ich verzichtete, ohne zu erkennen, welchen heimlichen Ruhm ich erhoffte. Die Frauen sind so zärtlich! Als ich Gott gehörte, empfand ich eine grenzenlose Ruhe; ich fühlte weder Bedürfnisse, noch Eitelkeiten, noch Sorge um Güter, welche die Menschen so sehr beunruhigen. Ich wähnte, die Vorsehung würde sich meiner wie einer ihr gehörigen Sache annehmen. Eine Welt betrat ich, aus der die Furcht verbannt ist, wo die Zukunft gewiß und wo jedes Ding, selbst das Schweigen ein göttliches Werk ist. Diese Ruhe ist eine der Wohltaten der Gnade. Meine Mutter begriff nicht, daß man sich mit einer Kirche vermählen könne; als sie meine heitere Stirn, meine glückliche Miene sah, wurde sie nichtsdestoweniger glücklich. Nachdem ich eingekleidet worden war, besuchte ich in Limousin einen meiner väterlichen Verwandten, der mir zufällig von dem Zustande erzählte, worin sich der Bezirk Montégnac befand. Ein mit dem Glanze der Erleuchtung erstrahlender Gedanke sagte mir im Innern: »Das ist dein Weinberg!« Und ich bin hierher gekommen. So ist meine Geschichte, Herr, wie Sie sehen, recht einfach und uninteressant.«

In diesem Augenblick tauchte Limoges im Feuer der untergehenden Sonne auf. Bei dem Anblick vermochten die beiden Frauen ihre Tränen nicht zurückzuhalten.

Der junge Mensch, den diese beiden verschiedenen Zärtlichkeiten suchten, der so viel Veranlassung zu harmloser Neugierde, so viel scheinheiligen Sympathien, und so vielen lebhaften Sorgen war, lag auf einer Gefängnismatratze in dem für zum Tode Verurteilte bestimmten Raume. Ein Spion lauerte an der Tür, um die Worte aufzufangen, die ihm, sei es im Schlafe, sei es in einem Wutanfalle entschlüpfen konnten, so sehr suchte das Gericht alle menschlichen Mittel zu erschöpfen, um Jean-François Tascherons Mitschuldigen schließlich herauszubekommen und die gestohlenen Summen wiederzufinden. Die des Vanneaulx hatten die Polizei für sich gewonnen, und die Polizei bespähte nun dies völlige Schweigen. Wenn der zur moralischen Bewachung des Gefangenen beigesellte Mann diesen durch einen ausdrücklich zu diesem Zwecke hergestellten Spalt betrachtete, fand er ihn immer in der gleichen Haltung in seine Zwangsjacke gesteckt, und, seitdem er versucht hatte, den Stoff und die Banden mit seinen Zähnen zu zerreißen, den Kopf mit einer Lederbandage festgemacht. Jean-François betrachtete mit stieren und verzweifelten Augen, die glühend und durch das Zuströmen eines Lebens, das schreckliche Gedanken aufwühlten, wie gerötet waren, den Fußboden. Er war eine lebende Skulptur des antiken Prometheus, der Gedanke an irgendein verlorenes Glück zerfleischte sein Herz; auch der zweite Vertreter des Generalprokurators hatte, als er ihn aufsuchte, nicht umhin können, seiner Überraschung, welche ein so beständiger Charakter hervorrief, Ausdruck zu verleihen. Angesichts jedes lebenden Wesens, das in sein Gefängnis drang, geriet Jean-François in eine Wut, welche die den Aerzten bei derartigen Aufregungen bekannten Grenzen weit hinter sich ließ. Sobald er den Schlüssel sich im Schlüsselloch umdrehen oder die Riegel der eisenbeschlagenen Türe kreischen hörte, trat ihm ein leichter Schaum vor die Lippen.

Der damals fünfundzwanzigjährige Jean-François war klein, aber wohlgebaut. Seine krausen und dicken, ziemlich tief ansetzenden Haare zeugten von großer Energie. Seine Augen von einem hellen und lichten Grün, standen ziemlich nahe an die Nasenwurzel gerückt, ein Schönheitsfehler, der ihm Aehnlichkeit mit einem Raubvogel verlieh. Er hatte ein rundes und braungefärbtes Gesicht, woran man die Bewohner des Mittelpunktes Frankreichs erkennt. Ein Zug in seiner Physiognomie bestätigte eine Behauptung Lavaters über zum Morde prädestinierte Menschen, er besaß gekreuzte Vorderzähne. Nichtsdestoweniger zeigte sein Gesicht die Merkmale der Geradheit und einer stillen sittlichen Naivität: so sah es denn gar nicht ungewöhnlich aus, daß eine Frau ihn leidenschaftlich geliebt hatte. Sein frischer, mit wunderbar weißen Zähnen geschmückter Mund war anmutig. Das Rot der Lippen machte sich durch jene Mennigefärbung bemerkbar, die eine gebändigte Wildheit anzeigt, welche bei vielen Wesen ein freies Feld in den Gluten des Vergnügens findet. Seine Haltung verriet keine schlechten Arbeitergewohnheiten. In den Augen der Frauen, welche die Gerichtsverhandlungen verfolgten, schien es offenbar, daß eine Frau diese an Arbeit gewöhnten, durch die Haltung dieses Landmanns veredelten und mit seiner persönlichen Anmut begabten Gemütsanlagen nachgiebig gemacht hatte. Frauen erkennen die Spuren der Liebe bei einem Manne ebensogut wie Männer bei einer Frau sehen, wenn sie, wie man zu sagen pflegt, die Liebe gekostet hat.

Am Abend hörte Jean-François die Bewegung der Riegel und das Geräusch des Schlosses: lebhaft drehte er den Kopf um und stieß das schreckliche Murren aus, womit seine Wut begann; aber er zitterte heftig, als er in dem durch die Dämmerung gedämpften Lichte die geliebten Häupter seiner Schwester und Mutter sich abheben, und hinter ihnen des Pfarrers von Montégnac Antlitz sah.

»Die Barbaren; das sparten sie mir noch auf!« sagte er, die Augen zumachend.

