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Am Allerseelentag, er war trübe und neblig, waren die Kinder mitten unter den Versammelten auf dem Kirchhofe. Der Krappenzacher hatte Dami an der Hand dahin geführt. Amrei aber war allein gekommen ohne die schwarze Marann', und viele schimpften über die hartherzige Frau, und einige trafen einen Teil der Wahrheit, indem sie sagten: die Marann' wolle nichts von dem Besuchen der Gräber, weil sie nicht wisse, wo das Grab ihres Mannes sei. Amrei war still und vergoß keine Träne, während Dami bei dem mitleidigen Reden der Menschen jämmerlich weinte, freilich auch, weil ihn der Krappenzacher mehrmals heimlich geknufft und gezwickt hatte. Amrei starrte eine Zeitlang träumerisch vergessen hinein in die Lichter zu Häupten der Gräber und sah staunend, wie die Flamme das Wachs auffrißt, der Docht immer mehr verkohlt, bis endlich das Licht ganz herabgebrannt ist.
Unter den Versammelten bewegte sich auch ein Mann in vornehmer städtischer Kleidung, mit einem Band im Knopfloch: es war der Oberbaurat Severin, der, auf einer Inspektionsreise begriffen, hier das Grab seiner Eltern, Brosi und Moni, besuchte. Seine Geschwister und deren Angehörige umgaben ihn stets mit einer gewissen Ehrerbietung, und die Andacht war fast ganz abgelenkt und alle Aufmerksamkeit auf diesen Vornehmen gerichtet.
Auch Amrei betrachtete ihn und fragte den Krappenzacher: »Ist das ein Hochzeiter?«
»Warum?«
»Weil er ein Bändel im Knopfloch hat.«
Statt aller Antwort hatte der Krappenzacher nichts Eiligeres zu tun, als auf eine Gruppe loszugehen und zu sagen, welch eine dumme Rede da das Kind getan habe. Und mitten unter den Gräbern erschallte lautes Gelächter über solche Albernheit. Nur die Rodelbäuerin sagte: »Ich finde dies gar nicht so hirnlos. Wenn's auch ein Ehrenzeichen ist, was der Severin hat, es bleibt doch wunderlich, da auf dem Kirchhof mit einer Auszeichnung herumzulaufen; da, wo sich zeigt, was aus uns allen wird, habe man im Leben Kleider von Seide oder von Zwillich angehabt. Es hat mich schon verdrossen, daß er damit in der Kirche war; so etwas muß man abtun, ehe man in die Kirche geht, um wie viel mehr auf dem Kirchhof.«
Die Kunde von der Frage der kleinen Amrei mußte doch auch bis zu Severin gedrungen sein, denn man sah ihn hastig seinen Oberrock zuknöpfen und dabei nickte er nach dem Kinde hin. Jetzt hörte man ihn fragen, wer das sei, und kaum hatte er die Antwort vernommen, als er auf die beiden Kinder an den frischen Gräbern zueilte und zu Amrei sagte: »Komm her, Kind, mach' deine Hand auf, hier schenke ich dir einen Dukaten; davon schaffe dir an, was du brauchst.«
Das Kind starrte drein und antwortete nicht. Und kaum hatte Severin den Rücken gewendet, als es ihm halblaut nachrief: »Ich nehm' nichts geschenkt,« und ihm dabei den Dukaten nachschleuderte. Viele, die das gesehen hatten, kamen auf Amrei zu und schimpften auf sie hinein, und eben als sie daran waren, sie zu mißhandeln, wurde sie wiederum von der Rodelbäuerin, die sie schon einmal mit Worten beschützt hatte, von den rohen Händen gerettet. Auch sie verlangte indes, daß Amrei wenigstens Severin nacheile und ihm danke; doch Amrei gab auf keinerlei Rede eine Antwort; sie blieb starr, so daß auch ihre Beschützerin von ihr abließ. Nur mit großer Mühe fand man den Dukaten wieder und ein Gemeinderat, der zugegen war, nahm ihn sogleich in Verwahrung, um ihn dem Pfleger der Kinder zu übergeben.
