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Dritte Abtheilung.
Bis hierher und nicht weiter

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Erstes Capitel.


Auf dem Culm, der mit Buchen gekrönten Anhöhe, die sich aus der den Strand von Häringsdorf schmückenden Hügelkette sanft heraushebt und eine reizende Fernsicht über das Meer bietet, standen, über die Brüstung gelehnt und in ruhiges Schauen vertieft, zwei junge Männer. Es war ein strahlender Morgen, Sonntag, nicht nur im Kalender, sondern auch in der Natur. Das Meer, das Tags zuvor sturmgepeitschte Wellen über das Ufer gejagt hatte, ruhte sich aus von der wilden Aufregung und sonnte sich in dem vom Himmel herabströmenden Licht, ein leiser Wind wehte von der See her und spielte mit den hängenden Zweigen der Weiden am Ufer; in das Hohelied des Meeres mischten sich die Kirchenglocken, die von der neuerbauten Kirche herübertönten, mit hellem Klang in die lautlose Andacht hineinschallend, die jeden Baumwipfel, jedes grüne Blatt, jeden Thautropfen, ja jedes dürre Grashälmchen auf dem sandigen Grunde der Dünen zu verklären schien. Andacht, das heißt eine bis zur Empfindung der Anbetung gesteigerte Herzensfreudigkeit war es nun gerade nicht, die sich auf den Gesichtern der beiden jungen Männer spiegelte, aber doch immer eine Freude, die in die Sonntagsfeier hineinpaßte, weil sich ein Fernsein aller irdischen Sorgen, ein fröhliches Schauen und lebendiges Genießen im Ausdruck derselben aussprach.

»Es ist mir noch wie ein Traum, daß ich hier stehe, daß ich Dich neben mir habe, daß die frische, kühle Seeluft mich anweht, statt der staubigen, durchräucherten Atmosphäre der Stadt, daß ich so frei von jeder, auch in der liebevollsten Absicht gezogenen Schranke, daß ich mein eigener Herr bin und mich vor Allem so gesund benehmen darf, wie ich mich in Wahrheit fühle,« sagte der Jüngste der beiden Leute, mit einem lachenden Blick zu seinem Gefährten aufschauend.

»Es ist der klügste Gedanke, den der Leibarzt Deiner Mutter seit langer Zeit gehabt, daß er Dir ein Seebad verordnete,« entgegnete der Andere. »So wie Du mir davon schriebst, stand mein Plan, die Reise mit Dir zu machen, auch felsenfest. Ich bin ja nun auch lange genug fleißig gewesen, da konnte ich mir schon die paar Wochen Ferien geben. Ich begreife nur nicht, daß Du Häringsdorf gewählt hast, daß Du nicht lieber nach Ostende oder Helgoland gegangen bist.«

»Ich hatte den lebhaften Wunsch,« sagte Georg, »aber Du weißt, Victor, ich diene gleichsam von unten an, ich klimme zur Höhe der Freiheit hinauf und darf auf dem in Stein gehauenen Wege nicht eine Stufe überspringen, will ich die Mutter nicht unnütz erschrecken. So wie sie um mich besorgt ist, um mein physisches wie moralisches Wohl, muß ich es schon als eine große Concession betrachten, daß sie mir überhaupt die Reise gestattete.«

»Und daß sie Dir gestattete, sie in Gesellschaft des Künstlervagabonden anzutreten, nicht?« ergänzte Viktor den Satz.

»O nein,« sagte Georg lebhaft, »es war ihr im Gegentheil angenehm. Sie setzt kein Mißtrauen in Dich. Sie war nur nicht einverstanden mit Deiner zweiten Reise nach Amerika, weiß Gott weshalb, und nannte Dich deshalb einen Vagabonden. Daß Du Dich in Wien fest etablirtest und nun schon zwei Jahre an demselben Ort ausgehalten hast, hat Dein Renommee wieder hergestellt, und sie freut sich, mich doch nicht ganz ohne Mentor, Krankenwärter &c. zu wissen.«

»Krankenwärter!« wiederholte Victor lachend, »sage, spukt der Aberglaube an Dein Siechthum noch immer im Gehirn Deiner Mutter?«

»Leider ja,« entgegnete Georg, »und zwar ärger als je, seit ich vor ein paar Jahren das Nervenfieber hatte. Die Krankheit herrschte epidemisch in Breslau, die gesündesten Leute verfielen ihr; ich habe mich lange davon erholt, aber ihre Sorge hörte nicht auf und es geschah wahrlich mehr zu ihrer Beruhigung, als es Nothwendigkeit für mich gewesen wäre, daß der Arzt mich in's Seebad schickte. Ich kann leider die Mutter nicht von meiner Gesundheit überzeugen, sie belächelt meinen Glauben. Vergebens sage ich ihr, daß der Glaube auch hierin Hauptsache ist, daß ohne den Glauben an die eigene Gesundheit die stärksten Leute krank sind; seit sie einmal gehört hat, daß Schwindsüchtige sich meist über ihren Zustand täuschen, sieht sie in jeder Versicherung meines Wohlbefindens nur ein krankhaftes Symptom.«

»Armer Junge!« sagte Victor bedauernd.

