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Zweites Capitel.


Die kleinen Fußstapfen, denen Georg folgte, führten in regelmäßigem Lauf dem Strand entlang. Die schmale, feine Spur war nicht zu verkennen, und wenn auch hier und da durch die Schritte der darüber Hinwandelnden verwischt, fand das scharfe Auge Georg's sie doch immer wieder aus dem bunten Gewirr der vielfach sich kreuzenden Spuren heraus. Am Fuß der Stufen, die unweit des Herrenbades hinauf in das Dorf führen, hörten sie auf, aber oben fand er sie wieder oder glaubte wenigstens sie wiederzufinden, denn da das Meer seine Wellen nicht bis dort hinauf gespült hatte, um dem Sande Festigkeit zu verleihen, so gehörte mehr als Phantasie, gehörte ein gläubiges Herz dazu, einen vorgezeichneten Weg in den undeutlichen Spuren zu erkennen. Am Waldessaum hörten jedoch auch diese auf, und Georg stand einen Augenblick zweifelnd still. Es führten gar so viele Wege in den Wald hinein, und sie sahen alle so zauberisch verlockend aus. Der helle Sonnenschein spielte überall mit dem grünen Laub, warf goldenen Glanz auf die ernsten, grauen Stämme und goß eine Fülle von Licht über den schwellenden Teppich des Bodens.

Georg wählte den am hellsten beleuchteten Pfad und schritt getrost in den grünen Tempel hinein.

Liebliche Stille umfing ihn. Von den geräuschvollen, wechselnden Lebensbildern, die soeben noch seinen jugendlichen Sinn ergötzten, folgte ihm keins in den Wald, nur das Rauschen des Meeres tönte ihm nach und mischte sich in das leise Windesrauschen, das aus den Wipfeln der Bäume der verwandten Stimme zu antworten schien.

Dem einsamen Wanderer wurde ganz andächtig zu Muthe. Er vergaß fast den kindischen Einfall, der ihn, abenteuerlustig, den ersten besten zierlichen Fußstapfen nachgejagt, zu denen sich die leicht erregte Phantasie rasch die entsprechende Gestalt eines hübschen jungen Mädchens vor die Seele gezaubert hatte: Die hehre Majestät und anmuthige Schönheit des ihn umgebenden Gottestempels nahm alle seine Gedanken und Empfindungen in Anspruch.

Was er eigentlich hier gewollt, fiel ihm erst wieder ein, als er, der Biegung des Weges folgend, der immer nur auf wenige Schritte zu übersehen war und bei jeder neuen Wendung eine neue romantische Schönheit den entzückten Blicken offenbarte, plötzlich wirklich die Gestalt eines vor ihm herwandelnden Mädchens gewahrte.

Augenblicklich wich Georg's romantische Andacht, und sein erster Blick fiel auf die Füße des Mädchens, die der nur bis an die Knöchel reichende Rock frei ließ und die er um so eher in's Auge fassen konnte, als das Mädchen jetzt den Korb, den sie am Arme trug, an die Erde setzte und halb in ausruhender, halb in betrachtender Stellung, mit dem Rücken an eine der Buchen gelehnt, stehen blieb.

Es war ein liebliches Bild, und Georg hatte volle Muße, es zu betrachten, da das Mädchen, sinnend in den Waldesschatten schauend, ihn nicht gewahrte. Sie stand unter dem Baum, der seine frühlingsfrischen Zweige über ihrem Haupte wie ein Dach ausgebreitet hatte, wie die Nymphe des Waldes in ihrem gottgeweihten Tempel. Die kleinen, zierlichen Füße wurden fast bedeckt von dem üppigen Kraut der Blaubeeren, den mannigfaltigen Haideblüthen, den dunkeln Moosarten, die den Untergrund des Waldes bilden und ihm eine zauberische, duftige Schönheit mehr verleihen.

»Sie ist es!« jubelte Georg innerlich, und ein Blick, der die ganze holde Erscheinung mit rascher Musterung überflog, bewies die Richtigkeit seines im Scherz aufgestellten Systems. Eine Hebe war es freilich nicht, die vor ihm stand, aber daß die kleinen Füße die große, mehr kräftige als zarte Gestalt mit so schwebender Leichtigkeit zu tragen vermochten, bewies nur um so mehr die Elasticität derselben. Der edel geformte, ein klein wenig nach vorn und doch mit stolzer Sicherheit getragene Kopf war geschmückt mit einer Fülle hellbrauner Flechten, im Nacken zu einem dichten Knoten verschlungen, während das ganz aus der Stirn gestrichene Haar in einzelnen losgelösten Löckchen die Widerspenstigkeit gegen die Hand verrieth, die seine Natur zu einer derselben nicht entsprechenden Glätte zwingen wollte. Ein runder brauner Strohhut beschattete halb und halb das Antlitz, das in vollster Harmonie zu der Form des Kopfes und zu der Gestalt kräftige, edle Züge zeigte, eine nicht hohe, aber deutende Stirn mit schön gezeichneten Brauen, Augen von jener unbestimmten Farbe und jener wundervollen Klarheit, die wie der Diamant jeden Lichtstrahl vertausendfacht reflectiren.

