Hermann Bahr
Die Rahl
Hermann Bahr

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Zwölftes Kapitel

Der Gärtner brachte Franz zurück. Sie lehnte weiß im Fenster. Er sah sie noch winken. Er hörte noch ihr schwirrendes, schlürfendes, schaukelndes Lachen. Er hörte noch das letzte: Dummer Bub! Dann fiel das Gitter hinter ihm zu, der Gärtner schloß das Tor.

Franz ging durch die Nacht. Er wußte nicht, wohin er ging. Er ging nur zu. Die Nacht war gut. Er dachte nichts. Er fühlte die Nacht und schritt aus. Immer schneller schritt er aus. Die Nacht war still und leer. Da schritt er wie der Herr der Welt. Die Nacht blies ihm die Locken. Die Nacht drang in seinen Mund. Hier waren keine Häuser mehr. Er ging an Mauern von Gärten. Da bog ein Weg ins Feld ein. Über Äckern stieg ein Hügel auf. Da saß er dann, ausschauend, wie langsam rings die Nacht entwich. Er sah dort unten die Pappeln stehen und wußte, dort war der große Garten, dort war das grüne Häuschen versteckt, dort war sie, weiß im Fenster. Er hörte noch immer ihr Lachen. Er hörte noch immer: Dummer Bub! Aber er konnte nichts denken. Jetzt flog von den braunen Äckern ein heller Wind auf. Es raschelte durch das Land. Ein leises Nicken, ein langsames Rücken war rings. Der Acker schien sich zu dehnen, gelber Dunst quoll, es roch naß. Die Ferne wurde licht. Vor ihr stand der schwarze Qualm der Stadt. Hier hielt sich die vertriebene Nacht noch fest und saß gleichsam reitend auf der Stadt. Aber jetzt sprang Franz auf. Brannte dort der Garten? Da teilten sich die Flammen und flossen aus. Franz stand und sah in die rote Sonne, die dort über der dampfenden Stadt aus einem gelben Meer zu steigen schien. Franz stand wie im Traum. Langsam floß das goldene Feuer ab, der frohe Tag trat heraus und schien durch die Stadt von Dach zu Dach zu springen. Franz stand schauend, wie jetzt alles auf einmal wohlbekannt und freundlich war. Da fiel ihm ein: Ich muß ja nach Haus', ich muß in die Schule! Er lachte. War das nicht dumm? Der kleine Beer und die Buben und Herr Samon! Gab es das immer noch? Aber ihm konnten sie jetzt nichts mehr tun! Er war gefeit! So lief er den Berg hinab, über Wiesen, der Stadt zu, springend, und pfiff und sang. Dann, auf der Landstraße, fing er an, fest auszuschreiten, marschierend. Er kam auf das Pflaster, die Schritte schlugen hallend auf, er zählte: Eins, Zwei, Eins, Zwei, Eins, Zwei! Und indem er stampfend ins Pflaster trat, fingen die Zahlen in ihm zu singen an, und es war ein Strom von Stößen, der ihn trug, und plötzlich sang er laut im Takt: Ich bin der Geliebte der Rahl! Und er trommelte: Ich bin, ich bin, ich bin! Und er blies schmetternd hinauf und hinab: Der Geliebte der Rahl! Und indem er mit der Hand den Takt dazu schlug: Der Rahl, bum, bum, der Rahl, bum, bum, der Geliebte, Geliebte, Geliebte der Rahl, bum, bum! So schritt er im Takt, es singend und jauchzend und summend, trommelnd und blasend: Ich bin der Geliebte der Rahl! Manchmal schwieg er plötzlich still, aber in ihm sang es immer fort. Einmal blieb er stehen und dachte nach, ob er nicht verrückt war. Dann aber, mit einer Verbeugung nach links und einer Verbeugung nach rechts, als ob er mitten in einer großen Schar wäre, sagte er laut, ganz langsam: »Ich kann euch aber nicht helfen, meine verehrten Herrn! ich bin wirklich der Geliebte der Rahl, mein Ehrenwort, wirklich!« Und lachend schritt er wieder und sang es im Marsch. Er schritt in der Mitte des Wegs. Hinten kam ein Lastwagen. Er hörte nichts, schreitend und singend. Der Kutscher knallte, der Kutscher schrie. Das schwere Roß stieß ihn an, er sprang weg. Der Kutscher schimpfte. »Den hat's ordentlich!« sagten die Burschen hinter dem Kutscher und lachten. Franz ballte die Faust auf sie drohend und rief dem Kutscher nach: »Du! Du! Ich bin der Geliebte der Rahl!« Da schrak er zusammen und wurde rot. Aber sie hatten nichts gehört. Und er sagte sich: Sei doch gescheit, wach auf, kein Mensch auf der Welt darf es wissen! Er hatte doch jetzt ein Geheimnis. Das war auch wieder schön, ein Geheimnis zu haben, von dem auf der ganzen Welt kein Mensch weiß! Und er lachte wieder und blies und schritt. In die Stadt hinein. Verschlafene Menschen rannten. Sie kamen ihm dumm vor. Alles kam ihm dumm vor. Er dachte: »Was wißt's denn ihr?« Einer alten Frau, die humpelnd einen schweren Korb trug, gab er Geld. Er war ganz verlegen, als er es ihr bot. Sie wunderte sich über den lustigen Buben. Er hätte gern gehabt, daß alle froh wären.

Er schlich in sein Zimmer. Er hatte Angst, daß die Mutter schon wach wäre. Gleich schlief er ein. Er schlief fest, traumlos, ausgelöscht. Die Mutter weckte ihn. Er konnte nicht erwachen. Sie sagte: »Aber, Franz, es ist die höchste Zeit!« Und sie strich sein Haar und sagte: »Hörst du, dummer Bub!« Da fuhr er auf. Sie mußte lachen, weil er so erschrocken war. Ganz entsetzt sah er auf sie. Sie ließ ihm Zeit, sich zu besinnen. Dann fragte sie: »Was hat dir denn geträumt?« Er konnte sie nicht ansehen. Er sprang aus dem Bett und sagte nur: »Mutter, Mutter, ich hab dich lieb, gelt?« Und rannte fort.

