Hermann Bahr
Die Rahl
Hermann Bahr

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Viertes Kapitel

Die Buben mußten sich die Hüte mit den Händen halten. Der Wind riß ihnen die Worte weg. Atemlos liefen sie gegen seine Stöße. Schon fing es zu dämmern an. Die großen leeren Bäume schwankten stöhnend. In der Ferne hörten sie den Strom. Der Wind schlug wieder zu. Franz lachte, vorgebeugt gegen den Wind stehend. Er lachte den Wind an, den Kopf einbohrend. Vorwärts, schrie der kleine Beer ungeduldig; er schnaufte, mit dem Winde ringend. Und sie liefen wieder, Franz lachend vorgeneigt, gleichsam schwimmend wider den Wind, der kleine Beer aber in Sprüngen und Zacken, manchmal zornig aufstampfend. So liefen sie bis zur großen Brücke. »Komm,« sagte der kleine Beer, »da unten sind wir geschützt.« Sie kletterten die Böschung hinab. Am Pfeiler setzten sie sich. Franz bog seinen zerdrückten Hut aus. Er keuchte. »Schön war das,« sagte er, »im Wind.« Der kleine Beer hockte sich hin, ins Dunkel spähend. »Hier übernachten Leute,« sagte er in einem höhnischen und drohenden Ton. »So glänzend ist das eingerichtet! Dort stehen Paläste leer und in den weiten Sälen langweilen sie sich und haben die Gicht vor Gefräßigkeit. Aber die andere Hälfte darf unter den Brücken oder in den Kanälen hausen, wenn der Sturm heult, und muß betteln oder stehlen. Und Samon sagt, daß alles auf der Welt in Ordnung ist, und Samon ist ein ehrenwerter Mann.« Er sprach es mit dem kurranten Grimm eines Volksredners und freute sich, wie seine Stimme hart über das ruhige Rauschen des Stromes stieg.

»Horch!« sagte Franz. Drüben brach sich der Wind an der Mauer und barst. Ein Splitter sprang zurück, wie winselnd vor Schmerz. Einen anderen warf es in den Schotter und über den Hang auf die Weiden hinab, an welchen er zischend zerstob. »Ein Alter zankt mit seinen weinenden Kindern und die Mutter schluchzt. Hörst? Heidi!« Und er rieb sich seine heißen Wangen, die vom Wind zerbissen waren.

»Was ist der Mensch?« schrie der kleine Beer in den Strom. »Dies alles, die Macht der rauschenden Wogen, der Zorn des Sturms, die Sehnsucht der jagenden Wolken, ist im Menschen. Aber er hat es an Ketten gelegt. Auf! Los! Schäme dich, Mensch!« Er maß seine Stimme mit dem Lärm im Wasser und in der Luft. Und so sah er sich vor Tausenden, die die Fäuste ballten und zornig waren, aber die Macht seiner Rede stieg über sie, bis sie gehorchten.

Die Freundschaft der zwei Buben bestand darin, nebeneinander zu phantasieren. Jeder ließ sich hören. Der andere schwieg, bis es an ihn kam. Uneinig konnten sie nicht werden. Denn keiner entgegnete dem anderen. Jeder war so froh, einen neben sich zu haben, wenn es in ihm laut war. Ob der andere dem auch zuhörte, fragten sie nicht. Sie konnten reden, der andere widersprach nicht, sondern wartete, bis es wieder an ihm war, und deshalb hatten sie sich so gern.

