Berthold Auerbach
Barfüßele
Berthold Auerbach

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1. Kapitel.

Die Kinder klopfen an.

Eines Morgens früh im Herbstnebel wandern zwei Kinder von sechs bis sieben Jahren, ein Knabe und ein Mädchen, Hand in Hand durch die Gartenwege zum Dorf hinaus. Das Mädchen, merklich älter, hält Schiefertafel, Bücher und Schreibhefte unter dem Arm; der Knabe hat das gleiche in einem offenen grauleinenen Beutel, der ihm über der Schulter hängt. Das Mädchen hat eine Haube von weißem Drill, die fast bis an die Stirne reicht und die weit vorstehende Wölbung der Stirn um so schärfer hervortreten läßt; der Knabe ist barhaupt. Man hört nur einen Schritt, denn der Knabe hat feste Schuhe an, das Mädchen aber ist barfuß. So oft es der Weg gestattet, gehen die Kinder nebeneinander, sind aber die Hecken zu eng, geht das Mädchen immer voraus.

Auf dem falben Laub und an den Sträuchern liegt ein weißer Duft und die Mehlbeeren und Pfaffenhütchen, besonders aber die aufrechtstehenden Hagebutten auf nacktem Stengel sind wie versilbert. Die Sperlinge in den Hecken zwitschern und fliegen in unruhigen Haufen auf beim Herannahen der Kinder und setzen sich wieder nicht weit von ihnen, bis sie von neuem aufschwirren und endlich sich hinein in den Garten werfen, wo sie sich auf einem Apfelbaum niederlassen, daß die Blätter raschelnd niederfallen.

Eine Elster fliegt rasch auf vom Wege, feldein auf den großen Holzbirnenbaum, wo die Raben still hocken; sie muß ihnen etwas mitgeteilt haben, denn die Raben fliegen auf, kreisen um den Baum, und ein Alter läßt sich auf der höchsten schwankenden Kronenspitze nieder und die anderen finden auf den niederen Aesten auch gute Plätze zum Ausschauen; es verlangt sie wohl auch zu wissen, warum die Kinder mit dem Schulzeuge den verkehrten Weg einschlagen und zum Dorfe hinauswandern; ja ein Rabe fliegt wie ein Kundschafter voraus und setzt sich auf eine geköpfte Weide am Weiher. Die Kinder aber gehen still ihres Weges, bis da wo sie am Weiher bei den Erlen die Fahrstraße erreichen, sie gehen über die Straße nach einem jenseits stehenden niedrigen Hause. Das Haus ist verschlossen, und die Kinder stehen an der Haustüre und klopfen leise an. Das Mädchen ruft beherzt: »Vater! Mutter!« und der Knabe ruft zaghaft nach: »Vater! Mutter!« Das Mädchen faßt die bereifte Türklinke und drückt erst leise; die Bretter an der Türe knittern, es horcht auf, aber es folgt nichts nach, und jetzt wagt es in raschen Schlägen die Klinke auf und nieder zu drücken, aber die Töne verhallen in dem öden Hausflur; es antwortet keine Menschenstimme, und, den Mund an den Türspalt gelegt, ruft der Knabe: »Vater! Mutter!« Er schaut fragend auf zur Schwester, sein Hauch an der Türe ist auch zu Reif geworden.

Aus dem nebelbedeckten Dorfe tönt der Taktschlag der Drescher, bald wie rascher sich überstürzender Wirbel, bald langsam und müde sich nachschleppend, bald hell knatternd und wieder dumpf und hohl; jetzt tönen nur noch einzelne Schläge, aber rasch fällt alles wiederum ein von da und dort. Die Kinder stehen wie verloren. Endlich lassen sie ab von Klopfen und Rufen und setzen sich auf ausgegrabene Baumstümpfe. Diese liegen auf einem Haufen rings um den Stamm des Vogelbeerbaums, der an der Seite des Hauses steht und jetzt mit seinen roten Beeren prangt. Die Kinder heften den Blick noch immer auf die Türe, aber diese bleibt verschlossen.

