Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Klingsors letzter Sommer

Von den drei Erzählungen, die »Klingsors letzter Sommer« enthält, ist das Mittelstück »Klein und Wagner« die erste größere Arbeit, die Hesse im Tessin (Frühjahr 1919) geschrieben hat. Die Erzählung »Kinderseele«, die das Buch einleitet, ist schon in dem noch in Bern erschienenen »Alemannenbuch« des Seldwyla-Verlages enthalten; »Klein und Wagner« erschien zuerst, gleich manchem Aufsatz und mancher Besprechung dieser Zeit, in Vivos voco. »Klingsors letzter Sommer«, das Schlußstück des Trios, ist nicht mehr in Vivos voco oder sonst einer Berner Publikation, sondern im Deutschland der ersten Nachkriegszeit erschienen.

Stilistisch sind die beiden in Bern vorabgedruckten Stücke »Kinderseele« und »Klein und Wagner« einander, der analytischen Einschläge nach, nah verwandt; auch darin, daß sie an eine bestimmte soziale Schicht sich wenden, daß sie mit einem strengen, wohlbekannten Publikum rechnen. Nicht so die Titelerzählung. Sie macht den Eindruck, als gebe es kein Publikum mehr; als seien alle Bindungen aufgehoben; als sei keine Gesellschaft mehr vorhanden, auf die sich der Dichter beziehen, der er sich verständlich machen möchte oder könne. Diese letztere Erzählung ist eigentlich ein Monolog, auch wenn darin Zwiesprachen mit Freunden und eine Umgebung vorhanden sind. Die letzte zusammenfassende Macht, die Adresse, die Gesittung des Empfängers, dem man verantwortlich ist und der ganz bestimmte Erwartungen hegt; der vom Dichter eine Umfriedung von Instinkten und Begierden, eine Lösung von Schwierigkeiten erwartet: dieses fehlt.

»Klingsors letzter Sommer«, die Titelerzählung, ruht ganz in sich selbst. Das heißt, sie ruht nicht, sie ist aufgeregt, unruhig, von Untergangsstimmungen durchzogen. Sie ist flackernd, irr, gehetzt, eine Selbstaufhebung des Dichters, ein Durchstoßen persönlicher Behinderungen. Sie ist ein unbändiger Exzeß, eine Übertreibung und Entartung; ein Brunstschrei, wenn man will. Eine wahnartige Glut wütet in ihrem eigenen Krater, und dies vor allem darum, weil der Dichter den Glauben an ein Publikum, an eine aufnehmende und entgegenkommende, an eine wohltätige Gesittung verloren hat. Das Buch als Ganzes ist eines der merkwürdigsten, die Hesse geschrieben hat. »Man hört die Schlüssel klirren«, schrieb ein Schweizer Journalist. Gewiß, man hört sie klirren. Aber es sind Schlüssel zum tiefsten Wesen des Dichters.

Da ist zunächst der Auftakt, die Erzählung »Kinderseele«. Sie zeigt, wie ein Gewissen entsteht, ein höchst subtiles Gewissen; wie der Grund zu einem romantischen Dichter gelegt wird. Die Mittel sind grausam –: wie sollten Eltern wissen, daß sie ein Genie in die Welt gesetzt haben? Die Methoden der Gewissensbildung sind oft entsetzenerregend, wenn man die überempfindliche Verschwiegenheit, die Leidenskraft des Kindes, wenn man all das in einem Durchschnitt zu sehen bekommt. Aber auch die Anlage des Kindes, seine früh erwachten Sinne, sein Eindringen ins Elterngeheimnis, seine unbegrenzte Neigung: auch dies vermag zu schrecken. Noch jüngst ist Marcel Prousts Roman »Der Weg zu Swan« bekannt geworden. Dort ist eine ähnliche Kindheit beschrieben, ein ähnliches Umkreisen des Mutterbildes. Wie soll der Erzieher, wenn solche Neigung ihm nicht verborgen bleibt, wie soll er sich dazu verhalten? Es ist schwer zu sagen.

