Hermann Bahr
Die Rahl
Hermann Bahr

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Vierzehntes Kapitel

Franz stand in der Bibliothek. Er kam sich in diesem sehr hohen und breiten Saal mit den massigen schwarzen Schränken ganz klein vor. Einen solchen Urwald von Büchern hatte er nie gesehen. Die schweren schwarzen Schränke waren reich geschnitzt und wurden von großen Gestalten getragen, welche den Koren des Erechtheions nachgebildet waren. Das tief schwarze Holz schloß Reihen von dicken Bänden in einem matten dunklen Grün ein. Ein breiter flacher Tisch mit Mappen stand auf dem schwarz grünen Teppich; dahinter, frei in der Mitte, ein sehr langes, niedriges Sofa aus schwarzem Leder, mit schweren hohen schwarzen Stühlen. Die Fenster waren dicht verhängt, so daß nur ein schmaler Strahl auf den milchigen Gips des Barberinischen Fauns fiel, von hinten her in den Flaum der rechten Wange und an den schnarchenden Mund des verlorenen Schläfers schleichend. Über der Türe war an der Wand die Maske der Rahl. Franz stand, bald zur Maske, bald auf den Faun sehend. Die Maske war ihm unheimlich. Er erkannte die Züge der Rahl; aber als wäre sie tot. Der nackte Leib des vom Wein gepeinigten Knaben zog ihn an, aber er schämte sich. Wenn es nur nicht so still und feierlich gewesen wäre! Aber das schwarze Holz, die langen Reihen der grünen Bände, der hohe schweigsame Saal mit dem matten Glanz des Trunkenen und dem bösen leeren Mund der toten Rahl, es machte ihn ängstlich. Was wird er denn dem Grafen sagen? Auf dem ganzen Weg hatte er es sich vorgesagt, Wort für Wort; es war alles bereit. Dort auf der Straße hätte er es ihm sagen mögen, vor allen Leuten ins Gesicht; er hätte sich nicht gefürchtet. Hier aber war es so still. Es war zum Ersticken still.

Er hörte die Türe. Er wendete sich um und stellte sich auf, aus dem schweren Vorhang sprang der weiße Hund auf ihn zu, duckte sich erst, heiser heulend, und hob sich dann, um den langen schmalen Kopf an seiner Brust zu reiben und seinen Hals zu lecken. Franz wehrte sich, das stürmische Tier streichelnd. Er war verlegen, weil es sich doch geschickt hätte, auf den Grafen zuzugehen, der den Vorhang schloß. Auch fiel ihm ein, was sich der Graf denn eigentlich denken mochte! Und er wußte ja nicht, ob der Graf wußte! Denn wenn der Graf noch nichts wußte, mußte er doch zuerst – ja, was? Was eigentlich? Konnte er denn –? Und durfte er denn –? Dies alles hatte er ja noch gar nicht überlegt.

»Die Gräfin läßt Sie grüßen,« sagte der Graf. »Sie kann nicht abkommen, wir haben Gäste. Aber bitte, setzen Sie sich doch!« Er wies auf das schwarze Sofa. Franz setzte sich. Der Hund streckte sich neben ihn hin, die Schnauze auf seinem Schenkel. Der Graf sagte lächelnd: »Sie rauchen doch natürlich?«

Franz hätte lieber nicht geraucht, doch wußte er nicht, ob es nicht unhöflich gegen den Grafen wäre. Sie konnten das ja mit aller Ruhe besprechen, in aller Form. Er dachte, wie kläglich und ungeschickt sich sicher der kleine Beer benommen hätte. Nein, das wäre kindisch. Der Graf sollte sich nur nicht einbilden, bessere Manieren zu haben. Man konnte deswegen doch unerbittlich sein.

Der Graf gab ihm Feuer. »O danke,« sagte Franz. »O danke sehr!« Und er verneigte sich. Aber das Sofa war ihm unbehaglich, weil er auf dem glatten Leder rutschte.