Dieses Ereignis brachte der kleinen Amrei einen seltsamen Ruf im Dorfe. Man sagte, sie sei doch erst wenige Tage bei der schwarzen Marann' und habe schon ganz deren Art und Weise. Man fand es unerhört, daß ein Kind aus solcher Armut einen solchen Stolz haben könne, und indem man ihr diesen Stolz auf Wegen und Stegen vorwarf, ward sie dessen erst recht inne, und in der jungen Kinderseele regte sich ein Trotz, ihn nur desto mehr zu bewahren. Die schwarze Marann' tat auch das Ihrige, um solche Stimmung zu befestigen, denn sie sagte: »Es kann einem Armen kein größeres Glück geschehen, als wenn man es für stolz hält; dadurch ist man bewahrt, daß jedes auf einem herumtrampelt und noch verlangt, daß man sich dafür bedanke.«
Im Winter war Amrei sehr viel bei dem Krappenzacher und hörte ihn besonders gern geigen. Ja, der Krappenzacher sagte ihr einmal das große Lob: »Du bist nicht dumm,« denn Amrei hatte nach einem langen Geigenspiel bemerkt: »Es ist doch wunderlich, wie so eine Geige den Atem so lange anhalten kann, das kann ich nicht.« Und wenn daheim in stillen Winternächten die schwarze Marann' funkelnde und schauererregende Zaubergeschichten erzählte, da sagte Amrei mehrmals tief aufatmend, wenn sie zu Ende waren: »O, Marann', ich muß jetzt Atem schöpfen, ich hab', so lang Ihr gesprochen habt, den Atem anhalten müssen.«
War das nicht ein Zeichen tiefer Hingebung an alle Vorkommnisse und doch wieder ein Merkmal freier Beobachtung derselben und besonders des eigenen Verhaltens dabei?
Das beste ist aber, daß auf die Kinder elementarische Kräfte einwirken, die nicht fragen: was wird daraus werden?
Niemand achtete sehr auf Amrei, und diese konnte träumen, wie es ihr in den Sinn kam, und nur der Lehrer sagte einmal in der Gemeinderatssitzung: solch ein Kind sei ihm noch nicht vorgekommen; es sei trotzig und nachgiebig, träumerisch und wachsam. In der Tat bildete sich schon früh bei allem kindischen Selbstvergessen ein Gefühl der Selbstverantwortlichkeit, eine Wehrhaftigkeit im Gegensatze zur Welt, ihrer Güte und Bosheit in der kleinen Amrei aus; während Dami bei allen kleinen Anlässen weinend zur Schwester kam und ihr klagte. Er hatte immer Mitleid mit sich selber, und wenn er in Raufhändeln von Spielgenossen niedergeworfen wurde, klagte er: »Ja, weil ich ein Waisenkind bin, schlagen sie mich. O, wenn das mein Vater, meine Mutter wüßte!« und dann weinte er doppelt über die erfahrene Unbill. Dami ließ sich von allen Menschen zu essen schenken und wurde dadurch gefräßig, während Amrei mit Wenigem vorlieb nahm und sich dadurch äußerst mäßig gewöhnte. Selbst die wildesten Buben fürchteten Amrei, ohne daß man wußte, woran sie ihre Kraft bewiesen hätte, während Dami vor ganz kleinen Jungen davonlief. In der Schule war Dami stets spielerisch, er bewegte die Füße und bog mit der Hand die Ecken der Blätter um, während er las. Amrei dagegen war stets zierlich und gewandt, aber sie weinte oft in der Schule, nicht wegen der Strafen, die sie selbst bekam, sondern so oft Dami gestraft wurde.
Am meisten konnte Amrei den Dami vergnügen, wenn sie ihm Rätsel schenkte. Noch immer saßen die beiden Kinder viel am Hause ihres reichen Pflegers, bald bei den Wagen, bald beim Backofen hinter dem Hause, an dem sie sich von außen wärmten, besonders im Herbste. Und Amrei fragte: »Was ist das beste am Backofen?«
»Du weißt ja, ich kann nichts erraten,« erwiderte Dami klagend.
»So will ich dir's sagen: das beste am Backofen ist, daß er das Brot nicht selber frißt.« Und auf den Wagen vor dem Hause deutend, fragte Amrei: »Was ist lauter Loch und hält doch?«
Ohne lange auf Antwort zu warten, setzte sie gleich hinzu: »Das ist die Kette.«
»Jetzt diese Rätsel schenkst du mir,« sagte Dami und Amrei erwiderte: »Ja, du darfst sie aufgeben. Aber siehst du dort die Schafe kommen? Jetzt weiß ich noch ein Rätsel.«
»Nein,« rief Dami, »nein, ich kann nicht drei behalten, ich hab' genug an zweien.«
»Nein, das mußt noch hören, sonst nehm' ich die andern wieder.« Und Dami sagte ängstlich in sich hinein, um es ja nicht zu vergessen: »Kette. Selberfressen,« während Amrei fragte: »Auf welcher Seite haben die Schafe die meiste Wolle? Mäh! Mäh! auf der auswendigen,« setzte sie sogleich mit scherzendem Gesange hinzu, und Dami sprang davon, um seinen Kameraden die Rätsel aufzugeben.
