Brigitte Augusti
Mädchenlose
Brigitte Augusti

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Zweites Kapitel

Neue Eindrücke

Erna an ihre Mutter.

Lindenhorst, den 8. Juni.

Meine heißgeliebte Mama!

Acht Tage ist es her, seit Du von mir schiedest, aber mir scheint eine unendliche Zeit seitdem vergangen, und wie eine Ewigkeit dehnen sich die fünf Wochen, die bis zu Deiner Rückkehr noch verfließen müssen, vor mir aus. Seit gestern sind wir hier in Lindenhorst, und ich glaube mich in eine so gänzlich fremde Welt versetzt, daß ich ohne meine liebe Nora mich gar nicht zurechtfinden könnte. Ich zittere vor dem Augenblick, da sie mich hier allein lassen wird, denn bekannt und heimisch werde ich mich hier wohl niemals fühlen. Nie hätte ich geglaubt, daß das Leben unter gebildeten Menschen so ganz verschiedene Gestalten annehmen könne, aber hier erinnert mich nichts an unser schönes friedliches Leben zu Hause. Meine süße Mama, welche Seligkeit wird es sein, mit Dir in unserm traulichen Wohnzimmer, oder oben an meinem Schreibtisch zu sitzen – ich träume davon im Wachen und Schlafen, wie von einem verlorenen Paradiese. Hier scheint niemand das Bedürfnis der Ruhe und Sammlung zu kennen; das saust und braust den ganzen Tag, daß mir zuweilen angst und bange wird. Bei Tisch sind wenigstens zwanzig Personen, und ich werde wohl niemals dahin kommen, sie alle zu kennen und zu unterscheiden. Bis jetzt sind mir nur wenige Gestalten aus dem großen Wirrsal klar geworden, Herr und Frau Klingemann, die mich sehr freundlich begrüßten, und ein junges Mädchen, Rose Grund, die seit dem Frühjahr hier ist, um sich nach schwerer Krankheit zu erholen. Sie hat für mein Erstaunen über die unbekannten Verhältnisse nur Gelächter und Spott, und ich fühle mich wenig zu ihr hingezogen.

Die Gegend scheint hier sehr hübsch zu sein, der große Garten bietet viele schattige und anmutige Partieen. Heute hatte ich mir ein reizendes Plätzchen aufgesucht und mich eben in ein Buch vertieft – da kam die ganze Knabenschar angetobt, und mit der Ruhe war es vorbei. Die Kinder scheinen mir bis jetzt noch unzählbar; ein Knabe erregt meine große Teilnahme, er ist gelähmt und kann sich nicht selbständig bewegen, aber in seinem Gesicht liegt so viel Intelligenz und dabei ein so melancholischer Zug, daß man sich zu ihm hingezogen fühlt. Da er unter den lebhaften Geschwistern sehr allein steht und an ihren lärmenden Spielen keinen Teil nehmen kann, möchte ich mich gern mit ihm befreunden.

Ich nehme mir vor, ein Tagebuch für Dich zu schreiben, geliebte Mama; wenn Nora fortgeht, wird der tägliche Verkehr mit Dir das einzige Mittel sein, um mich vor schmerzlichem Heimweh zu bewahren. Ich verspreche Dir, für alles Gute, was ich hier etwa finden sollte, offene Augen zu haben, aber dafür gestatte mir auch, Dir rückhaltlos alles zu berichten, wie es mir erscheint, ohne Vorurteil, aber auch ohne Beschönigung.

Schon mehrmals, während ich schreibe, ist Rose sehr ungeniert hereingekommen, um mich zu einem Spaziergang aufzufordern; ich habe gar keine Lust dazu, aber ich kann mich ihrer nicht erwehren, ohne unfreundlich zu sein. Wenn die Leute mich nur meinen eigenen Weg gehen ließen, ohne mir ihre lästige Freundlichkeit aufzudrängen!

Lebewohl, mein teure, einzige Mama! küsse unsere kleine süße Nora und denke mit Liebe und ein wenig Mitleid an Deine Erna.

Aus Ernas Tagebuch.

Lindenhulst, den 9. Juni.