Als er in die Schule trat, stand der kleine Beer auf dem Katheder. Die Buben waren um ihn versammelt. Franz ging in seine Bank und hörte zu. »Bubokratie,« sagte der kleine Beer, »Bubokratie nennt es Herr Samon, wenn wir uns wehren, rechtlos zu sein. Bubokratie meint er höhnisch. Ich aber frage mich oft, ob es nicht das vernünftigste wäre, den Hohn zur Wahrheit zu machen. Versteht ihr mich? Ob es nicht für die Menschheit, für unsere ganze Entwicklung, für das Gedeihen aller großen und kühnen Ideen ein Segen wäre, wenn jetzt einmal einige Zeit die Jugend herrschen würde, die Buben, statt der Greise. Macht keine dummen Gesichter! Ihr steckt auch alle noch selbst von Vorurteilen voll! Warum sollen alte Menschen, die die Gicht zwickt, senile Menschen mit verkalkten Adern, morsche Menschen, die kaum mehr kriechen können, das Schicksal der Welt bestimmen, während die Kraft der blühenden Jugend schweigen muß? Alexander der Große hat Generäle von siebzehn Jahren, Napoleon Marschälle von vierundzwanzig gehabt. Und mir scheint, es ist ganz gut gegangen! Unsere sind wacklige Mumien, und wenn einer aufs Pferd soll, muß eine Division antauchen und helfen. Und mir scheint, mir scheint! Hab ich nicht recht? O je!« Die Buben lachten trampelnd. Franz hörte vergnügt zu. Es tat ihm wohl, so mit Worten begossen zu werden. Der kleine Beer begann wieder: »Der größte Feind der Menschheit ist das Alter. Im Alter schrumpft der Mensch ein, im Alter wird der Mensch feig, im Alter knickt der Mensch zusammen. Eine schleichende Krankheit ist das Alter. Der beste Beweis dafür ist, daß man ja daran stirbt. Habt ihr schon gehört, daß einer einmal an Jugendkraft gestorben ist? Aber täglich hört man, daß einer an Altersschwäche stirbt. Ist euch das klar? Und ist es euch also klar, warum unsere ganze Menschheit sozusagen im Sterben liegt? Ist das ein Wunder, wenn sie sich von Sterbenden regieren läßt? Ist das nicht die verkehrte Welt, wenn der Tod über das Leben regiert? Wenn es für ein Verbrechen gilt, jung und stark zu sein? Denn was wirft man uns sonst vor? Was ist der Grund, weshalb die kräftige, tätige, mutige Jugend schweigen muß vor dem ängstlichen, schwächlichen, zittrigen Alter? An Erfahrung fehlt's uns, sagen sie! Was heißt denn aber Erfahrung? Seht euch doch unseren erfahrenen Samon an!« Die Buben klatschten. »Was hat er erfahren? Er hat erfahren, daß es klüger ist, sich zu ducken. Er hat erfahren, daß man sich nach dem Winde drehen muß. Er hat erfahren, daß es ratsam ist, seine Meinung zu verschweigen. Erfahrung heißt müd und feig und klein geworden sein und nichts mehr wagen und den Schwanz einziehen wie ein verprügelter Hund! Erfahrung heißt Triefaugen haben, die kein Licht mehr vertragen! Erfahrung heißt in die Hosen machen, wenn ein Schuß fällt, der Schuß irgendeiner beherzten, erlösenden und befreienden Tat! Das ist Erfahrung! Aber wißt ihr, was Genie ist? Wißt ihr, worin jede schöpferische Begeisterung besteht? Wißt ihr, was allein dem Menschen Zuversicht zu mächtigen Entschlüssen gibt? Die Kraft, unerfahren zu sein, jawohl! Die Kraft, die todesmutige Kraft, aller Erfahrungen nicht zu achten, macht den Helden aus, und Genie wird immer nur sein, wer sich rein von allen Erfahrungen hält, das merkt euch! Und ich dächte doch aber, die Menschheit hätte nun gerade lange genug die Probe mit dem Alter gemacht! Es ist auch danach! Jetzt könnte sie's wirklich einmal mit der Jugend versuchen! Was riskiert sie denn? Schlechter kann's doch nicht mehr werden! Oder glaubt ihr, daß das noch möglich ist? Und ist's nicht ein Jammer, welches Kapital an Mut und Kraft vergeudet wird, indem wir murrend in der Schule hocken, statt draußen zu streben und zu wirken und zu schaffen? Bis wir auch wieder schlaff und lahm geworden sein werden und uns der Mut gesunken ist und unser Wille zerbrochen ist! Der Wille nur macht Nationen groß und die Jugend nur hat Willen! Und darum, wenn der Herr Samon wieder einmal sagt: Bubokratie! dann wollen wir ihm antworten: Jawohl, Herr Samon, hoffentlich erleben wir sie noch, allen anderen Kratien zum Trotz, die längst verwirtschaftet haben und mit ihrer Weisheit am Ende sind, es lebe die Bubokratie! Und hoffentlich erleben wir es noch, daß dann die Samons in den Bänken sitzen, und wir stehen hier, es wird ja wahrhaftig kein Vergnügen für uns sein, ich wünsche mir es nicht, aber was tut man nicht für die Menschheit? Denn wir haben eins, was ihnen allen fehlt, wir haben, was die Menschheit braucht: Impuls!« Wie eine Rakete fuhr das Wort in die Klasse. Die Buben trampelten, lachend und gröhlend. Einer schrie schrill durch den Lärm, schnarrend: »Heraus mit dem allgemeinen Wahlrecht für das ganze Gymnasium!« Da vernahmen sie Samons bedächtig durch den Gang stappelnden Tritt. Der kleine Beer sprang rasch in die Bank. Alle saßen still. Sie wußten gleich, daß Samon heute seinen bösen Tag hatte. Er setzte sich, schlug das Buch auf, sah über die Klasse weg in die Wand, plötzlich ließ sich sein Blick auf einem Buben nieder. Der hob sich schon, die anderen waren erleichtert, da sagte Samon, indem seine Hand den Buben sich setzen hieß: »Was ist mit Ihnen? Wollen Sie spazieren gehen?« Der Bub erschrak, war aber froh. Nun stach Samon mit seinen Augen in eine andere Bank, um einen anderen Buben aufzuspießen. Doch der bohrte sich in sein Buch ein, um nichts zu merken. Samon rief seinen Namen an und sagte: »Sie müßten das eigentlich von selbst fühlen, wenn man etwas von Ihnen braucht.« Als aber der Bub sein Buch nahm und aus der Bank trat, sagte Samon: »Nein, lassen Sie's nur! Ich will Euer Gnaden in Ihrer Bequemlichkeit nicht stören!« Die Buben lachten, beflissen. Und Samon fuhr wieder mit seinen angelnden Augen über die geduckte Klasse hin. In der letzten Bank nieste einer. Samon rief ihn und sagte höhnisch: »Also schön! Zeigen Sie gleich, was Sie können! Wir werden ja sehen!« Die Buben lachten, dienerisch. Sie waren vergnügt, sie hatten jetzt eine Viertelstunde Ruhe.