Er hielt beide Hände fest zu Fäusten zusammengepreßt, als hätte er darin die Rätsel und wolle sie nicht verlieren. Als er aber bei den Kameraden ankam, wußte er doch nur noch das von der Kette, und des Rodelbauern Aeltester, den er gar nicht gefragt hatte und der viel zu groß dazu war, sagte schnell die Auflösung und Dami kam wiederum weinend zu seiner Schwester zurück.
Die Rätselkunst der kleinen Amrei blieb aber nicht lange verborgen im Dorfe und selbst reiche, ernsthafte Bauern, die sonst mit niemand, am wenigsten mit einem armen Kinde, viel Worte machen, ließen sich herbei, da und dort der kleinen Amrei ein Rätsel aufzugeben. Daß sie selber viele dergleichen wußte, das konnte sie von der schwarzen Marann' haben, aber daß sie neugesetzte so oft zu beantworten verstand, das erregte allgemeine Verwunderung. Amrei hätte nicht mehr unaufgehalten über die Straße oder aufs Feld gehen können, wenn sich nicht bald ein Mittel dagegen gefunden hätte. Sie stellte als Gesetz fest, daß sie niemanden ein Rätsel löse, dem sie nicht auch eines aufgeben dürfe. Sie aber wußte solche zu drechseln, daß man wie gebannt war. Noch nie war im Dorfe einem armen Kinde so viel Beachtung zugewendet worden als der kleinen Amrei. Aber je mehr sie heranwuchs, um so weniger Aufmerksamkeit wurde ihr geschenkt; denn die Menschen betrachten nur die Blüten und die Früchte mit teilnehmendem Auge, nicht aber jenen langen Uebergang, wo das eine zum andern wird.
Noch bevor Amrei aus der Schule entlassen wurde, gab ihr das Schicksal ein Rätsel auf, das schwer zu lösen war.
Die Kinder hatten einen Ohm, der sieben Stunden von Haldenbrunn, in Fluorn, Holzhauer war; sie hatten ihn nur einmal gesehen bei dem Begräbnisse des Vaters, er ging hinter dem Schultheiß, der die Kinder an der Hand führte. Seitdem träumten die Kinder viel von dem Ohm in Fluorn. Man sagte ihnen oft, der Ohm sähe dem Vater ähnlich, und nun waren sie noch mehr begierig, ihn zu sehen, denn wenn sie auch noch manchmal glaubten, Vater und Mutter müßten plötzlich kommen ... es könnte ja gar nicht sein, daß sie nicht mehr da wären ... so gewöhnten sie sich doch nach und nach daran, die Hoffnung aufzugeben und um so mehr, je mehr Jahre vergingen, in denen sie das Grab der Eltern mit Vogelbeeren besteckten, und nachdem sie schon lange den Namen der Eltern auf ein und demselben schwarzen Kreuze lesen konnten. Auch den Ohm in Fluorn vergaßen sie fast ganz, denn sie hörten viele Jahre nichts von ihm.
Da wurden eines Tages die beiden Kinder in das Haus ihres Pflegers gerufen. Dort saß ein Mann groß und lang und mit braunem Gesichte.
»Kommet her, Kinder,« rief der Mann den Eintretenden zu. Er hatte eine rauhe, trockene Stimme. »Kennet ihr mich nicht mehr?«
Die Kinder sahen ihn mit aufgerissenen Augen an. Erwachte in ihnen eine Erinnerung an den Klang der väterlichen Stimme? Der Mann fuhr fort: »Ich bin ja eures Vaters Bruder. Komm her, Lisbeth! Und auch du, Dami!«
»Ich heiße nicht Lisbeth! Ich heiße Amrei.« Sagt das Mädchen und weinte. Es gab dem Ohm keine Hand. Ein Gefühl der Verfremdung machte es zittern, weil der Ohm es bei falschem Namen genannt. Es mochte fühlen, daß da nicht die rechte Anhänglichkeit war, wo man seinen Namen nicht mehr wußte.
»Wenn Ihr mein Ohm seid, warum wisset Ihr denn nicht mehr, wie ich heiße?« fragte Amrei.
»Du bist ein dummes Kind, gleich gehst du hin und gibst ihm die Hand,« herrschte der Rodelbauer und setzte dann zu dem Fremden halblaut hinzu: »Es ist ein unebenes Kind. Die schwarze Marann' hat ihm allerlei Wunderliches in den Kopf gesetzt und du weißt ja, es ist nicht geheuer bei ihr.«
Amrei schaute sich verwundert um und gab dem Ohm zitternd die Hand. Dami hatte das schon früher getan und fragte jetzt: »Ohm, hast du uns auch was mitgebracht?«
»Hab' nicht viel zum Mitbringen; ich bring' euch selber mit, ihr geht mit mir. Weißt du, Amrei. daß das gar nicht brav ist, daß du deinen Ohm nicht gern hast? Du hast ja sonst niemand auf der Welt. Wen hast du denn sonst noch? Komm besser her, da setz dich neben mich – noch näher. Siehst du? Dein Dami, der ist viel gescheiter. Er sieht auch mehr in unsere Familie, aber du gehörst doch auch zu uns.«
Eine Magd kam und brachte viele Mannskleider und legte sie auf den Tisch.