»Kinderseele« ist keine Kampfschrift gegen schlimme Väter, kein pädagogischer Traktat. Die Erzählung hat eher eine biologische, um nicht zu sagen eine tragische Bedeutung. Denn was die Kinderseele schwer belastet, ein Alp der Bedrohung und Verfolgung, das wird für den Dichter zur ängstlichen Subtilität der bedenkenden, wägenden Kräfte und wird für ihn zu einem Vorzug, einer Überlegenheit. Dieser väterliche Anteil, so wölfisch er sich äußern mag, schärft doch den Sinn für das Erleben, befördert ein immer tieferes Wissen um den verbotenen Bezirk. Es werden sehr zauberische, unausdenkbar süße, unaussprechlich wichtige Geheimnisse sein, die wie in »Kinderseele« so rigoros verboten, so unerbittlich mit Schlägen und Ängsten bezahlt werden müssen. Kein Totem ist möglich, kein Heiliges, ohne das Tabu, das Verbot und die Strafe. Wir leben in Europa ein wenig naiv in diesen Dingen. Wir möchten die höchsten Genüsse auskosten, ohne dafür zu bezahlen. Wir möchten die schönsten Bilderausstellungen genießen, ohne uns vorher auspeitschen zu lassen. Der Südseemann würde das nicht verstehen; eine unwiderstehliche Instinktneigung läßt er sich gerne das Leben kosten.

»Klein und Wagner«, die zweite Erzählung des Klingsorbandes, führt das Thema der ersten, das sie geheimnisvoll erläutert, weiter. Der Zauber, den der Knabe in »Kinderseele« seinem Vater zu entwenden oder hinter den er doch zu kommen sucht, ist in »Klein und Wagner« zum Geldzauber geworden. Der kleine Feigendieb wird zum Dieb und Defraudanten Klein, der seine Tausender auf die Spielbank bringt. Er wird als Beamter mit gelehrten Neigungen eingeführt. Er ist flüchtig, er fühlt sich verfolgt von unerklärlichen Mächten. Er hat Angst vor Wahnsinn, Schlaflosigkeit, Polizei und Tod. Er fühlt sich angeklagt von seinen Gedanken, von Richtern, von aller Welt. Er hat Sehnsucht nach Leid, nach Untergang, und er sinkt schließlich freiwillig ins Wasser; in den Schoß der Mutter, wie es mit einer chinesischen Formel gegen das Ende zu heißt. Was ist geschehen? Was ist es mit diesem Beamten Klein, der in Lugano ankommt wie ein schwerer Verbrecher und der doch die luganesische Landschaft zu sehen vermag, wie sie noch niemand vorher gesehen hatte, so unvergleichlich trunken, so als Erfüllung grüner Jugendsehnsucht nach dem Süden; so als phantastisches Kinderspielzeug, so lieb und einfach und doch so beschwingt wie das Paradies? Was ist es mit ihm?

Der Beamte Klein hat sein Gewissen mit einem Traumverbrechen belastet. Er war im Begriff, einen »vierfachen Mord« an Frau und Kindern zu begehen. Er ist dieser seiner Zwangsidee entgangen, indem er das greifbare Geld zusammenraffte und auf falschen Paß in den Süden reiste. In seinem Traum spielt der Name Wagner eine große, und zwar eine doppelte Rolle: Wagner, das ist ein kleiner Schullehrer, der einen ähnlichen Mord beging und dessen Tat der Beamte Klein damals, ohne an Ähnliches zu denken, zugestimmt hat. Wagner ist aber auch Richard Wagner, zu dem er als zwanzigjähriger Jüngling eine schwärmerische Neigung hatte. Wagner, das ist auch der Komponist, der den Lohengrin geschrieben hat, jenes Maskenspiel von einem irrenden Ritter mit geheimnisvollem Ziel, dessen Namen man nicht erfragen darf. Der Beamte Klein fühlt sich dem einen und dem andern Wagner verwandt. Er selbst wäre an einer gealterten Frau, von der er sich heiraten ließ, um ein Haar zum Mörder geworden, aus tiefem unbewußten Zwang, weil diese Frau seinen hochfliegenden Jünglingstraum, den romantischen, den Lohengrin-Traum, nahezu getötet und erstickt hat. Noch immer trägt Klein, auch im Süden, auch in der neuen Landschaft, die ihn umgibt, ein Bändchen Schopenhauer mit sich herum. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er die »Unzeitgemäßen Betrachtungen« gelesen hat, die Nietzsche, da er für Wagner schwärmte, im Norden, in Basel schrieb.

