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Viertes Capitel.


Victor hatte dem Freunde mit lachender Miene und beifälligen Blicken nachgeschaut, als dieser ihn so eilig verließ, um den lockenden Schritten nachzugehen, die seine Phantasie nicht mit Unrecht mit zauberischer Anmuth, Jugendreiz und Jugendschöne in Uebereinstimmung brachte.

»Er wird bald zurückkommen,« dachte er und ging, ihn zu erwarten, langsam am Strande auf und nieder. Seine Gedanken schweiften schnell ab, und die Spielerei mit den Fußstapfen beschäftigte ihn nicht mehr. Fußstapfen sah er nicht mehr im Sande, aber tausend Luftschlösser bauten sich auf dem losen Grunde vor ihm auf, zerrannen und erstanden wieder, während er, tiefes Nachdenken auf der Stirn und die Blicke gesenkt, fast mit der Miene eines Suchenden auf und nieder schritt. Da wurde er plötzlich aus seinen gedankenvollen Träumen geweckt.

»Haben Sie etwas verloren und kann ich Ihnen suchen helfen, liebstes, bestes Mannchen?« ertönte eine Stimme neben ihm, deren Klang ihn mit bekanntem Ton begrüßte.

Victor sah auf. Ein seltsames Paar stand vor ihm, ein Herr und ein Teckel, aber sie sahen einander so ähnlich mit ihren kurzen, gedrungenen, wohlgenährten Gestalten, mit ihren krummen Beinen, ihren dicken, breiten Gesichtern mit dem hängenden Unterkinn und gutmüthigen Augen, daß Viktor im ersten Augenblick wirklich zweifelhaft war, wer ihn eigentlich angeredet, ob der Herr oder der Hund. Sie sahen ihn Beide an, als erwarteten sie Antwort. Durch Victor's Gedächtniß zuckte eine Erinnerung. Obgleich er den Hund gar nicht kannte und der Mann damals, als er ihn gesehen, nur erst eine Anlage sowohl zu der Teckelähnlichkeit als zu der gegenwärtigen Corpulenz hatte, so stand doch augenblicklich eine wohlbekannte Gestalt vor ihm, und das eben vernommene charakteristische »Mannchen« erhob ihn über jeden Zweifel.

»Herr Richter!« sagte er.

Jener sah ihn erstaunt an.

»Ich bin Victor König,« fuhr er fort.

»Ach, der kleine Musikus, der Schutzbefohlene meiner gestrengen Frau Prinzipalin, der Stiefmutter meines Frauchens? Gottchen, Gottchen, wer hätte das gedacht!« sagte Richter, dem alten Bekannten die große, fette Hand hinreichend und die Victor's heftig schüttelnd, während der Teckel mit aufmerksamem Auge die Gestalt des so freundschaftlich Begrüßten prüfte. »Und ein großer Künstler sind Sie geworden? O ich weiß, ich weiß. Aber Sie hätten doch immer einmal nach Elbing kommen können, wir haben auch musikalische Leute dort, und wie würde sich Florchen gefreut haben! – Es bleibt immer ein Schatten in unserm Glück, daß es uns nicht von da gegönnt und gesegnet wurde, von wo wir doch eigentlich Beides hätten erwarten können. Nun hat's der liebe Gott gesegnet, reich gesegnet! Aber wie kommen Sie hierher, lieber Herr König?«

»Ei, ich möchte lieber fragen, wie kommen Sie hierher?« entgegnete Victor. »Sie haben ja in Ihrer Heimath die See viel näher?«

Herr Richter fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»An die See mußte ich, das Bad und die Luft thun meinem Frauchen nun einmal gut,« erklärte er, »und wir sind seit einer Reihe von Jahren jeden Sommer in Kahlberg gewesen. Aber voriges Jahr ist uns dort unser jüngstes Kind gestorben, ein lieber, trautster kleiner Jung', der einzige, den wir hatten, da wollt' ich nicht, daß Florchen wieder hinsollte. Es hätt' ihr nicht gut gethan, gewiß nicht, obgleich sie gern wollt'. Da bat ich sie, mir zu Gefallen ein anderes Bad zu besuchen, und da überlegten wir, wohin wir gehen sollten, und dann thaten wir's einer jungen Dame zu Gefallen, die wir jetzt im Hause haben, daß wir Häringsdorf wählten, obgleich es allerdings weit genug von unserer Heimath ist. Aber wir haben's nicht bereut. Mein Frauchen ging gleich gern darauf ein, weil hier doch ihre Schwester ihre letzte Lebenszeit verlebte, Sie wissen es wohl. Ach und es ist so wunderhübsch hier, daß es ihr und mir und meinen Kinderchen nun auch nicht einen Augenblick leid thut, die weite Reise gemacht zu haben. Aber,« unterbrach er sich selbst, »ich stehe hier und schwatz', und Sie suchten etwas, was war es?«

»Die Füße zu den Fußstapfen hier waren es,« lachte Victor. »Sie sind schon länger hier, Sie müssen wissen, wer hier so außergewöhnlich kleine Füßchen hat!«

»Ach, ich hab' mich mein Lebtag nicht um kleine Füße gekümmert,« sagte Richter mit gutmüthigem Lachen, »weiß Gott, fast Alle, die ich lieb hab', wandern auf breiten Sohlen umher, meine Mädchen vor Allem. Sie haben aber auch große Herzen, die haben sie, und mein Frauchen auch, Gott segne sie!«

»Sind Sie mit Ihrer ganzen Familie hier?« fragte Victor.

»Nein, nur die beiden ältesten Töchter sind mit,« entgegnete jener. »Röschen und Lorchen. Traudchen und Linchen sind verheirathet, es waren die beiden hübschesten, sehen Sie, und die kommen meist zuerst an die Reihe. Von meinem zweiten Frauchen hatte ich nur den lieben Jungen, der jetzt todt ist. Lorchen ist verlobt, seit zehn Jahren mit einem Candidaten. Wir hoffen jedes Jahr, daß er eine Anstellung bekommt, vorher will er nicht heirathen, obgleich ich jetzt, Gottlob, so viel habe, daß ich die Leutchen könnt' heirathen lassen, aber er hat seinen Stolz, und den achte ich an ihm. Wie wird sich Florchen freuen, Sie wiederzusehen! Sie hängt noch mit ihrem ganzen Herzen an den Erinnerungen ihrer Jugendzeit. Sehen Sie, es ist so viel Liebevolles in dem Herzen, das konnte durch nichts verbittert werden. Wenn sie nur erst käme; sie ist mit den Töchtern im Bade. Ich denke, sie müssen jeden Augenblick kommen. Ich bad' nicht, ich kann's nicht vertragen. Da gehe ich denn während dessen mit Hannibal spazieren, und such' ein geschütztes Plätzchen am Strande oder in den Dünen aus, auf dem wir gemeinschaftlich frühstücken. Sehen Sie, hier in dem Korb ist alles dazu Nöthige vorhanden.«

»Und den Korb tragen Sie immer selbst hierher?« fragte Victor erstaunt.

»Warum nicht?« war die Antwort. »Ich kann ihn doch eher tragen, wie das kleine Mädchen, die wir zur Aufwartung mithaben! Sie glauben gar nicht, wie schön das Frühstück im Freien schmeckt. Sie müssen's heut kennen lernen, Sie müssen mit uns frühstücken, wo meinen Sie, daß es am besten ist, hier am Strand oder in den Dünen?«

Victor schlug ein durch grünes Tannengebüsch verstecktes Plätzchen in den Dünen vor und führte Herrn Richter dorthin. Ein großer, oben ziemlich flacher Stein konnte zum Tisch, ein paar kleinere zu Sitzen dienen, er selbst warf sich lang in den Sand und forderte seinen Wirth auf, dasselbe zu thun. Doch dieser fand für's Erste noch keine Ruhe. Er fing an den Korb auszupacken, breitete eine Serviette über den Stein, stellte die große messingene Kaffeemaschine auf denselben, ebenso die Tassen, und einen so reichlich mit Weißbrod angefüllten Korb, daß Victor daraus haarsträubende Schlüsse über den Appetit der Frühstückenden und die Ansprüche, die man an ihn stellen würde, zog. Herr Richter that das Alles mit einer gewissen ruhigen Geschäftigkeit, mit kurzen Schrittchen hin- und hergehend, während der Teckel ihn in derselben Gangart begleitete.

Victor war höchlich amüsirt. Er fand den früher schwermüthigen, zurückhaltenden, gedrückten Menschen in dem jetzt so eifrig wirthschaftenden und behaglich plaudernden kaum wieder, und doch war es derselbe, nur hatte das Glück die harmlose Seele nach außen gelockt, wie durch das bequemere, sorglosere Leben in gleichem Maße die äußerliche Veränderung bewirkt worden war. Noch ehe die Spiritusflamme, mit der Herr Richter den Kaffee kochte, verlöscht war, hatte Victor schon tiefere Blicke in das gutmüthige, offene Herz des Mannes gethan, mehr von seinem inneren und äußeren Sein erfahren, als mancher Andere während seines ganzen Lebens offenbart. Einen Fremden, der ihm zum ersten Mal in dieser Weise entgegengetreten, würde Victor vielleicht geschwätzig gefunden haben, hier hätte er eben so gut die Quelle geschwätzig finden können, die nur einem Naturgesetz folgt, wenn sie in immer gleicher Weise und mit demselben frischen, sprudelnden Geplauder dem Schooß der Erde entspringt, das Glück ihres Daseins durch den hellen Ton offenbarend, mit dem sie dasselbe verkündet. Der Anfang und das Ende von Allem, was Herr Richter dachte und sprach, drehte sich hauptsächlich um seine Familie, und in dieser wieder hauptsächlich um seine Frau, aber es lag doch kein engherziges Abschließen in diesem Familienglück, es war nur der Mittelpunkt seines Daseins, das Licht, von dem auf die ganze Welt hell beleuchtet wurde.

»Sie denken wohl, ich bin ein rechter alter Thor, daß ich so viel aus mir herausschwatz'?« sagte er auf einmal, »aber sehen Sie, Sie gehören ja in die Zeit hinein, in der es mir schlecht ging, in der ich oft ganz verzagt, manchmal sogar so schlecht war, mir fast den Tod zu wünschen; Sie müssen es doch wissen, wie das jetzt Alles anders ist. Mein Florchen hat mein Glück in Flor gebracht!«

Er lachte zu dem gewiß schon oft gemachten Witz und fuhr dann mit einigem Selbstgefühl fort:

»Meine Frau Schwiegermutter, denn so nenne ich sie, weil der liebe Gott sie doch einmal dazu gemacht hat und sie das nicht ändern kann, würde sich jetzt meiner vielleicht nicht schämen. So groß wie das ihre ist mein Haus nicht, aber es ist auch auf solidem Grund gebaut, und eins hat es vor dem ihren voraus, die liebe Gottessonn' schaut hinein, während die arme Frau sich immer hinter dichte Jalousien gestellt hat, damit nur kein Strahl sie trifft. Je glücklicher ich geworden bin, um so mehr thut sie mir leid, kommt doch auch mein Glück aus ihrem Hause. Ich wollt', ich könnt' ihr etwas davon abgeben, ich thät's gern, seelensgern, weiß Gott!«

Victor zweifelte nicht daran.