Franz schrieb auf einen Zettel: Und wie stimmt das mit Homer und Sokrates zu Deiner Bubokratie? Der Zettel flog zum kleinen Beer. Dieser schrieb: Die Region der Tat gehöre der Jugend, aber Dichten und Trachten mag dem Alter bleiben! Franz schrieb darunter: Und den Schiller an Schwung, Goethe an Weisheit und Stil übertrifft doch noch Adolf Beer! Der kleine Beer zerriß den Zettel und antwortete nichts. Franz schrieb noch einen: Und wird dann das Parlament in Windeln tagen? Unten schrieb der kleine Beer mit breiten und prahlenden Buchstaben hin: Daß Du ein Verräter bist, weiß ich längst! Franz lachte, als er es las. Er fand den kleinen Beer so komisch. Der übte sich in einem fort! Was er immer sprach, schrieb oder tat, alles war für später berechnet, er exerzierte sich ein. Franz verstand das ja jetzt so gut. Nur kam es ihm recht kindisch vor. Später war doch alles dann ganz anders. Und er sah durch die Klasse hin und wunderte sich nur über die Buben und über die Lehrer und daß er das jetzt noch ertrug. Nein, es war doch zu dumm. Aber draußen schien ihm jetzt alles wunderbar klar und hing von nickenden Früchten voll und er wußte sich stark und er fühlte sich froh und es war schön. Er bückte sich auf sein Buch, hielt die Hand mit dem langen Bleistift vor und schloß die Augen zu, bis er das grüne Häuschen sah, mit dem winkenden weißen Schein im Fenster.

In der Stube war ein dumpfer Dunst. Der Bub am Pult sprach stammelnd. Langsam sickerten die Worte. Wenn der Satz aus war, stach Samon jedesmal mit dem Stift in das Pult. Dann hob er den Blick auf, sah zur Wand und ließ die Brille glitzern. Da neigten sich die Köpfe der Buben nieder. Die Sonne schien herein. Ein silberner Staub schwamm durch den warmen Raum. Es blendete Franz. Er hatte heiß. Sein Kopf sank. Er hörte wieder die langsame Stimme des übersetzenden Buben tröpfeln.

Plötzlich schrie Samon: »Heitlinger!« Franz erwachte. Was war denn? Er fand sich gar nicht gleich zurecht. Samon schrie: »Hören Sie nicht, Heitlinger? Worauf warten Sie?«

Franz nahm sein Buch, trat aus der Bank und ging an das Pult. Er schlug das Buch auf. »Was blättern Sie denn?« schrie Samon.

Franz sah auf, sah Samon an und sagte: »Ich muß erst die Stelle suchen.« Es riß Samon herum. Aber er schwieg. Sie maßen sich.

Unten malte der kleine Beer in der Luft die Zahl des Verses auf, bei dem sie waren. Franz bemerkte es. Er blickte weg. Er blätterte noch und sagte dann: »Bitte, Herr Professor, bei welchem Vers sind wir?« Er sagte das sehr artig.

Samon sah über die Brille weg in die Wand. Die Buben hielten sich geduckt. Von den Scheiben sprang das tanzende Licht.

Samon fragte langsam: »Sie wissen den Vers nicht, bei dem wir sind?« Und er setzte sich auf, legte die Hände gefaltet vor sich auf das Pult und sagte, gerade sitzend, indem er das S zischen ließ: »Ssosso!« Und er ließ die Finger knacken, indem er die Handflächen bald öffnete, bald wieder schloß, und wiederholte: »Ssosso! Sie wissen den Vers nicht? Ssosso!«

»Leider nein, Herr Professor,« sagte Franz.

Die ganze Klasse saß gesträubt. Der kleine Beer biß an seiner Feder, er war dem Franz neidisch. Aber jetzt ging es los! Seine Rede hatte doch gewirkt. Er zwickte seinen Nachbar vor Aufregung.

Samon ließ die Finger knacken und sagte: »Ich könnte Sie jetzt einfach hineinschicken, wissen Sie?«

»Ja, das können Sie, Herr Professor,« sagte Franz.

Samon öffnete die Hände, deckte mit der einen das Auge zu und sagte mit einer leidenden und gütigen Summe: »Also gut. Vers 273! Aber Sie sollten aufmerksam sein.«

»Ich war nicht unaufmerksam, Herr Professor,« sagte Franz. »Ich habe geschlafen, ich bitte um Entschuldigung.«

Ein Bub in der letzten Bank lachte laut auf. Der kleine Beer machte wütend: Ssst. Samon hob die flache Hand und streckte sie mit gespreizten Fingern vor.

Franz las den ersten Vers. Samon schlug auf das Pult und schrie: »Warten Sie! Was fällt Ihnen ein?«

»Ich dachte,« sagte Franz.

»Ah?!« schrie Samon. »Es wird immer schöner! Erst schlafen Sie und dann denken Sie und nächstens, nächstens, nächstens –« Er stand krähend.

»Ich habe ja schon um Entschuldigung gebeten,« sagte Franz.

Außer sich schrie Samon: »Aber warum? Warum haben Sie geschlafen? Warum, will ich wissen!«

»Weil ich schläfrig war, Herr Professor,« sagte Franz. Die Buben lachten. Er fügte hinzu, leise: »Ich bin gestern etwas spät nach Hause gekommen.« Er mußte lächeln. Mehr konnte er doch dem Samon leider nicht sagen.

»Ssosso,« sagte Samon. »Ssosso.« Ihm war plötzlich wieder so leid. Alle verkannten ihn! Was hatten sie gegen ihn? Fühlten sie denn nicht, wie gut er es ihnen meinte? War es denn nicht seine Pflicht? Er hatte keine Schuld, er hatte die Mutter des Knaben noch ausdrücklich gewarnt. Jetzt zeigte sich, daß er recht hatte! Was half denn alle Begabung des immerhin fleißigen und strebsamen Knaben, wenn es nicht gelang, diesen störrischen und zuchtlosen Sinn zu brechen, der sozusagen ein Hohn auf jede menschliche Satzung war? Wie sollte das erst später werden? Er hatte recht gesehen, er hatte das Gespenst erkannt: es war der ruchlose Geist des Vaters, der in dem unruhigen Knaben spukte! Ja schlafen, wenn man schläfrig ist, und denken, was einem nur so durch den Kopf fährt: gewissermaßen unsere ganze Zeit mit ihren aufrührerischen Gelüsten, mit ihrer Zügellosigkeit, mit ihrem Trieb aus allen Schranken stand in diesem Knaben verkörpert vor ihm da! Er tat ihm eigentlich leid. Doch war es nicht seine Pflicht? Galt es hier nicht sozusagen den großen Kampf seines ganzen Lebens? Und war es nicht noch ein Glück für den Burschen, seine strenge Hand zu fühlen, die vielleicht ihn noch retten oder doch immerhin vor der äußersten Not einer völligen sittlichen Verwahrlosung vielleicht noch bewahren konnte? Es war dies einer jener Momente, wo sozusagen das Weltauge auf den Erzieher blickt, der in seiner gerechten Hand die Wagschale hält, um vielleicht einer ganzen Generation ihr Schicksal auszuteilen! So fühlte er es. Aber er wollte es noch einmal mit Milde versuchen.