Wie hängen nun so bösartige Traumneigungen mit den höchsten und süßesten Aufschwüngen der Kunst und der Menschheit, mit der überirdischen Liebe und Gralsverehrung zusammen? Wie ist es beispielsweise möglich, daß dasselbe Volk, das einen solchen Wagner hervorgebracht hat und seine jenseitigen Stücke abgöttisch verehrt –, daß dieses selbe Volk sich berserkerhaft in einen Krieg stürzen und alle Romantik, alle Liebe vergessen haben kann? Wie ist es möglich, daß der Schwärmer selbst, er, der Beamte Klein, den Musiker und auch den Mörder Wagner nebeneinander in sich trägt? Das ist die Frage für den Flüchtling, und das ist auch die Frage des Dichters.

Es ist da eine Widersprüchlichkeit der Instinkte, die unverkennbar den Charakter des romantischen Genies und den Charakter des Deutschen mit demjenigen des Beamten Klein verbindet. Vielleicht hat die mörderische Strenge einer Erziehung wie »Kinderseele« sie entrollt, vielleicht hat solche Erziehung, auf eine sehr jenseitige, sehr musikalische, sehr lohengrinhafte Uranlage stoßend, jene zwei Welten, des Mordes und der transzendenten Liebe, überhaupt erst miteinander in Konflikt gebracht und gegenseitig in solcher Schärfe ausgebildet. Wie dem auch sei: Mord und Liebe liegen nahe verschwistert im Seelengrunde des Beamten Klein; er empfindet eine merkwürdige Vertauschbarkeit dieser beiden Instinkte. Er hätte den ihm von innen her aufgedrungenen Mord nahezu ausgeführt, und er lebt, selbst in der heilenden südlichen Landschaft, die er sich verschrieben hat, wie ein Selbstmörder, verbrassend, was er entwendet, und sein eigenes Leben vernichtend.

Und warum rudert er am Ende auf den See hinaus und läßt sich ins Wasser fallen? Er hat bei einer kleinen Forschungstour in die ländliche Umgebung der blauen tessiner Stadt ein nächtliches Abenteuer mit seiner Gastgeberin gehabt. Diese »zweifelhafte und anrüchige Geschichte« hat seine ganze gehobene Stimmung vom vorigen Tag vernichtet. Noch in der Nacht ist er aus dem kleinen Albergo geflüchtet; das Erlebnis aber hat ihm seine heilig-liebenswerte Welt völlig verwirrt. im anschließenden Traum kämpft er mit zwei Frauen, von denen er die eine mit dem Dolche durchstößt, während die andere ihn, rächend, mit Krallen umschlingt.

Der Beamte Klein trägt offenbar einen Dämon in sich. Dieser Dämon heißt bald Präzeptor Wagner, bald Richard Wagner. Es gibt vor ihm keine Flucht. Hat Richard Wagner die Oberhand, so genügt ein törichtes Liebeserlebnis, den Präzeptor Wagner zu erwecken und die verschwiegene Hölle, den tiefen Verbrecherwahn in Bewegung zu setzen. Klein aber wird geneigt sein, auf Liebeswerben mit Totschlägermanieren zu antworten. Er wird zerstören, was ihn berührt, vernichten müssen, was ihm Wollust bringt; weil Liebe und Mord, weil der Exzeß der Verehrung unerträglich mit einem Exzeß der Vernichtung, der Strafe, der Verteufelung verknüpft ist.