»Die hat der Vater im Moosbrunnenwald geholt,« sagt das Mädchen, auf die Baumstümpfe zeigend, und mit altkluger Miene setzt es hinzu: »die geben gut warm, die sind was wert, da ist viel Kien drin, das brennt wie eine Kerze; aber der Spalterlohn ist das größte dabei.«

»Wenn ich nur schon groß wär',« erwiderte der Knabe, »da nähm' ich des Vaters große Axt und den buchenen Schlägel und die zwei eisernen Speidel und den eschenen und da muß alles auseinander wie Glas, und dann mach' ich draus einen schönen spitzigen Haufen wie der Kohlenbrenner Mathes im Wald, und wenn der Vater heimkommt, der wird sich aber freuen! Darfst ihm aber nicht sagen, wer's gemacht hat.« So schloß der Knabe, indem er den Finger drohend gegen die Schwester aufhob. Diese schien doch schon eine dämmernde Ahnung davon zu haben, daß das Warten auf Vater und Mutter nicht geheuer sein könne, denn sie sah den Bruder von unten auf gar traurig an, und da ihr Blick an den Schuhen haftete, sagte sie: »Dann mußt du auch des Vaters Stiefel haben. Aber komm', wir wollen Bräutle lösen. Wirst sehen, ich kann weiter werfen als du.«

Im Fortgehen sagte das Mädchen: »Ich will dir ein Rätsel aufgeben: Welches Holz macht heiß, ohne daß man's verbrennt?«

»Des Schullehrers Lineal, wenn man Tatzen kriegt,« erwiderte der Knabe.

»Nein, das mein' ich nicht; das Holz, das man spaltet, das macht heiß, ohne daß man's verbrennt.« Und bei der Hecke stehen bleibend, fragte sie: »Es sitzt auf einem Stöckchen, hat ein rotes Röckchen, und das Bäuchlein voll Stein', was mag das sein?«

Der Knabe besann sich ganz ernsthaft und rief: »Halt, du darfst mir's nicht sagen, was es ist ... Das ist ja eine Hagebutte.«

Das Mädchen nickte beifällig und machte ein Gesicht, als ob sie ihm das Rätsel zum erstenmal aufgegeben hätte, während sie es doch schon oft getan hatte und immer wieder aufnahm, um ihn dadurch zu erheitern.

Die Sonne hatte die Nebel zerteilt und das kleine Tal stand in hellglitzernder Pracht als die Kinder nach dem Teiche gingen, um flache Steine auf dem Wasser tanzen zu lassen. Im Vorübergehen drückte das Mädchen nochmals an der Hausklinke, aber sie öffnete sich noch immer nicht und auch am Fenster zeigte sich nichts. Jetzt spielten die Kinder voll Lust und Lachen am Teiche und das Mädchen schien eigentlich zufrieden, daß der Bruder immer geschickter war und darüber triumphierte und ganz hitzig wurde; ja, das Mädchen machte sich offenbar ungeschickter als es wirklich war, denn seine Steine plumpsten fast immer beim ersten Anwürfe in die Tiefe, worüber es weidlich ausgelacht wurde. Im Eifer des Spiels vergaßen die Kinder ganz, wo sie waren und warum sie eigentlich dahergekommen, und doch war beides so traurig als seltsam.

In dem jetzt verschlossenen Hause wohnte noch vor kurzem der Josenhans mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Amrei (Anna Marie) und Dami (Damian). Der Vater war Holzhauer im Walde, dabei aber auch anstellig zu allerlei Gewerke, denn das Haus, das er in verwahrlostem Zustand gekauft, hatte er noch selber verputzt und das Dach umgedeckt, im Herbste wollte er's noch von innen frisch ausweißen; der Kalk dazu liegt schon dort in der mit rötlichem Reisig überdeckten Grube. Die Frau war eine der besten Taglöhnerinnen im Dorfe, Tag und Nacht in Leid und Freud' zu allem bei der Hand, denn sie hatte ihre Kinder und besonders die Amrei gut gewöhnt, daß sie schon frühe für sich selber sorgen konnten. Erwerb und haushälterische Genügsamkeit machten das Haus zu einem der glücklichsten im Dorfe. Da warf eine schleichende Krankheit die Mutter nieder, am andern Abend auch den Vater und nach wenigen Tagen trug man zwei Särge aus dem kleinen Hause. Man hatte die Kinder alsbald in das Nachbarhaus zum Kohlenmathes gebracht und sie erfuhren den Tod der Eltern erst, als man sie sonntäglich ankleidete, um hinter den Leichen drein zu gehen.