»Hannibal, mein Hundchen, mein goldenes Thierchen, was hast Du?« wandte Richter sich jetzt an diesen, der unruhig zu werden anfing, »aha, ich weiß schon, Du merkst es, daß mein Frauchen und die Kinder und die wilde Miß in der Nähe sind. Ja, die Miß, die kannst Du nicht leiden, ich weiß schon, aber das hilft Dir Alles nichts, ich kann mir doch meine Freunde nicht nur nach Deinem Geschmack aussuchen. Apropos, die Miß,« sagte er zu Victor, »von der habe ich Ihnen noch nicht erzählt. Wir haben seit ein paar Wochen eine Miß Grandison bei uns, eine Schutzbefohlene von Mr. Thomson und Cousine Florchen. Letztere hat ihr eine Empfehlung an uns gegeben, wir sollten sie placiren helfen. Ja, da haben wir sie denn für's Erste da placirt, wo es uns am nächsten war, das heißt: in unserm Hause. Gottchen, Gottchen, solch armes Ding, die so weit herkommt, die sehnt sich doch für's Erste nach freundlicher Behandlung. Meine Töchter wollten schon lange gern englisch lernen, besonders Röschen, die ein rechter Schlaukopf ist und leicht lernt, da hatten wir ja einen ganz guten Grund, die Miß bei uns zu behalten, die übrigens bei allem Uebermuth ein seelengutes Geschöpf ist.«

Victor horchte hoch auf bei dieser letzten Mittheilung, er hatte nie bei Flora Eisenhart eine Miß Grandison gesehen, nie ihren Namen dort nennen hören. Er hatte aber nicht Zeit zu weiteren Forschungen, denn jetzt stieß Hannibal auf einmal ein ohrenzerreißendes Gebell aus und stürzte zwei Damen entgegen, in denen Victor unter Tausenden Angehörige dieses Vaters und dieses Hundes erkannt haben würde.

Die Familienähnlichkeit war in jedem Zuge vorhanden, wenn auch das charakteristische Zeichen der Teckelrace, durch die langen Kleider verborgen, nur durch den Gang der Damen, der eine leichte Biegung von einer Seite auf die andere hatte, bemerkbar gemacht wurde. Vom menschlichen Standpunkt aus konnte man die Damen unmöglich für schön halten, aber sie sahen eben so gutherzig und freundlich aus wie der Vater, und begrüßten den unerwarteten Gast in sehr wohlwollender Weise, wie einen Bekannten. Röschen machte ihrem Namen nicht durchweg Ehre, sie blühte mehr in Karmin als in Rosenroth, Lorchens blässeren Wangen sah man dagegen ein wenig von dem zehnjährigen Schmachten nach dem Candidaten an. Von Anmuth war bei Beiden nicht die Rede. Es war Alles breit an ihnen, vom Fuß bis zum Lächeln, und das des Trocknens wegen aufgeflochtene Haar hing nicht in Wellenlinien hernieder, sondern stand kurz und starr vom Nacken ab, als habe das Meer, dem einst eine Venus entstiegen, für diese Holzschnittcaricaturen des Götterbildes nichts übrig behalten als ein Bündel Seegras.

»Wo ist denn die Miß und Mutterchen?« fragte Herr Richter.

»Die Miß konnt' sich nicht vom Strand trennen und Mutterchen ist nur ein bischen langsamer gegangen,« antwortete Lorchen.

»Ich will Dir sagen, warum,«, sagte Röschen, der Schlaukopf, »sie hatte am Strande ein Jungchen gesehen, das sah grad' aus, das heißt ungefähr so wie unser Philipp aussah, und es schien auch so krank zu sein, und da hat Mutterchen ein bischen geweint und das sollst Du nicht sehen. Du hätt'st es aber doch gesehen und drum sag' s ich's lieber, nun kannst Du doch thun, als wüßtest Du nichts davon.«

»Ja, mein Töchterchen, das will ich auch, ich will nichts sehen, was ihr nicht lieb ist, auch ihre rothgeweinten Augen nicht, wenn sie's nicht will,« sagte Richter.

Aus der Erwarteten Augen waren jedoch schon die Spuren der vergossenen Thränen verwischt, als sie kam und ebenso wie ihre Töchter von dem kleffenden Geheul des Teckels und seinen schwanzwedelnden Freudenbezeigungen begrüßt wurde.

Victor erkannte sie augenblicklich wieder. Es war noch dasselbe freundliche, gutmüthige Gesicht von ehemals, ja es erschien ihm sogar hübscher geworden, was jedoch vielleicht nur daher kam, daß man an sein Aussehen nicht mehr die Ansprüche erhob, die man an die Jugend zu machen pflegt.

Flora sah ein paar Secunden Viktor prüfend an, dann erkannte aber auch sie ihn wieder.

»Victor, mein Junge,« sagte sie, in der ersten Ueberraschung nach der ehemaligen gewohnten Benennung greifend, wollte sich dann zwar verbessern und ihn Herr Capellmeister nennen, gab jedoch lachend den Versuch auf und sagte: »Ich kann nicht los von der alten Zeit, ich muß Victor und Du sagen, muß für Dich die alte Flora sein, es geht nicht anders. Ich habe auch mit Dir fortgelebt. Röschen spielt recht gut Clavier, und sie wußte wohl, sie machte mir immer eine besondere Freude, wenn sie sich ein Stück von Dir einübte. O, nach Deiner Composition zu urtheilen, mußt Du ein tüchtiger Mensch geworden sein! Aber nun komm, nun laß uns frühstücken, Richter hat so lange auf uns gewartet, er wird hungrig sein. Bei dem ersten Täßchen,« setzte sie flüsternd hinzu, »dürfen wir uns ihm noch nicht entziehen; nachher, wenn er seine Cigarre angezündet hat, dann überlassen wir ihn seinen Gedanken, das ist er so gewohnt.«

Sie setzte sich bei diesen Worten auf einen der Steine, Victor nahm wieder seinen früheren Platz ein, für Herrn Richter wurde ein mitgebrachter Plaid über eine etwas erhöhte Stelle des sandigen Bodens gebreitet, nachdem beide Töchter eine lange Weile deliberirt, ob der Platz auch wirklich der bequemste sei, und Röschen, der Schlaukopf, sich endlich dafür entschieden hatte. Sie sowohl wie Lorchen machten dann die Wirthinnen, Röschen reichte dem Gast, dann den Eltern mit ihren kurzen, breiten, fetten Händen die gefüllten Tassen, Lorchen ließ das Weißbrod herumgehen, Herr Richter machte Hannibal den Morgenimbiß zurecht und sagte, als er ihm ein Stück Zucker in die Milch legte, halb erklärend, halb entschuldigend zu Victor:

»Er ist das so gewohnt. Er gehörte meinem Jungchen und der gab ihm jeden Morgen den Zucker, den er selbst zum Kaffee bekam; er soll's doch nicht anders haben, weil sein kleiner Herr todt ist! Es ist eigentlich eine Unart von ihm, aber ich konnt's nicht über's Herz bringen, sie ihm abzugewöhnen.«

Victor erkannte es bald heraus, welche überwiegende Rolle überhaupt die Gewohnheit in der kleinen Familie spielte. Es ging Alles wie nach bestimmten Regeln zu, ohne daß es irgendwo den Anschein des Zwanges hatte.

Es hatte sich nur Jedes so in die Manier des Andern eingelebt, daß eine vollständige Gleichförmigkeit daraus entstand.

So war es selbst bei der Conversation. Keiner fiel dem Andern in's Wort, Keiner sprach außer der Tour. Hatte der Vater etwas gesagt, so kam die Mutter an die Reihe.

Das Recht, nach den Eltern zuerst zu sprechen, nahm Röschen, obgleich sie die Jüngere war, als Schlaukopf für sich in Anspruch, Lorchen dagegen wurde es zugestanden, zuletzt und gleichsam nachhinkend ihren Beitrag zum Gespräch zu liefern, weil sie Braut und ihre Gedanken also durch den Candidaten absorbirt waren. Nur der Teckel mischte seine aphoristischen Bemerkungen ad libitum hinein.

Victor sprach anfänglich wenig mit; er wußte seine Tour noch nicht, aber es lag etwas in der maschinenartigen Harmonie der Familie, was ihm einen unbeschreiblich behaglichen Eindruck machte. Er spielte mit Vergnügen seine passive Rolle, und ein warmes Gefühl verdrängte die Spottlust, zu der er sonst leicht eine Anregung fand. Die plumpen Gesichter der Mädchen fingen an ihm zu gefallen, und der breite Dialekt, mit weichem Ton gesprochen und mit seiner Mischung liebkosender Worte, hörte bald auf, sein musikalisches Ohr zu beleidigen. Da wurde selten ein Satz vollendet ohne das: mein einziges Vaterchen, mein trautstes Mutterchen, oder ohne das seltsame, aber herzgewinnende Duchen, und Flora war so ganz in ihrer Familie aufgegangen, daß auch in ihre Rede sich Bruchstücke dieser provinziellen Eigenthümlichkeit mischten.

Als Herr Richter seine Cigarre angezündet und somit das Zeichen gegeben hatte, daß nun die Zeit des Nachdenkens für ihn gekommen sei, wendete sich Flora an Victor und forderte ihn auf, ihr von der alten Heimath zu erzählen. Da erst fiel es ihm ein, ihr die Mittheilung von Georg's Anwesenheit zu machen. Eine lebhafte Röthe der Freude überflog Flora's Gesicht, im nächsten Augenblick schwand sie, und sie sagte mit niedergeschlagenem Tone:

»Ach, was wird aus dem lieben Jungchen geworden sein, wird er es noch wissen, daß er mich einst lieb hatte? Wird er mich lieb haben dürfen?«

»Georg hat in allen Stücken den Wirkungen einer pedantischen, einseitigen, unmännlichen Erziehung widerstanden,« versicherte Viktor. »Ueberall in eine bestimmte Form gepreßt, beherrscht er diese durch innere Freiheit und bewegt sich so elastisch und frisch, als sei nie ein Joch auf sein Haupt gedrückt, nie ein Hemmschuh an seine forteilenden Gedanken und Wünsche gelegt worden. Wie ein Kranker verhätschelt, hat er sich im Gefühl seiner Gesundheit behauptet, wie eine Puppe behandelt, ist er ein Mensch geworden, wie ein kleines Mädchen von der Mutter an die Schürze genommen, entwickelte sich in ihm dennoch das Vollgefühl des Jünglingsbewußtseins. Er hat ihr Manches geopfert, aber nichts von seiner Individualität, und deshalb hat er es noch nicht gelernt und wird es nie lernen, nur das zu lieben, was die Mutter ihm erlaubt oder gar befiehlt. Seiner innersten Natur nach ist er noch heut das Kind von damals«

»Gottlob!« sagte Flora, »aber wie hat er es gemacht, so zu bleiben?«

»Er hat alle die Aufgaben, die man ihm mit dem Kopf gab, mit dem Herzen gelöst,«, erklärte Victor.