So geht er in den Tod. Die geheime Feder seines Reagierens aber bleibt ihm verborgen. »Ach«, sagt der Dichter, »man wußte so wenig, so verzweifelt wenig vom Menschen! Hundert Jahreszahlen von lächerlichen Schlachten und Namen von lächerlichen Königen hatte man in den Schulen gelernt. Aber vom Menschen wußte man nichts! Wenn eine Glocke nicht schellte, wenn ein Ofen rauchte, wenn ein Rad in einer Maschine stockte, so wußte man sogleich, wo zu suchen sei. Aber das Ding in uns, das allein lebt, das allein fähig ist, Lust und Weh zu fühlen, Glück zu begehren, Glück zu erleben – das war unbekannt, von dem wußte man nichts, gar nichts, und wenn es krank wurde, gab es keine Heilung. War es nicht wahnsinnig?«

»Klein und Wagner« ist noch ganz an die Berner Erlebnisreihe gebunden. Der Krieg, die Auflösung der Ehe sind bis in die Traumerschütterungen hinein verfolgt und durchlitten. Damit beginnt auch das Interesse des Dichters für jene Fragen, die ihn einige Jahre später unter dem Sammelwort einer Biologie des Genies beschäftigen. Die Natur des Deutschen, die Natur des Romantikers, die eigene Natur ist dem Dichter in ihrer Fragwürdigkeit aufgegangen. Das Thema ist so groß und ernst, daß es alles andere Schicksal, alle weitere »Objektivierung« von Erlebnissen in fremder Gestalt, in sogenannten Romanen vergessen läßt. Hesse schreibt seit »Demian« seinen eigenen Roman; er sucht sein eigenes Leben, das er als Typus empfindet, zu deuten. Das Schlußstück des Klingsor-Trios krönt den ersten Versuch. Die vielverschlungene Zauber- und Motivmusik des Bayreuther Meisters ist darin auf den festen Umriß der Sprache, das tolle Orchester auf eine Kammermusik reduziert.

»Klingsors Zaubergarten ist gefunden!« schrieb Richard Wagner, als er nach Ravello kam und in der Villa Ruffoli von der breiten Zypressen- und Blumenterrasse hinaussah auf den unendlichen Azur des Tyrrhenischen Meers. »Klingsors Zaubergarten ist gefunden!« so hätte auch der Romantiker Hesse ausrufen können, als er eines Tages im Frühling 1919 nach Montagnola hinaufkam und vom kleinen Balkon des Camuzzi-Hauses über den Terrassengarten und den Luganer See bis weit in die Schneeberge sah. Ich habe beide Gärten, den des Palazzo Ruffoli und den des Palazzo Camuzzi, und beide im Frühling gesehen. Der Vergleich ist frappant; das Verhältnis der tragischen Oper zum Streichquartett und des heroischen Panoramas zum passionierten Idyll ist in den beiden Gärten aufs schönste ausgedrückt. Die Analogie geht so weit, daß auch die maurische Gotik von Ravello ihr Widerspiel findet in den moresken Türmchen und Söllern des Palazzo Camuzzi. Was dort in Süditalien architektonisch echter und landschaftlich größer erscheint, das findet in Montagnola sich ausgeglichen durch die echtere Wesensart des Dichters, der hier wohnt. Es scheint in der Tat, als sei einmal ein Sprößling der Familie Camuzzi nach Ravello gekommen, ehe er im malerischen Tessin sein Haus baute und seinen Garten anlegte.

