Berthold Auerbach
Barfüßele
Berthold Auerbach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Kapitel.

Nur ein einziger Tanz

Der Krappenzacher reichte Barfüßele von der Musikbühne herab das Glas. Sie nippte und gab es zurück, und der Krappenzacher sagte: »Wenn du tanzest, Amrei, da spiele ich alle meine Instrumente durch, daß die Engel vom Himmel herunterkämen und mittäten.«

»Ja, wenn kein Engel vom Himmel herunterkommt und mich auffordert, werde ich keinen Tänzer kriegen.« sagte Amrei, halb spöttisch, halb schwermütig, und jetzt dachte sie darüber nach, warum denn ein Landjäger beim Tanze sein müsse. Sie hielt sich aber bei diesen Gedanken nicht auf und dachte gleich weiter: er ist doch auch ein Mensch wie andre, wenn er auch einen Säbel umhat, und bevor er Landjäger worden ist, war er doch auch ein Bursch wie andere, und es ist doch eine Plag' für ihn, daß er nicht mittanzen tanzen darf. Aber was geht das mich an? Ich muß auch zugucken, und ich krieg' kein Geld dafür.«

Eine kurze Weile ging alles viel stiller und gemäßigter auf dem Tanzboden her, denn »die englische Frau,« so hieß im Dorfe in der ganzen Umgebung noch immer Agy, die Frau des Oberbaurats Severin, war mit ihren Kindern auf den Tanz gekommen. Die vornehmen Holzhändler ließen Champagner knallen und brachten der Engländerin ein Glas, sie trank auf das Wohl des jungen Paares und wußte dann jeden durch ein huldvolles Wort zu beglücken. In den Mienen aller Anwesenden stand ein stetiges wohlgefälliges Lächeln. Agy tat manchem Burschen, der ihr im blumenbekränzten Glase zutrank, mit Nippen Bescheid, und die alten Weiber in der Nähe Barfüßeles wußten viel Lob von der englischen Frau zu sagen und waren schon lange aufgestanden, ehe sie sich ihnen nahte und ein Paar Worte mit ihnen sprach. Und als Agy weggegangen war, brach der Jubel, Singen, Tanzen und Stampfen und Jauchzen mit neuer Macht los.

Der Oberknecht des Rodelbauern kam auf Amrei zu, und sie schauerte schon in sich zusammen, voller Erwartung, aber der Oberknecht sagte:

»Da, Barfüßele, heb' mir meine Pfeif' auf, bis ich getanzt habe.« Und viele junge Mädchen aus dem Orte kamen, von der einen erhielt sie eine Jacke, von der andern eine Haube, ein Halstuch, einen Hausschlüssel, alles ließ sie sich aufhalsen, und sie stand immer mehr bepackt da, je mehr ein Tanz nach dem andern vorüberging. Sie lächelte immer vor sich hin, aber es kam niemand. Jetzt wurde ein Walzer aufgespielt, so weich, das geht ja, wie wenn man drauf schwimmen kannte, und jetzt ein Hopser, so wild rasend, hei! wie das alles hüpft und stampft und springt, wie sie alle in Lust hoch aufatmen, wie die Augen glänzen, und die alten Weiber, die in der Ecke sitzen, wo Amrei steht, klagen über Staub und Hitze, gehen aber doch nicht heim. Da ... Amrei zuckt zusammen, ihr Blick ist auf einen schönen Burschen geheftet, der jetzt stolz in dem Getümmel hin und her geht. Das ist ja der Reiter, der ihr heute morgen begegnete, und den sie so schnippisch abgefertigt. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, wie er, die linke Hand auf dem Rücken, mit der rechten die silberbeschlagene Pfeife hält, sein silbernes Uhrbehänge tanzt hin und her, und wie schön ist die schwarzsamtne Jacke und die schwarzsamtnen weiten Beinkleider und die rote Weste. Aber schöner ist noch sein runder Kopf, mit gerolltem braunen Haar, die Stirne ist schneeweiß, von den Augen an aber das Antlitz tief gebräunt, und ein leichter voller Bart bedeckt Kinn und Wange.