Denise, als ein Mädchen, das gerade im Gefängnis gelebt hatte, mißtraute allem; der Spion hatte sich zweifelsohne versteckt, um wiederzukommen. Sie stürzte auf ihren Bruder zu, beugte ihr tränenüberströmtes Gesicht über seines und sagte ihm ins Ohr:

»Wird man uns vielleicht hören?«

»Andernfalls würde man euch nicht geschickt haben,« antwortete er mit lauter Stimme. »Ich hab es seit langem als eine Gnade erbeten, niemanden von meiner Familie zu sehen.«

»Wie sie ihn zugerichtet haben!« sagte die Mutter zum Pfarrer. »Mein armes Kind! Mein armes Kind!«

Sie sank auf das Fußende der Matratze, indem sie ihren Kopf in der Soutane des Priesters verbarg, der aufrecht neben ihr stand.

»Ich kann ihn nicht so gebunden, geknebelt, in diesen Sack gesteckt sehen . . .«

»Wenn Jean«, sagte der Pfarrer, »mir versprechen will, vernünftig zu sein, nichts gegen sein Leben zu unternehmen, und sich, solange wir bei ihm sind, gut aufführen will, werd' ich durchsetzen, daß man ihn losmacht; der geringste Bruch seines Versprechens jedoch würde auf mich zurückfallen . . .«

»Ich habe es so sehr nötig mich nach meiner Laune zu bewegen, lieber Monsieur Bonnet,« sagte der Verurteilte, dessen Augen sich mit Tränen netzten, »daß ich Ihnen mein Wort gebe, Sie zu befriedigen.«

Der Pfarrer ging hinaus, der Kerkermeister kam herein, die Zwangsjacke wurde ausgezogen.

»Sie werden mich heute abend nicht töten?« fragte ihn der Schlüsselträger.

Jean antwortete nichts.

»Armer Bruder,« sagte Denise und brachte einen Korb her, den man sorgsam untersucht hatte, »hier sind einige Sachen, die du gern hast, denn man nährt dich gewiß nur um Gottes willen!«

Sie zeigte Früchte, die sie, sobald sie erfahren, daß sie ins Gefängnis hineinkommen könnte, gepflückt, und einen Kuchen, den ihre Mutter sofort beiseite gebracht hatte.

Diese Aufmerksamkeit, die ihn an seine Jugendzeit erinnerte, dann die Stimme und die Gebärden seiner Schwester, die Gegenwart seiner Mutter, die des Pfarrers, all das bewirkte eine Reaktion bei Jean: er zerfloß in Tränen.

»Ach, Denise,« sagte er, »seit sechs Monaten habe ich nicht ein einziges Mal richtig gegessen. Nur vom Hunger gepeinigt habe ich gegessen, das ist alles!«

Mutter und Tochter entfernten sich, gingen und kamen. Belebt von jenem Geiste, der Hausfrauen beseelt, für das Wohlbefinden der Männer zu sorgen, setzten sie ihrem armen Freund endlich ein Abendessen vor. Sie fanden Hilfe: es war angeordnet worden, ihnen in allem beizustehen, was sich mit der Sicherheit des Verurteilten vereinbaren ließ. Die des Vanneaulx hatten den traurigen Mut besessen, zu dessen Wohlbefinden beizutragen, von dem sie noch immer ihre Erbschaft erwarteten. Jean sah daher einen letzten Abglanz der Familienfreuden; Freuden, die durch die herbe Farbe, die ihnen die Umstände verliehen, getrübt wurden.

»Meine Berufung ist verworfen worden?« sagte er zu Monsieur Bonnet.

»Ja, mein Kind. Es bleibt dir nichts mehr übrig, als dein Leben wie es einem Christen geziemt zu beschließen. Dies Leben ist nichts im Vergleich mit dem, was deiner wartet: man muß an deine ewige Glückseligkeit denken. Den Menschen kannst du deine Schuld bezahlen, indem du ihnen dein Leben läßt, Gott aber gibt sich mit so wenigem nicht zufrieden.«

»Mein Leben lassen? Ach, Sie ahnen ja nicht, was alles ich verlassen muß!«

Denise blickte ihren Bruder an, wie wenn sie ihm sagen wollte, daß er sogar in den religiösen Dingen Klugheit obwalten lassen müsse.

»Reden wir nicht davon,« erwiderte er, indem er Obst mit einer Begierde aß, die ein inneres Feuer von großer Intensität ausdrückte. »Wann muß ich? . . .«

»Nein, davon nichts in meiner Gegenwart!« sagte die Mutter.

»Ich aber würde ruhiger sein,« sagte er ganz leise zum Pfarrer.

»Immer sein nämlicher Charakter!« rief Monsieur Bonnet, der sich zu ihm neigte, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Wenn Sie sich heute nacht mit Gott aussöhnen, und wenn Ihre Reue mir erlaubt, Sie zu absolvieren, wird es morgen sein. – Wir haben bereits viel erreicht, indem wir Sie beruhigten!« fügte er mit lauter Stimme hinzu.

Als Jean diese letzten Worte hörte, wurden seine Lippen blaß, seine Augen verdrehten sich durch eine heftige Zusammenziehung und ein Sturmschauer glitt über sein Gesicht.

»Wie, bin ich ruhig?« fragte er sich.

Glücklicherweise begegnete er den tränenvollen Augen seiner Denise und bekam wieder Herrschaft über sich selbst.

»Nun wohl, nur Sie kann ich hören,« sagte er zum Pfarrer. »Sie haben genau gewußt, von welcher Seite man mich packen muß!«

Und er legte seinen Kopf an seiner Mutter Brust.

»Höre auf ihn, mein Sohn,« sagte seine weinende Mutter, »er wagt sein Leben, der liebe Monsieur Bonnet, indem er es unternimmt, dich hinzugeleiten . . .«

Sie zauderte und vollendete:

»Zum ewigen Leben.«

Dann küßte sie Jeans Kopf und drückte ihn einige Augenblicke lang an ihr Herz.