»Das sind deines Bruders Kleider,« sagte der Rodelbauer zu dem Fremden und dieser fuhr zu Amrei fort: »Siehst du? Das sind deines Vaters Kleider, die nehmen wir jetzt mit und ihr geht auch mit, zuerst nach Fluorn und dann über den Bach.«
Amrei berührte zitternd den Rock des Vaters und seine blaugestreifte Weste. Der Ohm aber hob die Kleider auf, wies auf die zertragenen Ellenbogen hin und sagte zum Rodelbauer: »Die sind nicht viel wert, die lasse ich mir nicht hoch anschlagen, und ich weiß nicht einmal, ob ich die drüben in Amerika tragen kann, ohne ausgespottet zu werden.«
Amrei faßte krampfhaft einen Rockzipfel. Daß man die Kleider ihres Vaters wenig wert nannte, an die sie wie an ein kostbares Kleinod gedacht hatte, das schien sie zu kränken, und daß diese Kleider in Amerika getragen und dort ausgespottet werden sollten, das alles verwirrte sie fast, und überhaupt, was sollte denn das mit Amerika?
Sie wurde darüber bald aufgeklärt, denn die Rodelbäuerin kam und mit ihr die schwarze Marann', und die Rodelbäuerin sagte: »Hör' einmal, Mann, ich meine, das geht nicht so schnell, daß man die Kinder da mit dem Mann nach Amerika schickt.«
»Es ist ja ihr einziger leiblicher Verwandter, der Bruder des Josenhans.«
»Ja freilich, aber er hat bis jetzt nicht viel davon gezeigt, daß er ein Verwandter ist, und ich meine, man kann das nicht ohne den Gemeinderat, und der kann's nicht einmal allein. Die Kinder haben hier ein Heimatsrecht, und das kann man ihnen nicht im Schlaf nehmen, denn die Kinder können ja noch nicht selber sagen, was sie wollen. Das heißt einen im Schlaf forttragen.«
»Meine Amrei ist aufgeweckt genug, die ist jetzt dreizehn, aber gescheiter als eine andere von dreißig Jahr, die weiß, was sie will,« sagte die schwarze Marann'.
»Ihr beide hättet sollen Gemeinderat werden,« sagte der Rodelbauer; »aber ich bin auch der Meinung, daß man die Kinder nicht wie Kälber am Strick nimmt und fortzieht. Gut, lasset den Mann selber mit ihnen reden, nachher läßt sich schon weiter sehen, was zu machen ist; er ist einmal ihr natürlicher Annehmer und hat das Recht, Vaterstelle an ihnen zu vertreten, wenn er will. Hör' einmal, geh du jetzt mit deinen Bruderskindern ein wenig vor's Dorf hinaus, und ihr Weiber bleibet da, es redet ihnen keines zu und keines ab.«
Der Holzhauer nahm die beiden Kinder an der Hand und verließ mit ihnen Stube und Haus.
»Wohin wollen wir gehen?« fragte er die Kinder auf der Straße.
»Wenn du unser Vater sein willst, geh mit uns heim, da drunten ist unser Haus,« sagte Dami.
»Ist es denn offen?« fragte der Ohm.
»Nein, aber der Kohlenmathes hat den Schlüssel, er hat uns aber noch nie hineingelassen. Ich springe voraus und hole den Schlüssel.« Und behend machte sich Dami los und sprang davon.
Amrei kam sich wie gefesselt vor an der Hand des Ohms, und dieser redete doch jetzt mit zutraulicher Innigkeit in sie hinein, er erzählte fast wie zu seiner Entschuldigung, daß er selber eine schwere Familie habe, so daß er sich mit Frau und fünf Kindern nur mit Not fortbringen könnte. Nun aber erhalte er von einem Manne, der große Waldungen in Amerika besitze, freie Ueberfahrt und nach fünf Jahren, wenn er den Wald umgerodet habe, ein großes Ackergut vom besten Boden als freies Eigentum. Als Dank gegen Gott, der ihm das für sich und seine Kinder bescherte, habe er sich sogleich vorgesetzt, eine Wohltat zu tun und die Kinder seines Bruders mitzunehmen; er wolle sie aber nicht zwingen und nehme sie überhaupt nur mit, wenn sie ihn von ganzem Herzen gern hätten und ihn als ihren zweiten Vater betrachteten. Amrei sah ihn nach diesen Worten groß an. Wenn sie es nur hätte machen können, daß sie diesen Mann liebte! Aber sie fürchtete sich fast vor ihm; sie wußte nichts dagegen zu tun. Und daß er so plötzlich wie aus den Wolken fiel und verlangte: Hab' mich lieb! das machte sie eher widersacherisch gegen ihn.