Papa Richter warf seine Cigarre fort.

»Schmeckt sie nicht? Hast Du keine andere bei Dir? Willst Du nach Hause gehen?« fragte Flora.

»Ei wo, nach Hause gehen!« sagte er, »aber es beunruhigt mich, daß die Miß nicht kommt. Wie soll mir die Cigarre schmecken, wenn ihr der Kaffee kalt wird! Sie ist ein gutes Geschöpf, die kleine Miß, aber an ein wenig mehr Regelmäßigkeit muß sie sich gewöhnen.«

»Muß ich?« ertönte eine helle Stimme.

»Ach, da sind Sie ja, hätt' ich nur früher gebrummt,« sagte Richter.

»Verscheucht würde mich wenigstens Ihr Brummen nicht haben, aber hätt' ich gewußt, daß Sie meinetwegen die Cigarre ausgehen ließen, dann hätt' ich die See und die hübschen Kinder am Strande und mein Vergnügen an dem Allen im Stich gelassen, denn eine so tiefe Wunde möchte ich Keinem schlagen, wie die ist, an der eines Rauchers Herz verblutet, dem man den Genuß seiner Cigarre verkürzt.«

»Gottchen, Gottchen, mein Herz bluten wegen einer Cigarr'!« lachte Herr Richter.

Victor war fast mit einer Miene des Schrecks emporgefahren, als er die Stimme der jungen Dame vernahm und seine Augen dem Tone folgten. War es das Plötzliche ihrer Erscheinung, denn der weiche Sand hatte den Schall ihrer nahenden Tritte aufgefangen, war es die frische, mit allerliebster Schalkhaftigkeit vermischte Anmuth ihres lebhaften Gesichtes oder gar die zwar einfache, aber fast kostbare Eleganz ihrer Kleidung, was Victor's Ueberraschung verursachte? Genug, er stand vor ihr, sah sie mit großen Augen und halb geöffneten Lippen an, als wollte er sie begrüßen und finde doch das Wort dazu nicht.

Ein heller Strahl unwillkürlicher Freude flog über Miß Grandison's Gesicht, dann eben so schnell ein lebhafteres Erröthen, dem ein Lächeln und eine Miene plötzlicher Entschlossenheit folgte. Dann unterbrach sie Herrn Richter, der eben im Begriff war, ihr Victor vorzustellen, und diesem die Hand reichend, sagte sie:

»Wir sind alte Bekannte, Herr König und ich. Wir sahen uns oft in New-York, im Hause des Mr. Thomson. Wissen Sie etwas von ihm oder von Flora Eisenhart?«

»So viel ich weiß,« entgegnete Victor schnell, aber mit leisem Tone, »versteht es die junge Dame mehr denn je, Zauberkünste auszuüben, deren Einfluß sich nicht einmal mehr nur auf ihre nächste Umgebung erstreckt. Ich will nichts sagen, daß sie Jedem, der sie einmal gesehen hat, immer vor Augen steht, aber wenn die Erscheinung körperliche Deutlichkeit annimmt und bei der Berührung nicht schwindet, so –«

»So beweist das nur, daß der Geisterseher sich von seiner lebhaften Phantasie anführen läßt, so eingebildet ist, ein Räthsel für unauflösbar zu halten, nur weil er es nicht gleich entziffern kann, und es in dieser Weise da preisgiebt, wo es nicht errathen werden soll,« entgegnete sie eben so leise, aber mit Nachdruck, entzog ihre Hand der Victor's, gab ihm ein Zeichen, seinen Platz wieder einzunehmen, und setzte sich ihm gegenüber, den hübschen Kopf gegen ein dunkles Tannengebüsch lehnend.

Von dem Inhalt ihrer kurzen Unterredung war nur der Anfang den Zuhörenden verständlich gewesen, nur daß Victor gleichfalls in New-York gewesen und ein Bekannter der vielgeliebten Cousine Flora war.

»Das ist ja mein Erstes, daß Sie da drüben waren!« sagte Papa Richter.

»Sie kennen Elisabeth's Tochter?« fügte Flora gerührt hinzu.

»Ist Florchen hübsch?« fragte Röschen, und Lorchen, eben in ihrem Kreislauf sinnender Gedanken vom Candidaten zurückkehrend, setzte die Frage hinzu: ›ob Cousine Florchen schon Braut sei?‹

Nun war Herr Richter wieder an der Reihe zu sprechen, die er dazu benutzte, der Miß scherzhafte Vorwürfe zu machen, daß sie die Bekanntschaft mit dem berühmten Tonkünstler Victor König mit so tiefem Stillschweigen übergangen.

»In manchen Punkten ist unsere kleine plaudernde Ellen sehr zurückhaltend,« stimmte Flora ihrem Manne bei. »Was ich über meine Namensgenossin von ihr gehört habe, mußte ich von ihr gewaltsam erpressen.«

Ellen Grandison lachte.

»Es ist über Flora nicht viel zu sagen,« entgegnete sie, »fragen Sie Herrn König, er wird sie auch nicht zu beschreiben wissen.«

Ein übermüthiger, fast an Herausforderung streifender Blick traf Victor, dieser sagte schnell und in halb neckendem Tone:

»Miß Grandison und Flora Eisenhart sehen einander ähnlich wie Schwestern, und die intime Freundschaft, die beide Damen verbindet, hat auch eine Gleichartigkeit des Wesens hervorgebracht, durch welche die Aehnlichkeit nur verstärkt wird. Man könnte sie in der That verwechseln.«

Ein forschender Blick Flora's nach dem jungen Mädchen, ein dreifaches Ach! des Erstaunens aus Herrn Richter's und seiner Töchter Munde folgte dieser Erklärung.

Miß Grandison erröthete leicht und sagte mit etwas spöttischer Miene:

»Herr König will sich nur der ihm gestellten Aufgabe entziehen. Er weiß so gut als ich, daß an Flora Eisenhart nicht viel zu beschreiben ist, und hält meine Freundschaft für sie für zu vorurtheilsvoll, um mir eine richtige Einsicht darüber zuzutrauen. Beschreiben lassen sich Menschen überhaupt nicht. Man kann höchstens ein Bild ihres Aeußern geben, dazu sind die Maler da. Wer sieht so tief in das Innere hinein, eine ganz richtige Anschauung zu gewinnen! Sie haben ganz recht, Herr König, über Flora Eisenhart zu schweigen!«

»Ich könnte von ihr auch nur mit der Violine in der Hand reden,« entgegnete dieser, indem sein Gesicht den Ausdruck tiefen Ernstes annahm. »In der That, es müßte eine schöne Aufgabe sein, die vielen kleinen künstlichen Dissonanzen einer Seele, die zur Harmonie geschossen ist, musikalisch aufzulösen, aber freilich, Miß Flora verachtet mein armes Instrument, und obgleich, meiner Ueberzeugung nach, ihr Charakter aus einem Guß ist, wie ein volltönendes Orchester, hat sie ihr Ohr doch der Welt der Töne verschlossen.«

»Ei, liebste Miß Ellen, was haben Sie uns denn erzählt?« unterbrach Herr Richter den Redenden, »sagten Sie nicht, Florchen spiele recht viel Clavier?«

»Und haben Sie uns nicht selbst ihr Lieblingsstück vorgespielt?« sagte Röschen. »Phantasien am Meere – von Victor König,« fiel Lorchen ein, »mein Theodor spielt es auch.«

»Sie spielt manchmal aus Langeweile, wenn sie nichts Besseres zu thun hat, und spielt dann, was ihr gerade vorkommt,« sagte die Miß gleichgültig, bog sich zur Seite, brach von einem neben ihr stehenden Strauch einen Zweig ab und gab Hannibal einen Hieb mit demselben, der ihm allerdings nicht sehr weh thun konnte, dem Hunde aber ein Gebell der Indignation entlockte, dem ein lauter Vorwurf Herrn Richter's und eine Fluth beruhigender Schmeichelworte zum Trost des armen Geschlagenen aus dem Munde Röschens und Lorchens folgte.

Flora warf wieder nur einen forschenden Blick auf das Mädchen, den Ellen bemerkte, erröthete und aus Aerger darüber dem armen Hannibal einen zweiten Schlag versetzte.

»Komm her, mein Hundchen, komm Hannibal!« lockte Herr Richter den Liebling, »so, bleib hier, leg' Dich hin und sei nicht bös', mein liebes Thierchen. Die Miß kommt weit her, siehst Du, die ist noch nicht lange bei uns und weiß es nicht, daß Du Philipp's Hundchen warst und daß Dein Herr Dich nie geschlagen hat.«

Miß Ellen machte ein reuiges Gesicht.

»Der Schlag kann ihm nicht weh gethan haben, hoffe ich,« sagte sie halb beschämt, halb trotzig.

»Wer nicht an Schläge gewöhnt ist, dem thut schon eine aufgehobene Hand weh,« belehrte sie Herr Richter, »und Hannibal ist nicht daran gewöhnt, ich glaub', Philipp kehrte sich im Grabe um, wenn er es gesehen hätt'.«

Die Miß holte ein Stückchen Zucker, kniete nieder, hielt es dem Hunde hin und fing an, ihn mit den lieblichsten Worten zu locken. Hannibal blieb jedoch auf seinen Hinterfüßen sitzen und sah sie nur mit verachtungsvoller Majestät an. Ellen gab die Sache jedoch nicht auf. Sie fuhr fort zu locken und zu schmeicheln, und jubelte wie ein Kind auf, als der Teckel sich allmählich aus seiner sitzenden und zurückhaltenden Stellung erhob und langsam, als traue er dem Frieden noch nicht, auf das Stück Zucker zugewatschelt kam.

Als er dem Mädchen nah war, bog sich Ellen plötzlich über ihn, faßte den dicken Kopf desselben und küßte ihn rasch.

»Brr!« sagte sie, »ich habe noch nie einen Hund geküßt, aber ich muß Frieden mit Dir schließen, Hannibal. Wahrhaftig,« setzte sie mit einem gutmüthig bittenden Blick auf Herrn Richter hinzu, »wahrhaftig, es ist mir ernst, und ich will ihn an nichts gewöhnen, was seinen kleinen Herrn im Grabe kränken könnte.«

»Erst schlagen, dann liebkosen!« bemerkte Victor unwillkürlich.