»Er will mich begleiten?« fragte Jean, den Pfarrer anblickend, der es über sich brachte, mit dem Kopfe zu nicken. »Schön, ich will ihn anhören, will alles tun, was er will.«

»Du versprichst es mir?« sagte Denise, »denn, sieh, deine Seele wollen wir alle retten. Und dann, willst du, daß man in ganz Limoges und auf dem Lande erzählt, ein Tascheron habe es nicht verstanden, einen guten Tod zu finden? Kurz, denke doch, daß du alles, was du hier verlierst, im Himmel wiederfinden kannst, wo sich die Verzeihung erlangenden Seelen wiedersehen.« Diese übermenschliche Anstrengung trocknete dem heldenhaften Mädchen die Kehle aus. Sie tat wie ihre Mutter, sie schwieg, aber sie hatte triumphiert. Der Verbrecher, welcher bislang wütend war, sich sein Glück durch das Gericht entreißen zu sehen, bebte bei dem so naiv von seiner Schwester geäußerten erhabenen katholischen Gedanken. Alle Frauen, selbst eine junge Bäuerin wie Denise wissen solche Feinheiten zu finden; lieben sie es nicht alle, die Liebe zu verewigen? Denise hatte zwei sehr empfindliche Saiten berührt. Der wiedererwachte Stolz rief die anderen, durch so viel Unglück erstarrten und durch die Verzweiflung geschlagenen Tugenden wach. Jean ergriff seiner Schwester Hand, küßte sie und drückte sie auf eine bedeutungstiefe Weise gegen sein Herz: er stützte sie sanft und zugleich voller Kraft.

»Nun«, sagte er, »heißt es auf alles verzichten. Das ist der letzte Schlag und der letzte Gedanke: empfange sie, Denise.«

Und er warf ihr einen jener Blicke zu, durch welche der Mensch bei großen Anlässen seine Seele einer anderen Seele einzuprägen sucht.

Dieses Wort, dieser Gedanke waren ganz und gar ein Testament. Alle diese unausgesprochenen Vermächtnisse, die ebenso treu überliefert wie treu gewünscht sein mußten, verstanden Mutter, Schwester, Jean und der Priester so gut, daß sie sich alle voreinander verbargen, um sich nicht ihre Tränen zu zeigen und um das Geheimnis ihrer Gedanken zu wahren. Diese wenigen Worte waren der Todeskampf einer Leidenschaft, das Lebewohl einer väterlichen Seele an die schönsten irdischen Dinge, indem sie eine katholische Entsagung ausdrückten. Auch der Pfarrer, der von der Majestät aller großen menschlichen, selbst verbrecherischen Dinge besiegt worden war, beurteilte diese Leidenschaft nach dem Umfange des Fehls: er hob die Augen auf, wie um Gottes Gnade anzurufen. Da enthüllten sich wieder die rührenden Tröstungen und die unendlichen Zärtlichkeiten der katholischen Religion so menschlich, so sanft durch die Hand, die bis zu dem Menschen herniedersteigt, um ihm das Gesetz höherer Welten zu erklären, so schrecklich und göttlich durch die Hand, die sie ihm hinhält, um ihn in den Himmel zu geleiten.

Denise aber hatte dem Pfarrer geheimnisvoll die Stelle gewiesen, wo der Fels nachgab, den Riß, durch welchen sich die Gewässer der Reue stürzten. Plötzlich auf die Erinnerungen zurückgeführt, die sie so hervorriefen, stieß Jean den eisigen Schrei der von den Jägern überraschten Hyäne aus.

»Nein, nein,« schrie er, auf die Knie fallend, »ich will leben! Liebe Mutter, nehmt meine Stelle ein, gebt mir eure Kleider, ich will entweichen! Gnade! Gnade! Sucht den König auf, sagt ihm . . .«

Er hielt inne, stieß ein furchtbares Gebrüll aus und klammerte sich wild an des Pfarrers Soutane.

»Gehen Sie,« sagte Monsieur Bonnet mit leiser Stimme zu den beiden entmutigten Frauen.

Jean hörte das Wort, hob den Kopf auf, sah seine Mutter, seine Schwester an und küßte ihnen die Füße.

»Sagen wir uns Lebewohl, kommt nicht wieder; laßt mich mit Monsieur Bonnet allein, macht euch meinetwegen keine Sorgen weiter,« sagte er zu ihnen, indem er seine Mutter und seine Schwester so innig umarmte, als ob er ihnen sein ganzes Leben hingeben wolle.

»Wie, man stirbt nicht daran?« sagte Denise zu ihrer Mutter, als sie an die Einlaßpforte kamen.

Es war gegen acht Uhr abends, als diese Trennung stattfand. Im Gefängnistor fanden die beiden Frauen den Abbé de Rastignac, der sie nach Neuigkeiten von dem Gefangenen fragte.

»Zweifelsohne wird er sich mit Gott versöhnen,« sagte Denise. »Wenn die Reue noch nicht gekommen ist, so ist sie sehr nahe.«

Der Bischof erfuhr wenige Augenblicke später, daß der Klerus in dieser Angelegenheit triumphieren und daß der Verurteilte in den erbaulichsten religiösen Gefühlen nach der Richtstätte gehen würde. Hochwürden, bei dem sich der Generalprokurator befand, drückte den Wunsch aus, den Pfarrer zu sehen. Monsieur Bonnet kam nicht vor Mitternacht. Abbé Gabriel, der häufig den Weg vom bischöflichen Palaste nach dem Kerker zurücklegte, hielt es für nötig, den Pfarrer in den bischöflichen Wagen zu nehmen; denn der arme Priester war in einem Zustande der Abgeschlagenheit, welcher ihm nicht erlaubte, sich seiner Beine zu bedienen. Die Aussicht auf seinen kommenden harten Tag, und die heimlichen Kämpfe, deren Zeuge er gewesen war, das Schauspiel der vollkommenen Reue, die sein lange rebellisches Pfarrkind endlich zu Boden geschmettert hatte, als ihm die große Rechnung der Ewigkeit vorgelegt wurde, all das hatte sich zusammengetan, um Monsieur Bonnet, dessen nervöse, elektrische Natur sich leicht mit anderem Unglück in Übereinstimmung brachte, zu brechen. Seelen, welche dieser schönen Seele gleichen, vermählen sich so lebhaft mit den Eindrücken, Unglücksfällen, Leidenschaften und Leiden derer, an denen sie Anteil nehmen, daß sie sie wirklich, und zwar in furchtbarer Weise mitfühlen, dadurch, daß sie ihre Tragweite ermessen können, welche den durch die Teilnahme des Herzens oder den Paroxismus der Schmerzen blinden Leuten entgeht. In dieser Hinsicht ist ein Priester wie Monsieur Bonnet ein Künstler, der fühlt, anstatt ein Künstler zu sein, der urteilt. Als der Pfarrer sich im Salon des bischöflichen Palastes zwischen den beiden Großvikaren, dem Abbé de Rastignac, Monsieur de Granville und dem Generalprokurator befand, glaubte er zu sehen, daß man einige Neuigkeiten von ihm erwarte.