Rose führte mich gestern abend auf den Schloßberg, der den alten Turm und manches ruinenhafte Gemäuer auf seiner Höhe trägt. Der große Garten ist ganz von einer alten Mauer umgeben, die teilweise zerfallen und zerbröckelt ist, an andern Stellen aber noch aufrecht steht und von dichtem Grün umrankt ist – lauter interessante Reste einer grauen Vergangenheit. Der Blick vom Schloßberg ist wunderhübsch, man sieht verschiedene bewaldete Hügelgruppen, dazwischen tief eingeschnittene, grüne Thäler mit rauschenden Buchen und klappernden Mühlenrädern. Plötzlich, als ich ganz versunken in den schönen Anblick war, rief Rose: »Da ist er! sehen Sie nur, Erna, ist das nicht ein Reiter auf einem Schimmel, der dort die Chaussee heraufkommt?« Ich bestätigte es, und nun geriet sie in ein wahres Entzücken. »Wir müssen ihn begrüßen,« rief sie und ließ ihr Taschentuch im Winde wehen.

»Aber sagen Sie mir nur, wer der Herr ist, dessen Nähe Sie so beglückt,« bat ich.

»Es ist Herr v. Rothenburg, ein vornehmer, reicher junger Mann, der hier als Volontär in der Wirtschaft ist, um später die großen Güter seines Vaters zu übernehmen; er ist die interessanteste Person in der ganzen Umgegend, und alle Mädchen sind in ihn verliebt. Er ist aber auch unwiderstehlich mit seiner schlanken Gestalt, seinem schönen Kopf und seiner hübschen Stimme, und das Leben hier im Hause hat einen ganz besonderen Reiz, wenn er anwesend ist. Sie werden auch von ihm entzückt sein, Erna.«

»Ich denke nicht daran,« sagte ich ganz entrüstet, »und ich finde es sehr unpassend, daß Sie einem fremden Herrn Grüße zuwinken; hoffentlich hat er uns nicht gesehen.«

»Thun Sie nur nicht so zimperlich,« erwiderte sie lachend; »in ein paar Tagen werden Sie ganz anders sprechen, falls Rothenburg Sie beachtet; manchmal ist er freilich sehr spröde.«

Ich konnte vor innerer Empörung kein Wort sagen, nur als sie mich aufforderte, auf dem kürzesten Wege nach dem Hof zurückzukehren, um »ganz zufällig« zu gleicher Zeit mit dem Reiter dort zu sein, lehnte ich es entschieden ab. Trotz alledem blieb sie in der besten Laune und sang und schwatzte so lustig, daß ich ihr nicht lange widerstehen konnte. Ob wohl in Rosens Seele jemals ein ernster Gedanke Platz findet? Ich glaube, sie hat vor Lachen und Scherzen keine Zeit dazu.

Als wir zu Hause ankamen, flüsterte sie mir zu: »Nun eilen sie nur, um sich zum Abendessen recht hübsch zu machen, der erste Eindruck ist oft der entscheidende«. Natürlich dachte ich nicht daran, ihr zu folgen, war aber wider Willen doch etwas gespannt auf den gerühmten Herrn. Er sah sehr müde aus, sprach kein Wort und gähnte nur verstohlen; nach dem Essen erschien er für einen Augenblick im Wohnzimmer, entschuldigte sich mit großer Ermüdung nach dem langen Ritt und verschwand. Der erste Eindruck seinerseits war kein besonders vorteilhafter, und es war jetzt an mir, Rose wegen ihres Helden auszulachen.

Abends erzählte ich Nora von Rosens Betragen auf dem Schlotzberg; sie fand es auch nicht mädchenhaft genug, bat mich aber, mich nicht zu schnell gegen sie einnehmen zu lassen. Ihr gutes, warmes Herz, ihre immer fröhliche Laune, ihr praktischer Sinn würden von den Damen des Hauses sehr gerühmt, sie besäße also manches, was mir fehle, und wir könnten uns gegenseitig ergänzen, da wir hier doch einmal aufeinander angewiesen seien. Noras Auffassung hat stets etwas Überzeugendes.

Den 11. Juni.

Allmählich fange ich an, mich besser zu orientieren, und um Dir ein deutliches Bild meiner Umgebung zu entwerfen, will ich Dir unsere ganze Tafelrunde vorführen.