»Wo ist denn deine Frau?« fragte Amrei. Sie mochte wohl fühlen, daß eine Frau sie milder und allmählicher angefaßt hätte.
»Ich will dir nur ehrlich sagen,« erwiderte der Ohm, »meine Frau mengt sich nicht in diese Sache, sie hat gesagt, sie rede mir nicht zu und nicht ab. Sie ist ein bißchen herb, aber nur von Anfang, und wenn du gut gegen sie bist, und du bist ja gescheit, so kannst du sie um den Finger wickeln. Und wenn dir auch einmal etwas geschieht, was dir nicht recht ist, denk', du bist bei deines Vaters Bruder, und sag' mir's ganz allein, und ich will dir helfen, wo ich kann. Aber du wirst sehen, du fängst jetzt erst zu leben an.«
Amrei standen die Tränen in den Augen bei diesen Worten, und doch konnte sie nichts sagen, sie fühlte sich diesem Manne gegenüber fremd. Seine Stimme bewegte sie, aber wenn sie ihn ansah, wäre sie gern entflohen.
Da kam Dami mit dem Schlüssel. Amrei wollte ihm denselben abnehmen, aber er gab ihn nicht her. In der eigentümlich pedantischen Gewissenhaftigkeit der Kinder sagte er, daß er des Kohlenmathesen Frau heilig versprochen habe, den Schlüssel nur dem Ohm zu geben. Dieser empfing ihn, und Amrei war's, als ob sich ein zaubervolles Geheimnis auftue, da der Schlüssel zum erstenmal im Schlosse rasselte und sich jetzt drehte – die Klinge bog sich nieder und die Türe ging auf. Eine eigentümliche Gruftkälte hauchte aus dem schwarzen Hausflur, der zugleich als Küche gedient hatte. Auf dem Herde lag noch ein Häufchen Asche, an der Stubentüre waren noch die Anfangsbuchstaben vom Caspar Melchior Balthes und darunter die Jahrzahl vom Tode der Eltern mit Kreide angeschrieben.
Amrei las sie laut, das hatte noch der Vater angeschrieben. »Schau,« rief Dami, »der Achter ist gerade so gezogen, wie du ihn machst, und wie's der Lehrer nicht leiden will, so von rechts nach links.« Amrei winkte ihm, still zu sein. Sie fand es fürchterlich und sündhaft, daß der Dami hier so leicht sprach, hier, wo es ihr war wie in der Kirche, ja wie mitten in der Ewigkeit, ganz außerhalb der Welt und doch mitten drin. Sie öffnete selber die Stubentüre. Die Stube war finster wie ein Grab, denn die Laden waren geschlossen, und nur durch eine Ritze drang ein zitternder Sonnenstrahl herein und just auf einen Engelkopf am Kachelofen, so daß der Engel zu lachen schien. Amrei fiel erschreckt nieder, und als sie sich aufrichtete, hatte der Ohm einen Fensterladen geöffnet und warme Luft drang von außen herein. Hier innen war es so kalt. In der Stube war nichts mehr von Hausrat als eine an die Wand genagelte Bank. – Dort hatte die Mutter gesponnen und dort hatte sie die Händchen Amreis zusammengefügt und sie stricken gelehrt.