»Herr Pfarrer,« sagte der Bischof, »haben Sie irgendwelche Geständnisse erhalten, die Sie dem Gerichte zu seiner Aufklärung anvertrauen können, ohne ihren Pflichten zuwiderzuhandeln?«

»Um diesem armen, verirrten Kinde Absolution zu erteilen, Hochwürden, habe ich nicht nur erwartet, daß seine Reue ebenso ehrlich und ebenso vollkommen wäre, wie es die Kirche erwarten kann, sondern auch die Herausgabe des Geldes verlangt.«

»Diese Herausgabe«, sagte der Generalprokurator, »führte mich zu Hochwürden her; sie wird in der Weise geschehen, daß sie einige Lichter in die dunklen Stellen dieses Prozesses wirft. Es gibt sicher Mitschuldige . . .«

»Es sind nicht die Interessen menschlicher Gerechtigkeit,« erwiderte der Pfarrer, »welche mich handeln lassen. Ich weiß nicht, wo und wann die Herausgabe stattfinden wird, aber sie wird geschehen. Als Hochwürden mich zu einem meiner Pfarrkinder rief, hat er, ausgenommen den Punkt der Disziplin und des priesterlichen Gehorsams, mir die absoluten Bedingungen eingeräumt, die den Pfarrern in dem Bereiche ihres Sprengels die Rechte verleihen, welche Hochwürden in seiner Diözese ausübt.«

»Schön,« sagte der Bischof. »Aber es handelt sich darum, vom Verurteilten freiwillige Geständnisse angesichts der Justiz zu erlangen.«

»Meine Mission ist es, Gott eine Seele zu erobern,« antwortete Monsieur Bonnet.

Monsieur de Granville zuckte leicht die Achseln, Abbé Dutheil aber nickte zum Zeichen der Billigung mit dem Kopfe.

»Tascheron will zweifelsohne jemanden retten, den die Herausgabe verraten könnte?« fragte der Generalprokurator.

»Mein Herr,« erwiderte der Pfarrer, »ich weiß durchaus nichts, was Ihren Verdacht sei es Lügen strafen, sei es bestätigen könnte. Das Beichtgeheimnis ist übrigens unverletzlich.«

»Die Herausgabe wird also stattfinden?« fragte der Gerichtsmann.

»Ja, mein Herr,« antwortete der Mann Gottes.

»Das genügt mir,« erklärte der Generalprokurator, der sich auf die Geschicklichkeit der Polizei verließ, um Fingerzeige zu erhalten, als ob Leidenschaft und persönliches Interesse nicht viel geschickter wären als jede Polizei.

Am übernächsten Tage, einem Markttage, wurde Jean-François Tascheron zur Richtstätte geführt, wie es die frommen und die politischen Seelen der Stadt wünschten. Als ein Muster der Bescheidenheit und Frömmigkeit küßte er mit Inbrunst das Kruzifix, welches ihm Monsieur Bonnet mit einer schwachen Hand entgegenstreckte. Man prüfte den Unglücklichen sehr, dessen Blicke von allen Augen bewacht wurden; würde er sie auf irgend jemandem in der Menge oder auf einem Hause haften lassen? Seine Verschwiegenheit war vollkommen, unverletzlich. Er starb als reuiger und absolvierter Christ.

Der arme Pfarrer von Montégnac wurde bewußtlos vom Fuße des Schafotts fortgetragen, obwohl er die verhängnisvolle Maschine nicht gesehen hatte.

Während der Nacht, am folgenden Tage, bat drei Meilen von Limoges, auf offener Straße und an einsamer Stelle, die, obschon vor Müdigkeit und Schmerz erschöpfte Denise ihren Vater inständig, sie mit Louis-Marie Tascheron, einem ihrer Brüder, nach Limoges zurückzulassen.

»Was willst du noch in jener Stadt tun?« antwortete der Vater rauh, seine Stirn runzelnd und seine Augenbrauen in Falten ziehend.

»Lieber Vater,« sagte sie ihm ins Ohr, »nicht nur müssen wir den Advokaten bezahlen, der ihn verteidigt hat, sondern das verborgene Geld muß auch noch zurückgegeben werden.«

»Das ist richtig!« sagte der brave Mann und steckte seine Hand in einen Ledersack, den er bei sich trug.

»Nein, nein,« sagte Denise, »er ist ihr Sohn nicht mehr. Nicht die ihn verflucht, die ihn gesegnet haben, müssen den Advokaten belohnen.«

»Wir werden euch in le Havre erwarten,« entgegnete der Vater.

Denise und ihr Bruder kehrten vor dem Tage in die Stadt zurück, ohne gesehen zu werden. Als die Polizei später ihre Rückkehr erfuhr, konnte sie nie feststellen, wo sie verborgen waren. Denise und ihr Bruder gingen gegen vier Uhr in die obere Stadt, indem sie sich die Mauern entlangdrückten. Das arme Mädchen wagte nicht die Augen aufzuschlagen, aus Furcht Blicken zu begegnen, die ihres Bruders Kopf hatten fallen sehen. Nachdem sie den Pfarrer Bonnet geholt hatten, der trotz seiner Schwäche einwilligte, Denise in dieser Sache als Vater und Beschützer zu dienen, begaben sie sich zu dem Advokaten, der in der rue de la Comédie wohnte.

»Guten Tag, meine armen Kinder,« sagte der Advokat, Monsieur Bonnet begrüßend; »worin kann ich euch nützlich sein? Wollt ihr mich vielleicht damit beauftragen, den Leichnam eures Bruders zu reklamieren?«

»Nein, mein Herr,« sagte Denise, die bei dieser Idee weinte, die ihr nicht gekommen war; »ich will unsere Schulden bei Ihnen bezahlen, wenn Geldeswert eine ewige Schuld bezahlen kann.«

»Setzen Sie sich doch,« sagte der Advokat, als er bemerkte, daß Denise und der Pfarrer stehengeblieben waren.

Denise drehte sich um, um aus ihrem Schnürleibchen zwei Fünfhundertfrankenscheine hervorzuholen, die mit einer Stecknadel am Hemde befestigt worden waren, und setzte sich, nachdem sie sie dem Verteidiger ihres Bruders dargereicht hatte. Der Pfarrer warf dem Advokaten einen leuchtenden Blick zu, der sich bald mit Tränen feuchtete.