Sie kannten sich erst seit zwei Jahren. Da war der kleine Beer aus einem anderen Bezirk in die Schule gekommen. Früher hatte Franz eigentlich keinen Freund. Er war mit den anderen ganz gut, ließ sich nichts gefallen, verdarb keinen Spaß, alle konnten ihn leiden. Aber er hatte die Neigung zärtlich behüteter Kinder, sich fern zu halten. Solche behalten immer ein wenig Heimweh. Sie lassen es sich nicht merken, als ob es eine Schande wäre. Sie haben deshalb fast ein schlechtes Gewissen vor den anderen. Sie geben sich auch alle Mühe, überall mitzutun, mit den Wildesten um die Wette. Doch wird ihnen dabei nicht wohl. Sie fühlen sich anders. Sie haben Angst, es zu zeigen. Sie zwingen sich, den anderen zu gleichen. Aber nachher sind sie traurig. Am schönsten ist es doch nur zu Hause! Es gelang Franz, dies den anderen zu verbergen. Er hätte sich sehr geschämt. Erst vom kleinen Beer lernte er, stolz darauf zu sein. Der kleine Beer verachtete die Masse. Nicht sich gemein zu machen, sondern ein Eigener zu sein, der keine fremden Satzungen braucht, weil er sein Gesetz in sich selbst trägt, wurde jetzt sein Ehrgeiz. Der kleine Beer gab ihm Stirner und Nietzsche zu lesen. Und nun sog er die Lust ein, hochmütig zu sein. Mit den Lehrern, mit den Schülern, eigentlich mit der ganzen Welt hatten diese zwei Buben nur Mitleid. Denn sie wußten, daß jetzt eine neue Zeit beginnt. Aber nur sich nicht verraten, sagte der kleine Beer. Sie lernten fleißig, sie gehorchten, sie gingen auf jede Laune der Lehrer, auf jeden rohen Spaß der Schüler willig ein. Es wurde ihnen leicht, weil sie doch über dies alles, voll Verachtung, erhaben waren. Sie blickten sich nur in der Schule manchmal insgeheim an und verstanden sich. Nachsicht mit den Menschen, sagte der kleine Beer, ist auch eine Art, sich frei zu machen. Und Franz empfand den Reiz, den ein tiefes Geheimnis hat. Er konnte das selbst seiner Mutter nicht sagen. Nein, sie würde sich nur ängstigen, sie war so gut. Aber jetzt begann eine neue Zeit der harten und ganz einsamen Menschen. Es berauschte ihn, sich ganz einsam zu wissen. Manchmal wurde das in ihm so stark, daß er es am liebsten laut in die Klasse gerufen hätte. Er ärgerte sich, daß die dummen Buben nichts von seinen Geheimnissen ahnten. Dann aber wieder war es ihm eine Lust, es ihnen gleich zu tun, den Lehrern ins Gesicht zu schmeicheln, um hinter ihren Rücken zu höhnen, und mit der Welt gemein zu sein. Alle Propheten, sagte der kleine Beer, waren Betrüger, die Menschheit will es so! Eigentlich aber, dachte Franz zuweilen, ist es doch sehr traurig, daß es unter den sämtlichen Lehrern und sämtlichen Schülern einer ganzen Klasse nur zwei Menschen gibt, die der Wahrheit auf der Spur sind; und die müssen sich förmlich miteinander verschwören! Doch hatte dies auch wieder sein Schönes.