Der kleine Beer sagte zu seinem Nachbar: »Ich habe ja immer gewußt, daß er feig ist.«

»Ssosso!« sagte Samon noch einmal. »Und da meinen Sie nun, daß die Schule der Ort ist –?«

Franz fiel ungeduldig ein: »Ich habe ja schon um Entschuldigung gebeten, Herr Professor.«

»Und damit,« sagte Samon, »glaubt ihr heute, muß alles erledigt sein? Man bittet um Entschuldigung und damit ist es gut! Sehr bequem! Und Strafe soll wohl überhaupt nicht mehr sein? Strafe scheint ein Begriff, den eure wehleidige Zeit wohl überhaupt nicht mehr hat? Und keiner denkt daran, daß es sozusagen ein Recht auf Strafe gibt, weil doch durch die Strafe nur die Schuld getilgt werden kann. Das spüren Sie nicht, Heitlinger? Das spüren Sie nicht, daß ich Ihnen Ihr Recht verkürze, wenn Ihr Vergehen ungesühnt bleibt?«

Franz sagte nichts. Er sah nur das schwitzende Gesicht. Er dachte: Das ist mir ja jetzt alles so gleich!

»Aber nun hören Sie!« sagte Samon. »Es ist mir ganz lieb, daß ich einmal einen Anlaß habe, es Ihnen vor der ganzen Klasse zu sagen. Es gibt da noch manchen, der alle Ursache hat, sich auch eine Lehre daraus zu ziehen. Wen es angeht, der wird es schon wissen.« Und er sah, über die Brille weg, wieder in die Wand, an der die Strahlen tanzten. Dann hob er den Zeigefinger und sagte: »Dieses Schlafen nämlich, dieses Schlafen während einer Unterrichtsstunde, abgesehen davon, daß es eine Ungezogenheit gegen den Lehrer ist, der euch seine beste Kraft und, ich kann wohl sagen, manche durchwachte Nacht weiht, dieses Schlafen ist außerdem gewissermaßen ein Signal, das mir die tiefe Gefahr, die Ihrem Charakter droht, in dem grellsten Lichte zeigt.«

Franz sah auf. Es war ihm plötzlich, als ob die Rahl beschimpft würde. Er wunderte sich selbst, wie ihm denn das jetzt auf einmal einfiel. Er hatte das Gefühl: Ich kann mir das nicht gefallen lassen, ihretwegen! Aber er wunderte sich selbst und wollte schweigen.

»Ich habe gewiß,« sagte Samon, »Ihre Begabung, der es ja auch an einem gewissen, freilich sozusagen mehr stoßweisen Fleiß nicht fehlt, niemals verkannt. Und ich habe es mir auf alle Weise angelegen sein lassen, diese, wie ich noch ausdrücklich hervorheben will, nicht gewöhnliche und mir also gewiß nur erfreuliche Begabung mit allem Nachdruck zu fördern, obwohl ich schon seit geraumer Zeit ein allmähliches Auftauchen eines recht bedauerlichen Mangels an rückhaltloser Offenheit, an dem so notwendigen Vertrauen des Schülers zum Lehrer bemerken konnte, worüber ich Ihnen ja auch die nötigen Andeutungen zur rechten Zeit zukommen ließ. Nun aber wäre es, meine ich, die höchste Zeit, daß Sie endlich aufhören, ein begabter Bub zu sein, und daß Sie sich entschließen, ein Mann zu werden. Verstehen Sie: ein Mann.« Er sah über die Brille weg die Buben an und wartete die Wirkung ab.

Der kleine Beer schlug vor Zorn sein Buch zu. Sein Nachbar sagte leise: »Das ist Tusch!«

Franz biß die Zähne zusammen und sagte: »Herr Professor –«

Aber Samon hob die Hand und fuhr fort: »Ersparen Sie sich jede Bemerkung! Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen mit allem Nachdruck nochmals zu sagen: es ist Zeit! In zwei Jahren sollen Sie ins Leben hinaustreten! In zwei Jahren wollen Sie ein vollberechtigter akademischer Bürger sein! Es ist Zeit, daß Sie endlich daran gehen, sich, wie der Dichter mit Recht sagt, zum Manne zu schmieden! Das haben Sie bisher immer versäumt! Die ruhige männliche Arbeit am eigenen Charakter, die strenge sittliche Selbstzucht, die hingebende Übung in der so notwendigen Entsagung haben Sie versäumt! Sie lassen sich von jeder Laune treiben, Sie schaukeln mit geschlossenen Augen dahin! So werden Sie niemals ein Mann! Vielleicht erinnern Sie sich später einmal an diese Stunde! Ich wünsche nur, daß es dann nicht zu spät sein wird. Ich meine es Ihnen wirklich gut. Ich biete Ihnen noch einmal hilfreich die Hand. Ergreifen Sie sie nicht, raffen Sie sich nicht sozusagen in der letzten Stunde noch auf, gehen Sie nicht endlich ernstlich in sich, dann können Sie mir glauben, daß niemals ein nützliches und wahrhaft tragendes Glied der menschlichen Gesellschaft aus Ihnen wird, wozu Sie doch, ich wiederhole es, vielfache Anlagen hätten! Dann werden Sie Ihr ganzes Leben lang, glauben Sie mir, der Ihnen Beispiele nennen könnte, im besten Falle immer nur höchstens ein netter Junge sein! Sie hätten ein Beispiel ganz in der Nähe. Aber ich biete Ihnen noch einmal die Hand!«

Franz sah auf. Er wußte nicht, daß Samon seinen Vater meinte. Er fühlte nur eine hämische Drohung.

Samon sah über die Buben hin. Alle Buben sahen auf Franz. Der kleine Beer rieb mit den Nägeln an seinen Zähnen.

Und Franz sagte: »Ich danke, Herr Professor!«

Samon hob die Hand abwehrend und nickte.

Da sagte Franz noch: »Ich danke: nein.« Und er horchte, wie sein helles Nein flatternd durch den weißen Staub zu schweben schien. Die Buben schnauften.

Unwillkürlich fragte Samon kurz, ohne noch zu verstehen: »Wie meinen Sie? Wie meinen Sie, Heitlinger?«

»Ich meine,« sagte Franz, »daß es gewiß sehr freundlich von Ihnen ist, Herr Professor, mir, wie Sie das nennen, Ihre Hand zu bieten. Ich muß es aber dankend ablehnen. In der griechischen Syntax oder Metrik will ich mich pflichtgemäß stets gern von Ihnen unterweisen lassen. Die Sorge um meinen Charakter aber oder meine Bildung zum Manne und dergleichen bitte ich schon, mir zu überlassen. Mit dem Leben werde ich am besten allein fertig, denke ich.«

Franz wunderte sich selbst, woher seine Worte kamen. Er hatte das Gefühl, nur nachzusprechen, was ihm diktiert wurde. Und er dachte: wenn sie jetzt ihn hätte hören können!

