Josef Baierlein
Der Derotero des Indianers
Josef Baierlein

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13.
Das Terremoto von 1860.

Nachdem der Vater Winkler mit seinen drei Söhnen das Bankgeschäft verlassen hatte, gingen sie miteinander, ohne ein Wort zu sprechen, in der Richtung nach der Osteria fort, wo sie eingekehrt waren. Der Umschwung ihrer Verhältnisse war zu überwältigend und nahm ihnen gleichsam die Sprache. Zwei Millionen Pesos oder wenigstens annähernd so viel sollten sie in kurzem erhalten! Das war kaum auszudenken, und der Vater Winkler hätte bald an der Wirklichkeit gezweifelt und alles für einen neckischen Traum gehalten, was er heute vernommen und erlebt, wenn nicht das Geldsäckchen mit 350 Pesos in seiner Tasche ihn von der Wirklichkeit seiner Aussichten für die Zukunft überzeugt hätte.

Schon waren sie in der Nähe der Osteria angekommen, da vernahmen sie plötzlich ein dumpfes, rasselndes Getöse, das wie ferner Donner klang. Doch schnell bemerkten sie, daß 102 es aus dem Innern der Erde kam; denn unmittelbar danach erzitterte die Erde, eine Art wellenförmiger Bewegung des Bodens hinderte sie am Gehen, und wer sich auf der Straße befand, mußte alle Willenskraft aufbieten, um nicht zu fallen.

Gleichzeitig stürzten die Leute aus den Häusern unter dem lauten Geschrei:

»Temblor, temblor! - No, terremoto, terremoto! Misericordia, Maria Purisima!Spanisch: »Ein kleines Erdbeben! – Nein, ein großes, ein großes! Habe Barmherzigkeit, o reinste Jungfrau Maria!«

Und wahrhaftig waren die Erdstöße, welche Fritz und Franz Winkler vor kurzem in der Mine erlebt hatten, nur die Vorboten des schauerlichen Ereignisses gewesen, das jetzt eintrat.

Hunderte von Menschen beiderlei Geschlechts und jeden Alters knieten auf der Straße, da sie sich in den Häusern, deren Fenster klirrten und deren Decken und Wände große Risse bekamen, nicht mehr sicher fühlten; sie beteten mit lauter Stimme. Unzählige Gruppen waren zusammengeschart; Kinder, am Halse der Eltern hängend, kreischten laut auf bei jedem Stoß, jedem Schwanken der Erde; da und dort hörte man Angstgeschrei 103 von Greisen und Kranken aus den Häusern erschallen, die sie nicht verlassen konnten, von allen Seiten sah man Flüchtlinge herbeieilen; Ohnmächtige wurden auf die Straße getragen.

Fortwährend dröhne es wie dumpfer Donner aus den Tiefen der Erde, Stoß erfolgte auf Stoß; die Glocken, durch die fortgesetzten Schwankungen der Türme in Bewegung gesetzt, schlugen in unheimlicher Weise an; die Pferde, die an die Fuhrwerke angeschirrt waren, stampften wütend den Boden und suchten, da sie instinktmäßig das Naturereignis erkannten, sich zu befreien; die Hunde heulten entsetzlich, die Hähne krähten und die Vögel umflatterten scheu die erschrockenen Menschenmassen.

Dabei regte sich kein Lüftchen; die Sonne stand strahlend am tiefblauen Himmelsgewölbe und die Atmosphäre war so schwül, daß man mit Mühe Atem schöpfen konnte.

Plötzlich erschallte ein furchtbarer Donner aus dem Innern der Erde. Ihm folgte sofort ein Stoß von unten nach oben, so heftig, daß die auf der Straße befindlichen Menschenmassen, ob kniend oder stehend, unter allgemeinem Angstgeschrei zu Boden fielen. Häuser und Mauern wankten, ein Teil der Festungsmauern stürzte in den Valdiviafluß, 104 gleich darauf fielen zahlreiche Gebäude in sich zusammen und hüllten die ganze Stadt in eine so dichte Staubwolke, daß die Sonne nur mehr als rote Scheibe am Himmel erschien.

War das Erdbeben schon bisher entsetzlich verlaufen, so war alles Vorausgegangene doch nur als Kleinigkeit zu betrachten gegenüber dem Krachen, Dröhnen und Poltern, das jählings einsetzte, als infolge von sechs aufeinander folgenden vertikalen Stößen die nördlich von der Stadt sich erhebenden Gebirgsmassive übereinander zusammenstürzten. Es war ein Donnern, ein Rollen, ein Knirschen und Splittern ungeheurer Lasten von berstenden Felsen und Steinen, die dem Bilde der Berge im Norden Valdivias in wenigen Augenblicken ein ganz anderes Gepräge verliehen. Alle bis zur Stunde gewesenen Zugänge zum Gebirge, alle Schluchten und Bergpässe waren verschüttet; die Berge sahen aus wie ein wüster Trümmerhaufen, wie ein unentwirrbares Durcheinander von gebrochenen und entwurzelten Bäumen des Urwalds, von Felsblöcken, Steinen, Sand und Geröll.

Jählings ertönte, kaum daß die Berge übereinander gestürzt waren, ein scharfer Knall hoch oben in der Luft, dem ein 105 Geprassel von herabfallenden Steinen folgte. Ein großer Aerolith war über Valdivia geplatzt und hatte einen Steinregen zur Erde geschickt. Als ob es mit diesem letzten Schrecken nun genug sei, trat im Beben und Schwanken des Bodens nach und nach Ruhe ein. Dagegen bahnten sich die stark gespannten Dämpfe im Inneren der Erde einen anderen Ausweg. Denn die über 120 Kilometer von Valdivia entfernt an den Abhängen der Kordilleren des Andes liegenden Vulkane von Rinihue und von Villarica öffneten gleichzeitig ihre Krater und spien mehrere Tage lang Rauch und Asche aus. –

So schrecklich dieses Erdbeben vom 11. Dezember 1860 auch war, so hält es doch keinen Vergleich aus mit den großen Terremotos von 1730, bei welchem das Meer austrat und die ganze chilenische Küste überflutete, jenem von 1751, das die ganze Stadt Concepcion zerstörte, und dem von 1844, wobei Copiapó, Santjago und Valparaiso in Trümmer geworfen und die Küste auf eine Länge von 15 Meilen um vier Fuß gehoben wurde. Solch mächtigen Katastrophen gegenüber mußte das Erdbeben, das ich soeben zu schildern versucht habe. trotz seiner Folgen bei dem leichtlebigen Volke seinen Eindruck bald 106 verlieren, um so mehr, als es nicht allzulange dauerte. Nach zwei Stunden nämlich war die Erde wieder völlig ruhig; der Staub, den die einstürzenden Gebäude verursacht hatten, hatte sich entweder gesetzt oder war verflogen, und in der Stadt begann man bereits wieder mit dem Aufräumen der Trümmer. –

Die Winklersche Familie hatte sich, nachdem sie in der Osteria ein Mittagessen eingenommen, auf den Heimweg nach Mono begeben. – – 107

 


 


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