Hermann Bahr
Die Rahl
Hermann Bahr

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Elftes Kapitel

Halt mir einen Augenblick die Leier, Jank!« sagte die Rahl. Sie stand auf dem Wagen und richtete sich den Kranz. Und dem Bereiter, der die Schimmel hielt, rief sie zu: »Geben's mir heut auf die Rösser ordentlich acht! Das ging mir noch ab!«

Neben ihr schrie der Chor schon: Heil Sappho, Heil! Und draußen, auf der Bühne, stieß Larinser wie mit einem klirrenden Eisen zu: Jawohl, Heil Sappho, Heil du braves Volk!

Aber das Zirpen der sanften Melitta versank im Ächzen und Schnauben, das wogend und stöhnend aus dem dampfenden schwarzen Loch blies.

»Weißt du,« sagte Jank, »daß der Larinser Sonntag in Brunn ausgezischt worden ist?«

»Nein!« sagte sie mit hellem Entzücken.

»Und die Zeitungen sind schrecklich!« sagte Phaon.

»Hast du sie? Gib her!« rief sie.

Und stärker schrie der Chor: Heil Sappho! Sappho, Heil!

Die Schimmel scharrten. Sie mußte sich anhalten, um nicht zu fallen. Phaon gab ihr die Brünner Blätter.

Unten war ein Sieden von zischender Ungeduld, als ob der brodelnde Topf zerspringen würde. Der blassen Melitta schwand die Stimme. Wie Scherben schlugen die Worte des alten Larinser auf.

Im Wagen aufgerichtet, den Kranz der Siegerin um die leuchtende Stirne, die goldene Leier im Arm, las sie lachend die Brünner Blätter. »Nein,« sagte sie, »schrecklich! Nein, wie gemein!« Und sie las gierig und lachte.

Der Inspizient gab das Zeichen. Und nun schrie der ganze Chor neben ihr, klirrend, jauchzend, kreischend: Heil Sappho, Heil!

Und draußen schrie es, von den hell aufflatternden Stimmen der jungen Mädchen: Heil Sappho, Heil!

Und nun schlugen die Bläser ein. Die Schimmel sprangen. Der Bereiter riß an den Zügeln. Jank trat in den Wagen neben sie. Sie gab ihm die Zeitungen und sagte: »Jetzt denk dir, wie's erst dir gehn möchte, in Brünn!« Sie lachte wieder. »Denn der kann doch immer noch in der kleinen Zehe mehr als du!« Da wurden sie hinausgezogen.

Und jetzt schrie es auch unten: Heil Sappho, Heil! Rahl, Rahl, Heil! Das ganze schwarze Loch schien ein einziger ungeheuerer Mund, der schrie: Heil Sappho, Heil, Rahl, Heil! Und der Schrei sprang an die Wände, die Wände warfen ihn zurück und so zerbrach er, in tausend gischende Kämme verspritzend, die alle schrien: Heil Sappho, Heil Rahl, Heil! Und ein alter Mann hinter ihr im Chor fing laut zu schluchzen an, und da schrie der Chor wieder und es war ein Rasen und ein Tosen und ein Brausen: Heil Sappho, Heil! Und unten standen alle und alle trampelten und alle klatschten und aus den Logen bogen sie sich vor und winkten und schwangen Tücher wie Fahnen und alles schrie gellend, stöhnend, heulend, weinend, lachend, kreischend, knirschend, krähend, brüllend, platzend, schmetternd, jauchzend: Heil Rahl, Heil Rahl, Rahl, Rahl, Heil Rahl! Sie stand im Wagen aufrecht, unbeweglich, kaum ganz leise lächelnd. Sie sagte zu Jank: »Am Rheinfall in Schaffhausen, wenn man ganz unten steht, so klingt es.« Sie sprach es gelassen und hätte gern noch irgend einen Witz gemacht; denn sie dachte, das wäre doch zu dumm, gerührt zu sein. Da hörte sie nebenan rennen und rufen und, in die Kulisse blickend, sah sie, daß die kleine Melitta dort in Krämpfen lag. Armes Ding, dachte sie, schlechte Nerven, wird's zu nichts bringen! Und sie sagte zu Jank: »Von wirklichen Dingen darf man sich doch nicht aufregen lassen, das ist ganz falsch.« Aber da bemerkte sie, daß ihm die dicken Tränen über die feisten Wangen rannen; er schämte sich, er hielt sich gewaltsam, es stieß ihn. Nun hatte sie die gute Laune wieder. »Schaf!« sagte sie, »es ist doch alles nur Lärm! Beim Heurigen schreien sie noch mehr. Das macht halt dem Menschen Spaß.« Und plötzlich fiel ihr ein, ob eigentlich der Napoleon auch gerührt war, wenn die Garden schrien; es ist schließlich doch dasselbe. Und vielleicht unterschied sich das gar nicht, ob man Sappho war oder sie gab; vielleicht spürte die Sappho selbst damals auch nicht mehr. Und sie sah in der Kulisse den hohen dicken Savladil mit einem großen blauen Tuch, in das er sich fortwährend schneuzte. In der Loge des Intendanten ging die Türe; sie bemerkte, daß ihr Mann eilig verschwand, dem war es auch zu viel. Wie die kleine Melitta, dachte sie. Sie freute sich über Larinser, der neben ihr wie ein Schwert im Boden stak. Es tat ihm wohl, es war ihm wie eine Dusche, er biß die Zähne fest und streckte sich. Aber sie räusperte sich: gleich wird sie jetzt einsetzen müssen; und ihr war trocken vom Staub. Das Schreien ließ nach. Es war nur noch ein Knattern, das jetzt wieder schwoll, gleich wieder riß, zerplatzend, verpuffend. Die Leute konnten nicht mehr. Da stieß von der Galerie ein Gellen in den Saal, mehr ein Pfiff, wie eines aufgeschreckten Tieres in Verzweiflung. Und es war wie ein Peitschenhieb in die wankende Schar. Sie sprangen auf und fingen noch einmal an. Und indem die weißen Hemden der Herren und die wehenden Tücher aus dem schwarzen Loch blitzten, war es ihr, wie wenn man über den glatten See fährt und Fische springen. Und jetzt schlug in den Schwall ihre Stimme hallend ein: »Dank, Freunde! Landsgenossen, Dank!« Da brach es noch einmal los wie ein einziger ungeheuerer Schuß. Aber sie gab jetzt nicht mehr nach. Und wie ein Stern aus einer Rakete fuhr es von ihr auf, über den Saal empor fliegend: »Um euretwillen freut mich dieser Kranz!« Und alles war versunken. Und sie stand allein. Und sie fühlte nur: So stark bin ich! Sie fühlte nur den Sonnenglanz ihrer Stimme. Und alle lagen betend auf den Knien und verhüllten sich vor ihr, so war ihr. Und sie wußte nichts mehr. Als sie dann aber die Leier nahm und zur Aphrodite sprach, hätte sie weinen mögen. Und da fiel ihr plötzlich ein: Ihr habt es gut, Ihr könnt die Rahl sehen, das möchte ich auch einmal! Darüber mußte sie wieder lachen. Und als jetzt unten das Tosen wieder begann, war sie ganz ruhig und sagte zum alten Larinser: »Wenn die Leute nur eine Hetz haben! Wir sind Nebensache.« Aber der alte Larinser sagte mit seiner klirrenden Stimme: »No es is doch schön!«

»Also?!« sagte der schöne Hofrat Wax zum Herrn von Lerroy. »Wo haben Sie denn das noch? Wo gibt's denn das noch? Aber das weiß man ja nirgends, wie Wien ist! Und der Wiener selbst glaubt, das muß so sein. Wir sind zu bescheiden, sag ich Ihnen, wir wissen selbst nicht, was wir an uns haben. Ja, ja!« Und rühmend und klagend ging er durchs Parkett und sagte jedem, daß man eben doch wieder sieht, was es ist, wenn eine Stadt eine alte Kultur hat, und war gerührt. Herr von Lerroy blieb sitzen, auf den Stock gestützt, den Onyx an seinem Griff in der hohlen Hand reibend. Er war bleich. Es griff ihn sehr an. Er winkte seinen Freunden ab; in solcher Stimmung muß man allein sein. Sie verstanden es; er gehörte ja sozusagen dazu, er war doch »der Rahl ihr Franzos'«. Er empfand dies und es drückte ihn. Er hatte eigentlich ein schlechtes Gewissen. Da saß er nun auf seinem Sitz! Er fühlte, wie man sich ihn zeigte, wie man von ihm sprach, wie man erwartete. Was erwartete man? Was denn? Das war es ja, was ihn quälte. Er fand nicht mehr heraus. Er wäre lieber bei seinem Automobil in Japan gewesen! Jetzt war dort die Kirschblüte. Er aber zog hier mit einer Berliner Zirkusdame herum und ließ sich ausplündern. Der Hofrat Wax nannte das: in seiner Wunde wühlen. Und es war ja noch ganz angenehm, daß es so verstanden wurde: als die Tat eines gleichsam Wahnsinnigen, der seinen Schmerz betäuben muß und Vergessenheit sucht. Aber wenn er nur einen Abschluß gefunden hätte! Dies war jetzt die letzte Gelegenheit. Er konnte das ganze Fest sozusagen krönen. Alle die Tage her dachte er schon daran. Was lag ihm noch am Leben? Es waren seine schönsten Gedichte, in welchen er den Ekel vor der dumpfen Welt, die Sehnsucht nach Erlösung, die Seligkeit im Nichts verkündigt hatte. Natürlich wechselt das, man hat auch wieder andere Stunden. Aber er war jetzt manchmal schon fest entschlossen. Besonders in der Früh, wenn er wieder diesen entsetzlichen Druck im öden Kopf hinten hatte. Auch fand er den schönen Hofrat Wax mit dem blauen Bart allmählich schon ganz unerträglich. Der kam in der Früh und kam nachmittag und kam abends, und diese Leute hier hatten eine Art, immer da zu sein, mit der allergrößten Liebenswürdigkeit, gewiß, aber immer da! Er sehnte sich nach Paris, wo man doch allein auf der Straße gehen kann. Wenn er hier einmal dem Hofrat entrann, hieß es gleich an der nächsten Ecke wieder: »Ja, Herr von Lerroy, was machen denn Sie da?« Und man ging mit. Jeder hielt sich für verpflichtet, ihm die Schönheiten der Stadt zu zeigen. Überall lauerte diese Gastlichkeit auf ihn. Nein, er hielt es nicht mehr aus. Es mußte sein. Einfacher wäre ja gewesen abzureisen. Aber er hatte nicht die Energie dazu. Auch ließ ihn doch die Zirkusdame nicht los. Die wäre mitgekommen oder nachgekommen und seine Nerven hielten einfach dies alles nicht mehr aus. Und durfte er eine ganze Stadt enttäuschen? Es war zwar wirklich nicht seine Schuld. Sie hatten einen Helden aus ihm gemacht, ohne ihn überhaupt zu fragen. Doch tat ihm dies wieder sehr wohl. Wäre nur mit dieser Rahl vernünftig zu reden gewesen! Aber was war das für ein Weib! Er hätte damals gleich abreisen sollen. Damals hätte sich seine Leidenschaft noch ersticken lassen. Übrigens war es ja gewiß auch etwas Schönes, sich einer so ganz großen Leidenschaft fähig zu fühlen. Wie mußten ihn eigentlich alle die Tausende hier beneiden, wenn sie jetzt ihn so sahen, sehr bleich, auf seinen Stab gestützt, mit dem Onyx spielend! Und hätten sie nur erst gewußt! Ihm schwindelte. Noch war das Knattern und Krachen des Jauchzens und Johlens auf seinen Nerven. Er saß wie gelähmt. Auch so gefeiert werden! Und das hing ja wirklich nur von ihm ab.