Der Josenhans und seine Frau hatten keine nahen Verwandten im Ort, und doch hörte man laut weinen und die Verstorbenen rühmen und der Schultheiß führte die beiden Kinder hüben und drüben an der Hand, als sie hinter den Särgen dreingingen. Noch am Grabe waren die Kinder still und harmlos, ja, sie waren fast heiter, wenn sie auch oft nach Vater und Mutter fragten, denn sie aßen beim Schultheiß am Tische und jedermann war überaus freundlich gegen sie, und als sie vom Tische aufstanden, bekamen sie noch Küchle in ein Papier gewickelt zum Mitnehmen. Als am Abend indes, nach Anordnung des Gemeinderats, der Krappenzacher den Dami mitnahm und die schwarze Marann' die Amrei abholte, da wollten sich die Kinder nicht trennen und weinten laut und wollten heim. Der Dami ließ sich bald durch allerlei Vorspiegelungen beschwichtigen, Amrei aber mußte mit Gewalt gezwungen werden, ja, sie ging nicht vom Fleck, und der Großknecht des Schultheißen trug sie endlich auf dem Arm in das Haus der schwarzen Marann'. Dort fand sie zwar ihr Bett aus dem Elternhause, aber sie wollte sich nicht hineinlegen, bis sie, vom Weinen müde, auf dem Boden einschlief und man sie mitsamt den Kleidern ins Bett steckte. Auch den Dami hörte man beim Krappenzacher laut weinen, worauf er dann jämmerlich schrie und bald darauf ward er stille. Die vielverschriene schwarze Marann' bewies aber schon an diesem ersten Abende, wie still bedacht sie für ihren Pflegling war. Sie hatte schon viele, viele Jahre kein Kind mehr in ihrer Umgebung gehabt und jetzt stand sie vor dem schlafenden und sagte fast laut: »Glücklicher Kinderschlaf! Das weint noch und gleich darauf im Umsehen ist es eingeschlafen, ohne Dämmern, ohne Hin- und Herwerfen.«

Sie seufzte schwer.

Am andern Morgen ging Amrei bald zu ihrem Bruder und half ihn ankleiden und tröstete ihn über das, was ihm geschehen war; wenn der Vater käme, werde er den Krappenzacher schon bezahlen. Dann gingen die beiden Kinder hinaus an das elterliche Haus, klopften an die Türe und weinten laut, bis der Kohlenmathes, der in der Nähe wohnte, herzukam und sie in die Schule brachte. Er bat den Lehrer, den Kindern zu erklären, daß ihre Eltern tot seien, er selber wisse ihnen das nicht deutlich zu machen und besonders die Amrei scheine es gar nicht begreifen zu wollen. Der Lehrer tat sein Möglichstes und die Kinder waren ruhig. Aber von der Schule gingen sie doch wieder nach dem Elternhause und warteten dort hungernd wie verirrt, bis man sie abholte.

Das Haus des Josenhans mußte der Hypothekengläubiger wieder an sich ziehen, die Anzahlung, die der Verstorbene darauf gemacht, ging verloren, denn durch die Auswanderungen ist namentlich der Häuserwert beispiellos gesunken; es stehen viele Häuser im Dorfe leer, und so blieb auch das Haus des Josenhans unbewohnt. Alle fahrende Habe war verkauft und daraus ein kleines Besitztum für die Kinder gelöst worden; das reichte aber bei weitem nicht aus, das Kostgeld für sie zu erschwingen, sie waren Kinder der Gemeinde und darum brachte man sie unter bei solchen, die sie am billigsten nahmen.

Amrei verkündete eines Tages mit Jubel ihrem Bruder, sie wisse jetzt, wo die Kuckucksuhr der Eltern sei, der Kohlenmathes habe sie gekauft; und noch am Abend standen die Kinder draußen am Hause und warteten, bis der Kuckuck rief, dann lachten sie einander an.

Und jeden Morgen gingen die Kinder nach dem elterlichen Hause, klopften an und spielten dort am Weiher, wie wir sie heute sehen, aber jetzt horchen sie auf, das ist ein Ruf, den man in dieser Jahreszeit sonst nicht hört, denn der Kuckuck beim Kohlenmathes ruft achtmal.

»Wir müssen in die Schule,« sagte Amrei und wanderte rasch mit ihrem Bruder wiederum den Gartenweg hinein in das Dorf. An der hintern Scheuer des Rodelbauern sagte Dami: »Bei unserm Pfleger haben sie heute schon viel gedroschen.« Er deutete dabei auf die Wieden der abgedroschenen Garben, die wie Merkzeichen über dem Halbtore der Scheune hingen. Amrei nickte still.


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