»Es liegt sehr viel Rührendes in der Liebe, die Grund dieser Sorge ist,« fuhr Georg fort.

»Und sehr viel Lästiges,« ergänzte Victor.

»Auch das,« gab Georg zu.

»Wenn Deine Mutter Dich jetzt sähe,« begann Victor nach einer kleinen Pause, »wie Du dastehst, im leichten Sommerrock mit halb unbedecktem Halse trotz des frischen Seewindes, ohne Regenschirm in der Hand und ohne Gummischuhe in der Tasche für den Fall, daß ein Platzregen vom blauen Himmel fällt!«

»Ja,« sagte Georg, »Regenschirm und Gummischuhe sind auch, meine ärgsten Feinde. Wie manchen Ausgang haben sie mir verdorben. Geschämt habe ich mich oft, mußte ich mich bei jedem Windhauch, bei jedem drohenden Regenwölkchen gleich mit diesen Vorsichtsmaßregeln bewaffnen! Auf unserm Gut hatte ich schon einen bestimmten Platz hinter einer alten Scheune, wo ich all' den lästigen Ballast deponirte, wenn ich fortging, und dann erst kurz vor meiner Rückkehr in's Haus wieder an mich nahm.«

»Das hat Deine Gewissenhaftigkeit zugelassen?« fragte Victor lachend.

»Ich fürchte, sie hat noch Manches, was schlimmer war, zugelassen,« sagte Georg kleinlaut, »Ich habe auch im vorigen Jahr den Brunnen nicht getrunken, den mir die Mutter nach Waldau nachschickte, er steht noch dort im Keller, aber ich habe es ihr nachher erzählt. Ich wollte ihr nicht gewaltsam widerstreben, die Cur, die sie sich ausgedacht, nicht rauh zurückweisen, mich aber eben so wenig mit dem Zeug vergiften. So ließ ich es und gestand es ein, als sie sich überzeugt hatte, daß die Unterlassungssünde keine übeln Folgen habe.«

»Also Du kannst wirklich ungehorsam sein, Du kannst Deinen eigenen Willen haben, Du Muster von kindlicher Unterwerfung?« rief Victor erstaunt aus.

»O, die Mutter ist sehr gütig gegen mich und opfert meinen Wünschen manches Vorurtheil,« betheuerte Georg lebhaft. »Sie giebt sogar manchem Wunsch nach, für den ich keinen andern Grund habe als den meiner Laune. So mein Besuch hier. Wagner, der vor zwei Jahren hier gewesen, hatte mir die Schönheit Häringsdorfs gepriesen, das war es aber nicht, was mich herzog: mich lockte Elisabeth's Andenken. Seit Du mir ihre traurige Geschichte erzählt hast, wie Du sie damals aus dem Mund der alten Dorothee vernommen, ist die fast vergessene Schwester in meiner Erinnerung auferstanden, habe ich sie erst so recht lieb gewonnen, viel lieber als ich sie damals als Kind hatte. Ich sehnte mich die Stätte zu sehen, wo ihr Geschick sich in so schmerzhafter Weise erfüllte. Es hat noch nie Jemand von uns an ihrem Grabe gebetet, sie schläft so allein, so verlassen, fernab von der Heimath. Ihr Grab ist freilich nicht hier, wenn auch das Grab ihres Glückes hier ist.

Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das mich trieb, ihrem Andenken gerade hier zu huldigen, es ist noch stärker geworden, seit wir gestern hier ankamen, wo jeder Schritt in's Freie, jeder Blick um mich her mir eine Erinnerung an sie bringt, und sonderbar! – die Erinnerung ist nicht trübe. Es mag in dem harmlos heitern und doch, ich möchte sagen innigen Charakter der Landschaft liegen, daß ich weniger an ihr Leid, als an die kurze Seligkeit ihres Lebens denke. Es thut mir leid, daß ich der Mutter versprochen habe, nur wenige Tage hier zu bleiben und dann nach Misdroy oder Swinemünde zu gehen, um durch meinen Namen nicht an den Vorfall zu erinnern. Ich glaube, ihre Besorgniß ist unnütz. Wer der Sache noch gedenkt, wird die Schuld vergessen haben und sich höchstens des Unglückes erinnern, und dann wird es wohl kaum Einer gewußt und noch weniger Einer behalten haben, welchen Namen Elisabeth vor ihrer Verheirathung führte.«

»Das glaube ich auch,« bestätigte Victor, »Deine Mutter legt so viel Bedeutung auf ihren Namen, daß sie dasselbe auch bei Anderen voraussetzt.«

Sie schwiegen Beide eine Weile, Jeder für sich in Erinnerungen oder Betrachtungen versunken, wie die Umgebung sie weckte, plötzlich sagte Georg:

»Hier mag sie wohl auch oft gestanden haben mit ihrem Herzen voll Glück und Qual. Ich kann es mir denken wie es kam, daß ihre Seele aus dem künstlichen Schlaf erwachte, daß ihre Träume zu wirklichem Leben wurden und daß der Tod ihre einzige Zuflucht blieb, um sie vor der Rückkehr in die Wüste ihres früheren Lebens zu retten. Die arme Elisabeth! Aber wie konnte sie Moritz heirathen, da sie ihn nicht liebte?«

»Sie mußte!« sagte Victor lakonisch.

»So etwas muß man nicht,« entgegnete Georg sehr ernst.

Victor sah den jungen Mann überrascht an.

»Wie wirst Du es machen, wenn Du Flora Eisenhart nicht lieben solltest?« fragte er.

»Dann werde ich sie natürlich nicht heirathen,« lautete die rasche Antwort.

»Hast Du das Deiner Mutter auch gesagt?« fragte Victor.

»Gewiß,« entgegnete Georg, »aber es ist schon sehr lange nicht mehr und, wie ich glaube, im Ernst überhaupt nie die Rede davon gewesen. Es ist ja thöricht, an Heirathen zu denken, ehe nicht dem Herzen eine Lücke fühlbar geworden ist, und es bedeutet vollends nichts, Diejenige im Voraus bezeichnen zu wollen, die eine solche Lücke ausfüllen soll. Kann ich denn wissen, ob ich ein Mädchen lieben werde, das ich nie gesehen habe? Ja, der Gedanke an eine solche Vorherbestimmung würde mich einer jungen Dame gegenüber so verlegen machen, daß kein anderes Gefühl dagegen aufkäme. Aber,« unterbrach er sich selbst, »wie kommst Du zu der vergessenen Neckerei?«

»Ich bekam bei meiner Reise nach New-York die Warnung mit auf den Weg, mich nicht in die Dir bestimmte Braut zu verlieben,« entgegnete Victor.

»So!« sagte Georg, und eine helle Röthe stieg in sein Antlitz. »Ich glaube nicht,« sagte er dann, »daß Flora mir gefallen würde. Ihre Briefe an die Mutter haben mich wenigstens sehr kalt gelassen. Sie verrathen wenig Herz oder doch keins für meine Mutter.«

Als Victor nicht antwortete, fuhr er fort:

»Ich habe Dich freilich damals nach Deiner Rückkehr nur flüchtig gesehen, aber ich erinnere mich, daß mir Dein Schweigen über meine Verwandten auffiel. Das feurige Lob, das Du einst der kleinen Flora spendetest, war der erwachsenen Dame gegenüber verstummt. Habe ich das mit Warnung der Mutter zusammenzubringen, oder war es Zufall?«

»Ich weiß nicht,« sagte Victor gleichgültig, »wahrscheinlich lag es daran, daß Du mich nicht nach Mr. Thomson und Miß Flora gefragt hast.«

»Nun, so thue ich es jetzt,« fuhr Georg fort. »Wie gefielen Dir meine Verwandten, wie standest Du zu ihrem Hause?«