In der Loge sagte der Intendant: »Lieber Graf, Sie müssen mir raten, wie wir das eigentlich machen. Jetzt dann beim Bankett, meine ich. Ich muß doch neben der Gräfin sitzen, es gehört sich doch, nicht? Aber sehen Sie, ich kann mir nicht helfen, ich habe stets ein bissel das Gefühl: ich mache die Gräfin nervös! Wo sie doch gewiß keinen wärmeren Bewunderer und Verehrer hat! Gewiß nicht! Wenn Sie mir das nur erklären könnten! Und da schaut sie mich dann immer so gewiß an, ich weiß dann gar nicht mehr, was ich reden soll, das ist recht peinlich. Gerade jetzt wieder, wie ich ihr den Orden brachte, bei meiner Ansprache – nun das muß ich doch, nicht? Das ist ja doch keine Überhebung, nicht? Und sie war ja ganz freundlich, aber ich weiß nicht, was sie gegen mich hat! Wissen Sie, das ist überhaupt für uns furchtbar schwer, beim Theater; das glauben Sie gar nicht! Man hat immer das Gefühl, als ob einer hinter einem lachen würde. Das ist nicht angenehm! Ich bin doch weit in der Welt herumgekommen, natürlich überall muß man sich erst langsam hineinfinden, aber das war nirgends! Nicht wahr? Nicht? Und man kann wirklich nicht mehr Begeisterung für die Kunst haben, glauben Sie mir, lieber Graf, ich geb mir wirklich sehr viel Mühe. Und also jetzt bei dem Bankett, denken Sie sich nur, wo doch auch die Journalisten dabei sind, also man ist ohnedies aufgeregt, jetzt denken Sie sich, wenn sie sich langweilt und haut plötzlich auf den Tisch, oder so was! Nein, nein, das kann man bei ihr ja nie wissen. Deswegen bleibt sie doch die große Künstlerin, ich nehme ihr das doch nicht übel, nicht wahr? Es scheint eben, das muß schon so sein, nicht wahr? Das kennt man ja. Aber es war halt peinlich, nicht? Sie verstehen mich doch, lieber Graf? Ich meine ja nur. Ich möchte ja bloß, daß es eine recht würdige und schöne Feier wird, nicht wahr? Also vielleicht fällt Ihnen was ein. Mir ist es ja natürlich eine große Ehre, neben ihr zu sitzen, und es geht ja doch auch eigentlich gar nicht anders, nicht? Aber ich muß Ihnen offen gestehen, ich habe direkt ein bißl Angst. Nicht wahr, Sie verstehen mich doch? Also jetzt sagen Sie mir aber nur, was wir da eigentlich machen sollen? Es ist eine schwere Geschichte.«

»Kommt denn die Fürstin Uldus nicht?« sagte der Graf. »Das wäre doch das einfachste.«

»Die Fürstin sitzt rechts von ihr,« sagte der Intendant, »aber links? Also da soll ich sitzen, links! Glauben Sie denn?«

»Gott,« sagte der Graf, »es könnte ja auch Höfelind neben ihr sitzen, er hat das Bild gemalt! Und der macht ihr Spaß. Oder Larinser, als Doyen des Hauses. Wenn Sie wirklich meinen –! Obwohl ich ja glaube, daß es nicht so gefährlich sein wird.«

»Nein nein!« sagte der Intendant eifrig. »Es wär mir schon lieber. Nicht wahr, es soll doch möglichst würdig und feierlich verlaufen, nicht? Nur sehen Sie, das ist doch auch wieder –! Daß es nur dann am Ende nicht wieder heißt, man hat sich gedrückt! Das müssen wir auch bedenken! Sie glauben ja gar nicht, wie die Schauspieler empfindlich sind! Da heißt's gleich: was glaubt denn der! Was tun wir denn, wenn sie dann beleidigt ist, daß ich nicht neben ihr sitze? Man weiß ja nie, nicht wahr? Da könnt ich Ihnen Geschichten erzählen! Deshalb ist es ja so schwer! Man weiß wirklich nicht mehr, was man machen soll. Redet man einen an, no so langweilt er sich, no natürlich, das kann man sich denken, ich verstehe ja seine Sachen nicht! Sagt man aber wieder nichts, so glaubt er, daß man hochmütig ist. So geht's den ganzen Tag, nie macht man's ihnen recht. Aber die Leute denken, daß das so einfach ist! Da gehört, ich sag Ihnen, da gehört außerordentlich viel Takt und Zartgefühl und dann noch eine ungewöhnliche Geistesgegenwart dazu! Und dann nutzt es erst nichts. Nicht wahr?«

Der Graf sagte: »Das beste wird sein, sie einfach zu fragen.«

»Wer denn?« sagte der Intendant, erschreckt. »Wer soll sie fragen? Nur nicht während einer Vorstellung etwas fragen. Glauben Sie mir!«

»Ich werde sie fragen,« sagte der Graf.

»Ja,« sagte der Intendant erleichtert. »Ja, ja! Nicht wahr?«

»Aber, Verehrtester,« sagte der Graf lächelnd. »Wenn sie sich dann vielleicht wirklich, es kann ja sein, für den Maler oder für Larinser entscheidet, dürfen Sie mir nicht beleidigt sein? Das kommt auch vor.«

»Ich?« sagte der Intendant verblüfft. »Ich soll beleidigt sein? Ich?« Und er lachte herzlich. »Aber ich bitte Sie! Ich bin doch nie beleidigt! Nein, das würde wirklich nicht gehen. Nein, nein! Nicht wahr?«

Höfelind hatte den alten Radauner mitgeschleppt, der die Rahl noch nicht kannte. »Sakrament!« sagte Radauner, schnaufend. »Das ist wohl ein Mordsweib! Jetzt bin ich erst neugierig auf dein Bild. Sakrament! Da wird einem ganz anders!«

Höfelind knurrte nur, an seinen roten Borsten nagend.

Radauner lachte. »Weißt du,« sagte er, »dann bist du eigentlich ein Schlachtenmaler. Hoho!«

Höfelind sagte: »Die blöden Lackeln habe ich ja nicht gemalt, mit ihrem Krawall! Pfui Teufel!«

»Das meine ich ja gar nicht,« sagte Radauner. »Aber das Weib selber! Herrschaft, das Weib! So stell ich mir eine Schlacht vor! Und hörst nichts mehr und siehst nichts mehr und weißt nichts mehr, aber herrlich ist es! Sakrament! Na ich bin neugierig. Eigentlich ist es eine Frechheit von dir, das muß ich schon sagen.«

»Ja,« sagte Höfelind keuchend. »Zum Ohrfeigen! Aber nie mehr, nie mehr!«

»Wie sie dreinfetzt!« grunzte Radauner. »Da kriegt man ordentlich wieder Lust. Daß es in dieser dreckigen Menschheit noch so was gibt, ist doch schön. Na ich bin neugierig. Freu dich, freu dich!« Und er stieß und puffte Höfelind vergnügt.

Franz fand endlich den kleinen Beer. Er suchte schon die ganze Zeit nach ihm. Der kleine Beer sagte nur kurz: »Servus!« Aber Franz bat: »Sei doch nicht mehr bös!« Der kleine Beer schwieg achselzuckend. »Sei nicht mehr bös,« sagte Franz, »ich bitte dich!« Sein Gesicht glühte, die Locken flogen. Der kleine Beer sagte: »Wir können uns ja darüber einmal aussprechen, wenn du willst.« Franz schrie: »Ich will, daß wir wieder gut sind! Heute, wo –« Und er streckte die Hand aus und zeigte zur Bühne hinab und konnte nichts mehr sagen, weil ihm zum Weinen war. Der kleine Beer sagte kleinlaut: »Bös bin ich doch gar nicht. Bös ist nicht das Wort.« Franz rieb sich die Augen aus und lachte. »Gelt?« sagte er. »Wenn man das zusammen erlebt hat!« Er wurde heiser, er konnte nicht mehr reden, er lachte nur, zur Bühne zeigend. Der kleine Beer nickte, zur Bühne sehend, und sagte beklommen: »Ja, die! Die!« Und, sich plötzlich schämend, griff er nach der Hand des Franz und drückte sie. »Nicht wahr?« sagte Franz. »Da muß doch alles andere vergessen sein.« Das bleiche schwarze Mädl schoß auf den kleinen Beer zu, schreiend: »Herr Beer, Herr Beer! Ich bitte Sie. Sie waren Zeuge.« Sie zog ihn in einen schnatternden Schwarm und schrie: »Herr Beer hat es gesehen, wie sie mich küßte! Erzählen Sie doch, Herr Beer! Hat sie mich nicht geküßt? Ich bitte Sie, Herr Beer!« Sie riß ihn am Arm, zuckend vor Zorn. Die Mädchen schwirrten lachend. Eine blonde Dicke sagte behäbig: »No sie hat halt eine geküßt!« Die kleine Schwarze schrie schrill: »Mich hat sie geküßt! Dich hat sie nicht geküßt! Mich hat sie geküßt! Herr Beer! Ich bitte Sie, Herr Beer! Hat sie mich geküßt, Herr Beer?« Die Blonde sagte breit: »No weil du halt grad die nächste warst! Das ist ihr doch ganz gleich!« Das bleiche schwarze Mädchen keuchte schluchzend: »Du, du, du!« Die Blonde fragte gemütlich: »No also was denn?« Da schrie das schwarze Mädchen auf: »Du neidischer Frosch, du!« Und sie hob die Hand, aber da schlug es sie hin, sie lag kreischend.