Ein sehr ernster, fast herber Zug um den Mund gab dem Antlitz in der Ruhe fast etwas Strenges, aber dieser Ausdruck war mehr wie ein Schleier über dem Ganzen, und derselbe so durchsichtig, daß man die volle Kindlichkeit des Frohsinns, das helle Leuchten reifen Verstandes, das rasch aufflammende Feuer einer empfänglichen Seele auch in der Ruhe ahnte, wie ein im Schatten dahinfließender, frischer, kühler Waldbach ja auch jeden durch die Bäume brechenden Sonnenstrahl in goldenen, blitzend hellen Funken wiederstrahlt.

Das Mädchen war in einfacher, halb städtischer, halb ländlicher Tracht, der Anzug der eines Bürgermädchens zweiten Ranges, aber wer sie durch ihren Anzug hätte charakterisiren wollen, würde nur seine geringe Fähigkeit bewiesen haben, die ganze Tiefe und reiche Fülle eines in sehr schmucklosen Worten ausgedrückten schönen Gedankens zu verstehen.

Es war auch nicht der, den niederen Stand und eine gewisse Dürftigkeit verrathende Anzug, es war vielleicht mehr der Ausdruck des Pathos in der Haltung des Mädchens, welcher dasselbe auf eine so völlig andere Stufe stellte, als ihresgleichen gewöhnlich stehen, was Georg veranlaßte, sie Du zu nennen, als er sie freundlich fragte, ob der Korb für sie nicht zu schwer zu tragen sei und was sie darin habe.

Es war aber nicht das Du der Herablassung, es war das, womit selbst die höchsten Würdenträger der Erde begrüßt werden, fühlt man sich gedrungen, in gebundener Rede zu ihnen zu sprechen.

In Georg's Anrede bedeutete der Ton Alles.

Das Mädchen sah betroffen auf, aber die Sonne schien sichtlich in das kühle Walddach, als sie, wenn auch zurückhaltend, doch freundlich erwiderte, daß sie Seesand und Muscheln vom Strand geholt.

»Was willst Du damit?« fragte er erstaunt.

»Die Kinder spielen gern damit und da schickt mich die Frau Försterin zuweilen an den Strand, Beides zu holen,« war die Antwort.

»Und so weit mußt Du den schweren Korb tragen, armes Kind?« sagte er mitleidig.

»Es giebt noch viel schwerere Dinge in der Welt zu tragen,« entgegnete sie mit einem halb traurigen, halb trotzigen Tone.

Ein melancholisches Lächeln glitt dabei über die Züge des Mädchens, das gar nicht hineinzupassen schien in die noch kindliche Jugend dieses Antlitzes, das von tief der Seele eingeprägten schmerzlichen Eindrücken sprach, zu einer Zeit, wo derselben meist nur entgegengesetzte zu Theil werden.

Georg fühlte sich augenblicklich zu tiefstem Mitgefühl gestimmt.

»Du hast recht,« sagte er in Erwiderung der eben gehörten traurigen Bemerkung. »Du hast recht, es giebt wohl viel Schwereres in der Welt zu tragen, aber der Wald ist so fern von dem, was wir die Welt nennen, und ich denke, ihre Stürme dringen kaum hinein.«

»Jeder Ameisenhaufen ist eine Welt,« antwortete das Mädchen gedankenvoll, »und wo sich das Leben regt, da giebt es auch Unruhe, zerstörte Freuden und vergebliche Arbeit.«

Georg sah das Mädchen kopfschüttelnd an.

»Hast Du denn Kummer?« fragte er.

»Ach, ich habe etwas noch viel Schlimmeres als Kummer,« sagte sie in unwillkürlicher Aufwallung, »Aerger habe ich von früh bis spät. Aus Kummer kann man höchstens sterben und dann ist Alles gut, aber der Aerger lehrt uns das Leben verwünschen und das ist das Schlimmste. Seinen Kummer kann man lieb haben, für den hat auch der Wald ein Herz, den Aerger versteht er nicht, und man muß sich schämen, ihn ihm auch nur zu zeigen. Ach!« setzte sie mit halb verbissenem, halb lachendem Trotz in Ton und Blick hinzu: »sie ärgern mich oft und ich kann sie nur wenig wieder ärgern!«

Georg mußte unwillkürlich über dieses Bedauern unvollkommener Rache lächeln, fragte aber dann:

»Wer ärgert Dich, bei wem bist Du eigentlich, denn von Deinen Eltern kannst Du doch nicht sprechen?«

Das Mädchen erröthete.