»Auf diese höchst feierliche Frage,« sagte Victor lachend, »will ich denn so ausführlich und genau antworten, wie ich kann, da ich dem künftigen Gemahl der jungen Miß gern das Recht einräumen will, sich vorher über seine Braut und deren nächste Angehörige zu orientiren. Ich sage Dir von Mr. Thomson Alles, was ich weiß, was ich denke, ist gleichgültig. Er ist also ein sehr reicher Mann. Als ich das erste Mal in New-York war, war mein Stern erst im Aufgehen begriffen. Da fühlte er sich mir gegenüber noch sehr als Beschützer, wenn auch als ein sehr leutseliger. Ich war ein junger Mensch, mein Ruf erst noch zu begründen. Ich gab seiner Nichte Clavierunterricht, bekam zwei Dollars für die Stunde, zuweilen einen ermunternden Schlag ihres Oheims auf die Schulter und ein: ›Famos, famos, mein junger Freund!‹ als Anerkennung meiner Verdienste, wenn ich mit einigen kecken Bogenstrichen die Langeweile aus seinen Abendcirkeln vertrieb und ihm mitunter die Ahnung aufdämmern mochte, daß das Klirren seiner Goldstücke nur mißtönendes Geräusch sei gegen einen vollen melodischen Ton, den meine Hand den Saiten entlockte. Diesmal aber war es etwas Anderes. Diesmal hatte mein Name schon einen andern Klang, diesmal war ich nicht der bezahlte Lehrer seiner Nichte, da bekam ich denn statt des gönnerhaften Schlages auf die Schulter einen freundschaftlichen Händedruck vom König der Geldsäcke.«

»Und Flora?« fragte Georg,

»Nun, mit der jungen Dame war's umgekehrt,« fuhr Victor in leichtem Tone fort. »Sie hatte mir früher die Hand gegeben, jetzt schlug sie mich, das heißt moralisch, und zwar nicht auf die Schulter, sondern auf den Mund. Wir waren eben nicht gute Freunde.«

»Aber früher waret Ihr es doch gewesen?« sagte Georg.

»Ja, aber jetzt verlangte uns Beiden nicht mehr darnach,« lautete die im gleichgültigen Tone gegebene Antwort. »Sie nahm es mir übel, daß ich ihres Oheims Aufforderung, ihr wieder Clavierunterricht zu geben, zurückwies, obgleich sie selbst gar nicht den Wunsch hegte, und ich – nun, mich hätte gerade ihr zurückhaltendes Benehmen reizen können, mir ihre Freundschaft zu erwerben, aber was lohnt es, der Freund einer jungen Dame zu sein, wenn man nicht ihr bester Freund sein darf, und Du weißt, ich hielt Flora für eine verkaufte Waare!«

Georg erröthete unwillig, sagte aber nichts. Erst als der frische Seewind die aufsteigende Hitze gekühlt hatte, wendete er sich wieder zu dem Freunde und fragte:

»Ist Flora schön?«

»Gott sei Dank, nein!« entgegnete Victor.

»Gott sei Dank?« wiederholte Georg lachend.

»Ja, Gott sei Dank!« bestätigte Victor. »Ich habe mich sonst in alle schönen Gesichter verliebt, aber nun sind sie mir langweilig geworden.«

Georg lachte.

»Flora ist also häßlich?« fragte er.

Victor sprang auf.

»Häßlich?« rief er aus, »mag sein,« fügte er hinzu und setzte sich wieder, »mag sein, aber sie sieht reizend aus!«

»Aus Dir ist nicht klug zu werden, beschreibe sie mir einmal ordentlich,« beharrte Georg, »wie sieht sie aus?«

»Jeden Tag, jede Stunde anders,« antwortete Victor, »ich kann Dir wirklich nichts Genaueres sagen. Sie hat eine schöne Gestalt und schönes dunkles Haar, das ist Alles was ich weiß, das habe ich bemerkt, als sie mir einmal den Rücken zukehrte. Sieht man sie an, so bemerkt man nicht, wie ihre Züge gezeichnet sind, sondern wie sie leben. Denke Dir einmal das Meer ohne jegliche Beleuchtung, würde seine Schönheit Dich anziehen? Nein. Aber jetzt mit den goldenen Strahlen tausendfach gebrochenen Lichtes auf seinem durchsichtigen Antlitz, oder mit dem Purpur des Morgens geschmückt, oder in der Nacht die Sterne wiederstrahlend und selbst im Sturm, düster und grollend wie der wolkenbedeckte Himmel, rebellirend gegen die Macht, die seine Wogen peitscht, da ist es schön, wunderbar schön, denn es lebt! Eine andere Beschreibung kann ich Dir von Flora Eisenhart nicht geben«

Georg hatte seiner lebhaften Schilderung mit eben so viel Interesse als Erstaunen zugehört.

»Ich glaube, Du bist in sie verliebt,« sagte er, als jener geendet hatte.