»Das ist ein Staatsmensch,« sagte eine der alten Frauen. – »Und was hat der für himmelblaue Augen!« ergänzte eine andere, »die sind so schelmisch und so gutherzig zugleich.«

»Woher der nur sein mag? Aus der hiesigen Gegend ist er nicht,« sprach eine dritte, und eine vierte fügte hinzu:

»Das ist gewiß wieder ein Freier für die Amrei.«

Barfüßele zuckte zusammen. Was soll das sein? Was soll das heißen? Sie wird bald belehrt, was damit gemeint ist, denn die erste sagte wieder:

»Da dauert er mich, die Schmalzgräfin führt alle Mannsleut' am Narrenseil herum.«

Ja, auch die Schmalzgräfin heißt Amrei.

Der Bursche war mehrmals durch den Saal gegangen und ließ die Augen um und um schweifen, da plötzlich bleibt er stehen, nicht weit von Barfüßele, er winkt ihr, es überläuft läuft sie siedend heiß, aber sie ist wie festgebannt, sie regt sich nicht. Und nein, er hat gewiß jemand hinter ihr gewinkt, dich meint er gewiß nicht. Er drängt vor, Amrei macht Platz. Er sucht gewiß eine andere.

»Nein, dich will ich,« sagte der Bursche, ihre Hand fassend. »Willst du?«

Amrei kann nicht reden, aber was braucht's dessen auch? Sie wirft schnell alles, was sie in der Hand hat, in einen Winkel: Jacken, Halstücher, Hauben, Tabakspfeifen und Hausschlüssel. Sie steht flügge da, und der Bursche wirft einen Taler zu den Musikanten hinauf, und kaum sieht der Krappenzacher Amrei an der Hand des fremden Tänzers, als er in die Trompete stößt, daß die Wände zittern, und fröhlicher kann es den Seligen nicht erklingen beim jüngsten Gericht als jetzt Amrei; sie drehte sich sie wußte nicht wie, sie war wie getragen von der Berührung des Fremden und schwebte von selbst, und es war ja gar niemand sonst da. Freilich, die beiden tanzten so schön, daß alle unwillkürlich anhielten und ihnen zuschauten.

»Wir sind allein,« sagte Amrei während des Tanzes, und gleich darauf spürte sie den heißen Atem des Tänzers, der ihr erwiderte:

»O, wären wir allein, allein auf der Welt! Warum kann man nicht so forttanzen bis in den Tod hinein?«

»Es ist mir jetzt grad,« sagte Amrei, »wie wenn wir zwei Tauben wären, die in der Luft fliegen. Juhu! fort, in den Himmel hinein!« und »Juhu!« jauchzte der Bursche laut, daß es aufschoß, wie eine feurige Rakete, die zum Himmel aufspringt, und Juhu! jauchzte Amrei mit, und immer seliger schwangen sie sich, und Amrei fragte: »Sag', ist denn auch noch Musik? Spielen denn die Musikanten noch? Ich höre sie gar nicht mehr?«

»Freilich spielen sie noch, hörst du denn nichts?«

»Ja, jetzt, ja,« sagte Amrei, und sie hielten inne; ihr Tänzer mochte fühlen, daß es ihr vor Glückseligkeit fast schwindelig zumute werden wollte.

Der Fremde führte Amrei an den Tisch und gab ihr zu trinken, er ließ dabei ihre Hand nicht los. Er faßte den Schwedendukaten an ihrem Halsgeschmeide und sagte: »Der hat einen guten Platz.«

»Er ist auch von guter Hand,« erwiderte Barfüßele, »ich hab' den Anhänger geschenkt gekriegt als kleines Kind.«

»Von einem Verwandten?«

»Nein, die Bäuerin ist nicht mit mir verwandt.«

»Das Tanzen tut dir wohl, wie es scheint?«

»O wie wohl! Denk' nur, man muß das ganze Jahr so viel springen, und es spielt einem niemand auf dazu. Jetzt tut das doppelt wohl.«