»So, Kinder, jetzt wollen wir wieder gehen,« sagte der Ohm, »da ist nicht gut sein. Kommet mit zum Bäcker. ich kauf' jedem ein Weißbrot; oder wollet ihr lieber eine Brezel?«
»Nein, noch eine Weile dableiben,« sprach Amrei und streichelte immer den Platz, worauf die Mutter gesessen hatte. Auf einen weißen Fleck an der Wand deutend, fuhr sie dann halblaut fort: »Da hat unsere Kuckucksuhr gehangen und dort der Soldatenabschied von unserm Vater, und da sind die Stränge Garn gehangen, die die Mutter gesponnen hat; sie hat noch feiner spinnen können, als die schwarze Marann', ja, die schwarze Marann' hat's selber gesagt: immer einen Schneller mehr aus dem Pfund als jedes andere und alles so gleichling – da ist kein Knötele drin gewesen, und siehst da den Ring da oben an der Decke? Das ist schön gewesen, wenn sie da den Zwirn gemacht hat. Wenn ich damals schon bei Verstand gewesen wäre, hätte ich nicht zugegeben, daß man der Mutter ihre Kunkel verkauft, es wäre mein Erbstück; aber es hat sich niemand unserer angenommen. O, Mutter lieb! o, Vater lieb! wenn ihr es wüßtet, wie wir herumgestoßen worden sind, es täte euch noch jammern in der Seligkeit.«
Amrei fing laut an zu weinen und Dami weinte mit. Selbst der Ohm trocknete sich eine Träne und drang nochmals darauf, daß man jetzt fortgehe, denn es ärgerte ihn zugleich, daß er sich und den Kindern dieses unnötige Herzeleid gemacht; Amrei aber sagte streng: »Wenn Ihr auch geht, ich gehe nicht mit.«
»Wie meinst du das? Du willst gar nicht mitgehen?«
Amrei erschrak, sie ward jetzt erst inne, was sie gesagt hatte, und fast mochte es ihr sein, als wenn das eine Eingebung gewesen wäre, aber sie erwiderte bald:
»Nein, vom andern weiß ich noch nichts. Ich meine nur so, gutwillig gehe ich jetzt nicht aus dem Haus, bis ich alles wiedergesehen habe. Komm, Dami, du bist ja mein Bruder, komm mit auf den Speicher, weißt, wo wir Versteckens gespielt haben, hinterm Kamin; und dann wollen wir zum Fenster 'nausgucken, wo wir die Morcheln getrocknet haben. Weißt nicht mehr, das schöne Guldenstück, das der Vater dafür bekommen hat?«
Es raschelte etwas und kollerte über der Decke. Alle drei erschraken. Aber der Ohm sagte schnell: »Bleib da, Dami, und du auch. Was wollet ihr da oben? Höret ihr nicht, wie die Mäus' rasseln?«
»Komm du nur mit, die werden uns nicht fressen,« drängte Amrei, aber Dami erklärte, daß er nicht mitgehe, und obgleich Amrei innerlich Furcht hatte, faßte sie doch ein Herz und ging allein zum Speicher hinauf. Sie kam aber bald wieder zurück, leichenblaß, und hatte nichts als einen Büschel altes Kümmelstroh in der Hand.
»Der Dami geht mit mir nach Amerika,« sagte der Ohm zu der Hinzutretenden, und diese erwiderte, das Stroh in der Hand zerbrechend: »Ich habe nichts dagegen. Ich weiß noch nicht, was ich tue, aber er kann auch allein gehen.«
»Nein,« rief Dami, »das tu' ich nicht. Du bist damals mit der Landfriedbäuerin nicht gegangen, wie sie dich hat mitnehmen wollen, und so gehe ich auch nicht allein, aber mit dir.«
»Nun denn, so überleg' dir's, du bist gescheit genug,« schloß der Ohm, verriegelte wiederum den Laden so daß man im Finstern stand, drängte dann die Kinder zur Stubentür und zum Hausflur hinaus, verschloß die Haustüre und ging, dem Kohlenmathes den Schlüssel wiederzubringen, und dann mit Dami allein ins Dorf hinein. Noch aus der Ferne rief er Amrei zu: »Du hast noch bis morgen früh Zeit; dann geh' ich fort, ob ihr mitgehet oder nicht.«
Amrei war allein, sie schaute den Weggehenden nach, und es kam ihr seltsam vor, daß ein Mensch vom andern Weggehen kann. »Dort geht er hin, und er gehört doch zu dir und du zu ihm.«
Seltsam! Wie es im wirklichen Traume geht, daß das bloß leise Angeregte sich in ihm erneuert und mit allerlei Wunderlichkeiten verflicht, so erging es jetzt Amrei im wachen Traume. Nur ganz flüchtig hatte Dami von der Begegnung mit der Landfriedbäuerin gesprochen; ihr Gedenken war halb erloschen in der Erinnerung, und jetzt wachte es wieder hell auf wie ein Bild aus vergangenem vorgeträumtem Leben. Amrei sagte sich fast laut: »Wer weiß, ob sie nicht auch einmal so plötzlich, man kann nicht sagen woher, an dich denkt, und vielleicht jetzt eben in dieser Minute, und hier, dort unten hat sie dir's ja versprochen, daß sie dir eine Annehmerin sein will, wenn du kommst, dort bei den Kopfweiden. Warum bleiben nur die Bäume stehen, daß man sie allzeit sieht? Warum wird nicht auch ein Wort so etwas wie ein Baum, das steht fest und man kann sich dran halten? Ja, es kommt nur darauf an, ob man will, da hat man's so gut wie einen Baum ... und was so eine ehrenhafte Bäuerin sagt, das ist fest und getreu, und sie hat doch auch geweint, weil sie fort gemußt von der Heimat, und ist doch schon lang hinaus verheiratet aus dem Dorf und hat Kinder, ja, und der eine heißt Johannes.