Professor Samon saß, ganz still vor sich hin, und hielt das Auge mit der linken Hand zu, nachsinnend. Er freute sich, noch so starker Eindrücke und einer ja wahrhaft jugendlichen Begeisterung fähig zu sein. Dies bewies ihm, daß er sich seine Ideale bewahrt hatte. Zuweilen, unter den täglichen Sorgen, bei Verstimmungen, in Enttäuschungen, war ihm oft schon selber Angst, gewissermaßen auszutrocknen, was ja bei seinem, ausschließlich der Pflicht gewidmeten Leben, dem es an jeder Erfrischung durch sozusagen geistige Zufuhr fehlte, wirklich kein Wunder gewesen wäre. Diese Menschen, welchen ein günstiges Geschick gewährte stets in lebendiger Berührung mit dem Schönen zu bleiben, hatten es leicht. Die Voraussetzung war aber doch, daß andere dafür sich selbst zum Opfer brachten. Denn hätten nicht diese, die Lehrer eben, die Erzieher der Jugend, die Hüter der Zukunft, in selbstloser Entsagung immer wieder den Keim zum Schönen ins Herz der heranwachsenden Menschheit gelegt, was wäre längst aus ihr, was aus aller Wissenschaft und Kunst, was aus den Grundlagen jeder menschlichen Gesittung geworden, ohne diese stillen, unverdrossen entsagenden Pioniere, welche die Lehrer sind? Uns gebührt wohl, dachte er, eigentlich uns ganz allein, gebührt der Name: Humanisten noch mit Recht! Und ihm kam, als er jetzt über die Brille weg in den Lärm dieser krabbelnden, schwatzenden, zappelnden Masse sah, das ganze Treiben eigentlich doch recht töricht vor. Gewiß war diese Rahl eine Künstlerin, der man es gar nicht genug danken konnte, daß sie in einer Zeit des flachsten Materialismus kühn das klassische Banner trug! Gewiß! Und er verkannte gar nicht, daß dieser Abend doch auch noch den tieferen Sinn einer öffentlichen Demonstration sozusagen für die so schwer bedrohten Ideale hatte, was immerhin eine weit ernstere Bedeutung beanspruchen konnte, als sonst theatralischen Aufführungen wohl zukommt. Gewiß! Aber er konnte sich doch einer gewissermaßen bittersüßen Ironie nicht erwehren, wenn er diese Huldigungen an die Kunst mit dem verschwiegenen Dunkel verglich, in welchem man die Wissenschaft ließ, wo dann gerade die wichtigste, die der Erziehung, welche doch sozusagen Wissenschaft und Kunst in einem ist, erst noch hinter allen anderen, schlecht gelohnt in jeder Beziehung, zurückstehen muß. Er empfand dies hier wieder sehr stark. Aber er mußte lächeln. War ihm dies so neu, daß die Welt ungerecht ist? Die Schmach, die Unwert schweigenden Verdienst erweist, sagt Hamlet. Wie oft hatte ihn dies Wort in Entlastungen getröstet! Man hätte dies Wort vom schweigenden Verdienst auf den Grabstein jedes Lehrers setzen müssen, und noch ganz besonders des Philologen. Das war nun einmal so, sie hatten nichts als das eigene Bewußtsein. Immerhin nahm er sich aber vor, den Eindruck, den ein solcher Abend auf das bewegliche Gemüt der jungen Leute machen konnte, auf eine angemessene Weise zu korrigieren, worauf dieses ja zweifellos für die Burschen keineswegs unbedeutende Erlebnis sicherlich beitragen mochte, in ihnen manches Erfreuliche zu zeitigen, wenn es nur mit Takt und Umsicht in die richtigen Bahnen geleitet wurde. Und so ging es ihm doch immer: aus jedem Vergnügen, das er sich einmal gönnte, aus jeder Erholung, aus jedem kurzen Genuß erwuchs ihm nur immer wieder eine neue Pflicht. Man schleppt eben, dachte er, seinen Charakter immer mit! Das war manchmal recht unbequem, aber es gab doch auch seinem ganzen Leben einen sicheren Halt. Und wer unter allen den Gaffern im glänzenden Hause hier konnte das wohl von sich sagen, immerhin?!

Larinser saß bei der Rahl in der Garderobe. Sie sprachen von ihren Anfängen. Er war sehr vergnügt, weil er aus jener Zeit noch alles wußte. Er erzählte lustig. Und er tätschelte sie zuweilen auf den Arm und sagte dann immer wieder: »Es ist halt doch schön.« Als er es noch einmal wiederholte, sagte sie plötzlich gereizt: »Ich weiß nicht.« Er verstand es nicht und fragte: »Was meinst du?« Und sein Gesicht sank ein und er lauschte furchtsam. Sie sagte hart: »Ich weiß nicht, ob es schön ist. Den ganzen Abend denk ich schon darüber nach. Ist es schön? Ich weiß nicht, vielleicht ist es schön. Ich habe mir eben vielleicht das Schöne falsch gedacht. Kann ja sein. Ich habe mir es anders gedacht.«

Larinser zog schnuppernd die Nüstern auf und runzelte die Stirne. Ihm wurde das zu schwierig. Sein Kopf dunkelte. »Höre!« sagte er. »Höre, Kind! Höre, was ich dir rate! Glaube mir! Mir kannst du vertrauen! Also höre mich an, mein gutes Kind!« Er sprach es breit und voll, auf den Schall der tönenden Worte horchend, an dem er sich gleichsam wie an einem Strick hielt, bis ihm wieder etwas einfallen würde. Dies hatte er sich von der Bühne her angewöhnt. Dann schwieg er, sah sie mit glimmenden Augen an und wartete. Sie sagte ungeduldig: »Ja, ja!« Dabei dachte sie: Das kommt auch noch, das auch noch! Er tat ihr leid und sie hatte Furcht. Plötzlich griff er zu, wie nach einem Balken, da schwamm er nun wieder: »Die ganze Stadt! Denke nur, eine ganze Stadt! Eine ganze mächtige Stadt in allen Höhen und Tiefen huldigt dir! Die Majestät eines ganzen Volkes huldigt dir! Zu deinen Füßen liegt sie stehend und stöhnend hingestreckt! Gilt dir das so wenig, törichtes Kind? Mich berauscht es! Mich macht es trunken! Mich, einen alten Mann!« Seine Stimme zitterte schellend. Es rührte ihn, daß er ein alter Mann war und daß seine Stimme zitterte. Und dann sagte er, einen aufdämmernden Gedanken haschend: »Und! Und, Bettina! Und vergiß nicht! Ja, das haben wir allein, nur wir ganz allein! Und das ist das Höchste! Ich bin ein alter Mann, siehst du! Und doch, siehst du! Und doch! Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann in bösen Nächten, manchmal ist es bös, Bettina! Aber nein, aber! Aber ich setze mich in meinem Bett auf und weiß: irgendwo weit in der Welt ist jetzt ein junger Mensch wach und das Blut schlägt ihm, denn er denkt an Hagen Tronje, Hagen Larinser, Larinser Tronje, ha! Vielleicht hat er eine Ansichtskarte mit Hagen Larinser, weißt du! Das läßt ihn nicht schlafen, die Pulse fliegen. Und das nimmt er sich ins Leben mit hinaus. Und einst wird er auch ein alter Mann sein und weiß nichts mehr und sitzt irgendwo. Aber das bleibt ihm, Hagen Larinser bleibt ihm. Mich haben dann schon längst die Würmer verspeist, guten Appetit zu dem Brocken! Aber Hagen Larinser bleibt! Siehst du, Bettina! Verstehst du? Und! Und so! Und vergiß nicht –!« Und er rang wieder haschend, aber es kam nichts mehr. So stand er auf und nahm den Kranz der Siegerin und er stand und hielt den Kranz und sprach, an den alten Schild seiner Stimme schlagend: »Hagen Larinser!«

»Ich weiß nicht,« sagte sie ins Leere.

Er erschrak, erwachte, erinnerte sich nicht mehr recht, wunderte sich, den Kranz in seiner Hand zu sehen, ging suchend und wußte nicht, wohin er ihn legen sollte. Sie nahm ihm den Kranz ab und sagte: »Mach dich nicht zu müd! Morgen ist auch noch ein Tag.«

Er wurde wild und schrie: »Nein, das gibt es nicht.«

Sie sah auf und fragte: »Was hast du denn?«

Er wiederholte, mit suchenden Augen, trotzig: »Gibt es nicht.«

Er war ihr unheimlich. »Was gibt es nicht?« fragte sie beklommen.

Er sagte starr: »Morgen gibt es nicht! Schäm dich, daß du das noch nicht weißt! Morgen gibt's hier nicht!« Und er setzte sich schwer und saß vor ihr wie geharnischt. Und es lallte von seinem versteinten Mund: »Gibt's hier nicht, gibt's hier nicht, gibt's hier nicht.« Und immer so hin. Lallend saß er.