»Verzeihen Sie,« sagte sie beschämt und doch zutrauensvoll, »ich habe viel mehr gesagt, als ich eigentlich wollte. Es ist aber sonderbar, Sie haben gerade solche Augen, solchen Blick, wie mein Vater ihn hatte. Wenn der mich so forschend und freundlich ansah, wie Sie eben jetzt, dann trat mir gleich das Herz auf die Lippen, – und ich sagte Alles heraus, was ich dachte, Gutes und Schlimmes.«

»O, so denke doch, ich wäre Dein Vater,« unterbrach sie Georg, »und sprich frei heraus, was Du denkst, ich kann Dir vielleicht rathen und helfen.«

Ein kindlich helles Lachen war die Antwort, dann sagte das Mädchen in plötzlichem Erkennen der eigentlichen Situation halb und halb ausweichend:

»Gott bewahre! Meines Vaters Haar und Bart schimmerten schon grau, und Ihr Gesicht ist so glatt wie das eines Mädchens. Nein, nein, Sie sind doch nur ein fremder junger Herr, was geht es Sie an, ob ich Aerger habe und wer mich ärgert!«

Sie hob ihren Korb auf, winkte Georg halb über die Schulter einen Gruß zu und schritt weiter. Er blieb stehen und sah ihr nach. Wie kam das Mädchen zu dem fürstlichen Anstand?

Es lag eine Ruhe und Gemessenheit in ihren Schritten, die ihn an seine Mutter mahnten, aber hier war noch die volle Elasticität der Jugend und eine so leichtfüßige Grazie, wie seine Mutter sie wohl je kaum besessen. Hatte ja doch der Fuß derselben auch andere Wege wandeln müssen, Wege, sehr verschieden von dem schwellenden Boden dieses Waldteppichs. In jedem ihrer Schritte lag das Bewußtsein einer That, da tritt man gewichtiger auf, als wenn man, unwillkürlichem Zuge folgend, sich von dem Einfluß des Augenblickes tragen läßt. Das wandelnde Mädchen vor ihm aber wurde getragen, so schien es ihm. Sie breiteten alle die kleinen weichen, grünen Arme aus, die tausend Hälmchen und Moose, sie schmiegten sich weich um die Füße, deren Schritt sie nicht niederdrückte Dieser Fuß schien nicht geschaffen, Blumen zu zertreten.

Bis zur nächsten Biegung des Weges hatte Georg das Mädchen gehen lassen, dann eilte er ihr nach, holte sie rasch ein, nahm ihr, ohne erst zu fragen, den Korb ab und schritt, da der Weg zu schmal war, ein Nebeneinandergehen zu gestatten, mit seiner Last hinter ihr her. Auf einmal sah sie sich lächelnd um.

»Komme ich mir doch vor,« sagte sie, »wie die gute alte Dame, die alle Sonntage zu uns herauskommt, Kaffee zu trinken, die immer einen Diener hinter sich hat, der ihr die Arbeit nachträgt und kerzengerade hinter ihrem Stuhl steht, wenn sie sich ausruht. Die Frau Försterin findet es vornehm, ich muß aber darüber lachen. Gehen Sie nicht hinter mir. Ich trete hier auf den Rasen, dann haben wir nebeneinander Platz, und wir können besser zusammen plaudern. So, nun fasse ich den Korb mit an, wir tragen ihn Beide, dann ist er Keinem zu schwer. So bin ich sonst oft mit meinem Bruder in den Wald gegangen, unser Korb war nicht so groß, aber wir waren auch kleiner und trugen doch alle Beide daran. Das ist lange her, damals lebten die Eltern und die Geschwister noch, da hatte ich noch nicht nöthig, mich von anderen Leuten Pflegekind nennen und wie eine Magd behandeln zu lassen. Wenn ich's schon höre, wie die alte Katze, das heißt: der Frau Försterin Mutter, von mir zu den Leuten sagt: ›Wir haben sie an Kindesstatt angenommen,‹ und ich muß still dazu sein, dann ist mir immer, als hätte ich eine Lüge ausgesprochen. Nein, nein, im Försterhause bin ich keines Menschen Pflegekind, als das des Onkels.«

»So ist also der Förster Dein Onkel?« fragte Georg.

»Eigentlich nicht,« erzählte sie weiter. »Ich habe ihn nur immer so genannt und zwar schon, als ich noch ein kleines Kind war und nicht wußte, daß er gar nicht mit uns verwandt war. Nun hatte ich ihn aber einmal lieb, und da er wollte, daß ich ihn so fortnennen sollte, so that ich es ihm zu Gefallen. Seine Frau habe ich aber nie Tante genannt und noch viel weniger konnte ich sie Mutter nennen, wie sie es damals wollte, als sie mich in's Haus nahmen. Sie ist nicht meine Mutter, und die alte Frau oder Frau Katzenpfötchen, wie sie hier genannt wird, noch viel weniger. Ich lasse mich auch nicht dazu brauchen, den Leuten ein X für ein U zu machen. Ich sie Mutter nennen, das soll nach etwas klingen und ist doch nichts!«

»Wer waren Deine Eltern?« fragte Georg.

Sie fuhr mit der Hand über die Stirn und sagte dann seufzend:

»Der Vater war Förster und wohnte dort weithin im Walde, wo die schönen Seen liegen und die Seeraben zu Hunderten auf den Buchen nisten. Die Försterei heißt der Fangel und der Wald ist dort noch viel schöner als hier. Die Raben haben sich eine hübsche Heimath ausgesucht und sich eine Stadt oben in den Buchen gebaut. Nest an Nest hängt in den grünen Wipfeln, und das Zwitschern der Jungen, das Schreien der Alten und das Flügelrauschen hört den ganzen Tag nicht auf. Sie verderben eigentlich die Bäume, aber der Vater litt es nicht, daß man sie vertrieb. ›Sie haben sich so zutraulich hier niedergelassen,‹ sagte er, ›ich will sie nicht um die Heimath betrügen.‹ Ach, der Vater war gut und klug auch. Ich hätte keines andern Menschen Tochter sein mögen, als die seine. Nun ist er schon über drei Jahr todt und die Mutter noch länger.«

Die sonore Stimme des Mädchens, die zuweilen hart klingen konnte, wenn eine dem entsprechende Gemüthsregung mit dem Ton harmonirte, nahm bei diesen letzten Worten eine so unwiderstehliche Weichheit an, daß ihrem Zuhörer unwillkürlich die Thränen in die Augen traten.