Samon dachte: Was spricht er denn da? Wer spricht denn da? Wo sind wir denn? Übrigens war der Lehrplan daran schuld, der immer nur auf Wissen drang, statt zum Ganzen der allgemeinen Erziehung zu streben; da mußten sich solche Verirrungen in den Jungen festsetzen. Er hatte das immer vorausgesagt. Jetzt zeigte sich, daß er recht behielt. Insofern gewährte die Frechheit dieses Heitlinger ihm ja sogar eine gewisse Befriedigung. Immerhin mußte sie jedoch zurückgewiesen werden. Er war nur darauf nicht vorbereitet.

»Darf ich also jetzt anfangen?« fragte Franz, ins Buch sehend.

Da fühlte Samon Haß und Hohn aus allen Bänken steigen. Alle Augen standen gegen ihn. Und er hatte das Gefühl, wenn er jetzt nur einen Moment wegsah, gesteinigt zu werden. Er sagte sich: Das ist eine dumme Nervosität! Es half aber nichts. Dieses schwimmende Licht mit dem tanzenden Staub und dahinter die lauernden Augen wie kleine schwarze Pöller, mit Rache geladen, und neben ihm der ruhig fragende Bub, der ja heute ganz verändert und jetzt plötzlich viel größer schien – es war ihm unerträglich. Er konnte nicht mehr. Er schlug das Buch zu. Er steckte sein Heft ein. Er nahm den Bleistift. Er stand auf und sagte, nach seiner Gewohnheit die Hand über die Klasse streckend: »Dies geht über meine Befugnisse hinaus. Darüber werden Sie sich mit dem Herrn Direktor auseinanderzusetzen haben. Es tut mir leid um Sie, Heitlinger! Aber Sie haben es sich selbst zuzuschreiben. Es muß einmal ein Exempel statuiert werden. Ich habe jedenfalls die Pflicht, diesen unerhörten Vorfall von Unbotmäßigkeit, ja von, wie ich es wohl geradezu nennen muß: Aufruhr, man kann da gar nicht anders sagen als Aufruhr, sogleich dem Herrn Direktor zu melden. Die Folgen mögen Sie sich selbst zuschreiben!« Er verließ das Pult und nahm seinen Hut. Plötzlich schrie er: »Setzen Sie sich, Heitlinger!« Und als Franz gehorchte: »Und daß sich keiner untersteht, seinen Platz zu verlassen! Bleibe jeder an seinem Platze! Es ist Zeit, daß dies eiternde Geschwür von Ungehorsam und verstecktem Trotz einmal aufgestochen werde.« Und er ging. Aber draußen blieb er noch horchend an der Türe. Die Buben wußten es. Der kleine Beer sprang auf die Bank und hob warnend die Hand, zur Türe zeigend. Alle schwiegen, zur Türe horchend. Erst als sie seine knarrenden Stiefel durch den Gang sich entfernen hörten, brach das Lachen schallend los.

»Famos!« sagte der kleine Beer. »Jetzt sollst du aber auch sehen, daß die ganze Klasse zu dir steht! Wie ein Mann!« Er sprang zum Katheder und wollte beginnen: »Aufgepaßt, jetzt gilt's!« Da sah er, daß Franz seine Bücher und den Hut nahm und zur Türe ging. Er wunderte sich und fragte: »Was machst du denn?«

Franz sagte: »Regt's euch meinetwegen nur nicht auf! Es steht nicht dafür. Ich esse meine Suppe schon selber aus.«

»Aber was hast du denn?« fragte der kleine Beer enttäuscht.

Franz sagte: »Ich habe gar keine Lust, mich hier verhören zu lassen. Bei so einem schönen Wetter! Sie sollen machen, was sie wollen. Ich lasse mich dem Herrn Direktor schön empfehlen. Servus!«

»Du! Weißt du, daß das eigenmächtige Entfernung ist?« rief der kleine Beer entsetzt.

»Ja«, sagte Franz und ging. Er ging langsam durch den hallenden Gang. Vor der Türe des Direktors fiel ihm ein, er könnte hineingehen und dem Samon sagen: »Wissen Sie denn, daß ich der Geliebte der Rahl bin?« Es schrie in ihm: »Ich bin ja der Geliebte der Rahl!« Er hätte es überall ausschreien mögen: »Ich bin der Geliebte der Rahl!« Jetzt aber ging er, um sich irgendwo zu setzen und ein Gedicht aufzuschreiben, das er die ganze Zeit schon hörte. Das wollte er ihr schicken, in einem Korb von Veilchen. Da fiel ihm aber ein, daß er gar kein Geld mehr hatte. Ein ganzer Korb mit Veilchen war sicher sehr teuer. Und er wollte die Mutter nicht anlügen. Nein, er hatte jetzt fast Angst vor der Mutter. Es war so traurig, daß er keinen Vater mehr hatte. Dem Vater hätte er gewiß alles gesagt. Dem Vater hätte er alles sagen können. Er wünschte es sich doch so, jetzt jemanden zu haben, dem er es sagen könnte. Und indem er auf der Straße ging, sah er sich die Menschen an. Alle liefen und hatten es eilig. Und alle waren ernst. Wenn sie stehen blieben, um mit einem Bekannten zu reden, lachten sie. Gleich aber, wenn der Bekannte sie verließ, wurde ihr Gesicht wieder traurig und schwer. Hatten sie denn nichts? dachte Franz. Er hätte jetzt immer laut lachen mögen. So froh war er. Sie hatten halt Sorgen! Aber er hatte doch auch Sorgen. Diese dumme Geschichte mit Samon und dem Direktor; die Mutter wird sich kränken. Und er kann es ihr doch nicht sagen! Sie muß ihm aber doch ansehen, wie froh er ist! Und dann wird ihr schon alles recht sein. Nein, sie wird nicht fragen. Er hätte es ihr ja so gern gesagt! Aber das konnte er sich gar nicht denken. Er hätte sich zu sehr geschämt. Warum denn schämen? Er war doch so stolz! Er wunderte sich eigentlich, daß die Menschen so an ihm vorbeigingen. Sah man es ihm denn nicht an? Er mußte lachen, daß sie gar nichts merkten. Und er dachte: Die mit ihren ernsten Gesichtern! und jeder tut wichtig, ich aber bin der Geliebte der Rahl! Aber der Mutter hätte er es nicht sagen können. Merkwürdig war das. Er verstand es nicht. Es kam ihm vor, daß jetzt alles um ihn wunderbar klar war, aber zugleich sah er alles von Geheimnissen voll.

Es fiel ihm ein, zur Tante Fanny zu gehen. Der log er was vor, sie half ihm gewiß. Er konnte ja die Hunde bewundern.