Eine neue Zeit bricht an! Franz war es jetzt, als hätte er dies immer schon gewußt. Das Wort hatte ihm freilich erst der kleine Beer gebracht. Aber schon immer war eine solche Sehnsucht in ihm, die er nur freilich damals noch gar nicht verstand. Manchmal, wenn er abends, lernend oder lesend, mit der Mutter bei der Lampe saß, die Mutter hatte so ein liebes Gesicht und war schon müd und nickte halb ein, die Uhr tickte, über den Hof her klang ans Fenster ein altes Klavier, da wußte er so stark, daß es auf der Welt etwas Wunderschönes gab. Es stand vielleicht schon unten im Hof und wartete auf ihn. Es war da. Dann tat die Mutter die Augen wieder auf und lächelte. Und dann hieß es schlafen gehen; morgen ist auch noch ein Tag. Und er träumte davon. Oder wenn er von großen Menschen las, in manchen Büchern, da war es auch. Es war ganz gewiß irgendwo. Wenn er dann aber unter die Menschen kam, da war es nicht. Wenn er mit der Mutter im Frühling durch den Wald ging, die Sonne schien, der Kuckuck schlug, da war es wieder. Und alle Menschen, welchen sie begegneten, wußten, daß es da war; er sah es ihnen an. Und auch in der Stadt drinnen, gegen Abend im Winter, wenn sich in den Straßen so viele Menschen drängten und alles war hell und überall war Lachen, da war es auch. Aber dann war es wieder weg. Bei Tag in der Stadt war es weg. Und in der Schule war es nie. Und Samon wußte nichts davon; er sah es ihm an. Und jahrelang hatte ihn das gequält. Er folgte, er tat alles, aber: das konnte noch nicht das Eigentliche sein, es mußte noch was anderes geben, irgend etwas Wunderschönes war irgendwo versteckt! Bis du halt einmal groß sein wirst, sagte die Mutter immer. Aber nein, das war es sicher nicht. Und dann kam endlich der kleine Beer und sagte: Eine neue Zeit bricht an, die bringt es, und diese neue Zeit sind wir! Und seitdem war ihm jetzt alles klar und er lernte jetzt, wie der kleine Beer es nannte: hinter das Leben sehen. Und von vielem, das er bewundert hatte, nahm er jetzt Abschied. Und die Leute, die sich noch täuschen ließen, taten ihm leid. Und manchmal kam er sich jetzt eigentlich schon ganz alt vor. Denn er wußte zu viel, ihn konnte nichts mehr betrügen. Und es machte ihn oft ein bißchen ungeduldig zuzusehen, wie es die Menschen trieben. »Wahn, überall Wahn!« deklamierte der kleine Beer. Und nun waren sie vom Schicksal ausgeschickt, die neue Zeit zu bringen, die den Wahn vertreiben wird! Zu Haus hing ein Bild: Die Brücke von Arcole. So sah er sich jetzt immer: allen voran, die Fahne hoch, mitten ins Getümmel; und über Blut und Dampf geht die Sonne der Freiheit auf! Der kleine Beer aber sah sich immer in Versammlungen: unter sich eine ungeheuere Menge, atemlos lauschend, und er selbst, hoch über der schwarzen Masse, die gierig horcht, mit seinen harten Worten in sie schlagend! Franz bewunderte den kleinen Beer sehr, denn er lernte von ihm, höhnisch zu sein; das tat ihm wohl. Und der kleine Beer übte sich an ihm: er konnte seine Macht fühlen, den Freund, der um einen Kopf größer war, den Sohn des berühmten Turners, mit seinen starken Reden zu beherrschen. An Sonntagen lud ihn Frau Marie manchmal zum Essen ein. Aber dann kam er dem Franz ganz verändert vor. Er saß in ihrem hellen Zimmer und traute sich nichts zu sagen, sondern sah sie nur an und war ungeschickt. Frau Marie hatte ihn gern, weil sie sich freute, wie groß und froh neben ihm ihr blonder Bub war. Und dann mochte sie ihn, weil er einen so schönen weichen Mund hatte. Er sieht aus, sagte sie, wie ein altes Weib mit dem Mund einer jungen Frau. Aber eigentlich war sie doch immer froh, wenn sie dann wieder mit dem Franz allein war. Der kleine Beer fühlte das vielleicht. Einmal sagte er: Ja, deine Mutter ist sehr lieb, es tut einem fast weh! Franz verstand es nicht, er wurde neugierig. Der kleine Beer sagte: »Manche Menschen machen mich so hündisch demütig. Und das ist kein gutes Gefühl. Dir würde das ja nicht schaden, aber ich spüre, daß es mir meine Kraft nimmt. Nein, ich muß mich rächen. Zur Rache sind wir da, zur Rache!« Und dann wurde er ganz wild und sagte noch: »In ein paar Jahren, auf der Universität, wirst du eine bunte Mütze und Schmisse haben und wenn wir uns begegnen, wird es dir unbehaglich sein. Du hast es ja auch nicht nötig. Elend muß der Mensch sein. Das allein gibt ihm Kraft. Was weißt denn du?« Und dann fing er von seinen Leuten an. Der alte Salomon Beer war Agent, Vermittler, Claqueur, der älteste Sohn war ein berühmter Schachspieler geworden, die Tochter Selma schrieb bei einem Advokaten, dann war ein Bruder blind und dann war noch die kleine Laura, mit der wunderschönen Stimme: die muß eine große Sängerin werden. Aber der Vater ist alt und kann's nicht mehr leisten. Da sitzen sie nun alle da und warten auf mich. Sitzen nur beisammen, sagen nichts, warten. Und ich spüre, wie sie warten. Sie wären ja auch gern gut und lieb. Nur müssen sie noch warten. Komm nur einmal mit mir! Und er führte den Franz einmal hin. Der alte Salomon stand auf, nahm das Käppchen ab und verneigte sich fast feierlich. Und die alte Frau stand auf und begrüßte ihn furchtsam. Und die Mädchen standen auf und grüßten ihn stumm mit ihren großen dunklen Augen. Und der blinde Bruder streckte seine Hand aus. »Hast du bemerkt,« sagte der kleine Beer nachher höhnisch, »wie sie voll Ehrfurcht für dich waren? Denn es kann ja sein, daß du mir einmal helfen wirst! Und sie warten doch auf mich!« Oft dachte Franz an den Besuch zurück. Etwas sehr Ehrwürdiges, Dunkles, Unbekanntes blieb ihm in der Erinnerung, von traurig wartenden Menschen. Und manchmal fiel es ihm ein, wenn er lustig war, und er sah die vollen schwarzen Augen der Mädchen, die vor ihm aufstanden und sich schweigend vor ihm verneigten. Sie schienen ihm aber ganz in der Ferne zu sein, gar nicht in dieser Stadt; und es kam ihm sonderbar vor, daß sie doch sicher auch an Sonntagen manchmal aufs Land gingen.