»Du siehst kugelig rund aus.« sagte der Fremde scherzend, »du mußt gut im Futter stehen.«

Rasch erwiderte Amrei: »Das Futter macht's nicht aus, aber wie's einem schmeckt.«

Der Fremde nickte, und nach einer Weile sagte er wieder halb fragend: »Du bist des Bauern Tochter von ...?«

»Nein, ich dien',« sagte Amrei und schaute ihn fest ins Auge, er aber wollte das seine niederschlagen, die Wimper zuckte, und er hielt das Auge gewaltsam auf, und dieser Kampf und Sieg des leiblichen Auges schien das Abbild dessen was in ihm vorging; er wollte fast das Mädchen stehen lassen, doch wie im Selbsttrotze sich zwingend, sagte er:

»Komm, wir wollen noch einen tanzen.«

Er hielt ihre Hand fest, und nun begann von neuem Jubel und Lust, aber diesmal ruhiger und stetiger. Die beiden fühlten, daß die Gehobenheit in den Himmel nun wohl zu Ende sei, und wie aus diesen Gedanken heraus sagte Amrei:

»Wir sind doch glückselig miteinander gewesen, wenn wir uns auch unser Lebtag nimmer wiedersehen und keines weiß, wie das andere heißt.«

Der Bursche nickte und sagte: »Jawohl.«

Amrei nahm in Verlegenheit ihren linken Zopf in den Mund und sagte wieder nach einer Weile:

»Was man einmal gehabt hat, das kann man einem nicht mehr nehmen, und sei du auch, wer du bist, laß dich's nicht gereuen, du hast einem armen Mädchen für sein Leben lang ein Gutes geschenkt.«

»Es reut mich nicht,« sagte der Bursche, »aber dich hat's gereut, wie du mich heute morgen so abgetrumpft hast.«

»O ja, da hast du Gottes Recht!« sagte Amrei. und der Bursche fragte:

»Getraust du dir, mit mir ins Feld zu gehen?«

»Ja.«

»Und traust du mir?«

»Ja.«

»Was werden aber die Deinigen dazu sagen?«

»Ich hab' mich vor niemand zu verantworten als vor mir selber, ich bin ein Waisenkind.«

Hand in Hand verließen die beiden den Tanzsaal. Barfüßele hörte verschiedentlich hinter sich flüstern und wispern, und sie hielt die Augen auf den Boden geheftet. Sie hatte sich doch wohl zu viel zugetraut.

Draußen zwischen den Kornfeldern, wo eben kaum die ersten Aehren aufschossen und noch halb verhüllt in den Deckblättern lagen, da schauten die beiden einander stumm an. Sie redeten lange kein Wort, und der Bursche fragte zuerst wiederum halb für sich:

»Ich möcht' nur wissen, woher es kommt, daß man einem Menschen beim ersten Anblick gleich, ich weiß nicht wie, gleich so ... gleich so ... vertraulich sein kann. Woher weiß man denn, was in dem Gesicht geschrieben steht?«

»Da haben wir eine arme Seele erlöst,« rief Amrei, »denn du weißt ja, wenn zwei in derselben Minute das gleiche denken, erlösen sie eine arme Seele, und just auf das Wort hin hab' ich dasselbe, was du sagst, bei mir gedacht.«

»So? und weißt du nun warum?«

»Ja.«

»Willst du mir's sagen?«

»Warum nicht? Schau, ich bin Ganshirtin gewesen ...«

Bei diesen Worten zuckte der Bursche wieder zusammen, aber er tat, als ob ihm was ins Auge geflogen wäre, und rieb sich die Augen, und Barfüßele fuhr unverzagt fort:

»Schau, wenn man so allein draußen sitzt und liegt im Feld, da sinnt man über Hunderterlei, und da kommen einem wunderliche Gedanken, und da hab' ich ganz deutlich gesehen: – gib nur acht darauf, und du wirst es auch finden – jeder Fruchtbaum sieht, wenn man ihn so überhaupt und im ganzen betrachtet, just aus wie die Frucht, die er trägt. Schau den Apfelbaum, sieht er nicht aus, so ins Breite gelegt, so mit Schrundenschnitten, wie ein Apfel selber? Und so der Birnenbaum, und so der Kirschenbaum. Sieh sie nur einmal darauf an; schau, was der Kirschenbaum einen langen Stiel hat, wie die Kirsche selber. Und so mein' ich auch ...«

»Ja, was meinst du?«

»Lach' mich nicht aus. Wie die Fruchtbäume aussehen wie die Früchte, die sie tragen, so wäre es auch bei den Menschen, und man sieht es ihnen gleich an. Aber freilich, die Bäume haben ihr ehrlich Gesicht, und die Menschen können sich verstellen. Aber gelt, ich schwätz' dummes Zeug?«

»Nein, du hast nicht umsonst die Gänse gehütet,« sagte der Bursche in seltsam gemischter Empfindung, »mit dir läßt sich gut reden. Ich möchte dir gern einen Kuß geben, wenn ich mich nicht einer Sünde fürchten tat'.«

Barfüßele zitterte am ganzen Leibe; sie bückte sich, um eine Blume zu brechen, ließ aber wieder ab. Es entstand eine lange Pause, und der Bursche fuhr fort:

»Wir sehen uns wohl niemals wieder, drum ist's besser so.«

Hand in Hand gingen die beiden wiederum zurück in den Tanzsaal. Und nun tanzten sie noch einmal, ohne ein Wort zu reden, und als der Tanz zu Ende war, führte sie der Bursche wiederum an den Tisch und sprach: »Jetzt sag' ich dir Lebewohl! Aber verschnaufe nur, und dann trink' noch einmal.«

Er reichte ihr das Glas, und als sie es absetzte, sagte er:

»Du mußt austrinken, mir zu lieb, ganz bis auf den Grund.«

Amrei trank fort und fort, und als sie endlich das leere Glas in der Hand hatte und sich umschaute, war der fremde Bursche verschwunden. Sie ging hinab vor das Haus, und da sah sie ihn noch, nicht weit entfernt, auf seinem Schimmel davonreiten; aber er wendete sich nicht mehr um.

Die Nebel zogen wie Schleierwolken auf dem Wiesental dahin, die Sonne war schon hinab, Barfüßele sagte fast laut vor sich hin:

»Ich wollt', es sollte gar nicht wieder morgen werden, immer heut', immer heut'!« und sie stand in Träumen verloren.

Die Nacht kam rasch herbei. Der Mond, wie eine dünne Sichel, stand schon auf den dunkeln Bergen und nicht weit von ihm, Haldenbrunn zu, der Abendstern. – Ein Bernerwägelchen nach dem andern fuhr wiederum davon. Barfüßele hielt sich zum Gefährte ihres Meisters, das eben auch angespannt wurde. Da kam Rosel und sagte ihrem Bruder, daß sie den Burschen und Mädchen aus dem Dorfe versprochen habe, heute gemeinsam mit ihnen heimzugehen, und es verstand sich nun von selbst, daß der Bauer nicht allein mit der Magd fuhr. Das Bernerwägelchen rasselte heim.

Die Rosel mußte Barfüßele gesehen haben, aber sie tat, als ob sie nicht da wäre, und Barfüßele ging noch einmal hinaus, den Weg, den der fremde Reiter dahingeritten war. Wohin ist er nur geritten? Wieviel hundert Dörfer und Weiler liegen hier nach diesem Wege hinaus, wer kann das sagen, wo er sich hingewendet? Barfüßele fand die Stelle, wo er sie heute früh zum erstenmal begrüßte; sie wiederholte laut Anrede und Antwort vor sich hin. Sie saß noch einmal dort hinter der Haselhecke, wo sie heute morgen geschlafen und geträumt. Eine Goldammer saß auf einer schlanken Spitze, und ihre sechs Töne lauteten gerade: was tust denn du noch da? Was tust denn du noch da?