Sie kannte das an ihm von der Bühne her. Es blieb dann nichts, als ihn zu lassen und nur zu reden, bis ihn irgendein Wort traf. Das riß ihn schon wieder empor.

Und mit dem Gefühl, daß es ganz gleich war, was sie sagte, wenn es nur schallte, begann sie: »Die ganze Stadt! Das war ja sehr schön. Wenn ich nur nicht den Verdacht hätte, daß einen nicht ein einziger Mensch wirklich hört. Sie wollen sich aufregen. Ob es aber die Burgmusik ist oder rote Fahnen oder ein Feuerwerk, nein, ich glaube nicht, daß das einen Unterschied macht. Wir sind die großen Trommeln, bum, bum, bum, bis ihnen Hören und Sehen vergeht. Das wünschen sie sich. Diesen Zustand braucht der Mensch offenbar. Wie, fragt er nicht lang.« Es tat ihr wohl, dies einmal jemandem zu sagen; und ohne daß es doch gehört wurde. Und so fuhr sie fort: »Also meinetwegen. Auch gut. Nur wissen muß man es. Eigentlich sind sie ja die Betrogenen. Wir machen bum, sie regt es auf, aber was sie dann aufgeregt alles spüren, das ist ja gar nicht von uns. Seine eigene Aufregung nur spürt jeder. Und wir kriegen dafür noch das Geld und den Ruhm. Was eigentlich ja sehr lustig ist, wenn man sich erst einmal damit abgefunden hat und nur nicht mehr glaubt, daß sie uns je verstehen. Das gewöhnt man sich halt aber nicht so leicht ab. Obwohl es doch schließlich gleich ist. Wozu denn? Was geht's uns an? Wenn der junge Bursch nur begeistert ist: Hagen Larinser! Was geht's dich an, was er dabei spürt? Woher er es hat? Von dir nicht! Von uns nicht! Ich glaube schon: kein Mensch kommt zum anderen hinein! Es spürt wohl jeder immer nur sich. Aber er nennt's halt zum Beispiel: Hagen Larinser! Sei froh! Seien wir froh!«

»Ja!« sagte Larinser, durch seinen Namen plötzlich aufgeweckt. »Ja, Bettina!« Und er stand auf und sagte feierlich: »Das ist ein gutes Wort. Seien wir froh! Und seien wir stolz! Denn dies ist heute wahrhaftig ein Ehrentag für uns alle, für das ganze Haus, für unser edles Haus, in dem der Sinn für die große Kunst niemals erlöschen soll, dies wollen wir heute geloben!« Er sah sich um und bemerkte, daß sie ja ganz allein waren. Und er sagte: »Nun, ich werde ja dann beim Bankett noch sprechen. Auf Wiedersehen, Kleine!«

Sie mochte den zweiten Akt nie. Diese brave Sappho kam ihr da ganz albern vor. Worte, nichts als Worte, statt loszustürzen! Und was für Worte!

                                                »Wir wollen
Ein andermal noch diesen Punkt besprechen!«

Wenn sie lustig war, machte sie sich zu Hause gern den Spaß, mit ihrer Jungfer in solchen Versen zu verhandeln; es war gar nicht schwer. Und Jank fürchtete sich schon immer, er durfte sie da gar nicht ansehen, solche Grimassen schnitt sie dazu. Er ängstigte sich besonders vor der Stelle:

»Ich pflege diese Stunde sonst den Musen
In jener stillen Grotte dort zu weihn.«

Er stand dann immer abgewendet. Denn er wußte, daß sie zur »stillen Grotte« das Gesicht so infernalisch verzog, daß er lachen mußte. So konnte sie manchmal ganz unschuldigen Worten den Klang von Zoten geben. Ließ er sich aber merken, daß er es verstand, so wurde sie bös; sie hatte sich erst neulich in einer ausführlichen Zuschrift an die Intendanz heftig über ihn beschwert. Und nun wurde sie heute noch durch die wieder und wieder klatschende, heulende, jauchzende Menge gereizt. Sie hörten unten gar nicht mehr zu, sie wollten nur immer rasen. Sie ließen sie kaum reden und nach ein paar Versen brach es immer wieder los, brausend, rüttelnd, dröhnend. Ihr tat schon der Kopf weh. Sie sagte zu Jank: »Das ist mehr eine Bauernhochzeit als eine Vorstellung!« Wirklich wie das Stampfen betrunken im Tanz gröhlender Burschen war es. Und die Hitze wurde unerträglich. Es stieg wie aus einem Stall herauf. Und dann immer wieder plötzlich ein Schnauben, ein Sprudeln, ein Stöhnen und dann brach das Knattern des hagelnden Klatschens wieder aus und Schreie flogen wie Steine nach ihr. Sie stand dann mit unbeweglicher Gebärde still, wie man sich bei Gewitter unterstellt. Und plötzlich war ihr jetzt so leid. Plötzlich erinnerte sie sich, wie sie selbst noch dort oben war, in dieser schwarz von der Galerie niederhängenden Wolke. Wie hatte sie sich damals gesehnt, als sie selbst noch eine von den Bebenden, Bangenden, Lechzenden dort war! Damals wußte sie ja noch nicht. Und plötzlich war ihr so leid, daß sie es jetzt wußte. Und immer mehr erinnerte sie sich. Der Vater schlug die Mutter, alle stießen sie herum, es war ein grausliches Leben. Aber sie konnte sich noch sehnen. Und unheimlich klar erinnerte sie sich jetzt, wie sie sich damals immer sagte: Es macht nichts, es macht alles nichts, denn einmal wird etwas geschehen, einmal wird etwas kommen, einmal wird etwas sein, mußt nur halt noch ein bißl warten! Und sie wartete Tag um Tag, wie jetzt die dort oben warteten, auch wieder. Sie verstand die, sie wußte, was sie diesen war: sie versprach ihnen. Dies alles, worauf sie warteten, versprach sie ihnen. Sie versprach ihnen: einmal wird etwas geschehen, einmal wird etwas kommen, einmal wird etwas sein! Und deshalb ächzten und schäumten und stampften sie vor Ungeduld dort oben. Ihr aber war jetzt so leid. Wozu wird dem Menschen das ins Herz gesetzt? Dieser Wahn, daß einmal etwas kommen wird! Und nie! Und nie! Und er schleppt sich hin und läßt nicht ab und hofft immer noch: einmal wird etwas sein! Und nie! Und nie! Kann denn das, was in allen Menschen ist, was sie hält und trägt und drängt und treibt und über alles stark ist, was sie froh und gut und stolz und ausharren und alles bestehen macht, kann denn das, kann denn das lügen? Und es log! Sie wußte doch jetzt, daß es log! Sie wußte doch jetzt: Nie! Die wußten es nur noch nicht, dort oben, in ihrem Taumel! Und sie wurde zornig auf sie. Sie hätte hinauf schreien mögen: »Nie, nie! Foppt euch doch nicht! Nie, nie! Da bin ich und ich weiß es! Nie!« Aber nein, sie wird ihnen das nicht sagen und sie werden sich weiter sehnen, sie nach ihr, wie sie wieder sich nach ihnen sehnt, nach jener Zeit des ungestörten Wahns zurück, nur daß die noch an ihre Sehnsucht glauben können, während sie jetzt die Ohnmacht ihrer Sehnsucht schon weiß, und so sehnt sich der eine vor und der andere sehnt sich zurück und dazwischen ist das Leben eingeklemmt, aber sie wird es ihnen nicht sagen, denn das würde sich nicht schicken, sondern sie wird jetzt ihren geliebten Vers sagen, mit dem sie ihren armen Mann immer quält, der doch wirklich nichts dafür kann, und jetzt kommt er schon, der herrliche Vers, sie muß nur acht geben, daß man doch ihren Hohn nicht merkt, und sie holt den gurrenden Ton einer Taube heraus, Nummer Eins-A, drittes Fach links unten, wie der Larinser sagt, der den Schwindel kennt, und sie spürt, wie es ein Fluten von warmem Glanz durch das ganze Haus ist, indem sie spricht:

»Mein Freund, du bist jetzt nicht gestimmt. Wir wollen
Ein andermal noch diesen Punkt besprechen!«

Und dort biegen sie sich unter der Lust ihrer Leid klagenden Laute, aber dann gäschen die Salven der prasselnden Verzückungen gleich wieder los.