»Eins mit der Hand, das andere mit dem Herzen,« entgegnete Ellen schnell, »ich habe wahrhaftig das garstige Thier lieb, ich habe nur so gethan, als möchte ich es nicht.«

»Machen Sie das öfter so?« fragte Victor.

Die Frage schien sehr harmlos, wurde aber so eigenthümlich betont, daß abermals eine helle Röthe über Ellen's Gesicht flog und sie schon wieder mit der Gerte nach Hannibal ausholte, sie aber dann bei dem hastigen, ungeschickten Seitensprunge des Hundes lachend fortwarf.

»Sie müssen entwaffnet werden, Miß,« bemerkte Victor.

»Sie sehen, ich that es selbst,« entgegnete sie mit einem so selbstbewußten Aufwerfen des Kopfes, als wollte sie damit andeuten, daß sie einem Andern das Recht dazu schwerlich zugestehen würde. Eine kleine Pause in der Unterhaltung trat ein, da aber Herr Richter nur eine Cigarre des Morgens zu rauchen pflegte, diese aber weggeworfen hatte und nur während des Rauchens zu schweigen gewohnt war, eröffnete er sehr bald das Gespräch wieder.

»Sagen Sie, liebstes Mannchen,« begann er, »wohnen Sie in dem Haus da oben, das sie Wald und See nennen, und haben Sie gestern Abend da noch so schön Violine gespielt? Wir konnten gar nicht vorbei, wir waren wie an den Boden gewurzelt, und Sie werden's nicht glauben, aber unsere übermüthige, schlagfertige kleine Miß war ganz weich geworden, ihr liefen die hellen Thränen über's Gesicht.«

Victor sah sie überrascht an; Ellen hatte zwar die Gerte fortgeworfen, mit der sie als Vertheidigungsmittel gegen aufsteigende Verlegenheiten den Hund, der doch nie schuld daran war, zu schlagen pflegte, aber ganz wehrlos stand sie deshalb doch nicht da. Es war doch eigentlich auch ein, aber gegen Victor gerichteter Schlag, als sie sagte:

»Ich muß es gestehen, ich kann das Violinspiel nicht leiden. Der Ton fällt mir auf die Nerven. Ich hasse Alles, was sentimental macht, und das schönste Spiel auf dem vielbewunderten Instrument übt auf mich diese unangenehme und mir vollständig unerklärliche Wirkung aus. Gestern, wo ich von unserer doch gar zu weiten Fußpromenade angegriffen und abgespannt war, hatte ich nicht einmal die Energie, den mir unangenehmen Ton zu fliehen, und die Folge davon waren die albernen Thränen. Ich kann einmal Violine nicht leiden. Verzeihen Sie, Herr König, wenn es die Ihre ist, der ich es vorwerfen muß, mich gestern arg gepeinigt zu haben.«

Es mußte ordentlich einen komischen Eindruck machen, Miß Ellen von Abgespanntheit und Nervenschwäche sprechen zu hören, sie, deren Aeußeres vollkommen das Vorhandensein von beiden verleugnete. Sie war das Bild blühender Jugendfrische. Der ganze elastische Körperbau, die strahlenden Augen, der warme Farbenton ihrer Wangen zeugten von Gesundheit.

»So ist also doch eine Unähnlichkeit zwischen Ihnen und Ihrer Freundin,« entgegnete Victor mit leichtem Spott. »Miß Flora Eisenhart hat vortreffliche Nerven, und ich habe das immer für eine ihrer liebenswürdigsten Eigenschaften gehalten.«

»Ich danke Ihnen im Namen meiner Freundin für diese Anerkennung ihrer Liebenswürdigkeit,« sagte Ellen in demselben spottenden Tone, »und bedaure, für mich nicht diese Anerkennung, die einem Mediciner alle Ehre machen würde, in Anspruch nehmen zu können.«

Da waren sie denn wieder bei der überseeischen Cousine angelangt und Lorchen und Röschen beuteten das Thema aus. Sie waren erfinderisch in Fragen, vielleicht weniger erfinderisch als Victor in seinen Antworten, die mehr berechnet schienen, der Neugier als dem Interesse zu begegnen. Dennoch machte diese Neugier nicht etwa einen unangenehmen Eindruck auf Victor. Die Familienanhänglichkeit, die sichtlich hindurchleuchtete, versöhnte ihn vollständig mit dieser, wenn auch nicht bösartigen, doch oft ganz unerträglichen Untugend, und der Humor in seinen Antworten galt mehr der schweigenden Miß Ellen, als den beiden fragenden Mädchen. Dennoch schien er Flora nicht ganz zuzusagen und sie gab auf einmal dem Gespräch dadurch eine ernste Wendung, daß sie es auf den Zeitpunkt zurücklenkte, in dem ein trauriges Geschick die eben Besprochene mit einem Schlage alles dessen beraubt hatte, was die Grundelemente des Glückes ausmacht.

Vater, Mutter und die Heimath zugleich waren dem achtjährigen Kinde entrissen worden, und in eine fremde Welt versetzt, hatte man es für immer denen entzogen, die durch innige Bande der Natur wie der Liebe mit ihm verknüpft waren.

»Wie gern hätte ich Elisabeth's Tochter zu der meinen gemacht!« seufzte Flora.

»Sie hätten sie Dir nicht gelassen, das weißt Du ja, und das ist unser bester Trost dabei,« sagte Herr Richter.

»Die Großmutter würd' sie Dir entzogen haben und Gott weiß wie! Nein, nein, es war gut, daß in dem Moment, wo die Eltern starben, das weite Meer sie von der Heimath trennte, obgleich es hart ist, in der Fremde leben und sterben zu müssen«

»Das Sterben ist überall gleich,« meinte Ellen, die dem Vorhergegangenen mit tiefem Ernst und sinnenden Augen zugehört hatte, »man bedarf der Heimath nur zum Leben, ruhen kann man überall süß unter dem grünen Rasen.«

»Nicht doch, nicht doch, ich möcht' in der Fremde selbst nicht begraben sein,« widerlegte Herr Richter. »Kinder,« wandte er sich dann an diese, »ich will 'mal nirgends anders liegen, als auf dem Berg'schen Kirchhof daheim, da, wo wir so oft an Mutterchens Grab gesessen, von dem Glück gesprochen haben, das sie dort Oben genießt, und der, die sie uns zum Ersatz geschickt, gedankt haben, daß sie uns hier unten so glücklich macht.«

Er reichte seiner Frau die Hand. Er wurde ganz aufgeregt im Gefühl seines Glückes und seiner dankbaren Freude darüber, und als er es wiederholte:

»Dort, nur dort möcht' ich liegen, dort Euch an meinem Grab suchen und sehen, wie lieb Ihr Euch und mich habt,« da klang sein Wunsch fast so dringend, als sei der Tod schon im Anzuge und als müsse er befürchten, die Mädchen warteten nur darauf, um dann gleich seine Leiche nach Amerika zu transportiren.

»Gottlob, wir werden hoffentlich noch lange beisammen bleiben!« sagte Flora und reichte ihrem Manne die Hand.

»Mein einziges, liebes Vaterchen,« schmeichelten die Mädchen und streichelten ihrem Vater mit ihren plumpen, weichen Händen die Wangen, und der Teckel, der es zu merken schien, daß man das gewöhnliche heitere Zusammenleben durch eine Familienrührscene, wie sie seit dem Tode des kleinen Philipp öfter vorgekommen, unterbrach, stand auf, stellte sich vor die Gruppe hin, sah sie mit seinen trüben, gutherzigen, ehrlichen Augen treuherzig an und wedelte mit dem Schwanz so eindringlich, als wollte er sagen: »Vergeßt mich nicht, in Freud' und Leid gehör' ich ja doch auch dazu.«

»In der Heimath leben und sterben,« declamirte Röschen, die außer dem Vorzug, der Schlaukopf der Familie zu sein, auch einen kleinen Anspruch an poetischen Schwung erhob und gern einmal durch ein paar in erhöhter Stimmung gesprochene Worte sich hervorthat.

»Wo ist die Heimath?« fragte Ellen gedankenvoll.

»Da, wo wir geboren wurden,« sagte Herr Richter, »wo unsere Eltern lebten und unsere Kinder zuerst den Tag erblickten.«

»Da, wo wir Glück und Schmerz vom Himmel empfingen,« fuhr Flora fort.

»Da – –«, sagte Lorchen, dachte an ihren Candidaten und die Pfarre, die er noch nicht hatte, erröthete und schwieg.

»Da, wo das Herz weilt,« ergänzte Miß Grandison den Satz, stand auf und fügte mit einem Blick auf Victor hinzu: »Ich will noch an den Strand gehen, wollen Sie mich begleiten?«

Er sprang augenblicklich auf, verabschiedete sich von seinen alten und neuen Freunden, denen er das Versprechen gab, ihnen noch an demselben Tage Georg zuzuführen, und folgte der voraneilenden Miß, die schon hinter einem der Tannengebüsche verschwunden war, ihm, als er sie eingeholt, winkte, ihr den Arm zu geben, und lachend sagte:

»Wenn Sie erst länger mit den guten Leutchen verkehrt haben, werden Sie es, wie ich, lernen, sich unnützen Abschiedsceremonien so viel als möglich zu entziehen. Wer das nicht bei Zeiten thut, wird festgesprochen. Röschen und Lorchen werfen sich den Gast wie einen Fangball zu, und bis sie ihr letztes Wort gefunden, kann man leicht seine letzte Stunde erleben. Kommen Sie, kommen Sie. Der Strand ist hier so einsam; wir haben nicht zu befürchten, daß ein Begegnender von Ihrem Gesicht das Erstaunen über die Wundergeschichte liest, die ich Ihnen zu erzählen gedenke, und dann in seiner Weise den Commentar dazu giebt. Kommen Sie!«

Sie schritt leichtfüßig weiter, aber sie wandte den schalkhaften Blick von ihm ab und ließ das Auge, das ernst und sinnend wurde, während sie es über das Meer hinschweifen ließ, auf dem klaren Spiegel desselben ruhen, gleichsam in stumme Bewunderung des prachtvollen Farbenspiels verloren. Bald glühte es hell auf in Streifen goldnen Lichtes, bald gab es in tiefer Bläue den Blick des klaren Himmels, bald in rosigem Violet die Wölkchen wieder, die wie flammende Bouquets das ätherische Gewand des Morgens schmückten; dazu sang es in sanftem, schmeichelndem Tone das reizende Lied, das trotz seiner einfachen, sich immer wiederholenden Melodie doch das Herz des Lauschenden so wunderbar tief ergreift und, sich an die wildesten Gedanken anschmiegend, diese ebenso zur Ruhe bringt, als es mit heiterm Klang heitere Regungen der Seele begleitet.