Dann setzte sich der Graf in den hohen schwarzen Stuhl und sagte, nach der Ritze sehend, durch welche, vom Fenster her, das weiße Licht in den ernsten großen Raum floß: »Es ist heute der erste wirklich schöne Tag heuer!«

»Ja,« sagte Franz unwillkürlich. Er ärgerte sich dann aber, daß er nicht gleich begann. Er sah, wie das Licht einen kleinen weißen runden Schein auf die Stirne des Grafen warf, an der Wurzel der Nase, wo die hohen Brauen verwuchsen; es war wie ein silberner Buckel, und das Flirren erregte Franz, er mußte aber immer hinsehen.

»In der Stadt mag es heute schon ganz tüchtig warm sein,« sagte der Graf.

»Herr Graf!« sagte Franz entschlossen und streckte sich, auf dem glatten Leder ein wenig rutschend.

Der Graf hob die Hand und sagte: »Nur noch eins zunächst!« Er blickte Franz an, das Lächeln erlosch. »Nicht wahr? Nicht wahr, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich meine Frau –« er hielt ein, sich erinnernd, in welchem Ton sie »knechten« gesagt hatte. Er sah Franz noch immer an und fuhr fort: »Ich meine, daß ich der Gräfin irgendeinen Zwang auflege oder irgendeinen Druck auf ihre Entschließungen ausübe?«

Franz schwieg. Nach einer Welle sagte der Graf: »Ich kann mir nicht denken, daß Sie das im Ernst glauben. Sie kennen sie doch.«

Der Graf blickte nachdenklich vor sich hin. Franz sah immer den weiß tanzenden Buckel auf seiner Stirne. Der Graf wiederholte langsam: »Nein, das können Sie doch nicht im Ernste glauben!«

»Nein,« sagte Franz rasch. Und er wunderte sich im selben Augenblick, daß er es sagte. Die Stimme des Grafen konnte doch lügen. Aber er hörte noch immer das: Sie kennen sie doch! Hatte der Graf denn nicht recht? Sie knechten, die Rahl! Wie kindisch, das zu denken! Die Rahl!

»Nicht wahr?« sagte der Graf.

Rasch ermannte sich Franz und war froh, dringend zu fragen: »Ich möchte doch aber gern wissen, wieso Sie vermuten –?«

Der Graf sagte schnell leise: »Sie schrieben es doch. Nicht wahr?«

Franz erschrak. Der Graf kannte seine Briefe? Er zwang sich, gelassen zu sagen: »Sie hat also meine Briefe bekommen?«

Der Graf fragte: »Haben Sie Anlaß, an der Zuverlässigkeit der östreichischen Post zu zweifeln?«

Unwillkürlich nahm Franz jetzt den unbefangenen Ton des Grafen an. »Ich war nur schon etwas besorgt, weil ich keine Antwort bekam. Ich fürchtete schon, sie wäre krank.«

»Gott,« sagte der Graf. »Briefe schreiben, das ist nun einmal ihre schwache Seite.«

»Mir mußte sie doch antworten!« schrie Franz. Der hohe Raum, das schwarze Holz, der tanzende Schein an der Nase des Grafen, seine langsam träufelnde Stimme, die Stille rings, es machte ihn toll. Er wiederholte: »Mir mußte sie schreiben! Wie wir zueinander stehen, mußte sie.« Er hatte Lust, dem Grafen ins Gesicht zu schlagen.

»Ja,« sagte der Graf, »darüber steht mir wohl ein Urteil nicht zu.«

»Nein,« sagte Franz.

»Sie haben doch aber gewünscht, mit mir zu sprechen,« sagte der Graf. »Nun also!« Der Graf saß aufrecht, mit den Händen in den Hüften; es war von den Ellbogen zum Hals eine gerade Linie. Der hohe Kragen und das kreisende Weiß auf der Stirne schimmerten.

»Sie kennen meine Briefe?« fragte Franz atemlos.

»Meine Frau hat mir erzählt,« sagte der Graf.

Es traf den Knaben seltsam: wie das klang, meine Frau! Aber er nahm sich zusammen und sagte: »Sie wissen also, Herr Graf –« Und er wartete. Er war ganz ruhig. Er war nur neugierig, was jetzt sein würde.

