Hugo Ball
Hermann Hesse
Hugo Ball

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Die Kindheit

Hermann Hesse ist das jugendliche Volkslied, in unendlicher Variation. Er ist ohne das Volkslied nicht zu denken; es singt sich gut beim Lesen seiner Bücher. Und doch ist er mehr als das Volkslied; er ist dessen Hintergrund, dessen Höhe und Tiefe, dessen Geheimnis und Interpret. Einmal heißt das Thema »Am Brunnen vor dem Tore«, dann »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus«, dann »Guten Morgen, Spielmann, wo bleibst du so lang?«, und so fort, die ganzen deutschen Liederbücher durch, bis zum geistlichen Lied, zur Kantate und zur Passion. Die zugrundeliegende Melodie ist oft kaum mehr zu erkennen; die Modulationen und Arabesken, die Koloratur und der Kontrapunkt verbergen die Grundmelodie. Bald ist man an Schuberts und Hugo Wolfs kristallene Bäche und schimmernde Horizonte erinnert, bald an Chopins schluchzende Feste; dann ist zuletzt auch noch Mozart da, der die Stimmen energisch zusammenrafft. Immer aber liegt das Volkslied zugrunde, das deutsche, und später wohl auch das italienische. Wer diesen Dichter ehren will, der mag ihm Lieder singen, wie sie vom Muttermunde, auf der Schulbank und beim Wandern zu lernen und zu singen sind.

Hermann Hesse ist der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut. Wird er sich plötzlich umdrehen, dieser Ritter, und eine neue Front aufbieten? Wer weiß es. Er ist der letzte aus der ungebrochenen Linie des Jean Paul, mit dem ihn die Liebe zu allen Sternen, zu Schmetterlingen und Papageien, zu leuchtenden Paradiesen und eingesponnenen Sonderlingen, zu allen Aventüren der Freundschaft und der nervösen Herzensergüsse verbindet. Er ist der fromme, graziöse und auch der belastete Romantiker aus der Schule der Brentano und Hölderlin. Er grüßt die Sternbalde, Schlemihle und Taugenichtse. All deren wehmütige und lustige Tonfälle trägt er im Blut; all ihre himmelblaue und goldene Kindsköpfigkeit hat er aufgenommen. Von ihren Furcht-, Nacht- und Troststücken erfüllt ist sein Werk. Er ist der letzte aus diesem Zuge und also auch derjenige, der die Summe ihrer Erfahrung und ihrer Nöte, ihrer weltfernen Leiden und überströmenden Sehnsüchte trägt. Von Sonne, Mond und Sternen spricht sein Werk, und sie sind noch immer wie einst. Von Blumen, Vögeln und Fischen, und sie sind um ihrer selbst willen da. Und da sich im Menschen all diese trefflichen Meisterstücke des Schöpfers in immer wieder erstaunlicher Mischung spiegeln, so ist er der Freund und Bruder auch des Menschen, wiewohl der Mensch nur selten, nur in der Liebe zur Kreatur, als der Erleuchtete und allem Leben Verbundene, als Franziskus und Buddha die tote und die belebte Natur übertrifft.

Ländlich-holde Bläsermusik begleitet diesen Zauberer, wenn er auftritt. Es leuchtet, blüht und stöhnt; es fliegt, zwitschert und schluchzt in seinen Büchern. Die Tiere bekommen Menschengesicht, und die Menschentiefe bewegt ein seltsames Geschiebe von Tier- und Pflanzenseelen, von Urwald- und Dschungeldüften; von all den fremden, klingenden Dingen, die der Traumbereich und die Sinne zu fassen vermögen.

Dieser Dichter liebt nicht die Monstrebücher und großen Formate; nicht bei andern und nicht bei sich selbst. Talent haben, heißt ihm Talent verbergen. Die Kunst des Schreibens besteht im Weglassen und Einsparen, im Reduzieren. Ein Satz, ja eine Geste oder ein Schweigen ersetzen in seinen Büchern den Aufwand ganzer Kapitel. Nicht die Maschinerie des Romans und nicht das Theater der aufgetragenen Leidenschaften sind ihm verfänglich; weder die Abstraktion und das Gemächte der Absicht, noch die furiose Gewalt des Genies. Das Kabinettstück ist seine Sache. Langsames Wachsen und Reifen, ein Aufleuchten der Gnade; Jungsein und Altsein und Wiedergeburt –: das sind die Quellen seiner Erzählung. Wie in der zierlichen Sinfonietta die einzelnen Sätze einander ablösen mit der Verpflichtung zu Wechsel und Kontrast, so kennzeichnet das Werk dieses Dichters mehr der Gegensatz und das verschlungene Motiv als der bewußte und kahle Gedanke.