»Nein, sie ist eine verkaufte Waare!« wiederholte Victor seinen Ausspruch und fügte dann, Georg's Stirnrunzeln gewahrend, schnell hinzu: »Sie hat für mich auch einen Fehler, der sie vor meiner Liebe bewahrt: sie liebt die Musik nicht. Sie verrieth als Kind schöne Anlagen und ein feines Verständniß dafür. Das ist leider untergegangen. Die nüchterne Atmosphäre, in der sie lebt, ist nicht ohne Einfluß geblieben. Ich habe in letzter Zeit in ihrer Gegenwart die Violine nicht mehr zur Hand genommen, so ärgerte mich ihre gleichgültige, zerstreute Miene!«

»Hat sie Dich vielleicht ärgern wollen?« fragte Georg.

»Kann sein, ich habe es selbst schon gedacht,« erwiderte Victor, »es ist aber immer eine Versündigung am Genius, wenn man die Schwingen nicht zum Fliegen, sondern zum Schlagen braucht, und in diesem Punkt verstehe ich keinen Spaß oder will keinen verstehen. Es ist auch gut so, ihr Schicksal ist ja vorher bestimmt.«

»Bestimmt vielleicht, aber noch nicht erfüllt,« meinte Georg und fuhr dann fort:

»Ich werde sie nicht lieben können, nach Deiner Schilderung von ihr glaube ich es nicht. Ich liebe nicht solch unruhig bewegtes Wesen, ich glaube nicht, daß ich die Kniee vor Flora beugen könnte.«

»Das ist auch nicht nöthig,« bemerkte Victor, »wenn Du nur Lust hast ihr in die Arme zu stürzen. Auf den Knieen bleibt man doch nicht liegen. Es ist übrigens für die Sache selbst ziemlich gleichgültig, ob Du sie lieber an's Herz drückst oder lieber vor ihr kniest, denn heirathen mußt Du sie doch, wenn Deine Mutter es will, und sie will es, dafür stehe ich Dir.«

»Meinst Du?« sagte Georg. »Dann gebe Gott, daß ich sie lieben kann, ich widersetze mich ungern den Wünschen meiner Mutter.«

»Ob gern, ob ungern, wenn Du es nur überhaupt vermagst,« meinte Victor, »hast Du nicht auch wider Dein Herz gehandelt, als Du Deine Violine verbranntest?«

»Wider mein Herz, aber doch mit dem Herzen,« wandte Georg ein, »es war ein Opfer, aber kein Unrecht. Doch lassen wir das, wer weiß, ob die Mutter den Plan noch hat. Ich kann ja Flora auch wirklich lieb gewinnen und sie mich, ihr steht wenigstens keine Andere im Wege, dafür hat die Mama gesorgt. Es war mir oft spaßhaft, wie sie mich überwachte, und es war doch so wenig Grund dazu vorhanden. Weißt Du, Victor,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »ich glaube nicht, daß ich mich je in ein Mädchen verlieben könnte, wenn ein Anderer dabei ist. Die Mama vollends würde mich stören. Sie hat etwas so Leidenschaftsloses, sie beherrscht so sicher ihre Gefühle, sie steht so darüber, daß sie auch Andere hemmt, sich zügellos denselben hinzugeben. Findest Du das nicht natürlich?«

»Mein Junge,« sagte Victor, »ich finde jede Reflexion, die man über die Liebe macht, unnatürlich, denn über Liebe denkt man nicht nach, sondern man empfindet sie. In der Liebe ist Erfahrung Alles, Reflexion nichts. Warte also, bis Du Flora gesehen hast. Zieht Dich Dein Herz zu ihr hin, so wird es geschehen, und sähen Dich Millionen Augen und zwar alle mit den leidenschaftslosen Blicken Deiner Mutter an.«

»Nun, Gott sei Dank, noch ist ja das Meer zwischen mir und Flora,« rief Georg aus, »ich will mich nicht durch das Schattenbild dieser Heirath schrecken, will mir nicht die helle Gegenwart dadurch trüben lassen Komm hinunter an den Strand. Sieh, wie lockend er vor uns liegt! Schade, daß die Mama meinen Aufenthalt hier nicht wünscht; was ich bis jetzt von Häringsdorf gesehen, erregt den Wunsch in mir, hier die Cur zu beschließen.«

Er eilte mit diesen Worten leichtfüßig die Stufen hinab, die, wenn auch etwas unbequem, doch auf dem nächsten Wege zum Meeresufer hinunterführen. Victor folgte ihm.

Buntes Leben empfing sie unten, ein Reichthum verschiedenartigster Bilder zog an ihnen vorüber, ein weites Feld, den ungefesselten Geist fröhlich darauf umherstreifen zu lassen, breitete sich vor ihnen aus.