»Du kommst mir gerade recht«, sagte Fräulein Fanny Modl. »Das ist eine schöne Bescherung! Jetzt weiß ich mir schon bald wirklich keinen Rat mehr. Aber du kennst ja die Elvira noch gar nicht! Da schau! So was Liebes gibt's ja auf der ganzen Welt nicht mehr! Aber mein Gott!«

Die Elvira war eine dicke Dackelin, doch sah man ihr an, daß sich die Mutter mit einem Setter vergangen hatte. Die Mutter gehörte dem Hausmeister, der Setter der Baronin nebenan. Der Hausmeister hatte die Schande vertilgen wollen, aber Fräulein Fanny ließ den Mord nicht zu, kaufte die Jungen und verschenkte sie in ihrer Familie, wo man hoffte, einmal von ihr zu erben. Aber Elvira wurde doch überall nach einigen Tagen zurückgeschickt, bis schließlich Fräulein Fanny sich entschloß, sie selbst zu nehmen, weil offenbar die Leute sie gar nicht zu würdigen wußten. Fräulein Fanny fand sie bezaubernd schön und klug. »Nur weißt du,« erklärte sie dem Franz, »sie ist halt noch jung, da kennt sie sich noch nicht aus und gibt den anderen keine Ruh. Die anderen aber sind halt schon ein bißl alt und verstehen keinen Spaß mehr. Sie will ja nur spielen! No und da beißt sie den Florestan ins Ohr und ohrfeigt den Kolumbus mit ihrem lieben gelben Pratzl. Sie will wirklich nur spielen, das ist sicher! Schau dir nur die lustigen Augen an, da sieht man's doch gleich. Aber die verstehen das halt nicht und da geht's manchmal zu, daß ich oft schon glaub, sie fressen sich alle miteinand auf! Ja, und jetzt kommt noch dazu, daß sie mich so schrecklich gern hat und halt immer eifert. Wenn sie mir auf dem Schoß sitzen kann, ist es gut. Aber wehe, wenn ich einmal aufstehen will oder gar ein anderes bloß anrühre! No eigentlich ist das ja doch rührend! Aber wenn sie ihnen nur nicht alles wegfressen möchte! Na nutzt aber nichts, man kann ihr noch so viel geben, daß sie zuletzt schon gar nicht mehr schnaufen kann, sie kommt doch und tragt's den anderen weg und grabt's irgendwo ein. No, sie will halt spielen oder es ist, weil sie mit ihnen eifert. Also was soll man da tun? Die Leut sagen immer: Hauen, hauen! Sonst wissen's nichts. Das war doch aber wirklich ungerecht, ein Tier zu hauen, bloß weil's einen halt so gern hat! Aber ich kann doch die anderen halt auch nicht verhungern lassen! Und der Florestan hustet schon den ganzen Tag vor Wut, daß es ein wahrer Jammer ist. Das geht doch auch wieder nicht. Das Unglück ist eben, weißt: Die Elvira hat halt viel mehr Temperament als die anderen! Da darf man aber doch die anderen nicht darunter leiden lassen, sie können ja nichts dafür! Aber die Elvira kann ja auch wieder nichts dafür, es ist im Gegenteil doch schön, daß sie kein solcher Latsch ist! Ich aber komm schon gar nicht mehr aus dem Haus, ich steh da, mit dem Kochlöffel in der Hand, damit nur doch ein bißchen Ordnung ist! Ja, das geht ja auch wieder nicht! No, jetzt sag, was du tun möchtest! Da kannst zeigen, was du gelernt hast!«

»Aber Tante Fanny!« sagte Franz lachend, indem er, sich setzend, Elvira auf den Schoß nahm. »Da möchte ich mich doch nicht sorgen. Das sollen die Herrschaften unter sich ausmachen! Ein jedes kann sich ja wehren.«

»Das wär schön,« sagte Fräulein Fanny. »Da beißt mir die Elvira am ersten Tag alle zusammen!«

»Wenn sie die Stärkere ist,« sagte Franz achselzuckend. »Dann hat sie ja recht.« Elvira klopfte dankbar mit dem Schweif.

»Du hast schöne Begriffe,« sagte Fräulein Fanny. »Dazu ist doch schließlich der Mensch da, daß der Schwächere auch ein Recht hat. Gelt, mein armer Florestan? No ja, no ja! Es geschieht dir ja nichts, ich geb schon acht.«

Elvira fletschte, Florestan hustete, Zanga stöhnte. Franz streichelte das Tier auf seinem Schoß. »Hast schon recht,« sagte er, »laß dir nur nichts gefallen, hast schon recht, nur sich nichts gefallen lassen!« Es antwortete mit dem Schweife klopfend. Dann hob es ein wenig den spitzen gelben Kopf und schob sich unter seinen Arm in den Rock und lag ganz still.

»Schau schau,« sagte Fräulein Fanny. »Der junge Herr versteht's, mit Weiberln umzugehen.«

Franz wurde rot. Er hätte sich lieber abgewendet. Es ging aber nicht, um Elvira nicht zu stören.

»No ja,« sagte Fräulein Fanny. »Das ist ja keine Schand, dummer Bub!«

Da lachte Franz lustig laut auf, weil es ihn erinnerte. Elvira klopfte im Schlafe. Fräulein Fanny sah ihn an. Es fiel ihr auf, wie schnell die Menschen wachsen. »Aber,« sagte sie dann, »was verschafft mir denn eigentlich die Ehre?«

»Ich darf doch auch einmal nachfragen,« sagte Franz unschuldig, »wie's dir immer geht.«

»Lug nicht so!« sagte Fräulein Fanny. »Wer zu mir kommt, braucht was. Dabei wollen wir schon auch bleiben. Besser als umgekehrt. Also los!«

Sie sah ihn an. Da konnte er nicht lügen. Aber er sagte zuerst noch, Elvira leise streichelnd: »So lieb warm fühlt sie sich an! Wirklich ein herziges Viecherl!«

»Du bist ein Schlauer,« sagte Fräulein Fanny lachend.

Jetzt sah er ihr ins Gesicht und sagte mit ernsten Augen: »Ich muß Blumen kaufen und hab gar kein Geld, denk dir.«

»Wieviel brauchst denn?« fragte Fräulein Fanny.

»Viel,« sagte Franz kleinlaut. Und er sagte noch einmal couragiert: »Möglichst viel.«

»So teuere Blumen müssen's sein?« fragte Fräulein Fanny.

»Ja, Tante Fanny,« sagte Franz. »Die allerteuersten Blumen müssen's sein.« Und er sah sie lachend an und war ganz stolz.

Fräulein Fanny stand in Erinnerungen, und ihr altes Gesicht wurde hell. »No ja,« sagte sie. »Dann freilich!« Sie stand vor ihm und sah ihn zärtlich an und freute sich. Leise seufzend sagte sie, nickend: »Hast ja recht.« Und dann sagte sie noch ein wenig ängstlich: »Aber sag der Mutter nix davon!«

»Nein, nein, ich schwöre,« sagte Franz lachend.