Barfüßele hatte heute eine ganze Lebensgeschichte erlebt. War denn das nur ein einziger Tag? Sie kehrte wiederum zurück zum Tanze, aber sie ging nicht mehr hinauf, sie ging allein heimwärts nach Haldenbrunn, wohl den halben Weg. Aber plötzlich kehrte sie wieder um, sie schien nicht fortzukönnen von dem Ort, wo sie so glückselig gewesen war, und sie sagte sich nur, es schicke sich nicht, daß sie allein heimkehre. Sie wollte gemeinsam mit den Burschen und Mädchen ihres Dorfes gehen. Als sie wieder vor dem Wirtshause in Endringen ankam, waren bereits mehrere aus ihrem Orte versammelt. Und: So? Bist auch da, Barfüßele? das war der einzige Gruß, der ihr ward. Nun gab es ein Hin- und Herlaufen, denn manche, die gedrängt hatten, daß man heimkehre, tanzten noch oben, und jetzt kamen noch fremde Bursche und baten und bettelten und drängten, daß man nur noch diesen Tanz dableibe. Und in der Tat willfahrte man, und Barfüßele ging mit hinauf, aber sie sah nur zu. Endlich hieß es: wer jetzt noch tanzt, den lassen wir da! Und mit vieler Mühe, mit Hin- und Herrennen war endlich die ganze Haldenbrunner Truppe beisammen vor dem Hause. Ein Teil der Musik gab ihnen das Geleite bis vor das Dorf, und mancher verschlafene Hausvater sah noch heraus, und da und dort kam eine hier verheiratete Gespiele, die nicht mehr zum Tanze ging, an das Fenster und rief: Glück auf den Weg!

Die Nacht war dunkel. Man hatte lange Kieferspäne als Fackeln mitgenommen, und die Burschen, die sie trugen, tanzten damit auf und nieder und jauchzten. Kaum aber war die Musik zurückgekehrt, kaum war man eine Stecke vor Endringen hinausgekommen, als es hieß: »die Fackeln blenden nur!« und besonders zwei beurlaubte Soldaten, die in ganzer Uniform unter dem Trupp waren, spotteten im Bewußtsein ihrer angehängten Säbel über die Fackeln. Man verlöschte sie in einem Graben. Nun fehlte noch dieser und jener und diese und jene. Man rief ihnen zu, und sie antworteten aus der Ferne.

Die Rosel wurde von des Kappelbauern Sohn von Lauterbach begleitet, aber kaum war er fort und war sie bei ihren Ortsangehörigen, als sie laut sagte: »Ich will nichts von dem.« Einige Bursche stimmten ein Lied an, und einzelne sangen mit, aber es war kein rechter Zusammenhalt mehr, denn die Soldaten wollten neue Lieder zum Besten geben. Es wurde nur manchmal laut gelacht, denn einer der Soldaten war ein Enkel des lustigen Brosi, der Sohn der Gipsmüllerin Monika, und der brachte allerlei Witze vor, denen besonders der Schneiderjörg, der mit ging, zum Stichblatt dienen mußte. Und wieder wurde gesungen, und jetzt schien man sich geeinigt zu haben, denn es tönte voll und hell.

Barfüßele ging immer hinterdrein, eine gute Strecke von ihren Ortsangehörigen entfernt. Man ließ sie gewähren, und das war das beste, was man ihr antun konnte. Sie war bei ihren Ortsangehörigen und doch allein, und sie schaute sich oft um nach den Feldern und Wäldern: wie war das wunderlich jetzt in der Nacht, so fremd, und doch wieder so vertraut. Die ganze Welt war ihr so wunderlich, wie sie sich selbst geworden war. Und wie sie ging, einen Schritt nach dem andern, wie fortgeschoben und gezogen, und nicht wußte, daß sie sich bewegte, so bewegten sich die Gedanken in ihr von selbst, hin und her; das schwirrte von selbst so fort, sie konnte es nicht fassen, nicht leiten; sie wußte nicht, was es war. Ihre Wangen erglühten, als ob jeder Stern am Himmelszelt eine heißstrahlende Sonne wäre, und in ihr entflammte das Herz. Und jetzt, ja, als hätte sie's selbst angegeben, als hätte sie's selbst angestimmt, sangen ihre vorausgehenden Ortsgenossen das Lied, das ihr am Morgen auf die Lippen gekommen war:

Es waren zwei Liebchen im Allgäu,
Und die hatten einander so lieb.

Und der junge Knabe zog in Kriege:
»Und wann kommst du wiederum heim?«

»Das kann ich dir ja nicht sagen,
Welches Jahr, welchen Tag, welche Stund ...«

Und jetzt wurde das Nachtlied gesungen, und Amrei sang mit aus der Ferne:

Zur schönen guten Nacht, Schatz, lebe wohl!
Wenn alle Leute schlafen,
So muß ich wachen,
Muß traurig sein.

Zur schönen guten Nacht, Schatz, lebe wohl!
Leb immer in Freuden,
Und ich muß dich meiden,
Bis ich wiederum komm.

Wenn ich wiederum komm, komm ich recht zu dir,
Und dann tu ich dich küssen.
Und das schmeckt so süße,
Schatz, du bist mein.

Schatz, du bist mein und ich bin dein!
Und das tut mich erfreuen
Und du wirst's nicht bereuen,
Schatz, lebe wohl!

Man kam endlich am Dorfe an, und eine Gruppe nach der andern fiel ab. Barfüßele blieb an ihrem Elternhaus bei dem Vogelbeerbaum noch lange sinnend und träumend stehen. Sie wollte hinein und der Marann' alles sagen, gab es jedoch auf. Warum heute noch die Nachtruhe stören und wozu soll's? Sie ging still heimwärts, alles lag in festem Schlaf.

Als sie endlich in das Haus eintrat, kam ihr alles noch viel seltsamer vor als draußen: so fremd, so gar nicht dazu gehörig. »Warum kommst du denn wieder heim? Was willst du denn eigentlich da?« Es war ein wundersames Fragen, das in jedem Tone für sie lag, wie der Hund bellte und wie die Treppe knackte, wie die Kühe im Stalle brummten, das alles war ein Fragen: »Wer kommt denn da heim? Wer ist denn das?« Und als sie endlich in ihrer Kammer war, da saß sie still nieder und starrte ins Licht, und plötzlich stand sie auf, faßte die Ampel und leuchtete damit in den Spiegel und sah darin ihr Antlitz, und sie selber fragte fast immer: »Wer ist denn das? ... Und so hat er mich gesehen, so siehst du aus,« setzte ein zweiter Gedanke hinzu. »Es muß ihm doch was an dir gefallen haben, warum hätte er dich sonst so angesehen?«

Ein stilles Gefühl der Befriedigung stieg in ihr auf, das noch gesteigert wurde durch den Gedanken: »Du bist doch jetzt auch einmal als eine Person angesehen worden, du bist bis daher immer nur zum Dienen und Helfen für andere dagewesen. Gut' Nacht, Amrei, das war einmal ein Tag!« Aber es mußte doch endlich dieser Tag ein Ende haben.