»Behaltet dies Geld für euch, mein armes Mädchen,« sagte der Advokat, »reiche Leute bezahlen eine verlorene Sache nicht so freigebig.«

»Es ist mir nicht möglich, Ihnen zu gehorchen, mein Herr,« sagte Denise.

»Das Geld stammt also nicht von euch?« fragte der Advokat lebhaft.

»Verzeihen Sie mir,« antwortete sie, Monsieur Bonnet anblickend, um zu erfahren, ob Gott diese Lüge nicht verböte.

Der Pfarrer hielt die Augen gesenkt.

»Schön,« sagte der Advokat, einen Fünfhundertfrankenschein nehmend und den anderen dem Pfarrer hinhaltend, »ich teile mit den Armen. Jetzt, Denise, tauscht mir diesen, der gewiß mir gehört,« sagte er, ihr den anderen Schein reichend, »gegen euer Sammetbändchen und euer goldenes Kreuz ein. Ich will das Kreuz als Erinnerung an das reinste und beste junge Mädchenherz, das ich zweifelsohne in meinem Advokatenleben finden werde, an meinem Kamin aufhängen.«

»Ich will es Ihnen geben, ohne es Ihnen zu verkaufen,« rief Denise, ihr Jeanettenkreuz abnehmend und es ihm anbietend.

»Gut,« sagte der Pfarrer, »ich nehme die fünfhundert Franken an, sie mögen zur Ausgrabung und zum Transport des armen Kindes auf den Friedhof von Montégnac dienen. Gott hat ihm zweifelsohne verziehen; Jean wird mit meiner ganzen Schar am großen Tage auferstehen, wo die Gerechten und die Reumütigen an des Vaters Rechte gerufen werden.«

»Sicherlich,« antwortete der Advokat.

Er nahm Denise bei der Hand und zog sie an sich, um sie auf die Stirn zu küssen; doch hatte diese Bewegung einen anderen Zweck.

»Liebes Kind,« sagte er zu ihr, »kein Mensch in Montégnac hat Fünfhundertfrankenscheine; in Limoges sind sie ziemlich selten und niemand kriegt sie ohne Abzug. Dies Geld ist euch also gegeben worden; Ihr wollt mir nicht sagen von wem, und ich frage Euch nicht. Hört mich aber an: wenn Ihr bezüglich Eures armen Bruders noch irgend etwas hier in der Stadt zu tun habt, so seid auf Eurer Hut! Monsieur Bonnet, Ihr und Euer Bruder werdet von Spionen überwacht. Eure Familie ist abgereist, das weiß man, wenn man Euch hier sehen sollte, werdet Ihr umlauert sein, ohne daß Ihr es vermuten könnt.«

»Ach,« sagte sie, »ich hab' hier nichts mehr zu tun.«

Sie ist klug, sagte sich der Advokat, als er sie hinausführte. Sie ist benachrichtigt, folglich wird sie sich darnach zu benehmen wissen.

In den letzten Tagen des Septembermonats, die ebenso heiß waren wie Sommertage, hatte der Bischof den Behörden der Stadt ein Mittagessen gegeben. Unter den Eingeladenen befanden sich der Staatsanwalt und der erste stellvertretende Generalprokurator. Einige Diskussionen belebten die Gesellschaft und zogen sie ungebührlich lange hin. Man spielte Whist und Tricktrack, das Spiel, welches die Bischöfe lieben. Gegen elf Uhr befand sich der Staatsanwalt auf den oberen Terrassen. Von der Ecke aus, wo er war, bemerkte er auf jener Insel, die an einem bestimmten Abend Abbé Gabriels und des Bischofs Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, kurz, auf Véroniques Insel ein Licht; dieser Schimmer erinnerte ihn an die unaufgeklärten Geheimnisse des von Tascheron begangenen Verbrechens. Da er keinen anderen Grund dafür, daß man zu dieser Stunde auf der Vienne Feuer machte, fand, überkam ihn der geheime Gedanke, der den Bischof und seinen Sekretär überkommen war, gleichfalls mit einer ebenso plötzlichen Helligkeit, wie es die des Feuers war, das in der Ferne leuchtete.

»Alle sind wir große Dummköpfe gewesen,« rief er, »aber nun haben wir die Mitwisser!«

Er ging in den Salon zurück, suchte Monsieur de Granville, flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, und dann verschwanden sie alle beide; aus Höflichkeit aber folgte ihnen der Abbé de Rastignac, belauerte ihr Weggehen, sah sie sich nach der Terrasse wenden und bemerkte das Feuer am Rande der Insel.

Sie ist verloren, dachte er.

Die Sendboten des Gerichts kamen zu spät. Denise und Louis-Marie, den Jean das Tauchen gelehrt hatte, waren wohl am Vienneufer an einer von Jean angegebenen Stelle; Louis-Marie Tascheron aber hatte bereits viermal getaucht, und jedesmal zwanzigtausend Franken in Gold zurückgebracht. Die erste Summe war in einem mit den vier Ecken zusammengeknoteten seidenen Tuche enthalten. Dies Taschentuch, das sofort ausgewrungen wurde, um das Wasser auszudrücken, war in ein großes, vorher angefachtes Feuer aus trockenem Holz geworfen worden. Denise verließ das Feuer erst, nachdem sie die Hülle völlig verbrannt gesehen hatte. Die zweite Hülle war ein Schal und die dritte ein Batisttaschentuch. Im Augenblick, wo sie die vierte Hülle ins Feuer warf, ergriffen die von einem Polizeikommissar begleiteten Gendarmen dies wichtige Stück, das Denise sie nehmen ließ, ohne die geringste Aufregung kundzutun. Es war ein Taschentuch, das trotz seines im Liegens im Wasser einige Blutspuren aufwies. Sofort befragt, was sie soeben getan habe, erklärte Denise, daß sie, gemäß ihres Bruders Angaben, das Gold des Diebstahls aus dem Wasser geholt hätte. Der Kommissar fragte sie, warum sie die Hüllen verbrenne, sie entgegnete, daß sie damit eine von ihrem Bruder gestellte Bedingung erfülle. Als man sie fragte, welcher Art diese Hüllen gewesen wären, antwortete sie kühn und ohne eine Lüge:

»Ein Seidentuch, ein Batisttaschentuch und ein Schal.«

Das Taschentuch, das man eben noch erwischt hatte, gehörte ihrem Bruder.