Sie sah es mit Erstaunen, dann sagte sie:

»Ich habe meinen Vater nie weinen sehen, auch dann nicht, als die Mutter starb, auch nicht, als die Nachricht kam, daß mein Bruder, der zur See gegangen, bei einem Sturm umgekommen war. Vielleicht wäre der Vater nicht gestorben, wenn er hätte weinen können, aber es gefiel mir doch, daß er es nicht that, ein Mann muß nicht weinen. Ich thue es auch nicht, und wenn die Thränen in's Auge wollen, ich lasse sie nicht – ich spreche sie entweder fort, denn wenn man recht laut und heftig spricht, dann fürchten sie sich und bleiben weg, oder ich sehe recht in die Höhe, dann kommen sie wohl bis an die Augenhöhle und brennen dort und warten, daß ich die Augen niederschlagen und sie herauslassen soll, aber ich thue es nicht, wenigstens nicht wenn es Einer sieht.«

»Dann kann es Dir aber einmal gehen, wie es Deinem Vater wahrscheinlich gegangen ist,« wendete Georg ein, »das Herz wird Dir brechen.«

»Mein Herz, ach, ich glaube nicht, das ist sehr hart,« sagte das Mädchen, unwillkürlich nach ihrem Herzen fassend, als wollte sie sich überzeugen, daß es noch in seiner ganzen ursprünglichen Härte vorhanden sei.

Georg lächelte. Eine Weile schritten Beide schweigend nebeneinander, dann sagte er plötzlich:

»Du hast mir Deinen Namen noch nicht genannt, wie heißt Du?«

»Wendula,« sagte sie.

»Wendula!« wiederholte er fast erschrocken, »Wendula! Wo hast Du den Namen her, meine Mutter heißt auch Wendula.«

Rasch aufblitzende Gedanken durchzuckten ihn, noch ehe sie festere Gestalt genommen, sagte aber Wendula mit leichtem Spott:

»Einer der Badegäste hat einen alten ehrwürdigen Teckel, der heißt Hannibal, ich hörte ihn am Strande so von seinem Herrn rufen, und die alte Dame, die Sonntags zu uns kommt, hat ein vornehmes Windspiel, das heißt auch Hannibal. Es kann keiner dafür, daß der andere so heißt, aber das Windspiel nimmt's dem Teckel nicht übel.«

»Mädchen,« sagte Georg sehr ernsthaft und ohne weiter auf das Gleichniß einzugehen, obgleich er sehr gut wußte, was sie meinte, »ich freue mich, daß Du meiner Mutter Namen trägst, es überrascht mich nur, den seltenen Namen hier zu finden. Wie hieß Dein Vater?«

»Arnold, Robert Arnold,« antwortete Wendula.

»Nicht Richard?« fragte Georg.

»Nein; warum sollte er Richard heißen? Mein Bruder hieß Richard.«

»Weißt Du vielleicht den Vornamen von Deines Vaters Mutter?« forschte Georg weiter.«

»Ja,« sagte Wendula, »sie hieß Ernestine. Ich habe sie nicht mehr gekannt, aber ich weiß, das war ihr Name, Ernestine Arnold. Der Großvater war Förster, aber auch den habe ich nicht gekannt, der ist noch vor ihr gestorben.«

Das klang nun Alles so einfach und natürlich, daß Georg's erster Gedanke, als könne er hier auf eine Spur seines Bruders geleitet werden, wieder entschwand. Trotzdem richtete er noch einige dahin zielende Fragen an Wendula, die aber auch erfolglos blieben. Richard Artefeld hatte seinen Schwur mehr als dem Wortlaut nach gehalten. Er hatte todt für die Heimath sein wollen, todt für diejenigen, die ihn aus derselben vertrieben, für Alle, die in Liebe mit ihr zusammenhingen, er war es gewesen und hatte auch dafür gesorgt, sein Grab den Augen derer zu entrücken, die vielleicht in zu später Reue dasselbe suchen würden. Wendula konnte dereinst Alles erzählen, was sie von ihrem Vater wußte, dem eigenen Bruder desselben war Alles so fremd, daß selbst der Wunsch, einen leitenden Faden zu finden, nicht zu der Entdeckung der leisesten Spur führte.

»Es bleibt immer seltsam, daß Du den Namen hast,« sagte er endlich gedankenvoll, aber auch dafür wußte Wendula eine Erklärung.