Damen, in eleganten, häufig sogar koketten Morgenanzügen, wanderten, die Haare gelöst, zierlichen Schrittes den Strand entlang. Kinder spielten im Sande, suchten Muscheln oder plätscherten, Schuhe und Strümpfe in der Hand, mit den nackten Füßchen lustig in den das Land bespritzenden Wellen umher. Auf den Ruheplätzen, durch den durchsichtigen Schirm der blaßgrünen Weiden nur halb vor der Sonne geschützt, saß wohl hier und da eine einsame Schöne, in ein Buch oder in den Anblick des Meeres oder in Anschauung der Vorübergehenden vertieft, oder sie holte den letzten Brief aus der Heimath hervor, die tiefe Innigkeit seines Inhalts mit der Schönheit der sie umgebenden Gotteswelt in Harmonie zu bringen. Hier standen Hand in Hand, mit überströmenden Herzen und unschuldige Schwärmerei in den weltunerfahrenen Augen ein paar Backfischchen, die vielleicht eben beim Baden Bekanntschaft mit einander geschlossen hatten, und gelobten sich Freundschaft, so tief und so unabsehbar wie das Meer, und dort am Boden saß eine junge Frau, einen Korb voll duftiger Waldhimbeeren auf dem Schooß, die um sie versammelten Kleinen mit den würzigen Früchten bewirthend. Die Kinder jubelten jeder Beere entgegen und sperrten, wie die Vögelchen, schon immer die Schnäbel auf, noch ehe sie an der Reihe waren, und der jugendlichen Mutter süßes Lächeln würzte das süße Mahl.

Im Gegensatz zu diesem anmuthigen Bilde stillen Familienglückes und vielleicht spottend über dasselbe, irrten vereinzelte Herren, meist schon reiferen Alters, seufzend unter der Qual der Geschäftslosigkeit, langweilig und gelangweilt, müßig am Strande umher, gruben mit den Stöcken Figuren in den Sand, zählten die Segel am Horizont und die Schritte, die das Herrenbad vom Culm und den Culm von den Dünen trennten &c., beneideten die fröhlichen Kinder, zuckten die Achseln über die schmachtenden Damen und intimen Backfische und raisonnirten über die Crinolinen, an ihnen einen bequemen Ableiter für den Ueberfluß übler Launen findend.

Wer vermöchte es, sie alle zu ergründen oder zu schildern die verschiedenen Empfindungen der Fußwandelnden, die vielfachen Abstufungen misanthropischen Murrsinns, heiterer Freude, unschuldigen Genusses bis zum höchsten Höhepunkt sentimentaler Schwärmerei! Wer kann sie zählen die Gedanken, die in die Ferne flogen, die Grüße, die in die Heimath gesendet wurden, wo man sie sehnsüchtig erwartete oder gleichgültig hinnahm oder kalt zurückstieß! Jeder Geist reflectirt, jedes Herz fühlt anders, und wie auch im Windeswehen und Blätterrauschen, in den flüchtigen Wolken des Himmels und in dem perlenden Meeresschaum immer nur dieselbe allmächtige Stimme einer dem höchsten Geist huldigenden Natur ihre heiligen Geheimnisse offenbart, ein Jeder mischt doch aus dem Schatz seiner eigenen Weisheit, aus den Erfahrungen seines Lebens und der inneren Eigenthümlichkeit seines Wesens genug hinein, um den harmonischen Chorgesang in lauter einzelne, für Jeden anders klingende Töne aufzulösen.

Das weite, große, unendliche Meer deckt kaum so viel untergegangenes Leben und Glück, so viel unbekannte Schätze und verborgene Schönheit, so viel qualvolles Leid, als sich in dem kleinen Raum des menschlichen Herzens regen, dort untergehen oder an's Licht emporstreben kann. Und doch will ein Jeder das Weltall wiederspiegeln mit seinem Herzen!

Kann man sich da wundern, wenn die Betrachtung desselben uns ein buntes Kaleidoskop vor die Augen führt, das uns jede Secunde andere Farben und Formen zeigt?