Merkwürdig genug: dieser Musikus, der die Flöte zu spielen versteht, ist zugleich ein hervorragender Bildner. Die Musik ist immer zuerst da, schon von weitem her, wenn er kommt. Sie läuft ihm voraus, sie begleitet ihn; dann umtanzt sie die Bilderbogen, die er aufrollt. Und dies ist selten, und lustig und traurig zugleich; weil dann die schönen Dinge gar sehr vorhanden und süß sind und doch vergänglich erscheinen; weil sie den festlichen Tod im Gesichte tragen und schon die beginnende Gnade der Wiederkehr. Mit Auge und Ohr zugleich umfaßt dieser große Künstler die Gegenstände, und immer mit gleich verteilter Schärfe. Kein Gedanke, der sich ihm nicht in Bild und Musik, in eine wohlklingende Schildnerei auflöste. Er lauscht und zeichnet. Er hat die gemessene Logik eines Architekten, und doch auch die stille Geduld eines Gärtners, der warten kann, bis sich die schmächtige Pflanzung zum tragenden Wipfel verzweigt.

Es gibt heute keinen zweiten Dichter, der so sehr die Tradition für sich hat und so bewußt in ihr ruht. Die Ruhe ist ihm eigen wie dem Baume im Park und im Walde, der Ulme und Esche, die aufwachsen, Ringe gewinnen und sich im Abendwind wiegen. Die Ruhe ist ihm so eigen wie dem Brunnen, der in sich verspielt und versunken ist, und dem still fließenden Gewässer, das in seinen eigenen Kreislauf mündet. Der Wald gehört ihm, der Schwarzwald und der Odenwald; noch heute, er weiß es wohl. Ihm gehört der schlafende Garten, die tönende Nacht und das Urbild der Mutter, der freundliche Tod, für den er das franziskanische Bruderwort findet.

Und es gibt keinen Zweiten heute, der so allem Echten, Dauernden, Liebenden auch im geistigen Bezirke zugetan und verschworen wäre. Für die durchdringenden Augen dieses Mannes gibt es kein Flunkern, kein Klopfreden, keinen Firlefanz. Wie seiner Worte Form und Treue erkämpft und errungen ist, mit mancherlei Irrweg und Scham, mit mancherlei Aufbruch und Heimweh, mit Scherbengeklirr und mit wehem Verzicht, so sieht er im Getümmel der Schreiber und Sprecher, der Bildner und Musikanten auf das Herz vor allem, daß es genau und richtig schlage; daß es gelitten habe und seinen Glanz behalten; daß es ritterlich sich darbringe; daß es im Denken der Väter ruhe und doch ein neu Lied und ein neuer Beginn aus sich selber wäre.

Es ist nicht immer so gewesen; nicht immer klangen die Töne so voll und sonor; so gegenwärtig und ihrer selbst gewiß. Das Künstlerideal des jungen Hesse wächst sehr entlegen heran. Er entnimmt es aus Büchern; sehr guten, alten, bewährten Büchern, aber immerhin der Lektüre, nicht der Erfahrung. Er stand nicht in namhaften Spannungen seiner Zeit; nicht im großen Strom einer Clique, einer Richtung, einer Kameraderie hochgemuter Freunde und ebenbürtiger Begabung. Die Großstadt hat ihn nie berührt; mit ihren Höllen nicht und nicht mir ihren Himmeln.

Er nimmt sein Ideal aus Biographien verschollener Zeiten; seine Beispiele aus altitalienischen Legenden und Novellisten, seine ganze Lebendigkeit von der Natur. Aus dem Maulbronner Seminar, wo er den »Werther« und Heine liest, entläuft er mit allerlei Umwegen in eine Tübinger Buchhandlung, bedient dort Studenten und Professoren; sitzt, zwanzigjährig, in Stapeln von Büchern bis über den Kopf und bleibt dabei immer frischer, als wenn er Germanistik studierte. Er gerät in die Schlingen eines sentiment prémature; schreibt schon und publiziert in angesehenen Verlagen, ohne außer sich selbst auch nur einen einzigen zeitgenössischen Dichter gesehen zu haben.