»Meines Vaters Mutter hat in ihrer Jugend bei einer vornehmen Dame gedient, die so hieß,« erzählte sie; »es haben sich schon mehr Leute über den Namen gewundert, und da fragte ich einmal den Vater darnach. Ich weiß aber nicht, wie die Dame sonst hieß, auch nicht, wo sie lebte. Der Vater sagte, das sei ganz gleich für mich.«

Georg sah gedankenvoll vor sich hin, Wendula nahm eine ungeduldige Miene an.

»Was grübeln Sie so lange über den Namen,« sagte sie, »ich bin doch nun einmal so getauft, und was ist daran gelegen, ob ich so heiße wie Ihre Mutter oder nicht? Freilich, ich mache vielleicht dem vornehmen Namen wenig Ehre, und wenn Sie hörten, wenn es heißt: ›Wendula, zieh die Kinder an!‹ oder: ›Wendula, sieh nach dem Federvieh!‹ oder: ›Trage den Herrschaften den Kaffee hinauf!‹ – Sie würden vielleicht meinen, es sei besser, ich hieße Anneliese, ich sei doch nur eine Magd. Die Namen fliegen nun einmal frei in der Welt herum, wie die Vögel. Wer sie fängt, der hat sie, und der Vogel bleibt derselbe, gleichviel ob er in den hölzernen oder goldenen Käfig gesperrt wird, ob man ihn mit ehrerbietiger Scheu behandelt oder ihn sich mit einem Du zum Freunde macht.«

»Ei, Mädchen, Du bist stolz,« sagte Georg überrascht, »aber Du hast ganz recht, es zu sein. Ich meinte nicht, daß der Name zu gut für Dich sei, obgleich es meiner Mutter Name ist. Ich habe auch nicht aus Geringschätzung Du zu Dir gesagt, man nennt aber die Feen und Nymphen im Walde nicht Sie, das ist wider den Märchenbrauch.«

Wendula lachte.

»Mich hat Ihr Du nicht gekränkt,« sagte sie, »obgleich fremde Leute eigentlich nur zu Kindern Du sagen. Es liegt nichts am Wort, der Sinn, den man hineinlegt, thut's, und so hat mich Ihr Du eben so wenig herabgesetzt, als das Sie, mit dem die Anderen mich anreden, weil sie es so gewöhnt sind, mich erhebt. Gleichgültig ist es mir nicht, wie man mich nennt. Wer mich Du nennt, soll es auch gut mit mir meinen, denn eine Magd, zu der Jeder es sagen kann, bin ich nicht. So wie es der Vater und die Mutter zu mir sagten, klingt es doch bei Keinem, selbst bei Vater Reimer nicht.«

»Wer ist Vater Reimer?« fragte Georg.

»Eins Fischer,« antwortete sie. »Er kam oft auf den Fangel, als die Eltern noch lebten. Mein Vater war ihm sehr gut, und die Mutter und wir Kinder auch. Der Vater sagte, er habe das beste Herz und das redlichste Gemüth, und so durften wir Kinder mit ihm zusammen sein, so viel wir wollten. Wie oft nahm er uns des Nachts mit hinaus auf die See, und wie glücklich waren wir immer darüber! Zuletzt war ich es nur noch allein, die mit ihm fuhr, die anderen Alle gingen hinauf zu den Sternen, mich ließen sie allein hier unten. – Sind Sie einmal des Nachts auf der See gewesen?« unterbrach sie ihre Erzählung und sah Georg mit ihren strahlenden Augen fragend an, »nicht? Ach, dann wissen Sie nicht, was das Schönste auf der Welt ist! Draußen auf dem Meer, in der Nacht, Sterne über und unter uns, nichts von festem Boden unter den Füßen als die paar Bretter des kleinen Kahnes, unter uns Tod und über uns Leben, und wir so sicher dazwischen in Gottes Hand, dazu der Wellengesang und das Wehen der frischen Meeresluft, und von Menschenstimmen nichts als höchstens ein Ruf der Fischersleute in der Ferne, oder ein Lied, das Vater Reimer anstimmte. Herr Gott, da ist es, als ob Einem vor Freude das Herz zerspringen sollte, und selbst die Betrübniß, die es drückt, wird Einem so lieb, daß man sie umarmen möchte wie einen guten Freund, von dem man Abschied nehmen möchte und nicht kann! Ich wollte, ich könnte jetzt manchmal wieder hinaus, um die guten und glücklichen Gedanken wieder zu finden, die ich dort als Kind hatte. Ich denke immer, das Meer hat sie mir aufbewahrt und giebt sie mir zurück, wenn ich komme, sie zu holen.«

»Nimmt Dich denn Vater Reimer nicht mehr mit hinaus?« fragte Georg.