Hesse hat den Camuzzi-Garten im »Klingsor« gleich zu Beginn, und also im ersten Tessiner Sommer, der Klingsors letzter werden sollte, beschrieben. »Klingsor stand, nach Mitternacht, von einem Nachtgang heimgekehrt, auf dem schmalen Steinbalkon seines Arbeitszimmers. Unter ihm sank tief und schwindelnd der alte Terrassengarten hinab, ein tief durchschattetes Gewühl dichter Baumwipfel, Palmen, Zedern, Kastanien, Judasbaum, Blutbuche, Eukalyptus, durchklettert von Schlingpflanzen, Lianen, Glyzinen. Unter der Baumschwärze schimmerten blaßspiegelnd die großen blechernen Blätter der Sommermagnolien, riesige schneeweiße Blüten dazwischen halbgeschlossen, groß wie Menschenköpfe, bleich wie Mond und Elfenbein, von denen durchdringend und beschwingt ein inniger Zitronengeruch herüberkam. Aus unbestimmter Ferne her mit müden Schwingen kam Musik geflogen, vielleicht eine Gitarre, vielleicht ein Klavier, nicht zu unterscheiden. In den Geflügelhöfen schrie plötzlich ein Pfau auf, zwei-, dreimal, und durchriß die waldige Nacht mit dem kurzen, bösen und hölzernen Ton seiner gepeinigten Stimme, wie wenn das Leid aller Tierwelt ungeschlacht und schrill aus der Tiefe schelte. See, Berge und Himmel flossen in der Ferne ineinander.«

Das könnte ein Auftakt sein zu »Tristan und Isolde«. Diese Musik ließe sich auch in Ravello hören. Sie hat einen tiefen Schmerzakzent und alle Qual der Liebe, wo sie vom Tod nicht mehr zu trennen und zu unterscheiden ist. Und merkwürdig genug: der schwüle, üppige, girrende Ton dieser Schlußnovelle; dieses Hangen und Klagen und Stöhnen mit der Vergänglichkeit; dieses Stürzen in den Abgrund und Aufflammen von der Tiefe her; dieselbe Chromatik der leidenden und der wollüstigen Töne, die sich überschreien, übersteigern, die sich aufbäumen und versinken: sie sind beiden Meistern, dem von Ravello und dem von Montagnola, eigen. Ein Furioso der Leidenschaft durchstößt alle Grenzen, droht die idyllische Landschaft zu sprengen, geht bis zur Selbstaufhebung und zärtlichen Verliebtheit ins Ende.

Es ist die Spätromantik, die versäumtes Lieben, versäumtes Leben, versäumte Tierheit kennt und im letzten Aufbäumen die Jugend nachzuholen versucht, sie aber überbietet durch alles gereifte Wissen des Alters. Es ist die ganze, auch die französische Spätromantik, die hier auf wenige brennende Blätter zusammengedrängt erscheint. Es sind entartete, atavistische Züge in ihr, die vom Zurückverlangen zur Mutter schmerzlich getragen sind. Es sind Züge in ihr von Monomanie und Selbstanbetung und Züge des Verfallenden und Untergehenden. »Das ist es, heißt es gegen den Schluß der Novelle, was einige Freunde an dem Bilde besonders lieben. Sie sagen: es ist der Mensch, ecce homo, der müde, gierige, wilde, kindliche und raffinierte Mensch unserer späten Zeit, der sterbende, sterbenwollende Europamensch: von jeder Sehnsucht verfeinert, von jedem Laster krank, vom Wissen um seinen Untergang enthusiastisch beseelt, zu jedem Fortschritt bereit, zu jedem Rückschritt reif, ganz Glut und auch ganz Müdigkeit, dem Schicksal und dem Schmerz ergeben wie der Morphinist dem Gift, vereinsamt, ausgehöhlt, uralt, Faust zugleich und Karamasow, Tier und Weiser, ganz entblößt, ganz ohne Ehrgeiz, ganz nackt, voll von Kinderangst vor dem Tode und voll von müder Bereitschaft zu sterben.«