Seine jugendliche Auffassung vom Artisten ist diejenige, die Vasari und der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts teuer war. Der Dichter als spezialisierter Poet ist kaum vorhanden; er lehnt sich an den fahrenden Gesellen, an den noch handwerklich gebundenen Maler an. In Samtjoppe und Barett, wenn nicht eine Spielhahnfeder am Hut, erweist dieser Künstler mit Streichen à la Boccaccio die Kraft seines Naturells. In winkeligen Nachtquartieren weiß er spaniolische Komplimente zu drechseln, um zu Hause in einsamer Trauer den edleren Teil seiner Seele in Skrupeln und Wonnen entströmen zu lassen. In dieses Ideal mischen sich die dämonischen Geiger des Lenau, die fröhlichen Lautenschläger der Renaissance, die musikalischen Käuze des E. T. A. Hoffmann mit ihrer schattenhaften Vertauschung von Nacht und Tag. Und mischen sich, als der junge Hesse aus der Tübinger Buchhandlung 1897 in eine Baslerische einwandert, die stillen Züge studierender Mönche aus den chronikalischen Büchern des Jacob Burckhardt.

Selbst die Ehe des Dichters vermag diesen hartnäckig abseitigen Traum nicht zu brechen; er wird sich im eigenen Hause ein Turmzimmer einrichten und es mit Stachligkeiten verbarrikadieren. Die Gattin aus altem Basler Geschlecht ist viel zu tief in die Ahnenreihe versunken; Festen und froher Geselligkeit ist sie ganz abgeneigt. So bleibt der Künstler ein Eigenbrötler, wenn nicht ein Widersacher; bleibt er der Einsame und Isolierte in einer entlegenen Kammer. Erst 1911 mit einer Reise nach Indien, und eigentlich erst im Kriege, und noch später 1919 mit der Übersiedlung von Bern in den Tessin beginnt die menschliche Anonymität des Autors sich aufzulösen und mitzuteilen.

Die gleiche Schwierigkeit, zur Umwelt ein erträgliches Verhältnis zu finden, spiegelt Hesses Werk. Ein entschiedener Realismus ist zwar im »Camenzind« schon vorhanden, aber drei sehr ungegenständliche, musikalisch-verschwärmte Erstlinge gingen voraus. Der »Camenzind« selbst ist ein offener Affront der modernen Kultur und Gesellschaft. Will man dies aber nicht gelten lassen, so ist doch die Wirklichkeit, die das Buch vertritt, von der üblichen sehr verschieden. Wenn man die Notizbücher, von denen im »Camenzind« die Rede ist, neben die gleichzeitigen eines Zola hält, dann fehlen die Zylinderhüte der Minister, die Strumpfbänder und die Warenhäuser; dann fehlen die Parfüme der feinen Damen, die schwieligen Arbeiterhände und die Karosserie einer heutigen Stadt. Dann ist Hesses Wirklichkeit ein Ausschnitt, ein Paradies helläugiger Knabenjahre; dann werden die sichtbaren Bilder nur anerkannt, soweit sie Dauer und Tragkraft haben für Ton und fromme Beströmung. Aber man täusche sich nicht! Dasselbe Werk, das erst harmlos und idyllisch aussieht, enthält einen Gegensatz zur heutigen Bildung, der unbehaglich und gefährlich werden kann. Nur von der Ausdauer des Dichters hängt es ab; nur von der anwachsenden Fülle und Umsicht seines Bestrebens.

In den am Bodensee geschriebenen Büchern ist Hesse ganz ebenso wie im »Camenzind« bemüht, auf alle gesellschaftliche Problematik zu verzichten. Wie kann man die Zeit umgehen? Wie kann man aus Nimikon und Assisi sein und sich trotzdem behaupten? Diese Frage ist heute aktueller als je; aber es fehlt Hesse damals noch die Kenntnis der verachteten Welt. Man kann im heutigen Europa mit dreißig Jahren kein Simson sein, der den Tempel zum Einsturz bringt. Er hat sich zu früh zurückgezogen, zu früh gebunden und festgelegt; er verschwendet seine Kraft an Figuren, die keine mehr sind; er verniedlicht sich. Auch Rousseau ist ein »Idylliker« gewesen; aber er hatte die Enzyklopädisten und alle Raffinesse der Stadt Paris in sich aufgenommen, als er ging. Hesse kennt seine damalige Schwäche wohl. Er sucht in jenen frühen Büchern ein sympathisches Alibi. Er bleibt in den minderen Publikationen auf der Stoffsuche und beim Schema, in den stärkeren greift er zur Nobilitierung. Die eigene reichliche Unterströmung wäre interessant genug zur Mitteilung, aber der Dichter fühlt sich ihr nicht gewachsen; Leben, Wissen, Erfahrung reichen nicht aus. Er ist weit weniger selbstzufrieden, als man annehmen könnte. Aber er behält seine Konflikte und seine Reserven für sich.