»Er würde es wohl thun und ich könnte auch ganz gut fort, es würde Niemand darnach fragen,« antwortete Wendula, »ich schlafe im Schuppen und kein Mensch kümmert sich um mein Kommen und Gehen, wenn ich nur immer zur rechten Zeit da bin, wenn sie mich brauchen. Sie brauchen mich aber von früh bis spät, und da bin ich denn des Abends immer so müde, daß ich gar nichts Anderes will und mag, als schlafen. Ich habe oft kaum Amen zum Vaterunser gesagt, so weiß ich nichts mehr von mir.«

»Sie mißbrauchen Dich wohl hier, armes Kind?« sagte Georg mitleidig. »Dich haben weder Gott noch die Eltern zu grober Arbeit bestimmt und erzogen! Hattest Du denn gar keine andere Zuflucht auf der Welt, daß Du Dich hier verdingen mußtest?«

»Nein, nein, so ist es auch nicht,« unterbrach ihn Wendula eifrig, »verdungen habe ich mich nicht, für Kost und Lohn thue ich nichts, und es wurde mir auch nicht geboten. Als der Vater starb, drang der Förster, der sein Freund war, darauf, mich in sein Haus aufzunehmen, und auch seine Frau und Schwiegermutter öffneten mir die Arme und sagten mir, ich sollte Kind im Hause sein. Sie meinten es Alle so, und der Förster thut es noch und auch seine Frau manchmal, aber seine Schwiegermutter hat es nicht lange so gemeint. Sie sah mich bald mit scheelen Blicken an, und den scheelen Blicken folgten häßliche Worte. Es macht doch Kosten, daß ich im Hause bin, so denkt sie, und Alles, was mir zu Gute kommt, wird den Kindern entzogen; die Frau Försterin aber ist wie eine Wetterfahne und dreht sich, wie der Wind sie bewegt, und die Alte sorgt dafür, daß aus jedem Lüftchen Sturm wird. Die Försterin thut mir leid, sie ist gut, sie ist nur unvernünftig, weiß nicht was sie will und läßt sich Alles über den Kopf wachsen, die Kinder und die Wirthschaftssorgen, vor Allem die Mutter. O, die Alte hasse ich! Schlecht ist sie zwar nicht, und manchmal könnte man glauben, sie sei sehr gut, aber ihr Herz ist so klein, und neben der Mißgunst darin hat so wenig Güte Platz. Mich aber sieht sie mit Mißgunst an, warum? weiß ich eigentlich nicht. Eine müßige Kostgängerin bin ich nie im Hause gewesen. Ich half, wo es etwas zu thun gab, ich that es aus gutem Herzen, aus Dankbarkeit, aus Liebe und für Liebe. Ich mag auch nicht müßig gehen und habe es zu Hause nie gedurft. Aber ach, ich merkte bald, daß ich nicht zu Hause war! Ich muß Reden hören, die mir das Herz zerschneiden. Nun freilich, dem Onkel geht's auch nicht besser, dem vergiften sie auch das Leben mit Zank und Streit, mit Vorwürfen und Klagen, für Alles soll er verantwortlich sein und Keiner kehrt sich an seinen Willen. Darf er doch nicht einmal die Kinder schlagen, wenn sie ungezogen sind, und Schläge thäten ihnen Allen so noth. Aber dann heißt es gleich, die Kinder sind nicht unartig, sie sind nur krank, die Großmutter findet gleich eine Menge Uebel, an denen sie leiden, die Mutter ängstigt sich und die Kleinen merken's recht gut – und wenn sie mit noch so guten Anlagen auf die Welt kommen und noch so fromm sind, die Artigkeit dauert nie lange, und sie werden alle so schlimm sein, wie der arme, irrsinnige Willfried.«

»Der Förster muß ein schwacher Mensch sein, daß er die Frauen nicht in Ordnung halten kann,« bemerkte Georg.

»An der Aufgabe könnte selbst der liebe Herrgott ermüden,« entgegnete Wendula, »der Onkel ist aber nur ein Mensch, und sie haben ihn lange müde gemacht, todmüde. – Freilich,« fuhr sie fort, und ihre Augen flammten und die feine blaue Ader, die sich auf ihrer Stirn abzeichnete, schwoll an, »freilich, wenn ich an seiner Stelle wäre, ich duldete das nicht. Ich würde als Herr auftreten, und wenn der Alten das nicht recht wäre, sie gehen lassen, wohin sie will. Mit seiner Frau würde er schon fertig werden, denn seiner Frau fehlt nur der Herr. Wenn sie fühlte, daß sie etwas thun muß, würde sie es auch gern thun. Der Onkel hält es aber für unkindlich, gegen die Mutter aufzutreten, und das ist zwar sehr schön, aber auch schwach und ganz unpraktisch, denn diese Schonung läßt es zu, daß Glück, Frieden und Liebe zu Grunde gehen. Es heißt zwar, man soll das Alter ehren, aber man ehrt einen alten Menschen doch nicht um der Jahre wegen, die er gelebt hat, sondern um dessentwillen, was er im Laufe der Jahre geworden ist. Einen Spitzbuben achtet doch Niemand, weil er alt ist, und wenn Jemand, der in der Jugend selbstsüchtig und herrschsüchtig war, im Alter engherzig und tyrannisch wird, was soll man denn an dem besonders ehren? Ich ehre auch Frau Wallner nicht, ich kann es nicht. Ich muß freilich thun, was sie befiehlt, aber wenn ich kann, spiele ich ihr doch einen Possen!«