Wie schön ist die See auch in dieser tiefen, scheinbar unzerstörbaren Ruhe! Es ist ein leises Plaudern und Rauschen, ein Kommen und Scheiden der kleinen Wellen, ein Grüßen und Küssen des Strandes, ein lachendes Aufschäumen auf des Ufers Sand und ein sanftes Zurückziehen in die von einer höheren Macht bezeichneten Grenzen, die dem Riesen auf einmal die Anmuth eines Kindes verleihen. Es ist das Bild gefesselter und sich in Demuth fügender Kraft, die jeden Augenblick wieder dem wilden Naturtriebe folgen und aufbrausen kann im Vollgefühl ihres ungestümen Willens.

Die Löwensanftmuth rührt die Seele. Man erkennt in dem sanften Liede doch den Grundton wieder zu dem Sturmesgesang und Wogengebrause, wenn der Zorn sich regt in der Brust des Kämpen, wenn jede Welle zum Streitroß wird, mit den schäumenden Hufen die Tiefe stampft und in den Abgrund zieht, was sich mit ungleichen Kräften in den Kampf wagt.

 

»Sind Sie neugierig?« fragte Miß Grandison plötzlich, das Gesicht ihrem Begleiter zuwendend.

»Ich brenne!« gestand er.

Das Mädchen lachte.

»Nun gut,« fuhr sie fort, »weil Sie sich nicht scheuen es einzugestehen und weil das Schicksal Sie mir hier so unerwartet in den Weg geführt hat – –«

»So machen Sie aus der Nothwendigkeit eine Tugend und mich zum Vertrauten,« unterbrach er sie.

»Es ist nicht ganz so,« fuhr. sie ruhig fort, »denn ich könnte mich ja begnügen, als Miß Grandison an Ihre Discretion zu appelliren und mich dabei auf die Empfehlung einer noch älteren Bekannten, der Flora Eisenhart zu berufen. Würde ich mich verrechnen?«

»Nein, o nein!« rief er lebhaft aus, »würdigen Sie mich einer Erklärung oder nicht, ich werde mich schweigend unterwerfen. Wie sehr ich staunen muß über Ihr zauberhaftes Erscheinen hier, über Ihren Aufenthalt in einer Familie, die nicht zu ahnen scheint, wen sie beherbergt, einer Familie, die, wenn ihr Stammvater auch unverkennbar ein Teckel gewesen sein muß, diese Abstammung durch Verwandtschaft mit Elfen gut macht, wenn ich über dies Alles auch staunen muß, so soll doch kein Wort, keine Miene meine Gefühle verrathen. Aber neugierig bin ich, brennend neugierig, das kann ich nicht leugnen.«

»Nun, so will ich denn so gut als möglich den Brand zu löschen suchen,« spottete Miß Grandison, fuhr aber dann ernsthaft fort: »Als Sie das erste Mal nach New-York kamen, waren Sie mein Freund. Sie fanden es nicht für gut, es bei Ihrem zweiten Besuch zu bleiben. Es ist allerdings leichter, die Capricen eines Kindes zu beherrschen, als mit denen einer jungen Dame Nachsicht zu haben.«

»Flora! –« unterbrach er sie.

»Flora?« wiederholte sie, und ein leichtes Frohlocken bebte durch ihre Stimme »Flora? O, das ist hübsch, daß Sie so sagen. So führen Sie mich in die Kinderzeit zurück, in der Sie mein Freund waren, und machen mir das Vertrauen leicht. Vertrauen muß ich Ihnen aber doch einmal. Ich kann nicht verlangen, daß Sie mich Miß Grandison nennen, während Sie es doch wissen, daß ich Flora Eisenhart bin, kann nicht verlangen, daß Sie mir helfen, hier meine theuren Anverwandten, diese besten und liebevollsten aller Menschen, zu täuschen, ohne daß Sie wissen warum.«

»Ueber diesen Punkt beruhigen Sie sich,« unterbrach er sie lebhaft, »es belastet mein Gewissen nicht im mindesten; Sie bei dieser Täuschung zu unterstützen, gleichviel ob sie gerechtfertigt ist oder nicht.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für diese Großmuth, will aber lieber keinen Gebrauch davon machen,« entgegnete sie. »Wenn Sie hören, warum ich hier bin, wird das Motiv meines energischen Entschlusses Sie unbedingt mit diesem selbst aussöhnen, und ich wenigstens ziehe das vor. Großmuth von Widersachern macht das Sprichwort von den feurigen Kohlen wahr, und ich mag diese eben so wenig auf meinem Haupt tragen, als ich Andere damit belasten möchte. Großmüthig sein ist oft sehr ungroßmüthig!«

Victor lächelte zu der Bemerkung, dann, sie mit einem offenen Blick ansehend, fragte er plötzlich:

»Warum nennen Sie mich eigentlich Ihren Widersacher? wann bin ich das gewesen?«

»Als wir uns das letzte Mal sahen,« entgegnete sie. »Ich hatte mich so gefreut Sie wiederzusehen! Als Sie mir so unerwartet gemeldet wurden, eilte ich Ihnen mit denselben Empfindungen entgegen, die ich als kleines Mädchen für sie gehabt hatte, aber – –,« sie ließ Victor's Arm los, trat zurück, stellte sich in sehr steifer Haltung ihm gegenüber, nahm eine eben so steife Miene an und fuhr dann, zu ihrem gewohnten Wesen zurückkehrend, fort: »Sehen Sie, so standen Sie mir gegenüber, und obgleich ich mir anfänglich Mühe gab, Sie aus der steifen, fremden Stellung herauszubringen, so mußte ich doch bald von dem fruchtlosen Versuch abstehen, in Ihnen den früheren Freund wiederzufinden, mußte mich damit begnügen, Sie als einen Menschen zu betrachten, mit dem nichts mehr auf der Welt anzufangen war, mit dem man sich höchstens noch zanken konnte, es sogar mußte, um sich nicht mit ihm zu langweilen.«

»Wollen Sie jetzt wieder anfangen?« fragte er lächelnd.

»Nein,« sagte sie, einen herzlichen Ton annehmend und ihn freundlich ansehend, »denn heut haben Sie mir in der Ueberraschung des Wiedersehens verrathen, daß Sie doch mein Freund sind. Sie freuten sich, als ich vor Ihnen stand; sagen Sie es einmal ehrlich, nicht wahr, Sie freuten sich?«

»O wie sehr!« entgegnete er warm.

»Sehen Sie,« fuhr sie fort, »solche Augenblicke muß man festhalten, in denen der Mensch ganz unbewußt sein Inneres nach außen kehrt. Hätten Sie mir vorhin so gegenübergestanden, wie damals bei Ihrem zweiten Besuch in New-York, oder wäre es blos Ueberraschung gewesen, die sich auf Ihrem Gesicht gemalt, so würde ich Ihnen allerdings auch mein Vertrauen geschenkt haben, aber nur dem Ehrenmanne, nicht dem alten Freunde. Ich will es Ihnen nun auch vergessen, daß Sie einmal die Caprice hatten, den Fremden gegen mich zu spielen, Sie sollen mir es später erklären, warum Sie es thaten, jetzt will ich Ihnen nur sagen, daß ich mich auch freute, Sie wiederzusehen, und daß es auch nicht wahr ist, daß ich Musik nicht leiden kann. Ich sagte es in New-York nur, weil Sie es abschlugen, mir wieder Unterricht zu geben; weil ich mich über Sie ärgerte, sagte ich es Ihnen zum Possen. Ich gestehe es Ihnen nur lieber gleich ehrlich ein, damit wir wieder auf den alten Fuß kommen, und weil,« sie lachte, »weil es ja doch vorhin durch meine unschuldige Cousine herauskam.«

In Victor stritten seltsame Gefühle mit einander. Er konnte dem Zauber dieser arglosen Offenheit nicht widerstehen und wußte doch, daß die Gründe, die ihn einst bewogen, sich dem anmuthigen jungen Mädchen so fremd gegenüberzustellen, keineswegs gehoben waren. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, daß sein Aufenthalt in Häringsdorf ja nur für wenige Tage berechnet sei, er beschloß auch diese Frist noch zu verringern.

Flora oder Miß Grandison, wie wir sie vorläufig nennen wollen, fuhr fort:

»Sie sind ein Schützling meiner Großmutter gewesen. Ich weiß von Ihnen selbst, daß Sie ihr viel zu danken haben und daß Sie es aus vollem Herzen thun. Sie haben mir nie ein nachtheiliges Wort über sie gesagt, und die Gründe ehrend, die Sie dazu bewogen, habe ich auch nie versucht, Ihnen ein solches zu entlocken. Trotzdem werden, können Sie es nicht billigen, daß sie das Zwangsregiment, an dem meine arme Mutter zu Grunde ging, auch auf mich erstrecken will, obgleich Länder und Meere uns trennten. Ich kann nicht sagen, daß ich mich freute, als ich von dem Verlangen meiner Großmutter hörte, mich für einige Zeit in ihrem Hause aufzunehmen. Ich freute mich nicht, denn ich habe das Sterbebett meiner Mutter nicht vergessen, und jede ihrer herzzerreißenden Phantasien, für die ich später durch mein eigenes erwachendes Verständniß wie auch durch Ihre Tante und meine Pflegerin Dorothee eine Erklärung fand, ist mir in die Seele gegraben und hat mir eine tiefe Scheu vor der harten Frau eingeflößt. Dennoch weigerte ich mich nicht, ihren Wunsch zu erfüllen. Es zog mich mit tausend unsichtbaren Ketten in die Heimath. Ich habe mich nie heimisch in New-York gefühlt. Seit ich aufhörte ein Kind zu sein, das durch Zuckerwerk und Liebkosungen zu bestechen ist, war mir auch das Haus meines Oheims verleidet, obgleich mehr Instinct als klar erkannte Gründe mich allmählich gegen ihn erkalten ließen. Mein Herz fühlte sich durch nichts zurückgehalten, als mir der Wille meiner Großmutter mitgetheilt wurde, und der Gedanke, daß sie sich ja geändert haben könne, die Ueberzeugung, daß die von allem Weh und Leid der Erde erlöste Seele meiner Mutter in dem seligen Genuß ihres Friedens nicht darnach verlangen würde, in ihrer Tochter eine Rächerin ihrer irdischen Bedrängnisse zu sehen, besiegte jede widerwillige Regung in mir. Erst als ich hörte, weshalb ich zu der Großmutter sollte, als ich aus dem von ihr geschmiedeten Plan erkannte, wie sie immer noch sich an die Stelle der Vorsehung stellt und es wagt, eigenmächtig in die Schicksale der Menschen einzugreifen, gleichviel, wie schmerzliche Opfer schon diesem despotischen Wahn gefallen, erst da regte sich der Widerspruch in mir und reifte der feste Entschluß, mich um jeden Preis dem Einfluß ihres Willens zu entziehen. Das konnte nur geschehen, indem ich mich zum Schein fügte, denn mein anfänglicher offener Widerstand, den ich unumwunden gegen den Onkel aussprach, wurde mit Gründen zurückgeschlagen, deren Niedrigkeit mich nun auch für immer von seinem Einfluß frei, mich plötzlich mündig machte und mich zum selbstständigsten Handeln berief. Sie wissen es wahrscheinlich nicht,« fuhr sie, ihr Gesicht ihrem Begleiter zuwendend fort, »daß meine Großmutter wieder im Begriff steht, eine glückliche Ehe zu stiften, daß in der Werkstatt ihres berechnenden Kopfes wieder einmal ein Exempel zum Abschluß gebracht werden soll, dessen Facit allerdings nach ihrer Meinung Millionen beträgt, gegen die ein verblutendes Herz, ein geknechtetes Leben ja nicht in die Wagschale fallen kann. Ich soll Georg heirathen!«

»Ich weiß es,« entgegnete Victor.