Vom alten Salomon bekamen die Buben Karten ins Theater. Sie hatten dafür nur auf sein Zeichen zu achten. Er saß im Parterre, schwarz gekleidet, auf einen Stock mit goldenem Knopf gestützt, einem Patriarchen gleich. Er regte sich kaum und klatschte nie. Wenn er aber den Stock mit dem goldenen Knopf ein wenig hob, dann ging es oben los; das war das Zeichen für seine Leute. Bis dann der goldene Knopf wieder sank; da mußten sie verstummen. Er hielt auf gute Zucht und Anstand sehr. Er arbeitete nicht für jeden. Er hatte seine Kundschaft, der er seit Jahren diente, und er rühmte sich, daß es durchaus nur ideal gesinnte Künstler des edlen alten klassischen Stils waren. Auf die neumodischen Gebräuche ließ er sich nicht ein. Diese jungen Leute jetzt wollten gleich alle Himmel stürmen. Leider geht, pflegte er zu sagen, immer mehr der Takt verloren. Er hielt es für sein Amt, dem nach Kräften zu widerstreben. Die Alten konnten sich auf ihn verlassen. Und es war sein Stolz zu wissen, daß sie ihm das nicht vergaßen. Wenn er am Ersten zum alten Larinser kam, um sich sein Gehalt zu holen, sprachen sie gern von der Ungunst der Zeit, die keinen idealen Sinn mehr hat und nur verblüfft sein will. »Zirkus!« donnerte dann der alte Larinser. »Der Zirkus kommt! Ja, mein lieber Salomon, wir sind die letzten Säulen!« Abends, im Kreise der Seinen, erzählte das Salomon oft. Er sah mit Sorgen in die Zukunft der Kunst. »Wer ist denn noch da? Wer bleibt denn, wenn einmal die Großen hinsinken? Ja, die Rahl! Ja, das ist noch eine, die hat noch das heilige Feuer! Die Vestalin nennt sie der Larinser. In den Händen dieser edlen Frau ruht unsere ganze Hoffnung. Aber dann? Wie lange noch? Dann wird der alte Geist ruhelos durch die verödeten Hallen irren. Ich wünsche mir nur, daß ich es nicht mehr erleben muß.« So sprach er seinen alten Freunden nach und den horchenden Mädchen brannten die Augen.

Unter der Brücke war es jetzt ganz behaglich. Franz lag ausgestreckt, der Wind schnob, der Strom schwoll, der kleine Beer schrie stampfend, indem er von einem Fuß auf den anderen sprang, und Franz lag mit geschlossenen Augen und da klang ihm alles zusammen, der rüttelnde Wind und der rauschende Strom und der redende Freund, in ein einziges großes Brausen von ungeheuerer Macht. Die Stimme des Lebens, dachte er. Und wie klein bin ich da, wie schwach, wie wehrlos! Aber es war ein gutes Gefühl, so hier im Winkel geborgen zu liegen und warm zu haben und klein und schwach und wehrlos zu sein! Da hörte er den kleinen Beer höhnisch sagen: »Gute Nacht, mein Herr! Wünsche wohl zu ruhen, in der warmen Ecke! Das ist charakteristisch.« Der kleine Beer ärgerte sich immer, wenn er Franz so liegen sah. Das hat keinen Sinn, sagte er. Er konnte nicht liegen oder sitzen, vor Aufregung fing es ihm dann um den Mund und an der Nase zu zucken an. Und wenn er irgendwo stand, war es ein Wiegen von einem Fuß auf den anderen hinüber und er kratzte und scharrte.