Georg lachte. Des Mädchens unbefangenes Geplauder, obgleich es ihm, dem Fremden, gegenüber Dinge berührte, die eigentlich nur in den Bereich enger Vertraulichkeit gehörten, stieß ihn nicht ab. Sie sprach nicht in dem Tone, den er gewöhnt war und der im Allgemeinen die Unterhaltung gebildeter junger Männer und junger Mädchen von guter Erziehung charakterisirt, dem Tone, der glatt über die Oberfläche der Dinge hinstreicht, sich entweder vor der Tiefe fürchtet, oder das Senkblei nicht hat, das dort hinunterreicht, oder es unwillkürlich näherer Bekanntschaft vorbehält, sie gemeinschaftlich zu messen. Von alledem war hier nicht die Rede, und was in Wendula's Mittheilungen den Ansprüchen weltlicher Bildung, weltlichen Geboten der Zurückhaltung widersprach, das wurde tausendfach ersetzt durch das glückliche Gemisch frühreifen Verstandes, frischer, kecker Natürlichkeit und tiefer Romantik der Gefühle, das ihre Unterhaltung augenblicklich zu einem eben so treuen Spiegel ihres Innern machte, als ihr Antlitz es war. Dieses junge, blühende, trotzig ernste Antlitz, dessen zusammengepreßte Lippen zu sagen schienen: »ich kann schweigen, wenn ich will,« ein Wort, dem die Augen mit einem strahlend hellen Aufleuchten inneren Geistes sogleich die Versicherung hinzufügten: »wenn ich aber spreche, so sage ich die Wahrheit, gleichviel wie sie klingt und was sie enthält.«

Diese Wahrheit war es denn auch, die Georg's Seele sympathisch berührte, nicht nur da, wo sie kindliche Unschuld und Anmuth, sondern auch da, wo sie in kindischer Unart, in kindischem Trotz die Empörung eines für Recht und Unrecht auf's äußerste empfänglichen Gemüthes verrieth. Georg war bezaubert von dem Mädchen. Die durch den Namen Wendula, der ihm so überraschend hier entgegentrat, zuerst in ihm angeregte Idee, einen näheren Zusammenhang in dem Umstande zu suchen, der sie denselben Namen führen ließ, den seine Mutter trug, war der Erzählung von ihres Vaters einfachen Lebensverhältnissen gewichen, die ganz natürliche Erklärung, daß er von einer vornehmen Beschützerin ihrer Großmutter auf sie übergegangen, konnte ihn um so weniger auf eine Spur führen, als Georg von dem Dasein jener Ernestine Arnold, deren Familiennamen sein Bruder sich angeeignet, keine Ahnung hatte. Ihre Rolle in der Familie war ausgespielt, noch ehe er geboren, und seine Mutter besaß nicht die Pietät des Herzens, die treue Diener in der Erinnerung fortleben läßt und ihr Andenken auch denen zugänglich macht, die sie nicht gekannt haben. Georg wendete sich also wenigstens für den Augenblick von dem verlockenden Gedanken ab, nähere Beziehungen zwischen sich und dem schönen Kinde zu finden, trotzdem aber machte ihm Wendula doch den Eindruck, als sei sie ihrer Sphäre entrückt. Er spann seinen Gedankengang laut fort, indem er auf einmal sagte:

»Aber was soll denn aus alledem werden? Du kannst doch nicht Zeit Deines Lebens Mägdedienste im Försterhause verrichten, Du darfst doch Dein Gemüth nicht verbittern lassen durch die Bosheit, Unvernunft und Schwäche Deiner Umgebung. Du bist zu hübsch, zu fein, zu gut dazu, siehst Du denn das nicht ein?«

»Was hilft das Einsehen, wenn man es nicht ändern kann?« entgegnete das Mädchen. »Zur Arbeit bin ich auch nicht zu gut, Arbeit setzt Keinen herab, wenn sie auch nicht so ist, wie wir sie uns wünschen, aber das viele Schelten und Streiten und das Auflehnen dagegen und der innere Groll, das lähmt die Arbeitslust und das macht auch schlecht. Weiß Gott, was aus mir werden wird, wenn ich noch lange fortfahren muß, der Frau Sündenbock, der Alten Magd und der Kinder Packesel zu spielen. Ja, ja, das sind meine Aemter!« setzte sie mit einem halb zornigen, halb spöttischen Auflachen hinzu und zog die Augenbrauen finster zusammen.

»Mädchen,« sagte Georg, erstaunt über den grollenden Ausdruck ihres Antlitzes, »Gott sei Dank, daß Du mich nicht so angesehen, als ich Dich vorher im Walde traf. Ich hätte nur an die Sturm verkündende Wolke gedacht, die in jedem Augenblick mit Blitz und Schlag droht, aber nicht an die farbenreiche Schönheit des aus sonnenbeleuchteten Thränen gewobenen Regenbogens, der uns nach ausgetobtem Wetter lachend in die Seele schaut, wie Deine Augen es thaten.«

»Wie man in den Wald hineinruft, so tönt es aus demselben wieder,« entgegnete Wendula und fügte, die Augen mit einem leuchtend freundlichen Blick zu ihm aufschlagend, mit einem dem entsprechenden Tone hinzu: »und schaute ich Sie an wie ein Regenbogen, ei, so mag es eben daran liegen, daß Sie mich so gut und warm angeblickt haben, wie das Sonnenlicht die finstere Wolke.«

»Wie könnte man Dich je anders ansehen, wenn man das Herz auf der richtigen Stelle hat!« rief er aus.

Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und warf den Kopf empor.

»O,« sagte sie, »es giebt so häßliche Blicke, man weiß gar nicht, was sie eigentlich sagen wollen, aber man möchte mit dem Fuß auftreten statt aller Antwort. Aber jetzt gehen Sie,« bat sie fast ängstlich. »Sehen Sie, dort liegt die Försterei, man würde glauben, ich hätte die Zeit unnütz verplaudert, sähe man mich in Ihrer Gesellschaft kommen, und wir sind doch rasch zugeschritten und haben nur im Gehen gesprochen. Da höre ich schon Willfried's Stimme! Der Junge hat seinen richtigen Verstand nicht, ist aber ein kleiner Teufel, ach, und des Teufels Großmutter ist auch nicht weit. Hier, wenn Sie diesen Pfad einschlagen, kommen Sie auf dem nächsten Wege nach Häringsdorf. Sie sind wohl noch nicht lange in Häringsdorf, daß Sie die Försterei nicht kennen. Es kommen alle Tage Gäste daher, bei uns Kaffee zu trinken, Morgens und Abends, und es ist auch eins meiner Geschäfte, sie zu bedienen. O, Sie will ich gern bedienen!«

Sie entriß hastig den Korb Georg's Händen, deutete noch einmal mit der Hand auf den bezeichneten Fußpfad, nickte ihm freundlich zu und schritt eilends auf das Haus zu, in dessen Thür er sie verschwinden sah.

Eine Weile blieb er noch wie gebannt stehen. Das war doch ein wirkliches Abenteuer, was er erlebte, und welch ein romantisches! Der sonnige Morgen auf dem Culm war die goldene Pforte in das Zauberreich der Poesie, die Fußstapfen im Sande, verlockend in seinen Weg gestreut, konnten für die Zauberformel gelten, die ihn vorwärts trieb, bis ihm im Waldesschatten das liebliche Geheimniß der geraubten, verzauberten und in strengem Bann gehaltenen Königstochter offenbart wurde. Lebten Flora's Märchen wieder auf? Seine Kindheit lebte wieder auf und ein Meer von Erinnerungen, Träumen und Wünschen. Es war auch eine Mission, schöner als die des Ritters im Märchen, der die Königstochter erlöst, die Mission, zu der er berufen zu sein hoffte, die Mission, heilige, in Groll und Zorn zerrissene Bande wieder zu enger, treuer Gemeinschaft zu verknüpfen. Wie kam ihm das denn jetzt gerade wieder in den Sinn?

»Wendula, Wendula,« sagte er leise vor sich hin.

Unwillkürlich rief er sich Richard's Züge zurück, so weit er sich derselben erinnerte. Sie hatten Aehnlichkeit mit denen des Mädchens, aber geradeso trotzig, mit so flammendem Blick und zusammengepreßten Lippen, wie das Mädchen zuletzt, hatte er ihn gesehen, wie er damals vor seinem letzten Scheiden aus der Heimath vor der Mutter gestanden. Er wußte es ja, daß der Mann, den seine Mutter einen Bösewicht und Bettler genannt, sein Bruder gewesen war, er hatte eben so wenig sein zorniges Gesicht, als seine plötzlich ausbrechenden Thränen und die Innigkeit vergessen, mit der er ihn in die Arme schloß und küßte. Mit dem Kuß hatte er die brüderlichen Bande für immer in Georg's Herzen fest geknüpft und besiegelt.

Es war seltsam, wie Wendula und Richard, obgleich Beide einander so unähnlich, obgleich Beider Schicksale so zusammenhangslos waren, sich doch in seinem Geist zu einem Bilde verschmolzen.

Auf dem ganzen Wege bis zu seiner Wohnung verfolgte ihn das Bild.

Sie haben nichts mit einander zu thun, wiederholte er sich wohl hundertmal in Gedanken, aber es bleibt doch sonderbar, daß sie Wendula heißt, war dann immer die Betrachtung, die darauf folgte.

Er dachte an die letztvergangene Zeit zurück: wie unablässig es ihn nach dem kleinen romantischen Fischerdorf hinübergezogen, wie er dem Wunsch, es wenigstens kennen zu lernen, nicht habe widerstehen können, wie er gemeint, die Stimme einer Todten, Elisabeth's Stimme rufe ihn.

Und nun war es nicht sein, war es aber doch ein ihm zugehöriger Name, der einen Strom von Erinnerungen in seiner Seele weckte und an dem schon halb verglommenen Licht dieser Erinnerungen eine Fackel entzündete, nach der er in fast abergläubischer Hast griff, als sei sie im Stande, eine in Dunkel gehüllte Vergangenheit zu strahlender Tageshelle aufzuklären.

»Ich muß das Mädchen wiedersehen, ich muß mehr von ihr erfahren,« der Gedanke verließ ihn nicht, und in seiner Wohnung angelangt, hatte er volle Muße, ihn auszuspinnen, da er Victor noch nicht von der unterbrochenen gemeinschaftlichen Strandpromenade zurückgekehrt fand.


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