Den beiden jungen Männern, die lachend, plaudernd, beobachtend an dem belebten Strande umherwandelten, gefiel nun gerade die bunte Mannigfaltigkeit des dort wogenden Lebens und reizte sie zu tausend Vermuthungen und zu offenem Austausch derselben. Besonders Georg's Herz schlug hoch auf. Er hatte so wenig von der Welt gesehen, hatte es so selten oder nie empfunden, wie wohlthuend es ist, einmal alle Rücksichten, allen Zwang der Verhältnisse abzuwerfen, selbst wenn man ihnen jede Berechtigung zugesteht; wie es das Selbstbewußtsein stärkt und hebt, einmal unbeschränkter Herr seiner Handlungen zu sein, zu fühlen: jeder Augenblick gehört Dir. In Georg regte sich die volle Jugendlust an der Freiheit, er fühlte seine Lebenskraft verdoppelt in dem unwillkürlichen Erkennen der Beziehungen zwischen sich und Allem, was ihn umgab. Er hatte auch ein Auge für Alles und nahm mit der vollen Frische eines kindlichen, unbefangenen Gemüthes jeden Eindruck in sich auf. Bald war es ein hübsches Gesicht, das seine Bewunderung weckte, bald eine lachende Kinderstimme, die ihn ergötzte, bald wurde sein Blick in den Netzen lang herabwallenden schönen Haares gefangen.

»Es ist merkwürdig, was die Damen in den Seebädern für schöne Haare haben!« sagte er naiv, und dann in Victor's Lachen über diese Bemerkung einstimmend, fügte er hinzu: »Es mag wohl darin liegen, daß ich sie nie in dieser anspruchslosen, natürlichen Form gesehen habe. Was ist die künstliche Flechte gegen diesen herabwallenden Schleier, der bald wie aus Gold gesponnen ist, bald schwarz wie ein Rabenflügel glänzt. Wahrhaftig, ich habe noch keine Dame gesehen, die sich nicht in ihr Haar wie in einen Mantel einhüllen könnte! Wo bleiben die Haare beim Einflechten? Wie kann man sie sich zum unschönen Zopf verschlingen lassen?«

»Ich wette, wenn wir einmal des Abends in den Dünen spazieren gehen, so machst Du gerade die entgegengesetzte Betrachtung,« bemerkte Victor, »und fragst, wenn Du die Damen im Salon wiedersiehst: wo kommen die Zöpfe her? Glaube mir, das bescheidene Verdienst versteckt sich schüchtern in den Dünen!«

Georg hörte kaum auf die Antwort. Er war schon bei einer neuen recht kindischen Unterhaltung. Das Meer, das in den vorhergehenden Tagen stürmisch bewegt gewesen war und seine Wellen weiter als gewöhnlich über den Sand jagte, hatte diesem größere Festigkeit verliehen. Die Fußtritte der Lustwandelnden verschwanden nicht wie sonst im losen Sande, sondern drückten sich in deutlicheren Umrissen auf demselben ab. Sie weckten Georg's Betrachtung, er verglich sie mit einander und versuchte es keck, aus dieser leichten Spur Schlüsse auf die innere und äußere Eigenthümlichkeit Derer zu ziehen, die sie im Lustwandeln dem Boden eingeprägt hatten.

»Der Fuß muß mit dem übrigen Menschen harmoniren,« behauptete er, »ich kann aus der Form des Theils auf die des Ganzen schließen, ein elegantes Piedestal trägt keine plumpe Gestalt, und zu einer eleganten Gestalt gehört ein edles Haupt. Wenn ich den Fuß sehe, habe ich den äußeren Menschen, gerade wie ich am Auge den inneren erkennen will.«

»Die Theorie klingt richtig, versuche, wie weit sie sich praktisch anwenden läßt,« spottete Victor, aber Georg ließ sich nicht irre machen, setzte seine Beobachtungen fort und machte so treffende Bemerkungen dabei, daß sich Viktor bald auf's lebhafteste bei der Unterhaltung betheiligte. Voraussetzungen wurden gemacht, Schlüsse gezogen, nicht immer logisch, aber phantasiereich und übermüthig. Bald folgte Gelächter, bald eine ernste Reflexion dem auf Sand gebauten System.

Plötzlich blieb Georg stehen.

»Der Fuß hier gehört einer Hebe,« sagte er, bewundernd auf den Abdruck eines Füßchens deutend, dessen schlanke, zierliche Form auf einen Kinderfuß hätte schließen lassen, hätte die tief eingedrückte Spur nicht doch eine gewisse Festigkeit des Ganges verrathen, die Kindern nicht eigen zu sein pflegt.

»Einer modernen Dame wenigstens gehört der Fuß nicht,« entgegnete Victor, »denn der unerläßliche Absatz fehlt, ich halte den Fuß für den eines zwölf- bis dreizehnjährigen Kindes.«

»Nicht doch,« behauptete Georg, »sieh Dir doch den Gang von Kindern an, da kommt alle drei, vier Schritt wenigstens ein Sprung dazwischen oder doch ein Verlassen der betretenen Bahn. Diese Fußstapfen aber gehen regelmäßig fort, es prägt sich Charakter in ihnen aus. So sicher und so graziös, mit solcher schwebenden Leichtigkeit tritt nur das Selbstbewußtsein, das heißt ein maßvolles Selbstbewußtsein auf. Die Fußtritte sagen: ich bin so wie Gott mich gewollt hat, ihr könnt mich zu nichts Anderem herabdrücken!«

Victor lachte.