Der Graf stand auf, ging an den Schrank und schob ein Buch hinein, das ein wenig aus der Reihe hervorstand. Dann sagte er leise, noch an den Schrank gelehnt, die Hand auf den Büchern, indem er, von Franz weg, auf den weißen Faun sah: »Ich kann es mir denken.«

»Und?« fragte Franz, aufstehend.

»Und?« sagte der Graf, den Ton des Knaben aufnehmend, wie sein Echo.

»Ja,« sagte Franz mühsam. »Wir müssen doch –«

Der Graf wendete sich um und sah in das helle Gesicht. »Bitte,« sagte er dann, »wir wollen aber doch lieber dabei sitzen bleiben.« Er kam, artig lächelnd, zum Stuhl zurück und setzte sich. Es war Franz unangenehm, aber er setzte sich auch wieder.

»Es hat wohl keinen rechten Zweck,« sagte der Graf. »Sie sind zu jung, oder richtiger: ich bin zu alt. Wir würden uns kaum verstehen.« Er schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Sie würden mich gewiß nicht verstehen. Nein. Und es ist wohl auch eigentlich gleich. Jedenfalls wünscht die Gräfin nicht, Sie jetzt zu sehen. Ich glaube, auch in der nächsten Zeit nicht. Dies soll ich Ihnen von ihr ausrichten. Es gibt einen sehr schönen Vers, in der Antigone glaub ich, wo es heißt, daß man den Boten nicht die Botschaft entgelten lassen darf.«

Ganz leise sagte Franz: »Sie hat mich doch –« Aber er schämte sich, es auszusprechen. Hatte sie ihn denn nicht mehr lieb? Er sah den Grafen an und sagte: »Wenn Sie denn schon alles wissen! Sie hat mich doch mitgenommen. Damals.«

Ganz leise fragend sagte der Graf: »Sie?« Es klang mitleidig spöttisch.

Verwundert aufblickend sagte Franz: »Ja. Mich.«

Der Graf streichelte den weißen Hund, der neben Franz lag. Dann sagte er: »Ich weiß ja nicht. Aber vielleicht waren es gar nicht Sie.«

Franz sah lauschend auf. Er verstand das gar nicht.

Der Graf bog sich vor und strich über den langen schmalen Kopf, als ob er mit dem Tiere reden würde. »Wer weiß? Vielleicht war es nur einer aus der dunklen Schar der Jauchzenden, ein bißchen von diesem Jauchzen selbst, ein bißchen Jugend, ein bißchen Rausch, von dem sie sich nicht trennen konnte, und so nahm sie sich das in Ihnen mit.«

»So versuchen Sie sich zu trösten?« sagte Franz plötzlich höhnisch. Er erschrak selbst. Aber er haßte den Grafen, er verachtete den Grafen.

Der Graf blieb über den Hund gebeugt.

Franz stand auf und sagte: »Haben Sie mir noch etwas mitzuteilen, Herr Graf?«

Der Graf sagte: »Es war gewiß nicht meine Absicht, Ihnen wehe zu tun.«

Franz war zornig, weil er sich schwach gegen diese Stimme fühlte. Er sagte höhnisch: »Aber gar nicht! Warum soll es mir denn weh tun? Ich habe mich eben offenbar geirrt.« Er verneigte sich und hatte nur ein unangenehmes Gefühl, daß es so weit bis zur Türe war. Während er das noch in Gedanken abmaß, sah er jetzt plötzlich den Grafen in seiner ganzen Länge vor sich, der aufgesprungen war und, mit den Fingern an seinem Kragen zerrend, den Kopf vorstoßend, keuchend nur immer sagte: »Was, was, was –?« Bis es ihm gelang, den Satz auszuwerfen: »Was fällt Ihnen denn ein? Sie wagen es, Sie wagen es –« seine Stimme schlug um, er packte den Knaben, jetzt aber, plötzlich erwachend, hielt er ihn am Arm fest, sein Lächeln kam langsam zurück und indem er nun auch den anderen Arm des Knaben ergriff und, sich über ihn beugend, seine horchenden Augen auf ihn ließ, sagte er, schluckend: »Ich könnte doch Ihr Vater sein, nicht wahr? Das müssen Sie mir zugute halten, wenn ich einmal heftiger werde, als sich wohl eigentlich gehört!« Und ihn immer noch ansehend, wiederholte er zärtlich: »Ich könnte doch Ihr Vater sein.« Er nickte, leer lächelnd, ließ ihn los, stand noch nachdenklich, trat dann weg, langsam an das Fenster gehend, und fragte plötzlich unvermittelt: »Was ist Ihr Herr Vater? Erzählen Sie mir!«