Der dritte war ihr großer Akt. Da verschwand immer alles um sie. Da wußte sie nichts mehr. Da war sie fort. Langsam sank sie, anfangs war es, als ob sie zu schwer würde, und sie hatte so kalt in den Füßen. Und es zog sie, sie fühlte sich ermatten, es würgte sie. Dann aber, plötzlich, war nichts mehr. Nur dies empfand sie noch: Nichts ist, nirgends, und ich bin weg, aber es fliegt, bin ich das, die fliegt? es ist ein Fliegen, es ist ein Rauschen durch die Weite hin, durch die Leere hin, und so leicht, so weiß, ein leichtes, leise rauschendes, weißes Fliegen, in einem Wind von Wellen und Wolken, so leicht, so weiß! Und dann stieß sie plötzlich an. Sie hatte das Gefühl, im Fliegen plötzlich an ein ungeheueres Licht zu stoßen, das hart wie Stahl war. Dies betäubte sie und das war so gut. Da war jetzt alles betäubt. Es war nur noch ein seliges Schweigen überall. Und dann, in diesem seligen Schweigen überall, hörte sie sich. Sie hörte lauschend ihre Stimme jetzt. Sonst war das doch gar nicht ihre Stimme, wenn sie sonst sprach; nein, sonst nicht. Erst jetzt stieg ihre verborgene Stimme durch die weißen Wellen an den Wolken her, über den Wind. Und das war ihr Schmerz, der aus dieser Stimme sprach. Ihr Schmerz flog da mit schwarzen Flügeln auf. Ihr Schmerz trug sie durch Wellen, Wind und Wolken hin. Und das war so gut, sich tragen zu lassen, von ihrem ruhigen, starken, großen Schmerz. Denn während ihr Schmerz sie trug, stand sie zugleich unten und sah zu. Und die dort unten stand, wunderte sich, sie konnte nichts begreifen, sie wußte nur, daß es jetzt schön war. Und die dort unten stand, dachte ganz still über alles nach, das konnte sie. Das ist mein heiliger Schmerz, dachte sie, den ich den Menschen bringen muß, zur Erlösung! Und dann fiel ihr ein, daß der große Kritiker geschrieben hatte, ihre Stimme habe das Weh der ganzen Welt auf sich geladen. Aber da fragte sie sich, woher denn ihr Schmerz eigentlich war. Woher nahm sie den Schmerz? Sie hatte ihn doch gar nicht! Hier kommt er plötzlich. Woher? Sonst doch nie! Traurig ist sie manchmal, es ekelt ihr, dann möchte sie wohl weinen. Aber dieser Schmerz ist das nie. Der kommt nur auf der Bühne. Und vielleicht ist es deshalb, daß sie manchmal weinen muß. Vielleicht ist es nur der Schmerz, der ihr draußen fehlt. Ein einziges Mal dies auch draußen spüren und so fortgetragen sein, auf schwarzen Flügeln durch die Luft hin! Etwas so Starkes über sich spüren! Warum hat sie das draußen nie? Warum ist der Schmerz dort stumm? Sie hat ihn doch! Jetzt ist er wieder da! Und alle hören ihn und sind erlöst. Sie muß ihn also doch haben. Oder woher kommt er? Woher sonst? Aus diesen Worten, die man ihr eingelernt hat? Sie sagen ihr gar nichts. Sie hört jetzt zu und gibt acht, indem sie sie spricht. Nein, dies alles, was diese Worte wollen, weiß sie gar nicht. Sie hat doch das niemals gefühlt. Diese Wut von Furcht um einen geliebten Mann? Nein, sie kann sich das gar nicht denken. Sie muß lachen, während immer noch ihr Schmerz tönt. Ihr Schmerz ist es, ihr eigener, tief aus ihr empor, ein ganz anderer, als diese Worte haben! Was weiß sie von diesen Worten? Nein, dies alles hat sie nie gefühlt! Hat sie denn je geliebt? Sie hat es sich immer nur gewünscht. Man liegt und wälzt sich und hat heiß; und dann kommt einer und wenn man erwacht, ist es wie nach einem häßlichen, albern ängstigenden Traum! Da stand doch der Jank neben ihr, mit den seidenen Augen in seinem schwammigen Gesicht, von welchen sie vor einem Jahr drei Tage ganz toll gewesen war! Und immer so! Und alle gleich! Und man schämt sich dann nur so und kann es gar nicht mehr begreifen! Ihr Mann war der einzige. Aber hatte sie den geliebt? Wie Sappho hier den Phaon liebt? Gab es das? Wunderschön war es gewesen, als er damals in ihr Leben kam. Etwas sehr Zärtliches, Weiches, Stilles hatte sie seitdem bei sich, was sie früher nie kannte. Ein solches Gefühl, ganz eingehüllt und fest geborgen zu sein. Und wer weiß, wenn er nicht so scheu gewesen wäre, fast wie ein junges Mädchen, heute noch mit seinen grauen Haaren! Aber sie schämte sich vor ihm. Und dann konnte diese Stille, dieser Ernst in seinem arglosen Wesen sie so trotzig machen, daß sie manchmal Lust hatte, laut ein recht gemeines Wort zu sagen, um nur nicht mehr so beklommen zu sein. Auch dachte sie, daß vielleicht in einem so reinen und ganz andächtigen Gefühl, wie sie für ihn in guten Stunden hatte, jede Leidenschaft erstickt. Oder war Leidenschaft wie Schmerz und kam nur immer, wenn sie hier auf der Bühne stand? Aber da brachen sie jetzt unten wieder schmetternd los und weckten sie, da war es weg. Und sie stand und hörte nur das Brausen. Und sie konnte sich lange nicht finden. Und sie wußte gar nicht gleich, was denn eigentlich war, sie hatte doch so viel erlebt, jetzt eben noch, aber sie wußte nichts mehr, sie lächelte nur, sie trat hinaus, jetzt war der Saal auf einmal so hell, sie lächelte, das galt alles ihr, da stand sie, rings in Blumen, sie lächelte nur immer und sie kam sich so furchtbar verlassen vor, aber jetzt wird ihr Mann kommen und wird ihr mit seiner stillen streichelnden Stimme was Liebes sagen und sie wird ihn auslachen, weil er dann doch immer ein so dummes Gesicht macht. Und sie ruft dem Diener zu: »Lassen Sie mir aber jetzt keinen Menschen mehr in die Garderobe! Außer wenn der Graf kommt. Ich hab grad genug.«

Sie saß vor dem Spiegel, ungeduldig wartend. Warum kam er denn nicht? Ihr war auf einmal so bang. Sie hatte dann immer solche Mühe, alles wieder aufzufinden, sie konnte sich gar nicht entsinnen. Es kam ihr vor, es müßte Jahre her sein, seit sie zum letztenmal hier gesessen war, vor dem Spiegel. Aber sie wußte doch, daß es noch kaum eine Stunde her war. Konnte denn in einer Stunde so viel geschehen? Denn es kam ihr vor, daß unendlich viel mit ihr geschehen war. Und doch wußte sie, daß es noch kaum eine Stunde her war: hier saß doch eben noch der alte Larinser und faselte! Und dann war sie nach der Bühne gegangen und hatte die Sappho gespielt, zweiten Akt, dritten Akt, ja. Und sie wunderte sich, daß sie dazu noch die Sappho spielen konnte. Zu diesem allem, was mit ihr geschehen war. Und doch konnte sie noch indessen die Sappho spielen. Aber jetzt wußte sie ja schon, daß doch gar nichts geschehen war. Sie wußte ja, daß es nur der Trance war; der wirkte noch nach, sie hatte noch immer nicht die Kraft ihn abzuschütteln. Der Trance, sagte sie laut vor sich hin. Sie hatte das Wort vom Grafen, mit dem sie gern davon sprach. Er konnte ihr es aber auch nicht erklären. Eine Zeit hatten sie viel Spiritismus getrieben mit berühmten Medien aus England, bis der Arzt es ihr verbot. Der Trance, sagte sie noch einmal, näselnd, und das machte ihr Spaß, sie hatte das Wort so gern. Da war man dann eigentlich schon am Rand, dachte sie. Und sie dachte langsam: am Rand der Geheimnisse. Sie wußte doch aber, daß sie jetzt nicht mehr dort war. Sie war zurück. Sie war ja wieder hier, vor dem Spiegel in der Garderobe. Warum kam ihr Mann denn nicht? Oft hatte sie das auch in der Früh: sie war schon wach, sie wußte genau, daß sie nicht mehr schlief, sondern wach war, sonst hätte sie ja das doch gar nicht denken können, es war nur, als ob der Schlaf noch auf ihr im Bette knien und sich über sie beugen würde, so daß sie, den Kopf zwischen seinen aufgestützten Händen und von seinem Atem heiß, sich nicht regen konnte, wie gelähmt und ohnmächtig, ihn wegzustoßen, bis endlich dann die Jungfer ins Zimmer kam, da zerrann er. Warum kam denn ihr Mann noch immer nicht? Aber sie wußte doch, daß es sicher noch kaum eine Minute her war. Sie wußte doch, wie die Minuten sich dann dehnten und unendlich wuchsen. Sie wußte dies alles doch, es half nur nichts. Und um sich zu beweisen, daß sie wach war, fing sie laut zu zählen an: eins, zwei, drei, vier, fünf, ganz langsam. Und dunkel hörte sie draußen die Stimme des Dieners, der vor der Türe Wache stand, mit dem dicken Savladil. Sie hörte Larinser zornig schelten und die schmetternden Fragen der unwirschen Fürstin Uldus. Sie hörte die schmatzende Stimme des schönen Wax, die gleichsam immer mit einem Trinkgeld in der Tasche zu klimpern schien. So saß sie, vorgebeugt, eingesunken, ungeduldig wartend. Und auf einmal fiel ihr ein: Wie eine Braut sitz ich da! Aber sie mußte lachen, weil es doch keinen Sinn hatte. Er tut mir halt wohl, dachte sie, wenn ich müd bin, seine gute Stimme tut einem wohl!

Der Graf trat ein und sagte: »Ich möchte dich nur, bevor die anderen kommen, etwas fragen.«

Sie lehnte sich schlaff zurück und sagte: »Ja.«

»Es handelt sich nämlich darum,« sagte er bittend, »ob du beim Bankett neben dem Intendanten sitzen willst oder Larinser oder etwa Höfelind vorziehen würdest. Auf der anderen Seite wirst du die Fürstin Uldus haben.«

»Bankett?« fragte sie mit leerer Stimme.

»Ich bitte dich wirklich,« sagte der Graf, »nicht ungerecht gegen den Intendanten zu sein. Du darfst mir glauben, daß er dir wohl will, du hast wirklich einen ehrlichen Freund an ihm.«

»Ja ja,« sagte sie. »Ich hab überhaupt Glück.« Jetzt war sie ganz wach. Sie sah den Grafen an und fand, daß er entschieden zu lange Beine hatte; da stand er dann immer so geknickt!