»Ich weiß schon,« sagte Franz vergnügt. »Spannung, Spannung! Wo bleibt die Spannung?« Und, ohne sich sonst zu regen, stach er mit dem Zeigefinger in die Luft, wie der kleine Beer es immer tat, wenn er aufgeregt war. Denn Franz wußte, daß das jetzt wieder begann. Das predigte der kleine Beer ihm täglich: »Spannung, darauf kommt es an! Sich spannen, sich laden! Sich mit Sehnsucht, mit Begierden, mit Entschlossenheiten laden! Und seine Spannung nicht verschleudern, sondern sie zusammenhalten, bis es Zeit sein wird, daß die Tat aus ihr springt! Wehe dem, der sich in kleinen Erfüllungen, in flüchtigen Befriedigungen entleert! Dann hast du dich schon verloren. Alles oder nichts! Sich sammeln, sich bewahren, um bereit zu sein!«

Aber Franz behauptete, daß man sich auch im Liegen spannen könne.

»Weibisch,« höhnte der kleine Beer. Und da kam dann stets die große Rede gegen das Weib, das die Trägheit ist, die Zufriedenheit im Bestehenden, die Ergebung in jeden Zwang, jede Gewalt, jedes Unrecht! Und mit zorniger Verachtung sprach er von den Mitschülern, die nachts zu Kellnerinnen und Köchinnen schlichen. Das gibt dann die braven Ehemänner, die wohlgesinnten Staatsbürger, die zuverlässigen Hüter der Tugend! Verflogen ist der Spiritus!

Franz mochte solche Buben auch nicht. Es war ihm ein häßliches Gefühl, wenn sie mit ihren Abenteuern prahlten. Aber er traute sich nichts zu sagen; er hatte Furcht, ausgelacht zu werden. So machte er ein verlegenes Gesicht und tat einverstanden. Früher hatte er sich eigentlich sogar manchmal ein bißchen vor sich selbst geschämt. Bis ihm der kleine Beer zu Hilfe kam. Der gab ihm jetzt Mut. So war es doch überhaupt: er hatte das meiste immer schon selbst gedacht oder gefühlt, aber jetzt sprach der Beer es erst aus; und Franz hatte doch nie recht gewußt, ob er denn seinen Gedanken, seinen Gefühlen trauen dürfe, dazu verhalf ihm erst der Beer; auch war er in seinen Gedanken, seinen Gefühlen unsicher, sie wechselten und schwankten, aber der Beer nagelte sie fest; auch war ihm schwer, auszusprechen, was er eigentlich meinte, doch jetzt redete der Beer für ihn; und er konnte nicht wissen, wie eigentlich alles zusammenhing, aber der Beer hatte Grundsätze und an diesen wurde alles aufgehängt. Überhaupt erleichterte der kleine Beer ihm das Leben sehr. Denn allein kam der Franz meistens nicht weiter, als sich etwas zu wünschen. Er dachte: Man sollte wohl einmal –! oder: Ich möchte doch einmal –! Aber dann vergaß er es meistens wieder. Oder er dachte schon noch daran, aber nie zur rechten Zeit. Deshalb war er froh, jetzt den kleinen Beer zu haben, denn der vergaß nichts, was einmal beschlossen war. Er hielt ihm eine Rede darüber und dann mußte es geschehen.

Der Franz hatte schon vor ein paar Jahren die Rahl spielen gesehen. Das war herrlich! Tagelang sah er sie noch, langsam herab über die weiße Stiege schreitend, und hörte noch immer diesen schweren Klang, der von unbekannten Dingen drohend und lockend war. Tagelang ging er wie im Traum. Dann aber vergaß er es halt wieder. Es war nicht weg, sie war noch immer da, er sehnte sich oft ganz krank. Aber es kam immer etwas dazwischen. Bis er dann mit dem kleinen Beer einmal von ihr sprach. Franz erinnerte sich eigentlich nur noch: da war eine große weiße Stiege und sie schritt langsam über die vielen Stufen herab und dann hatten sich die Leute förmlich geduckt, als wenn es ein ungeheuerer wilder Adler wäre, von ihren Lippen auffliegend! Oder auch, erinnerte sich Franz, als hätte es sehr stark geblitzt und alle schlossen die Augen und hatten Angst vor dem Schlag! Aber jetzt erklärte der kleine Beer ihm erst, was sie war. »Ein Zeichen,« sagte er, »ist ihre Kunst, ein Zeichen und eine Gewähr, daß dem Menschen ein höheres Dasein möglich ist und wie hoch der Mensch gelangen kann, wenn er nur im Gemeinen nicht resigniert und sich nicht im Alltäglichen bescheidet! Vorwärts, aufwärts, in die Zukunft zeigt sie! So kann der Mensch sein! Wie sie! Wie sie, wenn sie herab über die Stiege kommt, den Kranz in den weißen Händen! Da weiß man es! Und dann schau dich aber um! Dann schau dir die Grafen in den Logen an und die Weiber mit den Brillanten! Oder schau dir unseren Herrn Professor Samon an! Das sind die jetzigen Menschen! Und wer es dann noch nicht weiß, dem ist nicht zu helfen! Dazu ist die Kunst da: daß der Mensch weiß, was aus ihm werden kann, daß er sich schämt und daß er sich endlich entschließt! Aber sie haben die Rahl und verdienen sie nicht. Sie ahnen gar nicht, was sie will, und gaffen nur, wie beim Ballett. Erst wenn unsere Zeit kommt, die wird ihrer würdig sein.«