»Eigentlich ist es eine rechte Schand,« sagte Fräulein Fanny, »wenn eine alte Person wie ich noch Geheimnisse mit einem solchen Hudriwudri hat.«

»Eigentlich schon,« sagte Franz, der es komisch fand, daß sie ganz aufgeregt war. Sie merkte es und ärgerte sich. »Du fängst gut an. Die Koketten sind die ärgsten.« Und sie ging zum Schrank. Florestan verstand dies falsch und dachte, daß sie Zucker holen ging. Er schlich wedelnd her, da fuhr Elvira aus dem Rock auf ihn los und verbiß sich in seine Ohren, die anderen kläfften, Fräulein Fanny schrie, bis Franz Elviren am Schwanze in die Luft hob und zappeln ließ. Sie quiekte, rings kläffte und stöhnte und ächzte der feindliche Chor, Fräulein Fanny schrie: »Du tust ihr ja weh! Aber um Gotteswillen! Du tust ihr ja weh!«

»Sie tut ja den anderen auch weh,« sagte Franz lachend und ließ sie los, die sich winselnd und quietschend verkroch.

»Sie weiß es doch nicht,« sagte Fräulein Fanny. »Wenn man es nicht weiß, kann man doch nichts dafür! Ich bitt dich! Du hast mir noch gefehlt! Schau schon lieber, daß du zu –« Sie brach ab und sah ihn an. Dann sagte sie mit einem seltsamen Ton, der fast ein wenig nach Neid und doch auch wieder von Mitleid klang, ein wenig gereizt und ein wenig gerührt: »Daß du halt zu deinen Blumen kommst! Aber sag der Mutter nix!«

Nachdem Franz die schönsten Veilchen ausgesucht hatte, schrieb er unter das Gedicht seinen Namen und seine Wohnung und dann noch ein großes: Wann? Er bat den Gärtner, den Brief mitzuschicken. Der Gärtner fragte wohin. Franz sagte nichts, sondern schrieb ihren Namen auf den Brief. »Oh!« sagte der Gärtner und nickte und war geschäftig. »Ja,« sagte Franz stolz. Er hätte den Gärtner am liebsten umarmt.

Als er abends heimkam, war die Mutter sehr still. Erst nach dem Essen sagte sie: »Franz! Der Herr Professor Samon war bei mir.« Dann faltete sie die Hände, saß schweigend und wartete.

Franz sagte nichts, stand auf und trat ans Fenster.

Nach einer Weile sagte sie: »Was wird denn jetzt geschehen? Du mußt es doch einsehen.«

Sie schwieg wieder eine Weile. Dann sagte sie schüchtern: »Ich war dann auch beim Herrn Direktor. Der hat dich sehr gern, Franz! Er meint es dir wirklich gut.«

Am Fenster sagte Franz ungeduldig: »Wenn es nur nicht alle gut mit mir meinen möchten! Das hält man auf die Dauer schon nicht mehr aus.«

Kleinlaut sagte Frau Marie: »Er meint, um dich wär's schad! Und er meint, es wird ja nicht so schrecklich sein. Er ist wirklich ein sehr netter und vernünftiger Mensch, Franz!« Sie hielt ein und wartete wieder. Sie hörte nur das Ticken der Uhr. Dann bat sie leise: »Du sollst nur dem Professor Samon Abbitte leisten, hat er gesagt. Schau, das muß halt sein!« Sie wartete wieder. Dann sagte sie, fast etwas spöttisch: »Und was liegt dir denn daran? In zwei Jahren bist dann dein eigener Herr. Gelt?«

Franz stand, bog den Kopf vor und zog den Rücken herauf, durchs Fenster sehend. Sie dachte an seinen Vater. Der konnte dann auch so einen störrischen und bösen Rücken machen.

»Gott,« sagte sie, »mit den Männern ist es schon ein Kreuz!«

Franz lachte. Dann kam er leise zur Mutter, strich ihr Haar und sagte: »Du bist ja so lieb!« Und er lachte wieder und sagte: »Aber da hast schon recht, mit uns Männern ist es ein Kreuz.«

»Geh weg!« sagte sie und tat gekränkt. Und sie freute sich, einen so großen Sohn zu haben. Doch dann fing sie wieder an. Aber er ließ sie nicht. »Nicht, Mutter!« sagte er leise. »Nicht heute! Heute ist der allerschönste Tag.« Und schon ging er wieder von ihr weg und sagte lustig: »Morgen kannst mich schimpfen! Soviel du willst. Morgen, morgen!«

»Es ist fast unheimlich,« sagte Frau Marie, »wie du manchmal dem Vater gleich siehst!« Und ihr war bang und sie war froh. Dann schrieb sie dem Direktor einen langen Brief, der Franz werde sicher alles tun, genau nach den Wünschen des Direktors, der sich nur ein paar Tage noch gedulden möge, weil der Franz jetzt vor Aufregung ganz krank sei, weshalb es ihr besser scheine, ihn einige Tage daheim zu lassen.