« Amrei stand an dem Vogelbeerbaum und legte die Hand an seinen Stamm und sagte: »du, Warum gehst denn du nicht fort? Warum heißen dich die Menschen nicht auch auswandern? Vielleicht wäre dir's auch besser anderswo. Aber freilich, du bist zu groß und du hast dich nicht selber hergesetzt, und wer weiß, ob du nicht an einem andern Ort verkämest. Man kann dich nur umhacken und nicht versetzen. Dummes Zeug! Ich hab' ja auch von da weggemußt. Ja, wenn's mein Vater wäre, da müßt' ich mit ihm gehen. Er hat mich nicht zu fragen, und wer lang fragt, geht viel irr'. Es kann mir niemand raten, auch die Marann' nicht. Und beim Ohm ist's doch so, er denkt: ich tu' dir Gutes und du mußt mir's wieder bezahlen. Wenn er hart gegen mich ist und gegen den Dami, weil er ungeschickt ist, und wir gehen auf und davon ... Wohin sollen wir dann in der wilden fremden Welt? Und hier kennt uns jeder Mensch und jede Hecke, jeder Baum hat ein bekanntes Gesicht. Gelt, du kennst mich?« sagte sie wieder ausschauend zu dem Baum. »O, wenn du reden könntest! Du bist doch auch von Gott geschaffen, o, warum kannst du nicht reden? Du hast doch auch meinen Vater und meine Mutter so gut gekannt, warum kannst du mir nicht sagen, was sie mir raten würden? O, lieber Vater, o, liebe Mutter, mir ist so weh, daß ich fort soll. Ich habe doch hier nichts und fast niemand, aber mir ist's, als müßt' ich aus dem warmen Bett in den kalten Schnee. Ist das, was mir so weh tut, ein Zeichen, daß ich nicht fort soll? Ist das das rechte Gewissen, oder ist es nur eine dumme Angst? O, lieber Himmel, ich weiß es nicht. Wenn jetzt nur eine Stimme vom Himmel käm' und tät' mir's sagen.«
Das Kind zitterte vor innerer Angst und der Zwiespalt des Lebens tat sich zum erstenmal schreiend in ihm auf. Und wieder sprach sie halb, halb dachte sie, aber jetzt entschlossen:
»Wenn ich allein wäre, da weiß ich fest, ich ginge nicht, ich bliebe da; es tut mir zu weh; und ich kann mir schon allein forthelfen. Gut, merk' dir das. Also eins hast du fest, mit dir selber bist du im reinen. Ja, aber was ist das für ein dummes Denken! Wie kann ich mir's denn denken, daß ich allein wäre ohne den Dami? Ich bin ja gar nicht allein da, der Dami gehört zu mir und ich zu ihm. Und für den Dami wär's doch besser, er wäre in einer Vatersgewalt; das tat' ihn aufrichten. Wozu brauchst du aber einen andern? Kannst du nicht selber für ihn sorgen, wenn's nötig ist? Und wenn er so eingeheimst wird, ich seh' schon, da bleibt er sein Lebenlang nichts als ein Knecht, der Pudel für andere Leute; und wer weiß, wie die Kinder des Ohms gegen uns sind. Weil sie selber arme Leute sind, werden sie die Herren gegen uns spielen. Nein, nein, sie sind gewiß brav und das ist schön, wenn man so sagen kann: Guten Tag, Vetter, guten Morgen. Bas'. Wenn nur der Ohm eins von den Kindern mitgebracht hätt', da könnt' ich viel besser reden, und könnte auch alles besser erkundschaften. O, lieber Gott, wie ist das alles auf einmal so schwer.«
Amrei setzte sich nieder am Baum und ein Buchfink kam dahergetrippelt, pickte ein Körnchen auf, schaute sich um und flog davon. Ueber das Gesicht Amreis kroch etwas, sie wischte es ab. Es war ein Abgottskäfer. Sie ließ ihn auf ihrer Hand herumkriechen, zwischen Berg und Tal ihrer Finger; bis er auf die Spitze des Fingers kam und davonflog. »Was der wohl erzählen wird, wo er gewesen sei,« dachte Amrei, »und so ein Tierchen hat es gut: wo es hinfliegt, ist es daheim. Und horch! wie die Lerchen singen, die haben's gut, die brauchen sich nicht zu besinnen, was sie zu sagen und was sie zu tun haben. Und dort treibt der Metzger mit seinem Hund ein Kalb aus dem Dorfe. Der Metzgerhund hat eine ganz andere Stimme als die Lerche, aber freilich, mit Lerchengesang kann man auch kein Kalb treiben ...«
»Wohin mit dem Füllen?« rief der Kohlenmathes aus seinem Fenster einem jungen Burschen zu, der ein schönes, junges Füllen am Halfter führte.