Erst mit dem Kriege wird es anders. Eine bis dahin vorhandene moralische Verschüchterung, eine überängstliche Pietät fällt dahin; es handelt sich ja um ganz andere Gewichte und Perspektiven. Eine noch gar nicht gehobene innere Weit, eher unheimlich als idyllisch, beginnt sich zu regen. Die übermenschlichen Depressionen und Angstschreie der Kriegsjahre finden in Hesse eine unsägliche Resonanz. Die Greuelrealistik drängt sich so unerbittlich auf, daß sie den Musiker in Hesse wachzurütteln vermag. Aber noch »Demian« ist tief in die Schatten verliebt und mehr ein Werk medialer und symbolistischer Prägung als eine greifbare Inkarnation. Erst im Tessin (mit den Publikationen von 1919 beginnend) löst sich die Abwesenheit auch in den Werken. Jetzt in den Jahren der Inflation, wo alles Feste zerfällt und in Luft aufgeht, meldet sich der »Camenzind« wieder. Jetzt erst wird die besondere Art der Gegenständlichkeit Hesses vernehmbar.

Man vergleiche den »Siddhartha«, wo der Camenzind-Realismus knapp und männlich, mit religiösem Akzent auftritt: »Einen Stein kann ich lieben, Gowinda, und auch einen Baum oder ein Stück Rinde. Das sind Dinge, und Dinge kann man lieben. Worte aber kann ich nicht lieben. Darum sind Lehren nichts für mich, sie haben keine Härte, keine Weiche, keine Farben, keine Kanten, keinen Geruch, keinen Geschmack, sie haben nichts als Worte. Es gibt kein Ding, das Nirwana wäre; es gibt nur das Wort Nirwana.« Das ist die alte Kampfansage gegen schöne Tiraden und modisches Zungenreden. Das ist ein Versuch, die Frömmigkeit ganz an die Sinnenbilder zu heften.

Und man vergleiche den »Kurgast«, wo dieselbe Sprache leidenschaftlich aggressiv wird:

»Wie, also auch die Kurgäste sind für Sie keine Wirklichkeit? Also zum Beispiel ich, der Mann, der mit Ihnen redet, soll keine Wirklichkeit sein?«

»Es tut mir leid, ich möchte Sie gewiß nicht verletzen, aber in der Tat sind Sie für mich ohne Wirklichkeit. Sie sind, wie Sie sich mir darstellen, ohne jene überzeugenden Züge, die uns das Wahrgenommene zum Erlebten, das Geschehen zur Wirklichkeit machen. Sie existieren, mein Herr, dies kann ich nicht bestreiten. Sie existieren aber auf einer Ebene, welche einer zeitlich-räumlichen Wirklichkeit in meinen Augen ermangelt. Sie existieren, möchte ich sagen, auf einer Ebene des Papiers, des Geldes und Kredits, der Moral, der Gesetze, des Geistes, der Achtbarkeit. Sie sind ein Raum- und Zeitgenosse der Tugend, des kategorischen Imperativs und der Vernunft, und vielleicht sind Sie sogar mit dem Ding an sich oder dem Kapitalismus verwandt. Aber Sie haben nicht die Wirklichkeit, die mich bei jedem Stein oder Baum, bei jeder Kröte, bei jedem Vogel unmittelbar überzeugt... ich kann Sie anzweifeln oder gelten lassen, aber es ist mir unmöglich, Sie zu erleben, es ist mir unmöglich, Sie zu lieben...«

Da ist er schon, der Bildungsgegensatz, und ist ein Kampf auf Tod und Leben. Die kreatürliche Welt des Dichters gegen die fadenscheinige Zutat; gegen die mechanisierte Welt der Kesselringe in allen ihren Bezügen. Von hier zu den anarchistischen Abendunterhaltungen des »Steppenwolf« ist nur ein kleiner Schritt. Er ist ausgefüllt mit immer bewußterer Neugierde für den Gegner; für seine sinnliche sowohl wie für seine geistige Position. Wer ihn ganz in sich aufnimmt, wird ihn überwinden.