Die Taucherei und ihre Umstände erregten großes Aufsehen in der Stadt Limoges. Der Schal vor allem bestätigte den allgemeinen Glauben, daß Tascheron sein Verbrechen aus Liebe begangen habe.

»Nach seinem Tode schützt er sie noch,« sagte eine Dame, als sie von diesen letzten Enthüllungen hörte, die so geschickt vereitelt worden waren.

»In Limoges gibt es vielleicht einen Ehemann, der ein Seidentuch weniger zu Hause finden wird, aber er wird zum Schweigen gezwungen sein,« sagte lächelnd der Generalprokurator.

»Toilettenfehler werden so kompromittierend, daß ich meine Garderobe noch heute abend untersuchen will,« sagte die alte Madame Perret lächelnd.

»Welches sind die hübschen kleinen Füße, deren Spur so sorgfältig verwischt wurde?« fragte Monsieur de Granville.

»Bah, vielleicht die einer häßlichen Frau,« antwortete der Staatsanwalt.

»Sie hat ihren Fehl teuer bezahlt!« bemerkte Abbé de Grancour.

»Wissen Sie, was diese Geschichte beweist?« rief der vertretende Generalprokurator. »Sie zeigt, was die Frauen alles in der Revolution, welche die sozialen Unterschiede vernichtet hat, verloren haben. Derartige Leidenschaften findet man nur noch bei den Männern, die eine gewaltige Kluft zwischen ihren Geliebten und sich sehen.«

»Sie räumen der Liebe viele Eitelkeiten ein,« erwiderte Abbé Dutheil.

»Was denkt Madame Graslin?« fragte der Präfekt.

»Und was soll sie denken? Sie ist, wie sie mir gesagt hatte, während der Hinrichtung niedergekommen und hat seitdem niemanden mehr gesehen, denn sie ist gefährlich krank!« antwortete Monsieur de Granville. In einem anderen Limoger Salon ging eine fast komische Szene vor sich. Die Freunde der des Vanneaulx kamen, um ihnen zur Herausgabe ihrer Erbschaft Glück zu wünschen.

»Nun, man hätte den armen Menschen begnadigen sollen,« sagte Madame des Vanneaulx; »Liebe und nicht Eigennutz haben ihn so weit gebracht: er war weder lasterhaft noch bösartig.«

»Voller Zartgefühl ist er gewesen,« sagte der p. p. des Vanneaulx, »und wenn ich wüßte, wo seine Familie ist, würde ich mich ihr erkenntlich zeigen. Brave Leute sind die Tascheron.«

Nach einer langwierigen Krankheit, die ihrer Entbindung folgte und sie zwang, gänzlich zurückgezogen zu leben und im Bett zu bleiben, konnte Madame Graslin gegen Ende des Jahres 1829 aufstehen. Damals hörte sie ihren Mann von einem ziemlich beträchtlichen Geschäfte reden, das er abschließen wollte. Das Haus Navarreins gedachte den Wald von Montégnac und die unbebauten Ländereien, die es im Umkreise besaß, zu verkaufen. Graslin hatte die Klausel seines Ehevertrags noch nicht ausgeführt, durch die er verpflichtet worden war, die Mitgift seiner Frau in Grundbesitz festzulegen; er hatte es vorgezogen, die Summe bei der Bank arbeiten zu lassen und hatte sie bereits verdoppelt. Bei diesem Anlasse schien Véronique sich des Namens Montégnac zu erinnern und bat ihren Gatten, seiner Verbindlichkeit Genüge zu tun, indem er diesen Besitz für sie erstehe. Monsieur Graslin wünschte sehr, den Pfarrer Bonnet zu sehen, um näheres über den Wald und die Ländereien, die der Herzog von Navarreins verkaufen wollte, zu erfahren, denn der Herzog sah den furchtbaren Kampf voraus, welchen der Prinz von Polignac zwischen dem Liberalismus und dem Hause Bourbon vorbereitete. Er mutmaßte nur üble Folgen, auch war er einer der unerschrockensten Widersacher des Staatsstreiches. Der Herzog hatte seinen Geschäftsträger nach Limoges geschickt und ihn beauftragt, vor einer hohen Summe Hartgeldes die Segel zu streichen, denn er erinnerte sich nur allzusehr der Revolution von 1789, um die Lektionen nicht auszunützen, die sie der ganzen Aristokratie erteilt hatte. Dieser Geschäftsträger befand sich seit einem Monat von Angesicht zu Angesicht mit Graslin, dem schlauesten Fuchs von Limousin, den alle Geschäftsleute als den einzigen Mann bezeichnet hatten, der fähig war, einen solch beträchtlichen Besitz zu erwerben und sofort zu bezahlen. Auf ein Wort, das ihm der Abbé Dutheil schrieb, eilte Monsieur Bonnet nach Limoges und kam ins Hotel Graslin. Véronique wollte den Pfarrer zum Mittagessen zu sich bitten, doch der Bankier erlaubte Monsieur Bonnet erst zu seiner Frau hinaufzugehen, nachdem er ihn eine Stunde lang in seinem Arbeitszimmer festgehalten und Erkundigungen bei ihm eingezogen hatte, die ihn so befriedigten, daß der Kauf des Waldes und der Domänen von Montégnac für fünfmalhunderttausend Franken unverzüglich abgeschlossen wurde. Er befriedigte den Wunsch seiner Frau, indem er vertragsmäßig angelobte, daß diese und alle sich daranknüpfenden Erwerbungen gemacht worden wären, um die auf die Verwendung der Mitgift bezugnehmende Klausel seines Heiratsvertrages zu erfüllen. Graslin führte sie um so lieber aus, als dieser Akt der Billigkeit ihn damals absolut nichts kostete. Im Augenblick, wo Graslin abschloß, setzten sich die Domänen aus dem Walde von Montégnac, der etwa dreißigtausend nicht auszubeutende Arpents umfaßte, aus den Schloßruinen, den Gärten und etwa fünftausend Arpents in der unbebauten Ebene zusammen, die sich vor Montégnac hinzieht. Graslin machte sofort mehrere Erwerbungen, um sich zum Herrn der ersten Spitze der Corrèzener Gebirgskette zu machen, wo der besagte ungeheure Wald von Montégnac endigt. Seit der Steuereinführung hatte der Herzog von Navarreins keine fünfzehntausend Franken im Jahre aus dieser Herrschaft gezogen, die ehemals eine der reichsten Lehnsfolgen des Königreichs gewesen war, und deren Ländereien dem vom Konvent anbefohlenen Verkaufe ebensosehr ihrer Unfruchtbarkeit wie der erkannten Ausbeutungsunmöglichkeit wegen entgangen waren.