Der weiße Hund hatte sich feig in die Ecke gedrückt. Jetzt fing er, schief den langen schmalen Kopf ausstreckend, wimmernd zu klagen an. Franz kniete neben ihn auf das Sofa hin, um ihn zu streicheln, bis er nur noch, mit aufstoßendem Herzen zitternd, leise stöhnte.

Dann sagte Franz: »Ich habe doch keinen Vater mehr. Wissen Sie denn nicht, wer mein Vater war?« Er konnte sich das gar nicht denken. Als er das Unglück auf der Rax erzählte, erinnerte sich der Graf. In einer Zeitung war damals zu lesen gewesen, wie dieser merkwürdige junge Turnlehrer an Sonntagen gern, Zither schlagend, mit Liedern und lustigen Geschichten, singend und sagend, turnend und tanzend, Groß und Klein betörend, durch die Dörfer zog, »ein Troubadour des Wienerwalds«. Das Wort, das er damals komisch fand, fiel ihm jetzt wieder ein. Er konnte sich solche Menschen eigentlich gar nicht vorstellen. Wenn er in früheren Jahren manchmal auf der Jagd war und man abends die Jäger singen ließ oder auch wenn er, um es Gästen zu zeigen, einmal zum Heurigen fuhr, kam es ihm immer wie schlechtes Theater vor und ihm wurde vor dem sinnlosen Lärm der blökenden Leute fast unheimlich. Er konnte sich nicht erklären, was ihr Geschrei denn eigentlich wollte, und eine Freude, die laut ausschlug, statt den Menschen still zu machen, verstand er nicht. Er sagte sich freilich, daß dies sicher unrecht von ihm war, weil vielleicht gerade, was er an dem verhaßten Treiben gemein und roh fand, nur ein unreiner Ausdruck der hilflosen Sehnsucht sein mochte. Er erinnerte sich dann oft an ein Wort der Fürstin Uldus, das ihn so merkwürdig ergriffen hatte, daß er es nie mehr vergessen konnte. Sie hatte gesagt, daß die Wege der Menschen doch noch viel wunderbarer sind als Gottes. Vielleicht war es falsch, die Roheit der Leute zu verachten. Vielleicht hätte man ihnen nur helfen müssen, sich zu finden. Und vielleicht war das ein solcher Helfer gewesen, der wunderliche Vater, von dem der Knabe da mit heißen Augen jetzt erzählte. An dies alles dachte er, zuhörend, den Blick auf dem schmerzhaften Antlitz des schlafenden, von dunklen Träumen überwältigten Fauns. Und er dachte wieder, daß sicher auch der letzte Mensch noch gut und groß war. Nur wußte man es nicht von den anderen. Und das machte dann die Menschen bös, daß es die anderen nicht wußten. Und er wünschte sich sehr, es von allen zu wissen. Er gab sich doch solche Mühe.

Alles was er von seinem Vater wußte, erzählte Franz. Plötzlich sagte der Graf: »So sind Sie, nicht wahr?, eigentlich adelig. Denn dies wäre es ja: zu fühlen, daß man von einem besonderen und auserwählten Menschen abkommt und daß man dies durch nichts im Leben je verlieren kann. Ja, dies wäre es doch, nur kommt es im Adel jetzt kaum mehr vor.« Er lächelte, gleichsam entschuldigend, weil ihm jetzt erst einfiel, daß Franz zuhörte, für den es gar nicht recht paßte.