Mitternacht war vorüber, und Barfüßele legte ein Stück nach dem andern von ihrer Kleidung gar sorglich wieder zusammen. »Ei, das ist ja noch die Musik, horch, wie der wiegende Walzer tönt!« Sie öffnete das Fenster. Es tönt keine Musik, sie liegt ihr nur in den Ohren. Drunten bei der schwarzen Marann' kräht schon der Hahn, die Frösche quaken, es nahen Schritte von Männern, die des Weges kommen: das sind wohl späte Heimgänger von der Hochzeit, die Schritte tönen so laut in der Nacht. Die jungen Gänse im Hause schnattern in der Steige. Ja, die Gänse schlafen nur stundenweise, so bei Tag, so bei der Nacht. Die Bäume stehen still, unbewegt. Wie ist doch so ein Baum ganz anders in der Nacht als am Tage! Solch eine geschlossene dunkle Masse, wie ein Riese in seinem Mantel. Wie muß das sich regen in dem unbewegt stehenden Baume. Was ist das für eine Welt, in der solches ist! – Kein Windhauch regt sich, und doch ist es wieder wie ein Tropfen von den Bäumen, das sind wohl Raupen und Käfer, die niederfallen. Eine Wachtel schlägt, das kann keine andere sein, als die beim Auerhahnwirt eingesperrte. Sie weiß nicht, daß es Nacht ist. Und schau, der Abendstern, der beim Sonnenuntergang entfernt und tief unter dem Monde stand, steht jetzt nahe und über ihm, und je mehr man ihn ansieht, je mehr glänzt er. Spürt er wohl den Blick eines Menschen? Jetzt still, horch, wie die Nachtigall schlägt, das ist ein Gesang, so tief, so weit; ist es denn nur ein einziger Vogel? Und jetzt – Amrei schaudert zusammen – mit dem Glockenschlag ein Uhr rutscht ein Ziegel von dem Dache und fällt klatschend auf den Boden. Amrei zittert, wie von Gespensterfurcht gepackt, sie zwingt sich, noch eine Weile der Nachtigall zuzuhorchen, dann aber schließt sie das Fenster. Ein Nachtfalter, der wie eine große fliegende Raupe mit vielen Flügeln aussieht, hat sich mit in das Dachstübchen gewagt und fliegt um das Licht, angezogen und abgestoßen, so grau und grauenhaft. Amrei faßt ihn endlich und wirft ihn hinaus in die Nacht.

Indem sie nun Haube, Goller und Jacke in eine Truhe legte, ergriff sie unwillkürlich ihr altes Schreibebuch von der Schule her, das sie noch aufbewahrt hatte, und sie las darin, sie wußte selbst nicht warum, allerlei Sittensprüche. Wie steif und sorglich waren die dahin gezeichnet. Ja, es mochte sie aus diesen Blättern etwas anmuten, daß sie doch einmal eine Vergangenheit gehabt, denn es schien, daß das alles verschwunden war.

»Jetzt hurtig ins Bett!« rief sie sich zu; aber mit der ganzen Bedachtsamkeit ihres Wesens knüpfte sie die Bänder alle leise und ruhig auf, und verknotete sich einmal eine Schlinge, sie ließ nicht ab, bis sie mit Fingern, Zähnen und Nadeln auseinandergebracht war. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen Knoten entzweigeschnitten, und noch jetzt in ihrer hohen Erregung verließ sie nicht ihr bedachtsamer Ordnungssinn, und es gelang ihr, das anscheinend Unentwirrbarste zu lösen.

Endlich löschte sie ruhig und behutsam die Ampel und lag im Bett; aber sie fand keine Ruhe, rasch sprang sie wieder heraus und legte sich unter das offene Fenster, hineinstarrend in die dunkle Nacht und in das Sternengeflimmer, und in keuscher Schamhaftigkeit vor sich selber bedeckte sie Busen und Hals mit beiden Händen.

Das war ein Schauen und Sinnen, so schrankenlos, so wortlos, so nichtswollend, und doch alles fassend, eine Minute Gestorbensein und Leben im All, in der Ewigkeit.

In der Seele dieser armen Magd in der Dachkammer hatte sich aufgetan alles unendliche Leben, alle Hoheit und alle Seligkeit, die der Mensch in sich schließt, und diese Hoheit fragt nicht, wer ist es, aus dem ich erstehe, und die ewigen Sterne erglänzen über der niedersten Hütte ....

Ein Windzug, der das Fenster klappend zuschlug, weckte Amrei auf; sie wußte nicht, wie sie ins Bett gekommen war, und jetzt war Tag.


 << zurück weiter >>