»Ich habe nicht gewußt, daß Gott sich unserer Füße bedient, uns einen moralischen Steckbrief in den Sand zu schreiben. Das wäre ja eine Entdeckung für die Polizei,« bemerkte er.

»Spotte nur,« sagte Georg, »es ist mehr oder weniger doch göttliche Schrift, die ich hier zu lesen versuche. Sieh nur die schwebende Elasticität dieses Schrittes bei aller charakteristischen Festigkeit, die Anmuth, mit der das Füßchen gesetzt ist; nicht auf dem Hacken, nein, auf der Spitze ruht der Schwerpunkt, denn da ist der Eindruck der tiefste. Steht Dir nicht gleich ein anmuthiges Bild vor Augen, eins jener holden Wesen, die es rechtfertigen, wenn man sagt: das Weib ist die Krone der Schöpfung?«

Victor sah den jungen Mann überrascht an. Ein beifälliges Lächeln glitt über seine Züge.

»Wenn wir Menschen nun schon die Werkzeuge sein sollen, mit denen der Himmel seine Schöpfungsgeschichte auf die erzene Tafel der Welt oder gelegentliche Notizen hier und da in den Sand schreibt,« sagte er, »so muß ich wenigstens bekennen, daß manche seiner Federn – denn das wären wir auf diese Weise – mit einer Ursprünglichkeit zugeschnitten sind, die selbst von den geschicktesten Händen nicht zu vernichten ist. Ein Sohn Deiner Mutter könnte sonst unmöglich seine Schriftzüge in die flammenden Tinten jugendfrischer Phantasie tauchen und in Extase gerathen über Dinge, die jeder Berechnung spotten. Ich hätte Lust ihr zu Hülfe zu kommen und den Deserteur von Stahlfeder ein wenig von seiner überflüssigen Schwungkraft zu befreien. Ich muß Dir sagen, daß ich diesen Fußtritt hier für den einer Tänzerin halte. Es ist eine hier, wenigstens eine ehemalige. Jetzt ist sie die Frau eines Frankfurter Weinhändlers, verleugnet aber ihren Ursprung nicht ganz. Erinnerst Du Dich nicht der Dame, der wir gestern begegneten, die uns so keck ansah, daß Du Neuling in der Welt trotz Deines verbrannten Gesichtes die aufflammende Röthe nicht verbergen konntest, die eine mädchenhafte Aufregung Dir in's Gesicht jagte?«

»Necke mich nur, ich schäme mich der Röthe nicht,« sagte Georg, »sie bedeutete Zorn und Unwillen. Ich werde auch jetzt roth, sieh mich nur an, ich will es gar nicht verbergen, aber diesmal ist es Scham über Dich, daß Du glauben kannst, mit diesen Füßen sei ein Elephant über den Sand gewandelt, daß Du nicht besser die Schriftzüge lesen kannst, die ich, Neuling in der Welt, doch für ein Beglaubigungsschreiben der Schönheit erkenne. Mit Dir ist heut nichts anzufangen, Victor, Du hast heut eine Deiner prosaischen Launen, dann kann ich Dich nicht leiden. Geh nach Hause und spiele Dich wieder in Deine richtige Stimmung hinein oder lege Dich in den Sand, in die Dünen und laß Dich anwehen vom Athem des Meeres, während ich meine Hebe suchen will und mein Leben zum Pfand einsetze, ich bekehre Dich zu meinem Glauben, daß diese Schriftzüge im Sande mir eine göttliche Offenbarung verkünden.«

Er eilte fort. Victor sah ihm halb lachend, aber doch mit beifälliger Miene nach.

»Jugend,« sagte er leise, »hellsprudelnder Quell gefunden, kräftigen Lebensgenusses, Blüthe am Baum, Schaum auf dem Meer, Morgenröthe am Himmel, Frühlingslied der Lerche im Chorgesang der Schöpfung, Jugend, entfaltest du die Schwingen seiner kindlichen Seele? Gottlob, der Quell ist nicht versandet, trotz Allem, was man that ihn zu verschütten, und eben so wenig wird er über die Ufer treten. Mag er seinen Lauf verfolgen, er wird die rechte Strömung schon finden und ein paar tolle Sprünge schaden ihm wahrhaftig nichts, sie stählen nur die Kraft des Willens.«


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