Franz sah verwundert auf. Er verstand nicht, was der Graf jetzt meinte. Er hatte nur wieder auf einmal ein leises Mißtrauen. Er war so froh, von seinem Vater erzählen zu dürfen. Er hatte darüber schon alles ganz vergessen. Aber die Stimme des Grafen riß ihn zurück. Er wehrte sich gegen diese Stimme mit ihrem lässig zunickenden Klang. Er hatte das Gefühl, daß es sehr hochmütig war, so höflich zu sein. Er dachte: sein Vater hätte sich das gewiß nicht gefallen lassen. Nein, dies kam ihm von der Mutter her, die gleich immer bereit war, nachzugeben, um jedem gefällig zu sein. Von ihr hatte er das. Er wäre viel lieber dem Vater gleich geworden. Aber was half es, sich das zu wünschen? Er geriet der Mutter nach. Und er hatte die Mutter auch so lieb, für sie paßte das ja. Aber auf einmal kam er sich da jetzt ganz kläglich vor. Da saß er und ließ sich alles gefallen und war wehrlos. Gegen den kleinen Beer war er doch auch wehrlos. Dann freilich, wenn er allein war, fand er seinen Stolz. Aber was half es? Wenn einer redete, war er wehrlos. Er wünschte sich, zu Hause zu sein, bei der Mutter. Und er sagte plötzlich ungeschickt: »Entschuldigen Sie, Herr Graf, daß ich Ihre kostbare Zeit so lange belästigt habe.« Er fand es angemessen, dies zu sagen, und kam sich erwachsen dabei vor, aber er ärgerte sich eigentlich doch auch wieder darüber. Der Mut war ihm entsunken.

Als ob er es gar nicht gehört hätte, kam der Graf auf ihn zu und sagte: »Ist denn das nicht das einzige? Ist es nicht das einzige für den Menschen, etwas zu haben, was er nie mehr verlieren kann? Etwas so festzuhalten, daß keine Macht der Welt es ihm entreißen kann? Etwas Schönes, etwas Starkes, das er einmal erlebt hat? Dies scheint mir, nach allem, was Sie mir erzählen, die Kraft Ihres Herrn Vaters gewesen zu sein. Die meisten Menschen erinnern sich nur. Das ist zu wenig. Die Menschen erinnern sich nur: es war einmal, in meinem Leben war einmal etwas Schönes. Aber sie haben es nicht mehr, sie geben es wieder her, sie lassen es aus. Nein, das muß man nicht! Nein, festhalten! Die Hände schließen und es sich nicht mehr nehmen lassen! Wie Ihr Herr Vater. So denke ich mir Ihren Herrn Vater.« Er lächelte verlegen, achselzuckend. Es regte ihn immer sehr auf, so viel im Zusammenhang zu sprechen. Er trat noch näher und hob ein wenig die Hand, wie um dem Knaben die Locken aus der Stirne zu streichen. Franz trat zurück. Der Graf setzte sich auf das Sofa, zog den Hund an sich, und indem er das Ohr des schnaufenden Tieres in die Hand nahm, sagte er: »Ihr Vater hat das sicher gehabt. Das Festhalten! Nichts auslassen, was man einmal hat! Geizig sein mit seinem bißchen Glück, mit dem bißchen Freude, mit dem bißchen Schönheit, das einem der Wind manchmal zuweht! Wer kann es Ihnen denn nehmen? Wer denn? Es war doch! Wer kann Ihnen denn nehmen, was einmal war? Sie haben es doch, es gehört Ihnen, es ist Ihr Eigentum! Liebes törichtes Kind!« Er neigte sich auf den Hund herab, sein Ohr streichelnd.

Franz sagte bittend: »Aber es ist doch –« Er hielt ein und sah den Grafen an. Dann sagte er, leise fragend: »Nein, Sie lachen mich nicht aus?«

Der Graf sagte traurig, ohne Franz anzusehen: »Nein, das gewiß nicht. Eher Sie mich. Vielleicht.« Und er hatte wieder sein leeres, mutloses, zuckendes Lächeln.

Der Knabe schüttelte langsam den Kopf. Dann sagte er ganz leise: »Aber es ist doch, es war doch meine –« Und wieder hielt er ein und sah suchend auf und sprach es in den großen stillen feierlichen Saal hinaus, langsam, mit seiner jungen, hellen Stimme: »Es war doch meine erste Liebe.« Und seine junge, helle Stimme klang verwundert und voll Fragen.

Der Graf sah auf. Franz blickte weg. Durch den hohen weiten Raum schlug das stoßende Herz des weißen Hundes.