Als der Pfarrer die ihrer Frömmigkeit und ihres Geistes halber so berühmte Frau sah, von der er hatte sprechen hören, konnte er eine Geste der Ueberraschung nicht zurückhalten. Véronique war damals bei ihrer dritten Lebensphase angelangt, in der sie durch die Ausübung der höchsten Tugenden größer werden sollte, und während welcher sie eine ganz andere Frau wurde. Der Raffaelschen Madonna, die mit elf Jahren in den durchlöcherten Mantel der Pocken eingehüllt worden war, war die schöne, edle, leidenschaftliche Frau gefolgt; und aus diesem von innersten Unglücksfällen geschlagenem Weibe ging eine Heilige hervor. Das Gesicht hatte damals einen gelben Teint, ähnlich dem, welchen die strengen Gesichter der durch ihre Kasteiungen berühmten Aebtissinnen besitzen. Ihre Lippen waren bleich geworden, man sah dort nicht mehr die Röte der geöffneten Granatfrucht, sondern die kalten Farben einer bengalischen Rose. In den Augenwinkeln hatten die Schmerzen an der Nasenwurzel zwei perlmutterschimmernde Stellen gezogen, wo viele heimliche Tränen geflossen waren. Tränen hatten die Pockennarben ausgelöscht und die Haut verdorben. Die Neugierde heftete sich unwillkürlich auf diese Stelle, wo das blaue Netz kleiner Blutgefäße mit jähen Schlägen pulste und sich durch den Einfluß des dorthin, wie um die Tränen zu speisen, strömenden Blutes vergrößert zeigte. Der Umkreis der Augen allein bewahrte braune Farben, die unten schwarz und bei den furchtbar gefurchten Augenlidern rußfarben geworden waren. Die Wangen waren faltig und ihre Falten sprachen von schweren Gedanken. Das Kinn, wo in der Jugend eine Fleischfülle die Muskeln bedeckte, hatte sich, jedoch zum Nachteil des Ausdrucks, vermindert: es offenbarte nun eine unversöhnliche religiöse Strenge, die Véronique einzig gegen sich ausübte. Mit neunundzwanzig Jahren hatte Véronique, die sich genötigt sah, sich eine Unmenge weißer Haare ausreißen zu lassen, nur noch spärliches und dünnes Haar. Ihre Entbindung hatte ihre Haare, eine ihrer schönsten Zierden, zerstört. Ihre Magerkeit erschreckte. Trotz der ärztlichen Verbote hatte sie ihren Sohn stillen wollen. Der Arzt triumphierte in der Stadt, da er all die Veränderungen eintreten sah, welche er, für den Fall, daß Véronique wider seinen Willen nährte, vorausgesagt hatte.

»Das ist die Wirkung eines einzigen Kindbettes bei einer Frau!« sagte er. »Aber sie betet ihr Kind ja auch an. Immer hab ich bemerkt, daß Mütter ihre Kinder auf Grund des Preises, den sie sie kosten, lieben!«

Véroniques welke Augen waren nichtsdestoweniger das einzige, was jung geblieben war in ihrem Gesichte: das dunkle Blau der Iris spendete ein Feuer von seltsamem Glanze. Das Leben schien sich in sie zurückgezogen zu haben, nachdem es diese unbewegliche und kalte Maske verlassen hatte, die aber von einem frommen Ausdruck beseelt wurde, sobald es sich um den Nächsten handelte. So wichen denn auch des Pfarrers Ueberraschung und Schrecken in dem Maße, als er Madame Graslin all das Gute erklärte, das ein Besitzer in Montégnac wirken könnte, wenn er dort wohnte. Véronique wurde für einen Augenblick, erhellt durch die Lichter einer unerwarteten Zukunft, schön.

»Ich werde hinkommen,« sagte sie zu ihm. »Es wird mein Gut sein. Von Monsieur Graslin will ich mir einige Mittel anweisen lassen, und ich werde mich lebhaft Ihrem frommen Werke anschließen. Montégnac soll fruchtbar gemacht werden; wir wollen Wassermengen finden, um Ihre unbebaute Ebene zu speisen. Wie Moses schlagen Sie an einen Felsen, Tränen werden da heraussprudeln!«

Als der Pfarrer von Montégnac von seinen Freunden gefragt wurde, was er bei Madame Graslin ausgerichtet habe, sprach er von ihr wie von einer Heiligen.

Gleich am Tage nach dem Kaufe schickte Graslin einen Architekten nach Montégnac. Der Bankier wollte das Schloß, die Gärten, die Terrasse und den Park wiederherstellen, den Wald durch eine Anpflanzung erreichen, und setzte an diesen Wiederaufbau einen stolzen Eifer.

Zwei Jahre später wurde Madame Graslin von einem furchtbaren Unglück betroffen. Im August 1830 wurde Graslin durch Handels- und Bankbankerotte überrascht und trotz seiner Vorsicht mit hineingezogen. Er ertrug weder den Gedanken eines Konkurses noch den, ein in vierzig Arbeitsjahren erworbenes Vermögen von drei Millionen zu verlieren.