Der Graf erschrack. Er war noch atemlos von der Hast, sich durchzudrängen. Und er schämte sich jetzt plötzlich. Immer noch kam es ihm manchmal wieder ganz monströs vor, mit ihr einfach so zu reden. Er mit ihr, mit der Rahl! Und vor allem hätte er ihr ja jetzt so gern gesagt, was das doch heute für ihn war! Und er sagte, ganz leise, ganz langsam: »Du bist heute, du bist heute . . . einfach –« Er hielt ein, achselzuckend. Er sah sie hilflos an. Dann sagte er traurig: »Nein, das wäre doch eine Lästerung und Entheiligung, da noch überhaupt etwas zu sagen.«

»No wenn nur der Intendant zufrieden ist,« sagte sie. »Das ist doch die Hauptsache.« Und sie äffte das Meckern des Intendanten nach: »Nicht wahr? Nicht? Nicht?«

Er sagte nichts. Er hob ihr Tuch vom Boden auf, strich es glatt und gab es zärtlich auf den Stuhl. Dann ging er, vorgebeugt, durch die Garderobe hin und her. Er war hier immer ein wenig verlegen. Plötzlich stand er vor ihr still und sagte: »Weißt du, was ich einmal gelesen habe?« Und er sah sie lächelnd an und fuhr fort: »In San Onofrio in Rom ist Tassos Grab und darüber an der Wand eine Inschrift, die heißt so: ›Dem teueren Gedächtnis des Torquato Tasso widmet der Doktor Bernardini das folgende Gedicht: O du!‹ Ist das nicht schön? Sag! Ist das nicht schön? Er will ein Gedicht machen, um das Gedächtnis des Tasso zu ehren. Aber es enthält nichts als dieses: O du! Weiter kommt er nicht. Und spürt man nicht förmlich, wie er seine ganze Seele, dieser brave Mann, in das einzige Wort preßt: O du? Und erschrocken stockt er aber und sagt nun kein Wort mehr, er würde sich zu sehr schämen! Und was soll er denn auch noch sagen, nach diesem: O du? Ist das nicht schön?« Er lachte froh. Und dann sagte er noch ganz leise: »Siehst du, und so geht's mir mit dir! Genau wie dem armen Doktor Bernardini. Was nehme ich mir nicht immer an einem solchen Abend alles vor dir zu sagen! Kann's aber nicht. Jedes Wort ist daneben doch leer und schal. Kann am Ende dann nichts sagen als halt auch nur: O du, o du!« Wie betend sprach er es aus.

»Das hast du wo gelesen?« fragte sie mit dunkler Stimme.

»Robert Browning, glaub ich, erzählt es einmal, um es auf seine Elisabeth anzuwenden.«

»Aha!« sagte sie. »Und der hat's auch wieder wo gelesen.«

»In San Onofrio selbst, wahrscheinlich,« sagte der Graf.

Und sie sagte: »Und der Doktor Bernardini wird's auch schon wo gelesen haben. Sicher!«

Er hörte ihrer Stimme die Wut an. Er verstand aber gar nicht, was sie hatte; sie war manchmal so seltsam! Und er fragte beklommen: »Wie meinst du denn das?«

»Aber nein!« sagte sie. »Ich bewundere solche Menschen, die alles wo gelesen haben.«

Da hörten sie einen Knall vor ihrer Türe. Sie schrak auf. Und noch einen. »Was ist denn?« schrie sie zornig. »Das war doch wie ein Schuß,« sagte der Graf und rannte hinaus. Und noch ein Schuß fiel. Sie stand zitternd. Sie hörte rennen und rufen vor ihrer Türe, den engen Gang hin und her, und schieben und stoßen und drängen von aufgeschreckten Menschen. Sie schrie zornig und schellte. Sie hörte den Hofrat Wax: »Den Arzt! Schnell! Schnell!« Und wirre Stimmen und überall das schrille Klingeln. Sie hatte noch immer die Hand auf dem Knopf der Klingel, schellend. Sie hörte die weiche Stimme des Grafen: »Aber bitte doch um Platz! Platz!« Und dann alle Stimmen durcheinander, wirr: »Platz! Platz! Platz!« Und den fetten Baß des jammernden Savladil: »Aber so was! Nein so was! Nein so was!« Und dann hackte durch den hallenden Gang her die Stimme Larinsers, wie mit einer Axt: »Da ist schon der Arzt! Platz für den Arzt! Da ist ja der Arzt schon! Platz für den Arzt! Platz für den Arzt!« Und nun duckten sich die Stimmen und es wurde still. Sie stand an der Türe, lauschend. Sie hielt die Hand auf der Klinke, gierig. Aber sie hatte nicht den Mut aufzudrücken. Sie zitterte. Was war denn nur geschehen? Und warum kam denn niemand? Warum ließ man sie hier allein mit ihrer entsetzlichen Angst? Und sie schlug mit der Hand und sie stieß mit dem Fuß an die Türe, toll vor Angst, und sie schrie wieder gellend nach dem Diener. Da hörte sie, wie langsam ein Körper gehoben und getragen wurde. Und ein Flüstern und ein Schlürfen durch den engen Gang hin. Und dann war es still. Sie trat zurück. Was war denn nur geschehen? Und warum ließen alle sie hier allein? Jetzt fing doch der Akt gleich wieder an! Und sie wurde zornig und schellte. Der Diener kam.

»Warum kommen Sie denn nicht, wenn ich klingle? Haben Sie nicht gehört?« sagte sie scharf.

Der Diener war bleich und stotterte: »Der, der – der Herr von Lerroy!« Mehr konnte er nicht sagen.

Sie stand unbeweglich. Dann setzte sie sich vor dem Spiegel. Dann fragte sie: »Was ist mit dem Herrn von Lerroy?«

Der Diener sagte nur: »Mit einem Revolver hat er sich –« Er brach ab, schluckend. Er hielt sich ein Tuch vor den Mund, als ob ihm übel würde.

Ihr ekelte. »Es ist gut,« sagte sie, nickend. Der Diener ging.

Draußen war es noch immer ganz still. Und sie saß noch immer unbeweglich vor dem Spiegel. Und sie dachte, daß sie sich dann ja jetzt eigentlich abschminken könnte; wo blieb denn die Garderobiere? Und dann dachte sie, wie wunderlich es doch eigentlich war, daß sie nur daran dachte, sich abzuschminken. Man hätte doch etwas empfinden müssen! Und sie hatte das Meckern des Intendanten im Ohr: »Nicht? Nicht?« Es machte sie nervös; sie sagte sich vor: Der war jetzt tot! Und sie sagte sich wieder: Ein Toter! Und sie sagte sich noch einmal: Tot! Und sie sah im Spiegel, wie das Wort von ihren Lippen abgeschossen wurde. Da setzte sie sich auf und reckte sich. Und sie dachte zornig: Was geht mich denn der alberne Narr an? Jetzt hörte sie Lärm und Lachen vom Gang her. Der Graf trat ein. »Wird man mich hier ewig warten lassen?« fragte sie heftig.

»Du weißt es schon?« fragte der Graf, froh. »Gott sei Dank! Das war ein schöner Schreck!«

Sie sagte kurz: »Erzähl!«

Der Graf ging auf und ab, mit den Knien einknickend. »Mein Gott, der arme Mensch, jetzt wird er natürlich noch ausgelacht werden.«

Sie sagte: »Er hat sich erfolglos erschossen?«

»Ich weiß ja nur, was der Hofrat Wax erzählt. Er kam mit ihm herauf. Sie wollten nämlich zu dir. Er soll ja nun den ganzen Abend schon wie verstört gewesen sein. Du weißt doch! Als sie nun nicht eingelassen wurden, schlug Wax ihm vor, einstweilen zum Intendanten zu gehen, ob er nicht vielleicht doch noch für ihn eine Karte zum Bankett haben könnte. Aber er wollte durchaus nicht zum Intendanten mit, sondern hier auf den Hofrat warten, neben deiner Türe hier, an die Wand gelehnt. Kaum aber hatte der Hofrat sich umgedreht, hört er zuerst einen Fall, er blickt erschrocken zurück, der Franzose liegt auf dem Boden, der Hofrat weiß noch gar nichts, da kracht ein Schuß, es ist ein wahres Wunder, daß er nicht den Hofrat getroffen hat; der rennt davon, noch ein Schuß, und jetzt kamen schon alle herbei, Savladil war der erste. Es läßt sich gar nicht anders erklären, als daß er schon mit dem Vorsatz kam, sich etwas anzutun, dann aber im entscheidenden Moment wahrscheinlich die Besinnung verlor, ohnmächtig umfiel und nur noch die Kraft hatte, in der Betäubung mechanisch loszudrücken. Gott sei Dank! Ich bin so furchtbar erschrocken. Es ist ihm aber schon wieder ganz wohl. Der Hofrat bringt ihn eben in sein Hotel. Du kannst ganz unbesorgt sein. Manchmal ist es halt ein Glück, schlechte Nerven zu haben.«

»Ich muß auf die Bühne,« sagte sie. »Sag aber, bitte, dem Intendanten, daß ich nicht zum Bankett komme.«

»Ich kann das ja verstehen,« sagte der Graf traurig.

»Sag ihm, daß mir sehr leid ist.« Sie traten in den Gang hinaus. Sie blieb stehen und zeigte hin. »Da könnte jetzt Blut kleben,« sagte sie langsam.

»Denke nicht mehr daran!« bat der Graf. »Es regt dich zu sehr auf.«

»Nein,« sagte sie, zur Bühne gehend.

Jank kam ihr entgegen und fragte: »Was kostet das beim alten Beer: Ovation mit Selbstmord?«

»Ja,« sagte sie lachend. »Das hab ich mir gleich gedacht! Jetzt werd'ts ihr das alle haben wollen!«

»Du bist eben stets originell,« sagte Jank, »das muß man dir lassen.«

»Ja, originähl!« sagte sie, sein Ostpreußisch nachäffend.

Sie kniff die kleine Melitta, die bleich in der Kulisse stand. »No, Lamperl!« sagte sie. »Was machst du für ein dummes Gesicht?«

Die kleine Melitta wurde ganz rot und stammelte: »Ich bin es doch noch nicht gewohnt, Frau Gräfin!« Und plötzlich stieß sie auf sie zu, griff nach ihrer Hand und küßte sie schluchzend. »Sie haben alles! Ja, Sie haben alles! Alles, alles!«

»Glaubst?« sagte die Rahl. Da kam Larinser, packte sie und schwang sich mit ihr hopsend herum, indem er sang: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!« Dann ließ er sie los und fing auf dieses entartete Geschlecht zu schimpfen an. »Ein Geschlecht von Wachs!« sagte er. »Können sich nicht einmal ordentlich erschießen! Wie soll das enden?« Und er zählte die Mädchen auf, die, als er noch Liebhaber spielte, aus unglücklicher Liebe zu ihm gestorben waren. »Ja, Kinder!« sagte er. »Mir war wohl der Weg zum Ruhm völlig mit Leichen besät! Aber das ist jetzt ein verweichlichtes Geschlecht! Was will man da machen? Es wird nicht mehr geschändet, es wird nicht mehr erdolcht und wenn's doch einmal knallt, war's blinder Lärm. Wo sind die Ideale hin?«

»Jetzt bin ich neugierig,« sagte Jank, als der Vorhang aufging. Er streckte sich horchend vor.