Nun erst beginnt die sehr gewitzigte, sehr erfahrene, sehr vorsichtige Gärtnerei des gegenwärtigen Hesse. Seine lange Abwesenheit hat ihn vor der Verwüstung bewahrt. Sein präzises, blutig errungenes Wort hat ein Gewicht wie kein anderes Wort von heute. Seine Stimme wird in allen Schichten der Nation vernommen, und er ist jung geblieben. Er hat die Problematik in sich aufgenommen und doch nur so wie ein Traumwandler; er blieb unberührt. Elastisch und mit angespannten Sinnen folgt er dem Gang der Dinge; dem Sturz einer morschen Zivilisation. Mit aller Magie einer orientalischen Welt gewappnet, empfindet er sich als den verkörperten Anachronismus. Er steht ganz allein; er sucht nur das Leben noch einigermaßen erträglich zu finden. Sich selbst will er erfassen, nichts anderes mehr; doch in der eigenen Anlage, Grenze und Not den ihm erreichbaren Teil der Nation, sei sie mütterlich umfangend oder kainhaft und steppenwölfisch, sei sie dem Lichte verschworen oder dämonischem Dunkel, oder beidem zugleich in seltsamem Wechsel von Keuschheit und Trieb.

Die Kindheit Hermann Hesses ist erfüllt von Jenseitsblumenduft und bitteren Todesengeln; von Streichelhänden, Tränen und Beängstigungen, die das gewöhnliche Maß weit übersteigen. Diese Kindheit ist tief in Geheimnisse getaucht, und Hesses Schreibweise ist es stets geblieben. Wie in einen unergründlichen Schacht, wie in den Brunnen des Lebens selber kehrt der Dichter stets zu den Orten seiner ersten Kinder- und Knabenjahre zurück. Auf den frühesten Eindrücken reiht er seine Erlebnisse auf. Immer wieder umkreist er die Anfänge seines Lebens, schichtet alles Spätere darüber; schneidet die Runen schärfer, wiederholt sich, läßt eine tiefere Spur. Er kann sich nicht genugtun, dieselben Wege immer wieder zu gehen, mit immer wieder anderen Augen dasselbe frühe Rätsel, dasselbe versunkene Glück zu umkreisen.

Diese Kindheit mit ihren bunten Himmelsfenstern und ihren Trauerhöllen, mit ihren morgendlich strahlenden Impulsen und ihrem flügelmüden Verzicht; mit ihrem hellen Siegfriedwissen und ihrem abdankenden Waffenstrecken –: sie ist in allen Büchern Hesses vorhanden, auch wenn nicht ausdrücklich sollte von ihr gesprochen werden. Ihre Darstellung ist Hesses eigentliche Lust, für die er eine Mission hat; sie ist der große, alle Welt umfassende Gegenstand, der seine Bücher unvergilbt erhalten wird. Nur um die kleine Spielwelt geht es, die er immer wieder lächelnd aufbauen und unerbittlich verteidigen wird, gegen Zwang und kahles Gesetz, gegen mäkelnde Lehrer und ertappende Professoren, gegen die aasenden Kondottieren der technischen Welt; ja gegen das eigene Altern und gegen die eigene, vom Loben und Singen ermüdete Seele. Dieser Dichter ist der getreue Eckehart, der uns den Wunderkrug füllt.

Über die ersten drei Kindheitsjahre in Calw berichtet das Tagebuch der Mutter: »Am Montag, den 2. Juli 1877, nach schwerem Tag schenkte Gott in seiner Gnade abends ½7 Uhr das heißersehnte Kind, ein sehr großes, schweres, schönes Kind, das gleich Hunger hatte, die hellen blauen Augen nach der Helle dreht und den Kopf selbständig dem Licht zuwendet; ein Prachtexemplar von einem gesunden, kräftigen Burschen. Heute, 20. Juli, nach achtzehn Tagen schreibe ich dies. Gott sei Dank für alle Barmherzigkeit.«


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