Die moralische Erkrankung, die sich aus seinen Aengsten ergab, verschlimmerte die in seinem Blute immer entfachte Entzündungskrankheit, und er sah sich genötigt das Bett zu hüten. Seit ihrer Schwangerschaft hatte sich Véroniques Freundschaft für Graslin bemerkbar und alle Hoffnungen ihres Verehrers Granville zunichte gemacht. Sie versuchte ihren Gatten durch unermüdliche Sorgfalt zu retten, hatte aber nur den Erfolg, die Martern ihres Mannes um einige Monate zu verlängern. Diese Frist wurde Grossetête sehr nützlich, der, als er das Ende seines ehemaligen Gehilfen voraussah, diesen um die für eine prompte Liquidation der Habe notwendigen Aufschlüsse bat. Graslin starb im April 1831 und die Verzweiflung seiner Witwe wich nur der christlichen Ergebung. Véroniques erstes Wort war, daß sie ihr eigenes Vermögen hingäbe, um die Gläubiger zu befriedigen; doch das Graslinische Vermögen reichte dazu aus, ja es blieben noch Summen übrig. Zwei Monate später ließ die Liquidation, für die Grossetête sich verwendete, Madame Graslin die Besitzung Montégnac und sechsmalhundertsechzigtausend Franken, ihr ganzes, ihr gehörendes Vermögen. Der Name ihres Sohnes blieb also makellos; Graslin schmälerte niemandes, nicht einmal seines Weibes Vermögen. Francis Graslin besaß noch etwa hunderttausend Franken. Monsieur de Granville, dem Véroniques Seelengröße und gute Eigenschaften bekannt waren, machte ihr einen Antrag, doch zur Ueberraschung von ganz Limoges wies Madame Graslin den neuen Generalprokurator unter dem Vorwande ab, daß die Kirche die zweite Ehe verdamme. Grossetête, ein verständiger Mann mit sicherem Blick, gab Véronique den Rat, ihren und Monsieur Graslins Vermögensrest in Staatsschuldscheinen anzulegen. Unverzüglich legte er die Summen im Monat Juli selber in dem der französischen Fonds an, welcher die großen Vorteile bot, drei vom Hundert einbrachten und damals für fünfzig Franken verkauft wurden. Francis hatte also sechstausend Livres Rente und seine Mutter etwa vierzigtausend. Véroniques Vermögen war noch das größte im Bezirke. Als alles geregelt worden war, zeigte Madame Graslin ihren Plan an, Limoges zu verlassen, um zu Montégnac bei Monsieur Bonnet zu leben. Von neuem rief sie den Pfarrer zu sich, um ihn über das Werk zu befragen, das er in Montégnac unternommen hatte, und an dem sie sich beteiligen wollte. Edelmütig versuchte er sie von diesem Entschlusse abzubringen, indem er ihr bewies, daß ihr Platz in der Gesellschaft sei.

»Ich bin aus dem Volke geboren worden und will zum Volke zurückkehren,« erwiderte sie.

Voller Liebe für sein Dorf widersetzte der Pfarrer sich Madame Graslins Berufung um so weniger, als sie sich freiwillig dazu verpflichtet hatte, nicht mehr in Limoges zu wohnen, wo sie das Hotel Graslin an Grossetête abtrat, der es zu seinem vollen Werte übernommen hatte, um sich für die Summen, die ihm geschuldet wurden, zu decken.

Am Tage ihrer Abreise gegen Ende des Augustmonats 1831 wollten viele ihrer Freunde Madame Graslin bis vor die Stadt begleiten. Einige kamen bis zur ersten Poststation mit. Véronique saß mit ihrer Mutter in einer Kalesche. Der vor einigen Tagen zum Bischof ernannte Abbé Dutheil befand sich mit dem alten Grossetête auf dem Vordersitze des Wagens. Als man über die place d'Aîne kam, verspürte Véronique eine heftige Empfindung; ihr Gesicht zog sich derartig zusammen, daß man das Spiel der Muskeln sehen konnte. Sie preßte ihr Kind an sich mit einer krampfhaften Bewegung, welche die Sauviat vertuschte, indem sie es ihr sofort abnahm, denn die alte Mutter schien auf die Erregung ihrer Tochter gewartet zu haben. Der Zufall wollte, daß Madame Graslin den Platz sah, wo ehedem ihres Vaters Haus gestanden hatte: lebhaft preßte sie die Hand der Sauviat, dicke Tränen perlten aus ihren Augen und rannen ihre Wangen entlang. Als sie Limoges verlassen hatte, warf sie einen letzten Blick zurück und schien ein Glücksgefühl zu empfinden, das von allen ihren Freunden bemerkt wurde. Als der Generalprokurator, jener fünfundzwanzigjährige junge Mann, den als Gatten zu nehmen sie sich weigerte, ihr mit einem lebhaften Ausdrucke des Bedauerns die Hand küßte, bemerkte der neue Bischof die seltsame Bewegung, durch die das Schwarz des Augapfels in Véroniques Augen das Blau überwucherte, welches dieses Mal so weit verdrängt wurde, daß es nur noch einen leichten Kreis bildete. Das Auge kündigte einen heftigen inneren Umschwung an.

»Ich werde ihn also nicht mehr sehen!« sagte sie ihrer Mutter ins Ohr, die diese vertrauliche Mitteilung, ohne daß ihr altes Gesicht das mindeste Gefühl zeigte, entgegennahm.

Die Sauviat wurde in diesem Augenblicke von Grossetête beobachtet, der vor ihr saß; trotz seiner Schlauheit aber konnte der alte Bankier den Haß, welchen Véronique gegen den Juristen gefaßt hatte, den sie trotzdem bei sich empfangen hatte, nicht erraten. In dieser Beziehung besitzen Kirchenleute einen umfassenderen Scharfblick als andere Männer; daher setzte denn der Bischof Véronique durch einen Priesterblick in Erstaunen.

»Sie werden also an nichts in Limoges mit Bedauern zurückdenken?« sagte Hochwürden zu Madame Graslin.

»Sie verlassen die Stadt,« antwortete sie.

»Und Monsieur wird nur noch selten dorthin zurückkehren,« fügte sie, Grossetête, der ihr Lebewohl sagte, zulächelnd.

Der Bischof geleitete Véronique bis Montégnac.

»In Trauer müßte ich diese Straße entlangpilgern,« sagte sie ihrer Mutter ins Ohr, als sie den Hügel von Saint-Léonard zu Fuß hinanstieg.

Die Alte mit dem strengen und faltigen Gesichte legte einen Finger auf ihre Lippen und wies auf den Bischof hin, der das Kind mit schrecklicher Aufmerksamkeit betrachtete. Diese Geste, besonders aber des Prälaten lichtvoller Blick, verursachten Madame Graslin etwas wie einen Schauder. Beim Anblick der unendlichen Ebenen, die ihre grauen Tücher bis vor Montégnac ausbreiteten, verloren Véroniques Augen ihr Feuer; sie wurde von Melancholie ergriffen. Dann bemerkte sie den Pfarrer, der ihr entgegenkam, und ließ ihn in den Wagen steigen.

»Das sind Ihre Domänen, Madame,« sagte Monsieur Bonnet zu ihr, indem er ihr die unbebaute Ebene zeigte.

 


 << zurück weiter >>