»Ja,« sagte Larinser, neben ihm horchend. »Wäre schon möglich! Bei diesen Wienern heißt's doch immer: nur nichts übertreiben! Feige Bande!« Und er reckte sich. Er war ganz verjüngt, seit dem Schießen.

Jank sagte: »Es wurde ja annonciert, daß ihm nichts geschehen ist. Aber es kann auch sein, daß ihnen vielleicht gerade das wieder auch nicht recht ist. Hier weiß man doch nie!«

Da schlug Larinser ihn mit der Faust auf die Schulter. Jank taumelte. Drohend stand der Alte da, die Faust geballt, und röchelte mit dumpf anklagender Summe: »Panem et circenses!« Und einen Fluch über das ganze Haus breitend, wieder: »Panem et circenses!« Und noch einmal, ganz leise, dem Jank ins Ohr, geheimnisvoll beschwörend: »Panem et circenses!«

»Gewiß, gewiß! So ist es! Das läßt sich nicht leugnen!« sagte Jank, um nur den Alten zu beschwichtigen, lebhaft zustimmend, obwohl er eigentlich fand, daß es nicht ganz paßte.

Sappho trat jetzt aus der Grotte, langsam vorschreitend. Alles still. Kein Hauch, keine Hand. Das große schwarze Loch ein tiefes Grab. Und sie begann:

»Bin ich denn noch? und ist denn Etwas noch?«

Aha, dachte sie, sie machen jetzt einen Kondukt, sie müssen immer mitspielen; es ist doch das herrlichste Publikum der Welt! Das half ihr sehr, sie war gar nicht mehr müd. Und es freute sie, daß sie das Bankett abgesagt hatte. Nun wird sie gleich in ihrem Wagen sitzen, von Blumen eingehüllt, und fährt durch die stille Nacht und dies alles ist dann weg!

Aber der alte Larinser ärgerte sich. »Hunde!« sagte er. »Solche Hunde! Aber denen will ich's schon zeigen.«

Nach dem vierten Akt kam der schöne Hofrat Wax zurück. Er stand im Parkett, umringt. »Nix ist g'schehen!« sagte er immer wieder. »Wir sind zuerst noch ein bißl spazieren gefahren, da war ihm gleich wieder gut. Da sieht man wieder, daß so eine sanfte Wiener Nacht mit der gewissen Luft die beste Medizin ist, die's gibt! Und jetzt kuriert er sich halt mit Kognak Lerroy noch völlig aus, hahaha!« Und dann nahm er jeden beim Knopf und fragte, den Knopf drehend: »No was sagen Sie? No was sagen Sie? Da kann eins hundert Jahr alt sein, Wien lernt man halt nicht aus!« Und, wieder von dem Franzosen erzählend, sagte er: »Ich hab ihn gern. Er ist ein braver Bursch. Nur halt –« Er lachte, mit dem Finger auf die Stirne zeigend: »Halt ein bißl schwach auf der Brust, meine Herrn! Aber ich hab ihn gern. Ganz ein braver Bursch! Und mit einem Fremden muß man schon ein bissel Rücksicht haben! Dafür ist ja die Wiener Stadt bekannt.« Und er lachte, rings um ihn wurde gelacht, man drängte sich her, einer sagte es dem anderen und bald war das Lachen überall, hell durch den ganzen Saal hin; und in allen Gruppen hieß es: »Der Hofrat Wax hat gesagt, ein bißl schwach auf der Brust!« Und man lachte. Und es rauschte: »Ein bißl schwach auf der Brust!« Und man lachte, man lachte.

In seiner Loge sagte der Intendant zum Grafen: »Ich verstehe das ja! Ich verstehe das gewiß! Nicht wahr? Nicht? Es beweist nur wieder den Takt und das Zartgefühl der Gräfin. Aber jetzt tritt die Frage an uns heran, ob man das Bankett überhaupt absagen soll, weil sie nicht kommt. Bedenken Sie doch aber, lieber Graf, ob das nicht auch wieder falsch gedeutet werden könnte! Nicht wahr? Nämlich als ob man ihr vielleicht gar einen Vorwurf daraus machen wollte, was doch wahrhaftig nicht der Fall ist, nicht? Und auf der anderen Seite muß ich doch wieder befürchten, daß ein solches Bankett ohne diejenige, welche man feiern will, doch fast einen lächerlichen Beigeschmack bekommen könnte, nicht? Das will eben alles reiflich erwogen sein, es ist halt in solchen Fällen wirklich schwer. Ja die Leute denken immer, daß das so einfach ist! Glauben Sie aber nur ja nicht, lieber Graf, daß ich den Standpunkt der Gräfin verkenne! Ich begreife vollständig, daß sie nicht in der Stimmung sein kann. Das steht für mich fest. Aber auf der andern Seite, lieber Graf, auf der andern Seite, nicht? Das müssen Sie mir doch zugeben! Nicht zu vergessen, daß ja doch auch die Herrn von der Presse geladen sind! Und wer kann erraten, wie sich die Presse dazu stellen wird? Nicht wahr? Ich habe direkt ein bißl Angst. Also was glauben Sie, daß wir da eigentlich machen? Und kann ich mich wenigstens auf Sie berufen, daß auch Sie der Meinung waren, das Bankett trotzdem abzuhalten, wenn auch ohne die Gräfin, deren Gesinnung ja gewiß jedermann teilen wird? Kann ich mich da eventuell auf Sie berufen? Das wäre mir sehr wertvoll. Nicht wahr? Es ist schon eine schwere Geschichte!«

Höfelind erzählte dem alten Radauner den ganzen Fall Lerroy. Radauner sagte: »Ein Trottel!« Höfelind sagte: »Literaten!«

Samon dachte, daß dies ein wahres Schulbeispiel dafür war, wie sehr die Kunst ein starkes moralisches Gegengewicht nicht entbehren kann, auch die höchste nicht! Und er war entschlossen, seine ganze Kraft einzusetzen, daß es den jungen Leuten an der notwendigen Korrektur der, wie man hier wieder sah, doch gar nicht so unbedenklichen jugendlichen Begeisterung nicht fehlen sollte. Dies schwor er sich zu.

Das bleiche schwarze Mädchen stritt mit der blonden Dicken. Das schwarze Mädchen behauptete: »Alle Männer sind Feiglinge!« Die blonde Dicke sagte: »Du hast dich auch noch nicht erschossen.« Die Schwarze sagte: »Ihr werdet schon noch sehen!« Die Blonde sagte: »Ich bin neugierig.« Die Schwarze schrie: »Das ist eine Gemeinheit! Pfui!«

Franz saß ganz still. Neben ihm hatte jemand früher gesagt: »Ja, ja, die Liebe!« Das klang ihm immer noch nach. Er fühlte sich so seltsam. Er dachte: so muß einem Taucher auf dem tiefen Meeresgrunde sein! Er wußte nicht, warum er das dachte. Aber immer wieder mußte er an einen Taucher denken. Und immer wieder klang es ihm: »Ja, ja, die Liebe!« Ganz gemächlich hatte der das gesagt. Ihm aber war bang. Und er stellte sich den rauchenden Revolver vor. Der arme Mensch! Hätte der die weiße Rose gehabt! Er sah den rauchenden Revolver und die weiße Rose beisammen. Und er hörte wieder: »Ja, ja, die Liebe!« Warum klang das so gemein? Und warum lachten denn alle den armen Menschen aus? Was konnte denn der dafür? Es muß doch entsetzlich sein! Und auch für sie! Und jetzt hatte sie vielleicht den armen Menschen sehr gern, seitdem? Ihm wurde heiß. Dies alles stand drohend um ihn herum, wie fremde Tiere mit seltsamen Larven um einen Taucher auf dem grünen Grunde stehen. Er saß ganz still in sich.

Als im fünften Akt Larinser hinaus zu seiner großen Szene ging, sagte er noch: »Aufgepaßt! Ich will's ihnen schon zeigen! Hallunken!« Dann trat er vor. Bis ganz an die Rampe trat er watend vor. Da stand er. Er hörte nichts. Die paar ersten Worte warf er wie mit einer Schaufel aus, scharrend und kollernd. Er wußte nichts. Er stand wartend. Sappho ging, Jank sprach. Er stand. Bis Jank sagte:

»Fest halt ich diese, lachend ihres Zorns,
Sie selbst und ihre Drohungen verachtend!«

Und Jank schwieg. Aber da war es, als spränge jetzt ein ehernes Tor auf, da Larinser begann: »Verachten? Sappho'n?« Und die Worte stürzten wie schwarze Schlangen aus seinem rauchenden Schlund und schlugen wie mit klirrenden Sporen in die taumelnd aufgeschreckte Schar ein. Er stand, sein Mund war höhnisch, die brandige Stimme stieß immer zu. Dann aber, plötzlich verstummt, trat er noch weiter vor, ganz hinaus, bis er ganz vorne stand, und er war wie ein rauchender Schlot und allen war, als ob es Feuer regnen würde, und so sprach er jetzt:

»Hoch an den Sternen hat sie ihren Namen
Mit diamantnen Lettern angeschrieben,
Und mit den Sternen nur wird er verlöschen!«

Da ging es unten wieder los mit Heil, Rahl, Heil, und klatschend und stampfend und krachend, und überall Heil, Rahl, Heil! Ihn aber hielt nichts mehr, seine Stimme stieg und stieg und stieg, unaufhaltsam durch alles Branden durch, über alles Brausen hin, über alles Rasen weg, unaufhaltsam empor, mit stäubenden Schreien, unaufhaltsam immer wieder oben auf dem tosenden Lärm, wie ein weißes Segel weit im Meer, das immer wieder aus den zerstürzenden Fluten springt, tanzend und tanzend und tanzend. So stieg seine Stimme, schlagend und schlagend und schlagend, und stieg immer noch. Er aber stand wie ein Pfahl mit rauchendem Pech, in die Rampe gerammt.