»Sie wissen es?« wiederholte sie in gereiztem Tone. »Ist meine Großmutter des Gelingens ihres Projectes so sicher, daß sie es nicht einmal mehr der Mühe werth findet, ein Geheimniß daraus zu machen?«

Er antwortete nicht. Sie sah ihn vorwurfsvoll an und sagte:

»So wußten Sie also, daß ich Ihres Freundes, Ihres Pflegebruders Frau werden soll, Sie nahmen an, daß es geschehen würde, und waren dennoch so fremd gegen mich?«

»Gerade deshalb, Achtung vor fremdem Eigenthum!« antwortete Victor unbedacht.

Ein flammendes Erröthen war die Antwort auf das rasche Wort. Ueber das lebhafte Gesicht des Mädchens flog ein Schimmer freudiger Ueberraschung. Es ist seltsam, wie geringer Mittel es oft bedarf, tausend schlummernde Gefühle zum Erwachen zu bringen. Ein Wort, ein Blick genügt, und das volle Verständniß dessen, was die Seele beunruhigte und aus unklaren Gedanken unreife Entschlüsse und widersinnige Handlungen entstehen ließ, ist wie mit einem Zauberschlage da. Wie ein Blitz durchzuckte auf einmal der Gedanke Flora's Herz, er ist kalt und fremd gegen dich gewesen, er hat aufgehört dein Freund zu sein, um sich zu wahren vor – ja vor Liebe! Er hatte sie für verlobt gehalten, für verlobt mit dem Sohn seiner Wohlthäterin, daher seine Zurückhaltung, sein Fremdsein!

Sie wußte nun mit einem Mal, daß auch sie ihn liebte, schon lange liebte, wußte es mit unumstößlicher Gewißheit, obgleich sie vor einer halben Stunde, als sie die Freude über ihr unerwartetes Wiedersehen in Victor's Augen aufleuchten sah, ihr eigenes lebhaft erregtes Gefühl nur für innere Befriedigung hielt, daß ein ehemaliger, verloren geglaubter Freund zu der Empfindung zurückgekehrt war, die sie mit Unwillen und Schmerz in ihm erstorben geglaubt hatte.

 

Die Zeit stand wieder vor ihr auf, in der sie ihn zum ersten Mal gesehen. Sie war damals ein Kind, er ein erwachsener Mensch. Mehr noch als seine Worte, sein Wesen, sprach damals seine Geige zu ihrem Herzen, und ihre lebenskräftigen Töne gaben ihr den Frohsinn wieder, den Flora von der Natur empfangen und der mehr noch als vor dem überwältigend schmerzhaften Eindruck, den der Tod der Eltern auf sie machte, vor dem neuen, kalten, liebearmen Leben verstummt war. Sie war damals, wie noch lange nachher, das Spielzeug ihres Onkels, aber Liebe, wirkliche Liebe, hatte sie seit dem Tode ihrer Eltern nur von Dorothee empfangen. Es war gewiß hübsch und wichtig von dieser empfunden, wenn sie in der Kleinen die Liebe zur alten Heimath zu erhalten strebte, sie hätte es nur nicht auf Kosten der neuen thun müssen. Flora war jung, woran gewöhnt ein Kind sich nicht, welche heterogenen Gegenstände faßt nicht solch' kleines Herz auf, sie mit Wärme und Innigkeit umschließend, aber Dorothee litt nicht, daß Flora ihre neue Heimath, daß sie ihren Onkels so recht von Herzen lieb gewann. Sie deckte ihr alle Schattenseiten, die ihr scharfblickendes Auge leicht herausfand, an Beiden auf und nährte in der Kleinen eine Liebe zur Heimath, einen Wunsch zur Rückkehr in dieselbe, der bei jeder weniger glücklich beanlagten Natur leicht hätte zur krankhaften Sehnsucht werden können.

Bei Flora nicht. Es war nur ihren Neigungen und Wünschen ein Ziel gegeben, das sie ihren nächsten Umgebungen entfremdete und die Wirkung der traurigen Ereignisse, die ihre Kindheit so plötzlich getrübt, zu einer nachhaltigeren machte, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

Victor's Erscheinen wirkte mächtig auf sie. Er kam aus der Welt, in die sie hineingehörte, und die Fülle des Frohsinnes, die in ihm lag, berührte sie um so heimathlicher, als sie darin auf einmal ihre eigentliche Natur, ihr früheres Wesen wiederfand. Ihr lachte das Herz, als sie ihn zum ersten Mal spielen hörte, sie jubelte, als sie vernahm, daß er auch auf dem Clavier eine Art von Meisterschaft erlangt, und sie erklärte ihrem Onkel augenblicklich, daß sie bei Victor Unterricht haben müsse. Er schlug ihr nie etwas ab, also auch das nicht, und so wurde Victor ihr Lehrer, wurde aus dreifacher Veranlassung ein täglicher Besucher in ihres Oheims Hause und ihr Freund, seinen dreifachen Anspruch auf seine Verwandtschaft mit Dorothee, auf sein Verhältniß zu ihrer Großmutter und auf die Landsmannschaft mit ihr gründend.

Die Zeit seiner Anwesenheit in New-York war die glücklichste, die Dorothee und Flora dort verlebten, und ohne zu wissen, was sie that, ja, ohne es zu wollen, trug Dorothee nicht wenig dazu bei, den Eindruck, den Victor auf des Kindes Herz hervorgebracht, zu vertiefen und zu einem dauernden zu machen.

Mit tausend Thränen sah Flora ihn scheiden. Es waren kindliche Thränen, Zeugen eines kindlichen, das heißt eines sehr unschuldigen Schmerzes, aber sie verwischten das Bild des Freundes nicht. Victor hatte ihr fest versprechen müssen, wiederzukommen, immer wieder ließ sie sich die Hand darauf geben, immer auf's Neue wiederholte sie: »Vergessen Sie es nicht, ich habe Sie nicht mehr lieb, wenn Sie nicht Wort halten.«

Er hatte Wort gehalten, er war wiedergekommen. Vielleicht hätte er es nicht gethan, wenn Frau Artefeld's Warnung ihm früher als im Moment der Abreise gekommen wäre, denn es war doch kein eigentliches Worthalten, so verändert wiederzukommen.

Flora's Enttäuschung möchte schwer zu beschreiben sein, als sie ihm jubelnd entgegeneilte, in ihrer Empfindung dasselbe harmlose, warmherzige Kind, und er sie so förmlich begrüßte und im strengsten Sinn die Zurückhaltung beobachtete, die, conventionellen Verhältnissen Rechnung tragend, ein junger Mann gegen eine junge Dame festzuhalten pflegt. Was gingen Flora conventionelle Verhältnisse an, sie war noch dieselbe, die sie gewesen war, als Viktor ihr den Frohsinn und die Sorglosigkeit früherer Jahre zurückbrachte. Wollte er ihr Beides wieder nehmen? Aber jetzt wehrte sich ihre kraftvolle Natur dagegen.

Sie wußte sich ihre Gefühle eben so wenig zu erklären, als sein denselben so wenig entsprechendes Benehmen. Sie ahnte nichts von den Rechten, die man unberufen einem Andern auf ihr Herz gegeben, es fiel ihr nicht ein, in ihrer und seiner Jugend ein Hinderniß ihrer Freundschaft zu sehen. Was wußte sie davon, daß solches Bündniß wider die Natur ist, daß junge Herzen nicht ruhig genug schlagen zu dem sichern Nebeneinandergehen, daß sie engerer Vereinigung entgegenstreben oder sich allmählich trennen, um anderen Zielen nachzueilen. Sie bestand auf ihren Kinderansprüchen, und im unbewußten Gefühl der Reinheit derselben scheute sie sich nicht, sie geltend zu machen.

Er blieb bei seiner Zurückhaltung, und diese erweckte ihren Stolz, auch ein instinctives Gefühl, das ihr vorläufig noch kindische Waffen in die Hand gab, als deren schärfste und wirkungsvollste ihr ein plötzliches Abschwören dessen erschien, was sie gerade zuerst mit ihrem Freunde und Lehrer zusammengeführt hatte. Sie kehrte überhaupt völlig die rauhe Seite ihres Wesens heraus, und wenn auch ein scherzhafter Ton vorherrschte, war doch der frühere harmlose Verkehr Beider zu einer Art Waffenspiel geworden, was namentlich von ihrer Seite nicht ganz ohne Feindseligkeit geblieben war. Hatte er den Grund dieser Feindseligkeit besser durchschaut als sie selber?

Mochte dem sein wie ihm wolle, so fühlte er sich doch tief innerlich verpflichtet, die gefährliche Probe nicht zu wagen, der die Freundschaft mit dem jungen, anziehenden Geschöpf ausgesetzt gewesen wäre. Mochte er die eigenmächtige Vorherbestimmung über das Schicksal zweier Menschen, die Frau Artefeld auch hier wieder gewagt, zu Recht anerkennen oder nicht, es war seine Wohlthäterin, deren Weg er gekreuzt, es war sein innigster Freund, dessen Glück er sich möglicher Weise durch eine Bewerbung um Flora in den Weg gestellt haben würde. Ein Herz, das ihm schon gehörte, würde er nicht aufgegeben haben um solcher eigenmächtigen, bis dahin auf nichts begründeten Ansprüche willen, aber seine Gewissenhaftigkeit litt es nicht, daß er ein Herz zu erobern versuchte in einem Augenblick, wo er mit Vertrauen in das Eigenthumsrecht eines Andern eingeweiht worden war. Er gab aber in dem Punkt des Eroberns viel auf seine Fähigkeiten, glaubte leicht an seine Siege und fand es daher für beide Theile nöthig, sich zu entwaffnen.