Den Ehrenplatz an der Spitze nimmt die Mutter des Hausherrn ein, eine stattliche alte Dame von ernstem, etwas strengem Wesen; sie macht mir den Eindruck, als gehörte sie mit ihren Anschauungen und Gewohnheiten einer andern, längst vergangenen Zeit an, als blickte sie zuweilen mit Erstaunen, ja mit Mißbilligung auf das Treiben der jetzigen Generation. Ihre Enkel bezeugen ihr große Ehrfurcht, und es gilt für einen Vorzug, der Großmutter einen Dienst erweisen zu dürfen; aber noch nie habe ich gesehen, daß sich eines der Kinder an sie geschmiegt und ihr seinen kleinen Kummer oder seine Freuden anvertraut hätte, wie ich es stets bei Großmama Westheim thun durfte.

Ihr zur Rechten sitzt ihr Sohn, der Hausherr; er hat viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter, und sein Auge nimmt zuweilen einen Herrscherblick an, den ich nicht auf mich gerichtet sehen möchte. Aber er kann auch sehr freundlich sein und so laut und herzlich über einen guten Witz lachen, wie ich es nie zuvor gehört habe. – Ihm folgt Herr Dr. Kron, der Hauslehrer, ein nicht mehr junger, jovialer Mann, der seinen Schülern das Leben gewiß nicht schwer macht. Er ist der einzige, der bei Tische ganz unbefangen spricht und bald den einen, bald den andern in die Unterhaltung zieht. Sein Nachbar ist Herr v. Rothenburg, der wirklich sehr gut aussieht, aber nicht immer besonders liebenswürdig zu sein scheint. Abwärts folgen nun junge Beamte, an die sich die vier Knaben anschließen; zwei davon sind Söhne des Hauses, die andern sind nur zur Teilnahme am Unterricht den Tag über hier und kehren am Nachmittag zu ihren Eltern zurück.

Dies ist die männliche Seite der Tafel; das vis-à-vis gehört dem schönen Geschlecht. Neben der alten Dame sitzen Nora, Rose und ich, es folgt Frau Klingemann, eine liebe, feine, blasse Frau, von der man nicht begreift, wie sie den riesigen Haushalt so ruhig und sicher leiten kann. Man sieht sie nie in Hast und Eile, immer hat sie ein freundliches Wort für jeden, der sich an sie wendet; selbst der steifen alten Dame begegnet sie stets mit einer sanften Zärtlichkeit. Neben ihr sitzt der arme kranke Bruno, der mit vierzehn Jahren kaum so groß ist, wie sein zehnjähriger Bruder; er hat jetzt eine gute Zeit, da er wenigstens nicht an Bett und Stube gefesselt ist, was leider oft der Fall sein soll. Alles Leben in ihm konzentriert sich in den großen, glänzenden Augen, die rastlos umherschweifen; jede Bewegung ist ihm eine Pein. Welch ein Schmerz muß sein Anblick für seine Mutter sein! Das ist es wohl, was sie so blaß macht und einen so wehmütigen Zug in ihr liebes Gesicht bringt. – Last, not least folgt, umgeben von drei kleinen Mädchen, Fräulein Lietzner, eine Verwandte des Hauses, welche meiner Meinung nach das geplagteste Wesen auf Gottes Erde ist. Sie scheint keinen Augenblick der Muße zu kennen, sondern hat stets alle Hände voll zu thun. Sie unterrichtet die jüngern Kinder, beaufsichtigt das Klavierüben, schneidet alle Butterbrote, stopft alle Strümpfe – und das will etwas sagen in einem so großen Hause. Bei Tische legt sie den Kleinen vor, schneidet den Braten, springt auch wohl auf, um etwas Fehlendes zu holen; ob sie Zeit hat, selbst zu essen, weiß ich nicht gewiß. Wer etwas braucht, oder einen Wunsch hat, wer etwas zerrissen oder verloren hat, wendet sich an Fräulein Lietzner – oder Tante Emma, wie die Kinder sie nennen. Dabei ist sie stets vergnügt und zum Scherzen aufgelegt, sie und Rose sind darin die treuesten Bundesgenossen. Rose steht ihr sehr hilfreich bei und ist beneidenswert geschickt in vielen Dingen, von denen ich keine Ahnung habe.