Der kleine Beer brachte Franz auch in den Rahl-Bund. Das war ein Verein von jungen Leuten, die immer, wenn sie spielte, auf der Galerie waren, mit Tüchern winkend und ihr zujauchzend. Das taten auch andere, es ließ sich nicht hindern. Aber die vom Rahl-Bund kannten sich untereinander, hielten immer eine ganze Reihe besetzt und nachher gaben sie dem Portier ein Sechserl, dafür ließ er sie hinten in den Flur, durch den die Rahl zum Wagen schritt, und sie konnten ihr noch die Hand küssen. Und alle trugen Veilchen, das Veilchen war die Blume der Rahl. Und sie verachteten es, wenn ihr aus den Logen und aus dem Parterre zugeklatscht wurde. Denn diese verstanden das doch gar nicht! Dazu mußte man von den Eingeweihten sein. Es war übrigens gar nicht leicht aufgenommen zu werden. Sie hatten Mißtrauen. Es genügte keineswegs, aufgeregt und begeistert zu sein. Für sie war das mehr. Eine Weltanschauung, sagte der kleine Beer, und eine Religion, ein Gottesbegriff, ein Lebensbegriff und eine Kriegserklärung, nämlich gegen die Vielen! Sie hieß ihnen die Einzige und das Gegenteil waren die Vielen, so teilte sich in diesem Kreis die Welt ein. Eigentlich ärgerten sie sich, daß sie auch anderen gefiel. Das durften diese gar nicht. Es sollte nur nicht jeder glauben, ein Recht auf sie zu haben. Dazu gehörte mehr. Was eigentlich, deuteten sie bloß mit geheimnisvollen Worten an, aus Furcht, es zu verraten. Wer unvorbereitet davon ißt, sagte der kleine Beer, holt sich den Tod! Zur Beruhigung setzte er hinzu: Es ist aber ja bloß der innere Tod gemeint! Und der Ton, in dem er dies sagte, ließ seine Verachtung der Vielen hören. Diese Verachtung der Vielen, ihrer Begeisterung für die Einzige beigemischt, dazu das Dunkel, in das sie sich hüllten, das Geheimnis, mit dem sie sich umgaben, der Hohn, mit dem sie sich wehrten, das Gefühl, unverstanden zu sein, ein Gefühl, mehr zu wissen, fast ein Gefühl, Verbotenes, Gefährliches, Vernichtendes zu wissen, das ein ganz Starker nur ertragen kann, dies alles zusammen machte sie zu selig Verschworenen. Und dadurch gelang es ihnen auch, die Rahl für sich allein zu haben. Mochten andere auch klatschen, aber ihnen gehörte sie, denn nur sie wußten. Dies berauschte sie.