Noch konnte Flora ja durch sein Benehmen nicht ernstlich verletzt werden, sie liebte ihn ja nicht, es war ja nur das Kind, das einen Anspruch aufzugeben hatte.

In ihrem Trotzen auf frühere Ansprüche, in der Unbefangenheit, mit der sie ihm Vorwürfe machte, ins der Gereiztheit, mit der sie den Zwiespalt herausforderte, in der Absichtlichkeit, mit der sie ihn ärgerte, in dem Allen sah er nur eine kindische Laune, kindische Empfindlichkeit, nicht die Waffen eines verletzten Herzens, das sich freilich des eigentlichen Grundes der Kränkung nicht bewußt war.

Er war eben mit seinen Erfahrungen noch nicht auf ein solches Naturkind getroffen, vielleicht täuschte ihn auch seine Gewissenhaftigkeit, die ihn zaghaft machte, hier der Liebe zu begegnen, genug, er verließ New-York in der Ueberzeugung, Georg's Herz werde noch ein unbefangenes Herz zu gewinnen haben, aber er beschleunigte seine Abreise, um das seine wenigstens so gesund heimzubringen, wie eine in ihrem ersten Aufglühen gewaltsam erstickte, durch kein Entgegenkommen genährte Liebe es ihm nur möglich machte.

Er war auch der Ueberzeugung, mit dieser, wie er es nannte, flüchtigen Passion, vollständig abgeschlossen zu haben, als die überwältigende Empfindung der Freude, die ihn bei dem plötzlichen Wiedersehen durchglühte und die durch keine Reflexion zurückgehalten wurde, ihm nur zu sehr das Vergebliche seiner bisherigen Bestrebungen klar machte. Es war unmöglich, den Lichtstrahl der Freude zu verkennen, die für einen Augenblick seine Gesichtszüge verklärte, wenn auch Flora nur einen Freundesgruß zu empfangen glaubte und mit voller Unbefangenheit erwiderte.

Das unbedachte Wort vorhin, das ihr auf einmal eine so überraschende Erklärung seiner früheren fremden Zurückhaltung gab, riß nun auch gänzlich die Binde von ihren Augen und zeigte ihr den richtigen Quell jener Freudenstrahlen, die ihr so fröhlich heut aus seinem Auge entgegengelacht hatten.

Wie aber vorhin sein Antlitz der Spiegel seiner Seele gewesen, so jetzt das ihrige, und das Erröthen desselben, das freudige Lächeln der Ueberraschung, das leuchtend darüber hinflog, übte die volle Macht der Wiedervergeltung.

Sein Herz schlug, sein Auge suchte das ihre, aber sie hatte es abgewendet, sie schien ganz in den Anblick des Meeres versunken, wendete es ihm aber wieder zu und machte eine Bemerkung über den Farbenglanz der Wogen, die seine Gedanken durchschnitt und ihm die schon geöffneten Lippen schloß. Eines Weile schritten sie schweigend nebeneinander, dann unterbrach sie die verlegene Pause und sagte:

»Ich vergesse ja ganz meine Geschichte, hören Sie also: ich sagte Ihnen schon, daß ein Besuch bei meiner Großmutter beschlossen, daß der Zeitpunkt dazu bestimmt und ich bereit war, dem Wunsch derselben nachzukommen, als mein Onkel mir die höchst überraschende Mittheilung machte, daß ich verlobt sei und daß meine Verbindung mit dem unbekannten Bräutigam Hauptgrund meiner Reise wäre. Wahrhaftig, eine lustige, allerliebste Idee! Daß ich sie mit Entrüstung zurückwies, versteht sich von selbst. Ich erklärte mich gegen den Unsinn einer solchen Verlobung, ich versicherte, daß ich schon deshalb Georg nicht lieben würde, weil man mir diese Liebe octroyiren wolle, ich nannte es eine Verletzung des Anstandes, der Sitte, daß man mich zu dem Bräutigam schicke, als sei es meine Sache, um ihn zu werben. Mein Oheim überging den ersten Punkt und entschuldigte die, wie er sagte, anscheinende Unzartheit in der Form durch Georg's Kränklichkeit und die Sorge seiner Mutter, ihn den Anstrengungen einer so weiten Reise auszusetzen, eine Erklärung, die meine Abneigung, ihn zu heirathen, natürlich nur verstärken konnte. Ich denke, seine Mutter, die ihn gewöhnt hat, den Zipfel ihrer Schürze nicht loszulassen, kann es auch gefälligst übernehmen, ihn allein zu pflegen. Ich trage kein Verlangen, mich an das Krankenbett eines ungeliebten, mir völlig fremden Menschen zu fesseln –«

Victor unterbrach sie:

»Sie kennen Georg nicht,« sagte er vorwurfsvoll.

»Nein, und ich hoffe ihn auch nimmer kennen zu lernen,« entgegnete sie rasch.

»Er ist hier,« sagte Victor mit bedeutungsvoller Miene.

Flora blieb stehen und sah Victor erschrocken an. Er konnte ein Lächeln über ihr Erschrecken nicht unterdrücken, sie wandte sich erst ärgerlich ab, überwand aber rasch die Aufwallung und sagte sehr ernsthaft:

»Das ist gut, das ist mir lieb. Sie werden ihm nicht sagen, wer ich bin, und so kann er sich um so unbefangener überzeugen, daß er und ich nimmer ein Paar werden können.«

»Warum weisen Sie diese Möglichkeit so entschieden zurück?« sagte Victor, nun auch sehr ernst werdend. »Ich will seine Mutter nicht in Schutz nehmen, die Eigenmächtigkeit ihres Verfahrens nicht entschuldigen, aber das Glück des Mädchens, das sie zu Georg's Gattin erwählt, stellt sie nicht auf's Spiel; Georg wird jeden Anspruch an Glück erfüllen.«

»Mein Vater war, so viel ich mich seiner erinnere, ein liebevoller, warmherziger Mensch,« sagte Flora, »er trug meine Mutter auf den Händen, er liebte sie wahrhaft und aus vollem Herzen, dennoch,« fuhr sie mit einem Zucken um ihre Lippen fort, das tiefe Bewegung verrieth, »dennoch habe ich sie nie froh, nie glücklich gesehen. Ich sah nie ihr Auge lachen, so wie die Augen der Menschen zu lachen pflegen, deren Herz befriedigt ist. Damals verstand ich das Alles nicht, ich verstand es auch nicht, warum sie sterben mußte, warum ihr letztes, mit Bewußtsein gesprochenes Wort mir das Gelübde abforderte, nie meine Hand ohne mein Herz zu vergeben. Jetzt weiß ich das Alles, und nun mag für mich Georg der beste, liebevollste Mensch von der Welt sein, ich werde ihn nicht heirathen, weil ich ihn nicht liebe.«

»Aber Sie können ihn doch lieb gewinnen!« wandte Victor ein.

»Nein, so wie es die Mutter gemeint hat, so wie sie zu lieben vermochte, so auf Tod und Leben, nein!« sagte sie fest, und in Victor's aufflammenden Blicken den Gedanken lesend, der die natürliche Folge ihres bestimmten Ausspruches sein mußte, und unwillkürlich darüber erröthend, beantwortete sie denselben, indem sie hinzufügte: »Ich liebe keinen Andern, gewiß nicht. Unsere New-Yorker Dandies sind nicht dazu angethan, ein Herz in seiner tiefsten Tiefe zu bewegen, aber Georg wird es eben so wenig vermögen, wenigstens das meine nicht, das weiß ich. Ich muß Ihnen gestehen, ich fühle etwas wie Geringschätzung für ihn, daß er die Zucht ertragen konnte, der seine Mutter ihn so gut unterworfen haben wird, wie sie es bei ihren anderen Kindern gethan. Die Dornen und Nesseln, mit denen ihr Despotismus sie bewaffnet, lassen keine Blüthe aufkommen.«

»Hier ist sie über alles erstickende Unkraut weg, frei emporgewachsen,« unterbrach sie Victor.

»Gut, gut, wir wollen nicht streiten,« sagte sie ungeduldig, »ich mag ihn nicht, so viel ist sicher, und möchte er meinetwegen die höchste Anbetung verdienen; das Herz ist eigensinnig und kehrt sich wenig an Verdienst, wenig an das was es soll. Es thut nur, was es will, und das ist das Rechte und einzig Nothwendige. Daß ich ihn aber nicht lieben will, das heißt, nicht kann, dafür möchte ich Ihnen gleich mein Leben verpfänden.«

»Lieber das Herz,« sagte er leise, »ich gebe aber das Pfand nicht wieder heraus.«

Sie mußte wohl seine Bemerkung nicht verstanden haben, ihr Blick schweifte wieder über das Meer, dann sagte sie:

»Sprechen Sie nicht immer dazwischen, ich bringe sonst meine Geschichte nicht zu Ende. Ich muß so wie so eine Lücke in derselben lassen, weil ich sie nicht mit Aufdeckung der niedrigen Gründe ausfüllen will, durch die mein Onkels mich zur Einwilligung zu bestimmen hoffte, Gründe, die, wenn sie Wahrheit enthalten, und das glaube ich fast, auch leicht meiner Großmutter Absichten ändern könnten. Diese Gründe waren es auch, die mich veranlaßten, vom gewohnten geraden Wege abzuweichen und durch scheinbare Fügsamkeit mir die freie Selbstbestimmung über die Zukunft meines Herzens zu retten. Was den geringeren oder größeren Grad meiner Geneigtheit betraf, in die mir gemachten Heirathsvorschläge einzuwilligen, so wies ich jede Entscheidung darüber bis auf Weiteres zurück, erklärte, mich über den Punkt erst nach meiner Bekanntschaft mit Georg aussprechen zu können, willigte aber sowohl in die augenblickliche Abreise, als in alle damit zusammenhängenden Verfügungen meiner beiden Vormünder, meines vortrefflichen Oheims, sowie meiner liebevollen, auf mein Glück so sehr bedachten Großmutter. Ich verließ sehr bald darauf New-York, Dorothee begleitete mich, ein englischer Dampfer brachte uns in einen englischen Hafen. Von dort sollte ich mit einem der Großmutter zugehörenden Schiff, dem Neptun, nach Hamburg segeln. In glücklichster Uebereinstimmung mit meinen Plänen war der Neptun zwar eben angelangt, als ich eintraf, aber zeitraubender Ausbesserungen benöthigt. Als ich das hörte, nahm ich keinen Anstand, mich dem Capitän desselben vorzustellen. Er hatte die dringendsten Anweisungen, mich mit all' der Aufmerksamkeit und Ehrerbietung zu behandeln, die jedes seiner Prinzipalin gehörige Gut, sei es nun lebendige oder todte Kaufmannswaare, natürlich schon ihres Eigenthumsrechts wegen verdiente.