Mein Tag verläuft in folgender Weise. Wir stehen recht früh auf, denn um 7 Uhr findet eine Morgenandacht statt, die eigentlich für die Kinder bestimmt ist, an der aber jeder teilnehmen kann. Wir singen einen Vers mit Begleitung des Harmoniums, Frau Klingemann liest eine kurze Betrachtung, und eines der Kinder spricht das Vaterunser. Dann küßt die Mutter jedes Kind und spricht mit dem einen und dem andern ein liebevolles, ermahnendes oder aufmunterndes Wort. Das Ganze ist sehr einfach und kurz, aber es kommt mir immer vor, als ob jedesmal ein neues Band der Liebe und Eintracht sich um alle Teilnehmenden schlänge.

Nun folgt das Frühstück auf der Veranda, an dem aber nur Damen und Kinder teilnehmen; ein unbeschreibliches Stimmengewirr begleitet es. Inzwischen kommen die fremden Knaben angeritten, hier wird noch gelernt, dort erzählt oder gestritten, bis die Glocke ertönt, welche die Jugend in die Schulstunden ruft. Mit einem Schlage ist alles still; die Damen gehen an ihre häusliche Arbeit, ich wandere mit einem ernsten Buch in den Garten, zuweilen begleitet mich Nora, und wir haben manch schönes Gespräch miteinander. Um zehn Uhr ist die Pause für das zweite Frühstück, wieder stürmt die ganze Jugend heraus und stürzt sich auf die bereit stehenden Butterbrote, deren Zahl mir anfangs lächerlich groß vorkam, die aber im Umsehen verschwunden sind. Bin ich nicht gleich zur Stelle, so ertönt der laute Ruf: Erna, Erna! durch den Garten, denn seit ich ihnen einmal zur Beruhigung eine Geschichte erzählte, verlangen sie es täglich, und ich kann mit der gespannten Aufmerksamkeit meines Auditoriums wohl zufrieden sein.

Bis Mittag arbeite ich auf meinem Zimmer, und nach Tisch lese ich an irgend einem kühlen Plätzchen ein leichtes Buch oder schreibe an Dich und an Papa. Die Vesperstunde führt die ganze Gesellschaft auf dem Kaffeeplatz unter schattigen Linden zusammen; jetzt sind auch die Herren dabei, und es herrscht nicht die Ungebundenheit des ersten Frühstücks. Ich wünschte, ich könnte es Rose gleichthun, welche sich mit Fräulein Lietzner in die Bedienung des großen Kreises teilt und sich dabei sehr geschickt zu benehmen weiß; aber ich würde doch nur Unheil anrichten, und so versuche ich es lieber gar nicht, sondern begnüge mich damit, Bruno zu versorgen, neben dem ich immer einen Platz finde. Er hat das regste Interesse für alle geistigen Dinge und ein merkwürdig richtiges Urteil, obgleich seine Kenntnisse sehr mangelhaft sind; wir haben oft lange Gespräche zusammen, und die andern nennen uns die beiden Gelehrten. – Ein Teil der Gesellschaft bleibt nach dem Kaffee unter den Linden sitzen, man liest die Zeitungen, nimmt eine Handarbeit vor und unterhält sich, bis der kühler werdende Tag zu einem Spaziergange einladet. Es sind rings umher hübsche Partien zu machen, überall wechselt Berg und Thal, schmale Pfade führen auf und ab durch waldige Hügel, reizende Fernblicke öffnen sich. Ich hätte kaum geglaubt, daß unsere Provinz mitten im Lande so schöne, gebirgsartige Gegenden in sich schlösse. – Nach dem Abendessen geht man entweder in den Garten, oder es wird musiziert: Herr v. Rothenburg singt sehr gut, Rose hat auch eine allerliebste Stimme, gewöhnlich spiele ich die Begleitung.

So fließen die Tage hin, gleichförmig und doch voll Wechsel; das Leben hier erscheint mir nicht mehr so unsympathisch, wie in den ersten Tagen. Wenn nur Nora hier bliebe! sie ist mein Stab und meine Stütze!


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