Dann sagte der Graf: »Ja, das nennt man die erste Liebe.« Er saß sinnend. Nach einiger Zeit sagte er: »Nun ja. Festhalten. Das Schöne festhalten! Und nicht nachdenken! Oft muß Häßliches geschehen, damit etwas Schönes entsteht. Aber lieber darüber nicht nachdenken! Was liegt denn auch daran? Behalten Sie sich nur das Schöne! Später wird Ihnen ja vielleicht noch manches klar. Später wird einem ja vieles klar. Aber wünschen Sie sich das lieber nicht! Genau weiß man es doch nie. Wozu denn auch? Es ist vielleicht nicht gut, den Menschen zu kennen. Behalten Sie sich nur das Schöne, woher es auch kommt. Fragen Sie nicht. Fragen Sie lieber nicht. Wozu denn?«

Franz stand horchend. Es tat ihm wohl, wie die weiche Stimme des Grafen langsam durch den Saal glitt.

Dann sagte der Graf noch: »Nun ja. Die erste Liebe. Aber glauben Sie mir, es ist nicht so arg. Man verschmerzt sie. Glauben Sie mir, sie heilt zu. Was die Liebe wirklich ist, erlebt man, wenn einem auferlegt ist, es zu erleben, wohl erst viel später. Sie haben noch Zeit. Und es kann auch sein, daß es Ihnen erspart bleibt.« Er sah den blonden Knaben lächelnd an. Und er senkte den Kopf und sagte: »Den meisten bleibt es erspart. Eigentlich sollte man es auch wohl lieber anders nennen, weil es wirklich wenig Sinn hat, zwei so verschiedenen Dingen denselben Namen zu geben, zwei so ganz verschiedenen Dingen, die wirklich nichts gemein miteinander haben, gar nichts, als daß sie beide halt Beziehungen zwischen Mann und Frau sind.«

Franz fing es zu langweilen an. Er dachte, wie sehr doch der Graf eigentlich seinem kleinen Beer glich, indem auch er, einmal im Reden, sich von einem Wort zum anderen treiben ließ. Franz aber begann zu vermuten, daß hinter den Worten, weit draußen, erst irgendwo die Welt liegt, anders.

»Nun ja,« sagte der Graf, dem es ein Bedürfnis war, sich einmal auszusprechen. »Da wir nun aber einmal keinen anderen Namen dafür haben, mag es auch Liebe heißen, jenes ganz andere Gefühl nämlich, das wohl erst der reife Mann, der mit vielem abgeschlossen hat, erleiden kann, das Gefühl, das einen zwingt, einen anderen Menschen so zu verstehen, daß man nichts an ihm, wie nun sein Wesen einmal geschaffen ist, nichts, was es auch immer sei, an ihm entbehren könnte, auch das nicht, was häßlich ist, auch das nicht, was einem weh tut, nein, gerade solche Flecken und Makel an ihm schon gar nicht, weil man spürt, daß es dazu gehört, ja daß dies alles zusammen erst diesen Menschen und seine Schönheit ausmacht, gerade das Häßliche zusammen mit dem anderen erst, wie doch oft ein Muttermal einem Gesicht erst seinen eigentlichen Reiz gibt. Und diese Liebe, diese spätere Liebe verschmerzt man dann nie. Denn man möchte gar nicht, nein. Aber ich glaube, daß sie den meisten erspart bleibt, wie ich ja glaube, daß überhaupt die Liebe viel weniger verbreitet ist, als man denkt. Die Leute hören nur so viel davon, und weil nun der Name schon da ist, wenden sie ihn auf jedes Gefühl in der Umgebung an. Wenn ein Arzt plötzlich eine neue Krankheit entdeckt, von der man nichts wußte, hat sie dann auf einmal die ganze Welt. Der Name tut viel.« Und er sah wieder den Knaben lächelnd an, indem er wiederholte: »Der Name tut viel. Und der Arzt braucht dann eigentlich nur den Namen zu kurieren.«