Der kleine Beer fand zuweilen, daß es eigentlich dumme Kerle waren. Dies befremdete Franz, daß sein Freund, wenn er ausgeschwärmt hatte, oft, wie um sich zu rächen, einen hämischen Spott nicht bändigen konnte. Dann war plötzlich alles dumm und verlogen und lächerlich, was ihn eben noch hingerissen und beseligt hatte. Er sagte dann: »Natürlich ist das auch wieder nur ein Wahn, wenn wir uns einbilden, daß jetzt eine neue Zeit kommt. Warum denn? Woher denn? Hört der Mensch plötzlich auf, Mensch zu sein? Und dann wird es wohl beim Alten bleiben. Aber jede Zeit lebt davon, daß sie auf eine andere hofft, die sich dann wieder mit der nächsten trösten wird, so foppen sie sich durch, immer mit dem Wahn der Zukunft, während andere wieder der Wahn der Vergangenheit foppt, daß es vorher besser war, in der guten alten Zeit. Bald heißt es: Es war einmal! Bald wieder: Es wird einmal! Und zwischen dem War und dem Wird leben wir und es ist nichts. Es war vielleicht einmal und es wird vielleicht einmal, aber es ist nichts, darüber allein haben wir einige Gewißfreiheit. Weshalb vielleicht mein Bruder noch der gescheiteste ist, der Schachspieler: da läßt sich nichts leugnen, da ist alles wahr, weil ja nichts wirklich ist, alles spielt sich bloß im Ausgedachten ab und dabei vergeht der Tag und wer ein bißchen Glück hat und nicht unbescheiden ist, kann sogar ganz gut davon leben, mein Bruder hat recht und lacht uns aus. Denn siehst du, da kommt ja noch was dazu! Gescheit zu sein und den Wahn zu begreifen hilft uns nämlich erst nichts. Wahn, überall Wahn! Gut, so weit bist du. Ausgezeichnet! Aber was jetzt? Du begreifst, daß alles Täuschung ist und immer Täuschung war und immer Täuschung bleiben wird. Da du's nun als Täuschung erkennst, kann's ja für dich jetzt keine Täuschung mehr sein. Da doch aber alles Täuschung ist, die dich jetzt freilich nicht mehr täuschen kann, da der Mensch nichts als Täuschung hat, die für dich jetzt freilich keine Täuschung mehr ist, was bleibt dir eigentlich? Was bleibt uns? Aufhängen können wir uns. Manche tun es. Doch sind diese bei schwachem Verstande, weil nicht abzusehen ist, was sie dabei gewinnen sollen. Die Täuschung sind sie freilich los. Aber braucht's dazu den Tod? Die Täuschung ist jeder los, der sich nur nicht mehr täuschen läßt. Und so werden sie höchstens gewahr, daß auch der Tod ein Wahn ist. Was sie vorher wissen konnten: denn der Tod gehört auch zum Leben. Wozu also? Und noch dazu tut es unnötig weh. Wer aber, den Wahn wissend, am Leben bleibt, was soll der noch, was will der noch, was kann der noch, seit er weiß, daß alles für ihn doch nichts ist? Die Sonne scheint, der Wald rauscht, der Berg glänzt, alles ist schön und du bist so froh. Aber du weißt doch: Wahn, alles nur Wahn! Es ist nicht wahr, daß die Sonne scheint! Es ist nicht wahr, daß der Wald rauscht! Es ist nicht wahr, daß der Berg glänzt! Du machst dir das doch alles bloß vor! Du selbst nur bist es, der die Sonne scheinen und den Wald rauschen und den Berg glänzen läßt. Mit dir verlischt es, mit dir verstummt es. Sei blind und die Sonne scheint nicht mehr und der Berg glänzt nicht mehr. Sei taub und der Wald rauscht nicht mehr. Oder sei verrückt und der Himmel ist grün und du bist aus Glas. Es hängt alles nur von dir ab. Du bist es, der dich täuscht. Willst du dich noch immer täuschen lassen? Aber es wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben. Ist der Mensch, wie du nun erkennst, im Leben und im Sterben dem Wahn verfallen, der aus seinen Augen schaut, in seinen Ohren hört, mit seinem Herzen schlägt, was hilft's dir denn dann, es zu wissen? Das ist nur der Weisheit erster Teil, ein schlechter Anfang: erkennen, daß alles Wahn ist! Den zweiten hast du erst, wenn du zum Ende kommst und nun erkennst, daß du vom Erkennen auch nichts hast. Und dann geht es noch ein Stück weiter, bis du schließlich vergessen lernst, vergessen, was du erkannt hast, vergessen, daß alles Wahn ist! Das ist das Ringelspiel: erkennst du, daß der Mensch nichts hat als seinen Wahn, so erkenn nur auch, daß auch deine Erkenntnis wieder nur Wahn ist, und bist du gescheit, so kehrst du zuletzt nur schön in deinen Wahn zurück und gibst es auf gescheit zu sein! Und denkst wieder mit neuem Mut, mit neuer Lust, mit neuem Stolz: Es wird einmal! Und glaubst wieder und hoffst wieder und liebst den Glauben und die Hoffnung wieder! Und tust im Rahl-Bund mit und wenn die Burschen verrückt und die Mädeln hysterisch sind, ärgerst du dich nicht mehr, denn du weißt jetzt: der Mensch hat sonst nichts! Wahn, überall Wahn, da will ich wenigstens meinen eigenen, der mir Spaß macht! Geht's schief, was tut's? Ich weiß ja, daß es nur Wahn ist. Wenn er mir nur Spaß macht! Er macht mir aber nur Spaß, wenn ich vergesse, daß es nur Wahn ist. Das ist das Ringelspiel. Also los! Vorwärts, aufwärts, auf das Leben los, aufs neue Leben, auf unser Leben!«