Franz wartete. Er saß den ganzen Tag zu Haus und wartete. Wenn es läutete, lief er hinaus; es mußte doch endlich der Briefträger sein! Der kleine Beer kam, er ließ ihn nicht ein; die Mutter mußte sagen, er wäre wirklich krank; denn er hatte Furcht, daß, während der kleine Beer da war, ihr Brief kommen könnte. Er wartete den ganzen Tag. Er konnte nichts tun, nicht lesen, nicht sitzen, er wollte nicht bei der Mutter sein, er ging in seinem Zimmer herum und wartete. Er schrieb an sie. Aber dann strich er alles aus. Er fand die Worte nicht. Alle Worte waren zu gemein für sie. Plötzlich fiel ihm ein: Vielleicht hatte sein Gedicht sie beleidigt, sein dummes Gedicht, so dumm, er schämte sich jetzt, sie fand es gewiß lächerlich! Am zweiten Tag hielt er es nicht mehr aus. Er rannte zu ihr. Sie war nicht zu Haus. Wo war sie denn? Wo konnte sie denn sein? Was war denn? Er hatte solche Angst um sie. Er fragte den Diener aus. Der Diener wußte nichts. Franz ärgerte sich über das unverschämte blöde Gesicht. Er suchte den Gärtner auf. Der Gärtner wußte nichts. Das war doch der Gärtner, der ihn nämlich in der Nacht durch das Gitter ließ! Erkannte der Gärtner ihn nicht? Aber er schämte sich, den Gärtner zu erinnern. Er schrieb wieder an sie. Er kam wieder. Sie war nicht zu Haus. Sie war nie zu Haus. Und keine Antwort kam. Er schrieb wieder und trug den Brief selbst hin. Er haßte diesen frechen Bedienten. Endlich spielte sie wieder. Er stand am Tor. Sah sie ihn denn nicht? Auch als er nachher wartete, sah sie ihn nicht. Er wurde zornig. Aber vielleicht schämte sie sich vor den vielen Menschen. Zornig lief er, um dem Wagen vorzukommen. An der Laterne stand er, keuchend, spähend, auf ihr Zeichen bereit. Da sah er ihre weiße Hand, sie ließ den Vorhang herab, der Wagen fuhr vorbei. Er schrie, er lief, die Leute lachten. Ja, was war denn nur? Was war denn? Das konnte doch nicht sein! Als er am andern Tag wiederkam, sagte der gräßliche Bediente: »Die Frau Gräfin ist zu Hause, aber sie empfängt nicht.« Franz schrieb einen Zettel, den der Diener achselzuckend nahm. Franz ging unter den Pappeln auf und ab; dort war das grüne Häuschen! Er freute sich. Dort war doch das grüne Häuschen! Er hatte nicht geträumt. Alles wird sich aufklären. Er sah auf das grüne Häuschen. Alle Läden waren zu. Franz ging unter den Pappeln auf und ab. Da sprang der weiße Hund aus dem Tor. Der weiße Hund kam auf ihn zu, roch an ihm und erkannte ihn, wedelnd. Franz schmeichelte ihm. Der weiße Hund stellte sich auf, mit den Vorderfüßen an seinen Schultern. Der Bediente kam zurück, das Tier knurrte den Bedienten an. Der Bediente sagte: »Die Frau Gräfin läßt sagen, daß sie nicht zu sprechen ist.« Der Bediente rief das knurrende Tier, das Franz mit seinen Händen hielt. Der Bediente ging ins Haus zurück. Franz stand, das Tier streichelnd. Auf der Stiege pfiff der Bediente. Der weiße Hund zitterte, Franz ansehend, aufhorchend. Der Bediente pfiff wieder. Das Tier schüttelte sich und entsprang ins Haus. Franz suchte den alten Gärtner auf. Der alte Gärtner kam ihm entgegen und sagte gleich: »Bitte nur im Hause zu fragen!« Franz sah ihn bittend an und sagte: »Ist denn die Frau Gräfin krank?« Der Gärtner sagte verlegen: »Ich weiß nicht.« Franz bat: »Sagen Sie mir doch, was sie denn eigentlich macht!« Der alte Gärtner sagte traurig: »Ich weiß wirklich nicht.« Franz wollte noch fragen, aber der alte Gärtner ging weg, indem er sich mit seiner Arbeit entschuldigte und noch einmal sagte, immer so traurig: »Ich weiß nicht, junger Herr!« Franz trat durch das Gitter. Dort war der Weg ins Feld! Dort war, auf dem Hügel, die Bank! Dort war er neulich und die Sonne ging auf, rot über der dampfenden Stadt! Was war denn nur? Was war nur? Plötzlich fiel ihm der Graf ein. Er wußte doch, daß sie verheiratet war. Er hatte noch nie daran gedacht. Aber vielleicht war es der Graf. Vielleicht wußte der Graf. Vielleicht hielt der Graf sie gefangen. Er schrak zusammen. Ja, dann ließ sich alles erklären. Das war es gewiß. Er konnte nicht mehr zweifeln. Und der Bediente war vom Grafen bestochen. Aber sie lag gefangen. Und er stellte sich vor, wie der Graf sie peinigte, um sich zu rächen. Er mußte sie befreien. Er kannte den Grafen nicht. Er hatte den Grafen nie gesehen, aber er wußte doch vom kleinen Beer, daß diesen Menschen alles zuzutrauen ist. Er hatte gehört, daß der Graf Rittmeister bei den Dragonern war. Und er stellte sich ihn vor, mit gezücktem Säbel, wahrscheinlich betrunken, wie er seine rasende Eifersucht an der Wehrlosen ausließ. Er mußte sie befreien. Aber wie nur? Wie denn nur? Wie nur? Er dachte, wie das Klärchen, um den Egmont zu retten, die Bürger anruft. Aber die Bürger sind feig und es hilft nichts. Und dann paßte das doch auch in die heutige Zeit nicht mehr! Das waren nur solche Kindereien vom kleinen Beer. Obwohl ja gewiß, wenn die Menschen gewußt hätten, daß die Rahl gefangen war, die Rahl, die Rahl –! Aber nein, er gönnte das den Menschen auch gar nicht. Er brauchte die Menschen nicht. Er ganz allein wollte sie befreien. Ihr Franzos' war bereit gewesen, sich zu töten, weil sie ihn verschmähte. Ihn aber liebte sie, was galt ihm da sein Leben noch? Er war bereit. Aber wie nur? Wenn sie doch nach dem Theater den Wagen angehalten hätte, um ihm alles zu sagen! Aber vielleicht hatte sie sich geschämt. Vielleicht war auch der Kutscher bestochen. Seine Briefe, seine Blumen bekam sie nicht. Vielleicht dachte sie, daß er untreu war. Wie kam er nur zu ihr? Und der Graf war sicher feig und ließ ihn nicht vor. Sollte er es unter einem fremden Namen versuchen? Da war doch aber der tückische Bediente, der ihn kannte! Wie denn nur? Wie? Er kam sich plötzlich so furchtbar verlassen und arm vor. Kein Mensch half ihm. Er hatte keinen Menschen. Wenn sein lieber Vater noch gelebt hätte! Sein Vater wäre nicht verzagt. Aber er wollte zeigen, daß er wie sein Vater war. Der hatte der ganzen Welt getrotzt. Jetzt erlebte er zum erstenmal, wie das war. Nein, er fürchtete sich nicht. Er stand seinem Vater nicht nach. Er war ganz stolz, es jetzt zeigen zu dürfen. Die Rahl befreien! Wie das klang! Ihn hatte doch das Leben sichtlich sehr lieb. Die Rahl befreien! Wer denn als er, wer denn sonst als er, er, der Geliebte der Rahl! Und er sah sich auf schwarzem Rosse mit ihr nachts durch den Garten sprengen, im knirschenden Kies unter den Pappeln. Da fiel ihm aber ein: Ich kann ja gar nicht reiten! Und er mußte lachen. Er blieb stehen und erwachte. Er war so durch die Straßen gerannt! Jetzt fand er es lächerlich. Er dachte: Daran ist aber nur der kleine Beer schuld mit seinen Deklamationen; der macht einen ganz irr! Er hatte eine Wut auf den kleinen Beer. Er fühlte: Das paßt jetzt alles gar nicht mehr zu mir. Er schämte sich eigentlich ein bißchen. Wenn es ihm jemand angemerkt hätte! Hatte denn der Samon nicht eigentlich recht? Blieb er nicht wirklich noch immer ein Bub? Auf schwarzem Rosse mit verhängtem Zügel durch den Garten sprengen, das war echt beerisch. Er aber weiß doch jetzt, daß das Leben anders ist. Was nutzt das schöne Reden und das viele Denken? Und plötzlich muß er wieder an seinen Vater denken, wie er über seinem Tisch hing, mit den spöttischen Augen. Wie der ihn ausgelacht hätte! Nein, er wird nicht auf schwarzem Rosse durch den Garten sprengen! Nein, kleiner Beer, so ritterlich bist nur du! Er wird einfach mit dem Grafen reden. Ganz ohne Romantik. Wenn nicht doch noch ein Brief von ihr kommt, geht er morgen hin und redet einfach mit dem Grafen, von Mann zu Mann.

 


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