In der Kulisse drängten sich alle scheu. Die Säuglinge bogen sich vor, atemlos lauschend und schauend. Alle hatten Angst. Einer sagte: Wie wenn man ein Automobil ankurbeln und dann loslassen würde, ohne Lenker, dahin, dahin, dahin, bis es zerschellt! Alle hielten sich geduckt, vor Angst. Die Rahl fing laut zu schluchzen an, vor Angst.

Als der Vorhang fiel, sagte sie zu Larinser: »Recht hast! Schön ist es! Es ist halt doch schön!«

Larinser sagte vergnügt: »Gelt? Man muß es ihnen nur zeigen! Sonst werden's ja zu frech!«

»Aber jetzt kann ich nicht mehr,« sagte sie. »Ich bitt Euch, laßt's mich jetzt! Ich kann nicht mehr, ich kann nicht!« Die Augen waren ihr ausgetrocknet und sie hatte das Gefühl, daß die Haut an den Lidern zersprang. Jetzt nur den Kopf in kaltes Wasser stecken! Sonst wußte sie nichts mehr. Sie taumelte zur Garderobe. Und nur fort und in die stille kalte Nacht hinaus!

Jank hatte plötzlich das Bedürfnis, auch bemerkt zu werden. Er rief die Säuglinge her. »Kollegen!« sagte er. »An unserer großen Freundin ist eine grobe Taktlosigkeit verübt worden! Ich will es bloß eine Taktlosigkeit nennen. Es weiß ja wohl jeder von uns, was er von diesem Herrn Franzosen zu halten hat. Ich denke, das genügt. Also schweigen wir lieber davon!« Die Säuglinge lachten. Einige riefen: Bravo, Jank, bravo! Andere, den Lärm der Galerie parodierend: Heil, Jank, Heil, Jank, Jank, Heil! Von draußen schlug es noch immer tosend her, an den Eisernen tobend. Jank gebot den Säuglingen Ruhe. »Keine Scherze, meine Herrn,« sagte er, »wenn es sich um die Würde des ganzen Standes handelt! Erlaubt mir, der ja das Glück hat, unserer großen Kollegin näher zu stehen, ich meine: näher als die meisten anderen von uns Jüngeren –«

»Bravo, bravo!« schrie einer vorlaut.

»Weil sie,« sagte Jank in einem drohenden Ton, »weil sie vielleicht in meinem künstlerischen Streben einen gewissen verwandten Zug sieht. Jedenfalls, Kollegen, hört mich an, was ich vorschlagen will! Soll denn der Künstler wirklich gezwungen sein, sein ganzes Privatleben diesem Moloch von Publikum preiszugeben? Ist es wirklich schon so weit, daß, um die zehn Kronen für einen Sitz, jeder das Recht erkaufen darf, sich vor unseren Garderoben anzuschießen? Nun davon wird in der Genossenschaft noch zu reden sein. Seid überzeugt, daß Eure Delegierten nichts versäumen werden, wenn es gilt die beleidigte Würde des Standes zu rächen! Aber beweisen wir doch heute einmal, daß wir selbst imstande sind, uns Ordnung zu schaffen! Oder wollen wir dulden, daß sich diese beschämenden Szenen einer wahrhaft skandalösen Begeisterung in unseren Hallen wiederholen? Ich mache den Vorschlag, daß wir eine Art Wache oder Garde bilden, die Stiege hinab, bis zum Tor, bis an ihren Wagen, damit sie wie eine Königin hindurch schreiten kann, von keinem Hauch der Menge berührt. Wollt Ihr eine solche heilige Mauer sein? Eine edlere Huldigung, meine ich, ließe sich nicht denken! Es wird gleichsam der Genius des Hauses sein, der, in uns verkörpert, ihr schützend zur Seite steht! Wollt Ihr?«

Lachend stimmten die Säuglinge zu. Der Zug rangierte sich. Die Arbeiter mußten auch her. Feierlich standen sie bis an den Wagen. Einer sagte: »Das ist gleich eine Probe zu ihrer Leich!«

Erst wurden die Blumen zum Wagen getragen. Körbe, Kränze, Sträuße. Immer noch wurden Blumen gebracht. Endlich erschien der lange dicke Savladil. Da setzten die vom Rahl-Bund wieder ein: Heil, Rahl, Heil, Rahl, Rahl, Rahl, Heil! Da hob Jank, noch im Kostüm und geschminkt, gebietend die Hand. Es wurde still, er sprach: »Vergeßt nicht, was geschehen ist! Ehrt den frommen Schmerz unserer großen Freundin! Hat nicht der Tod seinen schwarzen Fittich über unser Fest gestreckt?« Da kreischte das kleine schwarze Mädchen entsetzt auf. Dann war ein dunkles Murmeln durch die fiebernde Schar. Dann rief einer: Bravo, Jank, sehr richtig! Dann schrien sie: »Heil, Jank, Heil!« Jank dankte durch eine große Gebärde. Und er öffnete das Spalier und ließ die Journalisten vor, denen er flüsternd den Sinn dieser Huldigung erklärte. »Was wollen Sie denn?« sagte einer. »Der Franzos' ist ja schon wieder pumperlgesund!« Jank sagte: »Man kann aber von einem moralischen Tod sprechen!« Die Reporter notierten es.

Jetzt kam sie. Janks erhobener Arm hielt den Schrei der zuckenden Schar zurück. Es kam nur ein Stöhnen, ein Ächzen her. Aber plötzlich streckten sich alle Hände nach ihr aus. Am Arm des Larinser schritt sie langsam durch, sie sah nur lauter Hände. Dann mußte sie lachen. »Katzen!« sagte sie zu den Säuglingen. »Ihr macht's Euch als Veteranen ganz gut! Danke schön!« Der Graf hob sie zu den Blumen in den Wagen, der langsam über den stillen Ring fuhr, zwischen den großen leeren Bäumen.

Sie riß das Fenster auf. Sie hatte solchen Durst. Sie hätte sich gewünscht in einen recht kalten Apfel zu beißen. Langsam zogen die schweren Pferde den großen Wagen. Jetzt ist das auch vorbei, dachte sie. Sie war nur froh, doch nicht noch zum Bankett zu müssen. Noch immer hörte sie die blakende Stimme Larinsers. Aber sie hatte Durst. War das nun wirklich schön oder war es eigentlich dumm? Sie wußte jetzt gar nichts mehr. Sie roch nur die Blumen und hörte die schwärende Stimme noch und fühlte die Nacht und war nur sehr müd und hatte Durst. Da bog der Wagen in die Vorstadt ein. Sie erinnerte sich. Heute hatte sie den blonden Buben noch gar nicht gesehen! War der heute nicht da? Sie neigte sich vor und sah hinaus. Da stand er an der Laterne. Sie ließ halten. Er trat an den Schlag. »Komm mit!« sagte sie lachend. Er stand und sah sie nur an. Sie fragte noch: »Magst?« Er sagte nichts. Sie zog ihn in die Blumen. Der Wagen fuhr. Er stand hockend, ungeschickt ängstlich, die Blumen zu zerdrücken. »Dummer Bub!« sagte sie lachend. Sie nahm ihm den Hut ab und strich sein Haar. »Die lieben blonden Locken,« sagte sie. Er wollte sprechen, sie hielt ihm den Mund zu. »Still!« sagte sie. »Still! Ich bin müd.« So fuhren sie. Sie lachte nur manchmal und strich sein Haar und sah ihn an. Ihm aber, unter den vielen Blumen überall, neben ihr, die gurgelnd lachte, war bang und froh. Und er dachte nur: Es kann ja gar nicht sein! Er wäre jetzt eigentlich gern wieder ausgestiegen. Er schämte sich vor ihr, so zu sitzen und nichts zu sagen. Aber er konnte nichts sagen, er hätte gleich geweint. Mit fest geschlossenen Augen, um nicht aufzuwachen, saß er und sah große grüne Funken springen, weiße Bänder tanzen. So fuhren sie. Ihm kam es vor, sie fuhren die ganze Nacht. Manchmal lachte sie. Es war wie das Schnurren einer Katze.

Der Wagen hielt. Sie sagte dem Gärtner: »In den Pavillon!« Die Pferde zogen wieder an. Franz hörte den knirschenden Kies. Neben dem Wagen sprang ein weißer Hund, heulend. Die Pappeln standen steil in die schwarze Nacht. Sie schob ihn in ein Zimmer. Da war er jetzt allein. Und er dachte: Was ist denn eigentlich? Er erinnerte sich, daß er voriges Jahr einmal beim Schwimmen einen Krampf gehabt hatte. So war es. Die Türe ging, der weiße Hund kam, schnupperte, lief weg, kam wieder und leckte seine Hand. Ihm wurde von der feuchten Zunge heiß. Er konnte nicht mehr stehen. Er hatte Furcht sich zu setzen. Er ging auf und ab. Ein Mädchen brachte die Körbe mit den Blumen. Das Mädchen sah ihn lächelnd an, die Blumen ausstreuend. Er wurde rot. Er hatte Lust, ihr ins Gesicht zu schlagen. Er schämte sich. Er lockte den weißen Hund und strich ihn, spielend. Und er hörte hinter sich ihre Stimme. »Dummer Bub!« sagte sie. Und wieder war dieses surrende Lachen. Der weiße Hund sprang ihr zu, sie warf sich auf das große Tier und wälzte sich mit ihm. Atemlos sagte sie: »Denn weißt du, ich bin eine Drude, die den kleinen Kindern das Blut aussaugt! Armer Bub!« Und er hörte das heimliche Lachen wie eine große Hummel um die welkenden Blumen schwirren. Sie ließ den Hund und holte Franz. Sie nahm ihn an beiden Händen und hielt ihn und sah ihn nur immer an. Und wieder war das schwarz flatternde Lachen durch den schwülen Raum. Er stand mit geschlossenen Augen. Die Kehle schwoll ihm zu. Sie sagte: »Du hast so einen lieben dummen Hals!« Und sie riß ihn nieder und biß in seinen Hals. Er schrie. Und er hörte nur ihr gurgelndes Lachen noch immer.

 


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