»Der Rodelbauer hat's verkauft,« lautete die Antwort, und bald wieherte das Füllen weiter unten im Tale. Amrei, die das hörte, mußte wiederum denken: »Ja, so ein Tier verkauft man von der Mutter weg, und die Mutter weiß es kaum; und wer's bezahlt, der hat's eigen; und einen Menschen kann man nicht kaufen, und wer nicht will, für den gibt's kein Halfter. Und dort kommt jetzt der Rodelbauer mit seinen Pferden, und das große Füllen springt neben her. Du wirst auch bald eingespannt. Und vielleicht wirst du auch verkauft. Ein Mensch wird nicht gekauft, verdingt sich bloß. So ein Tier kriegt für seine Arbeit keinen andern Lohn als Essen und Trinken und braucht auch sonst nichts, aber ein Mensch kriegt noch Geld dazu als Lohn. Ja, ich kann jetzt Magd sein, und von meinem Lohn tue ich den Dami in die Lehre, er will ja auch Maurer werden. Und wenn wir beim Ohm sind, ist der Dami nicht mehr so mein wie jetzt. Und horch, jetzt fliegt der Star heim, da oben ins Haus, das ihm noch der Vater hergerichtet, und er singt noch einmal lustig. Und der Vater hat das Haus aus alten Brettern gemacht. Ich weiß noch, wie er gesagt hat, daß ein Star nicht in ein Haus von neuen Brettern zieht, und so ist mir's auch... Du, Baum, jetzt weiß ich's: wenn du rauschest, so lange ich heute noch da bin, so bleibe ich da.« ... Und Amrei horchte tief auf. Bald war's ihr, als rauschte der Baum, dann aber sah sie nach den Zweigen und diese waren unbewegt, sie wußte nicht mehr, was sie hörte.
Mit lärmendem Geschnatter kam es jetzt herbei und eine Staubwolke ging voraus. Es war die Gänseherde, die vom Holderwasen hereinkam. Amrei ahmte vor sich hin lange das Geschnatter nach.
Die Augen fielen ihr zu, sie war eingeschlummert.
Ein ganzer Frühling von Blüten war aufgebrochen in dieser Seele, und die Blütenbäume im Tale, die den Nachttau einsogen, schickten ihre Dünste hinüber zu dem Kinde, das eingeschlafen war auf der Heimaterde, von der es sich nicht trennen konnte.
Es war schon lange Nacht, als sie erwachte und eine Stimme rief: »Amrei, wo bist du?« Sie richtete sich auf und antwortete nicht. Sie schaute verwundert nach den Sternen, und es war ihr, als ob diese Stimme vom Himmel käme; erst als sich die Stimme wiederholte, erkannte sie den Ton der Marann' und antwortete: »Da bin ich!« Und jetzt kam die schwarze Marann' und sagte: »O, das ist gut, daß ich dich gefunden habe. Im ganzen Dorf sind sie wie närrisch. Der eine sagt: er habe dich im Walde gesehen; der. andere ist dir im Felde begegnet, wie du jammernd dahingerannt bist und auf keinen Ruf dich umgekehrt hast. Und mir ist's gewesen, als wenn du in den Teich gesprungen wärst. Brauchst dich nicht zu fürchten, liebes Kind, brauchst nicht zu entfliehen. Es kann dich niemand zwingen, daß du mit deinem Ohm gehst.«
»Wer hat denn gesagt, daß ich nicht will?«
Plötzlich fuhr ein rascher Windhauch durch den Baum, daß er mächtig rauschte.
»Und freilich will ich nicht,« schloß Amrei und hielt die Hand an den Baum.
»Komm heim, es bricht ein arges Wetter los, der Wind wird's gleich da haben,« drängte die schwarze Marann'.
Wie taumelnd ging Amrei mit der schwarzen Marann' ins Dorf hinein. Was war denn das. daß die Menschen sie durch Feld und Wald irrend gesehen haben wollten, oder sprach das nur die Marann'?
Die Nacht war stockdunkel, nur plötzlich leuchteten rasche Blitze und ließen die Häuser im hellen Tageslicht erscheinen, so daß das Auge geblendet wurde und man stillstehen mußte, und war der Blitz verschwunden, so sah man gar nichts mehr. Im eigenen Heimatsdorfe waren die beiden wie in der Fremde verirrt und schritten nur unsicher vorwärts. Dazu wirbelte es Staub auf. so daß man vor Betäubung fast nicht vom Flecke kam; in Schweiß gebadet arbeiteten sich die beiden vorwärts und kamen endlich unter schwer fallenden Tropfen an ihrer Behausung an.
Ein Windstoß riß die Haustüre auf und Amrei sagte:
»Tu dich auf.«
Sie mochte an ein Märchen gedacht haben, wo sich aus ein Rätselwort ein Zauberschloß auftut.