Franz hätte dem kleinen Beer dann stundenlang zuhören können. Er war stolz, sich so klar zu sein, über die letzten Dinge; nichts blieb verborgen, es wurde einem ganz kalt dabei. Wie wenn er in der Früh aus dem Bett in das Bad stieg; und die Mutter rieb ihn dann ab. Nein, die Mutter hätte sich erschreckt, vor den letzten Dingen. Aber die Menschheit rückte unaufhaltsam vor! Übrigens war ja das auch nicht so, daß er dem kleinen Beer immer alles geglaubt hätte! Morgen sagte der doch auch wieder das Gegenteil. Darauf kam es nicht an. Es klang so schön und so stark, er hörte so gern zu. Er hörte gern den Wind brausen, daß das Dach ächzte, und den Regen regnen, daß das Glas klatschte, und den Frühling rufen, wenn in den Ästen das erste Rascheln und leise Knacken begann. Alles war immer anders, alles war immer schön. Er hatte seine Mutter lieb, er hatte die Rahl lieb, er hatte den Beer lieb. Und er war froh, daß es die Mutter und auch die Rahl und dann noch den kleinen Beer gab. Manchmal, wenn er abends mit der Mutter saß und sie von seinem lieben Vater erzählte, fiel ihm ein: Wenn jetzt noch die Türe aufginge und die Rahl käme herein, wie damals im Theater, den Kranz in den weißen Händen! Und da würde die Mutter sitzen, mit ihrem guten stillen Gesicht, und die Rahl würde den Kranz halten und der kleine Beer, mit den Füßen stampfend, könnte das Leben erklären. Dann wäre einmal alles beisammen. Ob es das eigentlich gab, daß einmal alles beisammen war? Das hätte Franz sich so gewünscht. Aber er fand es eigentlich selbst kindisch. Er mußte sich überhaupt mehr zusammen nehmen, denn er bemerkte, daß er sich immer noch wieder ins Träumen verlocken ließ. Jetzt, in den letzten Wochen vor dem Frühling, wo man ihn schon überall in der Erde stoßen und schnauben spürte, war dies wieder sehr stark. Und er hatte Furcht. Er wollte sich nicht mehr verlieren, er war so froh, über alles klar zu sein. Er hatte Furcht, aber in dieser Furcht war eine seltsame Lust. Er fürchtete sich vor drohenden Dingen, aber sie lockten ihn auch; er hätte gern gewußt, was ihr Drohen und ihr Locken war. Er fing einmal an mit dem kleinen Beer davon zu sprechen. Aber er wurde bald gewahr, daß er dann doch nicht davon sprach. Das ging ihm zuweilen so: er fing an, aber es blieb in ihm stecken. Dann kam er sich eigentlich recht unaufrichtig gegen den Freund vor. Der sagte ihm doch alles! Aber er war halt anders, er konnte nicht alles sagen. Er konnte auch seiner Mutter nicht alles sagen. Er nahm es sich oft ausdrücklich vor, doch umsonst. Wenn er allein war, nahm er sich manches vor, was er ihr sagen wollte. Aber wenn er dann mit ihr war, fiel es ihm nicht ein. Und so ging es ihm mit dem kleinen Beer auch. Er hätte sich gewünscht einmal jemanden zu haben, dem er alles sagen könnte, wie wenn er allein wäre.

Auf dem Heimwege hörte der kleine Beer den Franz in der Mathematik aus. Der Wind ließ nach, der Abend zog schwer und feucht herauf. Sie gingen langsam. Die Spatzen schrieen. Es war ein warmer Dunst. Heuer kommt der Frühling zeitlich, sagte der kleine Beer.

 


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