Immer wieder dachte Franz: Wie der kleine Beer! Es war doch merkwürdig: alle Menschen übten sich in einem fort; alles andere war ihnen offenbar gleich, wenn sie sich nur üben konnten. Und es fiel ihm ein, daß vielleicht auch Samon gar nicht so ein schlechter Kerl war, sondern vielleicht sich auch nur übte. Er mußte lachen. Die Menschen übten sich, so einfach war das Leben? Und natürlich, fiel ihm ein, Schauspielerinnen müssen sich natürlich in Zärtlichkeit üben! Ein bitteres, häßliches, kitzelndes Gefühl stieg in ihm auf, und er freute sich, daß es so häßlich war; er freute sich, alles zu verachten. Nein, er ließ sich jetzt nicht mehr foppen! Man mußte das nur wissen, um sich danach zu halten. Er war kein Kind mehr. Es tat ihm fast ein bißchen leid. Aber er fühlte sich doch auch wieder stolz, jetzt über alles im klaren zu sein.

Der Graf sah noch immer den blonden Knaben an, aber er fühlte, daß alles umsonst ist, was ein Mensch dem anderen sagen will; sie kommen nicht zusammen.

»Also,« sagte Franz, »besten Dank, Herr Graf!« Er wollte noch etwas sagen, fand aber nichts und verneigte sich nur. Indem er zur Türe ging, sprang ihm der Hund nach. Franz wendete sich um, um das Tier zu streicheln, es stellte sich auf, den langen schmalen Kopf am Halse des Knaben reibend. Als ob es ihn umarmen würde, dachte der Graf.

»Noch einen Augenblick, bitte!« sagte der Graf. Er trat an den Tisch, öffnete die Lade, nahm einige Bilder heraus. »Es sind ihre neuesten Aufnahmen, mit der Unterschrift von ihrer Hand. Sie besorgt das, wenn sie gerade Zeit hat, gern gleich im Dutzend. Darf ich Ihnen eine mitgeben? Diese scheint mir die schönste.«

Franz nahm das Bild. Sie hatte darunter geschrieben: Himmel und Hölle sind dasselbe! Und ihren Namen mit ihrer großen, festen, männlichen Schrift.

Leise las es Franz ab: Himmel und Hölle sind dasselbe!

Der Graf sagte mit seinem aufwartenden Lächeln: »Die gewöhnlichen Menschen haben aber nichts davon, sie bleiben im Fegefeuer.«

»Danke schön!« sagte Franz.

»Zur Erinnerung,« sagte der Graf und zog den Vorhang von der Türe zurück.

»Danke,« sagte Franz. Der weiße Hund sprang vor ihm über die breite Treppe hinab.

Der Graf stand vor dem schlafenden Faun, nachdenklich über den bösen, von Wut besessenen Mund geneigt. Er dachte: Schläft er oder will der Künstler ausdrücken, daß er lebt, daß ein solcher dumpfer Traum in Trunkenheit unser Leben ist? Und er sagte sich, traurig lächelnd: Siehst du, da hast du ja wieder ein schönes Problem für dich, es geht schon.

Er öffnete das Fenster. Da sah er, am grünen Gartenhaus, in der Sonne, seine Frau, lachend, unter dem großen Strohhut einer Schäferin gleich, mit der humpelnden, schnaufenden, pustenden Fürstin Uldus. Er wußte, sie kamen von ihren lieben rosigen Schweindeln.

Franz aber ging zur Stadt. Überall waren geputzte Menschen, überall Blumen, überall war der Frühling. Er ging im leisen Wind und ging, das Gehen tat ihm gut. Soldaten kamen vom Felde her. Er schloß sich an. Die Trommel schlug. Es nahm ihn mit. Kinder liefen zu, Männer folgten, alles schritt im Takt der Trommel mit. Franz war froh. Er wußte nichts, er dachte nichts, er fühlte nichts. Nur die Trommel schlug. Und der Tritt der vielen Menschen zog ihn mit. Er wäre gern nur immer so gegangen, nur immer dahin, im gleichen Schritt, nichts wissend, nichts denkend, nichts fühlend als den Schlag der Trommel und den Stoß der unbekannten Menschen. Immer so dahin, im gleichen Schritt, mitgefühlt! Und die Trommel schlägt und die Tritte hallen, während im leisen Wind der Frühling geht.

 


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