Er war also außer sich über die unberechnete, unerwartete Verzögerung, glaubte mich dadurch in die peinlichste Verlegenheit gesetzt zu sehen und bot mir für die Zeit der Reparatur, die sich nicht berechnen ließ, seinen Schutz an. Ich dankte ihm herzlich, beruhigte ihn über alle seine Besorgnisse, erklärte Dorothee's Schutz für völlig genügend und versicherte ihm, daß die Großmutter, die Möglichkeit einer solchen Verzögerung vorherbedenkend, es mir anheimgestellt habe, in dem Fall entweder ein anderes Schiff zur Ueberfahrt zu benutzen, oder für die Zeit die in der Nähe von London auf dem Lande lebenden Verwandten meines Oheims zu besuchen. Ich sagte, daß ich das letztere thun und mich zu der von ihm bestimmten Zeit an Bord seines Schiffes einfinden wolle. Geschehe letzteres nicht, so solle er annehmen, daß ich inzwischen meine Pläne geändert und meine Heimreise angetreten habe.

Um alle seine Bedenken zu heben, übergab ich ihm einen Brief an meine Großmutter, den er abgeben sollte, wenn ich verhindert würde, mich zur rechten Zeit zur Abfahrt des Schiffes einzustellen. Der Brief wird meine Großmutter über die Gründe meiner Weigerung aufklären und ebenso zur Rechtfertigung des Capitäns dienen, wenn es nicht etwa in ihren Instructionen gelegen hat, daß die Ueberlieferung meiner Person, wenn nicht anders, in Ketten und Banden geschehen sollte. Der Capitän ging natürlich ganz arglos auf Alles ein. Meine alte Dorothee war völlig mit den für meine Zukunft gefaßten Plänen einverstanden, sie war es auch mit den Mitteln, die der Zufall uns so bereitwillig dazu bot.

Wir reisten also ab, nur nach einer andern Hafenstadt, und segelten statt nach Hamburg, nach einem französischen Hafen. Mit Geld waren wir reichlich versehen, zur Bestimmung der Reiseroute reichten meine geographischen Kenntnisse aus, und Dorothee's Alter und respectable Würde verwischten äußerlich ebenso alles Abenteuerliche des Unternehmens, als es innerlich gerechtfertigt war. Alleinstehend hätte ich ebenso gehandelt, hätte eben so sicher und unangefochten mein Ziel erreicht, aber keinen Augenblick habe ich den Trost, die Annehmlichkeit verkannt, die für mich in der Begleitung dieser treuen, liebreichen Seele lag. Ich machte übrigens keine Vergnügungsreise aus der gebotenen Fahrt. Ich ging auf directestem Wege nach Berlin. Dort trennte ich mich von Dorothee. Sie wollte vorläufig eine alte Bekannte in ihrer Heimath aufsuchen, nachdem sie mir versprochen hatte, auch Sie vorläufig noch nicht von ihrer Rückkehr in Kenntniß zu setzen.

Ich dagegen präsentirte mich in Elbing bei meinen mir bis dahin persönlich unbekannten Verwandten als Miß Grandison. Durch einen sehr warmen Empfehlungsbrief, den ich, Flora Eisenhart, genannter Dame geschrieben, pries ich sie als Lehrerin der englischen Sprache, die aber auch befähigt und bereit sei, von ihren übrigen geistigen Fähigkeiten und moralischen Vorzügen der erziehungsbedürftigen Jugend so viel mitzutheilen, als sie selbst nur entbehren könne. Ich bat meine Verwandten, sich meines Schützlings, die zugleich meine beste Freundin sei, freundlich anzunehmen und ihr eine Stelle als Gouvernante zu verschaffen, ich lobte Miß Grandison nach Kräften und in uneigennütziger Weise, da ich wußte, daß diese nicht an Flora Eisenhart Vergeltungsrecht üben werde, sondern sich im Gegentheil vorgenommen habe, dem künftigen Urtheil ihrer neuen Gönner über genannte junge Dame nicht vorzugreifen, um die Unbefangenheit desselben nicht zu beeinträchtigen.«

Victor lachte. Flora fuhr fort:

»Ich fand in Elbing die freundlichste Aufnahme. Der Name Flora Eisenhart wirkte wie eine Zauberformel. Er hätte mir diese wohlwollenden, liebreichen Herzen geöffnet, auch wenn Miß Grandison nicht entschlossen gewesen wäre, der Empfehlung derselben Ehre zu machen. Manchen Menschen gegenüber geht es Einem aber sonderbar mit dem Vorsatz, liebenswürdig sein zu wollen. Man fühlt es entweder gleich, wie albern solcher Vorsatz ist und wie unmöglich dessen Ausführung, da bewußte Liebenswürdigkeit meist gerade in das Gegentheil, das heißt, unbewußte Unliebenswürdigkeit umschlägt, oder man vergißt ihn ganz und giebt sich so wie man ist, nur dadurch unwillkürlich seine besseren Eigenschaften zur Geltung bringend, daß die schlimmeren in keiner Weise gereizt und herausgefordert werden. Man bot mir gleich anfangs Gastfreundschaft an, ich war aber erst wenige Tage im Hause, als man mir ein festes Engagement antrug, da Röschen, die viel an sich herumbildet, schon längst gewünscht hatte, englischen Unterricht zu nehmen, und auf ihr Antreiben Lorchen sich auch entschlossen hat, ihren vielgeliebten und vielgetreuen Candidaten mit einem: › How do you do?‹ zu überraschen.

So bin ich denn seit sechs Wochen etwa englische Gouvernante und habe ein paar der dickköpfigsten, schwerfälligsten Schülerinnen, die man sich denken kann, stehe mit ihnen wie mit ihrer Mutter auf dem besten Fuß, habe täglich Gelegenheit, das prachtvolle Gemüth, den gesunden Verstand und das treue, einfältige Herz meines Herrn Onkels zu bewundern, ihn täglich lieber zu gewinnen und die Wahl meiner Tante zu begreifen, die eben auch Bürgschaft ihres eigenen gediegenen, liebenswürdigen Innern ist. Ich habe angefangen, in den Worten: Häuslichkeit und Familienglück den schönen, tiefen Sinn zu verstehen, habe erkannt, daß häßliche Gesichter unendlich schön aussehen können, und habe zum ersten Mal gelernt, daß man sich über ein so elendes Ding, wie ein Geldstück ist, wirklich freuen kann. Sehen Sie,« sie zog ihre Börse, »hier ist der erste Betrag meines monatlichen Gehaltes, das erste selbsterworbene Geld, es macht mich reicher als aller Reichthum, in dessen Besitz ich bis dahin zu sein wähnte und den ich herzlich wenig zu schätzen wußte.«

Victor lächelte zustimmend, sagte dann aber doch:

»In der Fülle des Reichthums ist es leicht, den Reichthum zu verachten: Man kennt das Gegentheil nicht.«

Miß Grandison erröthete.

»Verachtung ist zu viel gesagt,« entgegnete sie, »verachten darf man ihn schon deshalb nicht, weil auch er, wie Alles in der Welt, eine Quelle des Glückes werden kann. Als solche habe ich ihn jedoch nie kennen gelernt,« setzte sie seufzend hinzu, »denn in all' der Prahlerei, dem Prunk und Glanz, der mich umgab, wie alle die, mit denen ich verkehrte, war wenig von der himmlischen Gabe, die wir Glück nennen. Glück ist Befriedigung, und wer von den reichen Leuten, die ich kannte, zu denen ich gehörte, oder die mir verwandtschaftlich nahe standen, ist denn befriedigt? Sind es alle die, die im Besitz von Millionen neuen Millionen nachjagen, die ein Hazardspiel aus dem Erwerb machen, die in jedem Plus eines Andern ein Minus für sich sehen. Ist es die Großmutter je gewesen, hat sie für all' ihr Geld Liebe eintauschen können, waren die Herzen ihrer Kinder, die zu bezwingen sie das Zauberwort nicht fand, käuflich für Gold? Ist mein Onkel, den die Last des Reichthums so tief herabzieht in den Staub der Gemeinheit, daß er es mir zumuthete, Betrug zu üben, um dieselbe Last auf meine Schultern zu laden, ist er glücklich?

Mein Vater holte sich den Tod, weil der blendende Schein des Goldes ihn in die Ferne lockte und er in dem hellen Glanz fälschlich eine aufgehende Sonne; sah, meine Mutter starb aus Sehnsucht. Alle Schätze der Welt konnten ihr nicht geben, woran sie darbte; Gold ersetzte nicht das tägliche Brod und äußere Pracht nicht die Liebe, die Lebensnahrung des Geistes ist, wie das Brod den Körper erhält. Sehen Sie, Glück war nirgends, wohin ich sah, aber Reichthum in Fülle. Darum, wie Andere den Staub von den Füßen schütteln, wandern sie von da fort, wo das Herz keine Heimath fand, so werfe ich die goldenen Ketten von mir, die mir überall entgegenklangen und jeden Naturlaut der Freude in Disharmonie verwandeln wollten. Ich habe noch nichts entbehrt und würde nichts entbehren, auch wenn ich noch zehnmal weniger hätte. Ich fühle mich frei wie der Vogel in der Luft; das kleine schmucklose Restchen, das mich umfängt, hat die Liebe gebaut, und darum ist es warm und heimathlich darin, und ich werde im Leben kein besseres haben.«

»Ich verstehe Sie, Flora, ich« – Victor hielt inne. Er hatte sagen wollen: »ich liebe Sie nur noch mehr um dieser Empfindungen willen,« aber er unterdrückte das Wort und sagte statt dessen: »Aber das Ende von dem Allen?«

»Das weiß ich nicht und darum kümmere ich mich auch nicht,« war die Antwort. »Die Wellen, die der Sturm aufregt oder die ein sanfter Wind kräuselt und weiter treibt, wissen auch nicht wohin, aber sie kommen an's Land. An's Land werde auch ich kommen, und selbst auf die unwirthbarste Küste scheint die Sonne. Fragen Sie mich also nicht, was ich zu thun gedenke,« fuhr sie fort, »denn ich wüßte Ihnen nicht zu antworten. Ich lebe für den Augenblick, und je schöner der heutige Tag, um so vertrauender sehe ich auf den morgenden. Kommt Zeit, kommt Rath, das ist jetzt mein Wahlspruch. So werde ich seiner Zeit auch wissen, wann ich mich meinen Verwandten zu entdecken habe. Bis dahin Verschwiegenheit und Geduld. Miß Grandison wird Flora Eisenhart's Sache hoffentlich nicht verderben.«

 

Ende des dritten Bandes.

 


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