Ich kenne wenig Seiten, selbst bei den Größten, von einer Fülle und Dichtigkeit wie jene sechs Seiten aus Hesses »Klingsor«, die das Selbstbildnis des sterbenden Romantikers, des Klingsor-Deutschen enthalten. Die Sprache dieser Novelle geht, wenn ich so sagen darf, weit über des Dichters eigenes Maß hinaus. Es ereignet sich hier der seltene Fall, daß der Künstler eine Wesenssphäre ergreift und erschöpft, die man vorher nicht als ihm zugehörig vorausgesetzt hatte. Das ist nur dem Medium möglich, das auf den eigenen Willen verzichtet hat; dessen Organe infolge einer letzten Erschütterung zum Werkzeug des Notwendigen und der Symbole selber werden. Der spätromantische Zug, der bisher einzig im »Lauscher« aufgefallen war, dieser Zug, der auf die dionysischen Studien von Basel und Tribschen zurückverweist, gewinnt hier unvermutet die Ausdehnung einer Hochflut und zerstört vollends das enge und etwas gedrückte Bild, das man bis zum »Demian« von diesem Dichter hatte.

Über den Gegensatz von Musiker und Maler in Hesses Werk sprach ich bereits gelegentlich der Romane »Gertrud« und »Roßhalde«. Aber dort war das Problem noch kaum bewußt und jedenfalls nicht die Hauptsache. Hier nun, im »Klingsor«, stoßen die beiden Welten in einer typischen Figur zusammen. Die »Musik des Untergangs« vernimmt ein Maler, das heißt nach Hesse ein Künstler, der nicht an ein abstraktes Gehör, sondern an Wirklichkeit und Greifbarkeit gebunden ist. Das verschärft alle Leiden. Und Klingsor selbst, der Zauberkönig, ist nicht ein Musiker mehr, sondern abermals: ein Maler, wenn auch als solcher immer noch ein Orgiast. Die Musik soll ihn vom Naturalismus der Farbe befreien. Man könnte aber umgekehrt auch sagen, daß ihm die Malerei dazu dienen soll, die Musik zu fesseln, zu bändigen, zu naturalisieren. Auf die Musik des Untergangs folgt im »Klingsor« das Selbstporträt. In diesem Selbstporträt ist die untergehende Musik aufgefangen. Das bedeutet aber, daß die Leidenschaften sichtbar und überwindungsfähig geworden sind. So schrieb van Gogh: »Und im Gemälde möchte ich eine Sache sagen tröstlich wie Musik.«

An van Gogh muß man bei der Lektüre dieses »Klingsor« heftig denken. Zweimal wird er im Buche zwar nicht genannt, aber doch gestreift. Arles ist genannt, und auch Gauguin ist genannt. Van Gogh aber steht dem Dichter besonders nahe: der artistischen Entwicklung nach, die von den reinen, subtilen Farbtönen des Impressionismus aus gewaltsam ins eigene Innere vordringt, und auch der Herkunft nach: indem beide (Hesse von der Dubois-Seite, der Mutter her) Calvinistenblut in den Adern haben. Wie ein Alb lastet auch auf van Gogh die Tradition des Genfer Reformators, der nur eine schrecklich erhabene Gottheit mit einer absoluten, in ein drohendes Dunkel gehüllten Vorherbestimmung des einzelnen kennt. Das Empfinden van Goghs, als er zum erstenmal nach Arles kommt, gleicht demjenigen Hesses in der ersten Zeit seines Tessiner Aufenthaltes auf ein Haar.

Noch einen dritten könnte man hier nennen: den Dichter Hölderlin zur Zeit seines Aufenthaltes in Südfrankreich. Diese Künstler aus Pietisten- und Calvinistenblut droht dann ihre lang verdrängte Phantastik ausbrechend zu zerreißen. Sie geraten in eine Arbeitswut, um die andrängende Fülle zu entgiften. Sie balancieren unvermutet auf jener schmalen Grenze zwischen Wahn und Form, von der ein Dante geschrieben hat, daß er den Fuß an jene Stelle des Lebens gesetzt habe, über welche keiner hinausgehen kann, der die Absicht hat, wiederzukehren.


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