Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechszehntes Capitel.


»Zwei Kammern hat das Herz,« so heißt es in dem wohlbekannten Liede, »in der einen wohnt die Freude, in der andern der Schmerz,« und nun wird das Herz ermahnt, Acht zu haben, daß vom Lachen der Freude der Schmerz nicht erwache.

In Arnold's Herzen wachte Beides, Freude und Schmerz, aber letzterer zog am Horizont seines Lebens schwarz wie die Nacht herauf, und die Freude widerstand nur noch mit verglimmenden Strahlen wie die untergehende Sonne.

Seit jener Unterredung mit seiner Frau war Arnold für eine kurze Zeit vollkommen glücklich gewesen, glücklicher wie je in seinem Leben. Er hatte nicht geahnt, daß eines Menschen Herz so froh, so leicht schlagen könne. Selbst der Schatten seiner Vergangenheit trübte nicht die helle Gegenwart, so verklärte auf einmal Anna's Liebe sein Leben.

Durch sein Mißtrauen einmal zur Aussprache ihrer tiefsten Herzensgefühle gezwungen, gewannen diese plötzlich Macht über die schüchterne Verschlossenheit der jungen Frau. Sie durchglühte nicht nur wie Sonnenlicht all' ihr Thun, sie fand sogar mitunter das Wort, das für sie zeugen sollte. Sie fühlte nicht mehr nur warm, sondern sie zeigte es auch, daß sie so fühlte, und eine Erhöhung aller Fähigkeiten ihrer Seele war die Folge davon. Hatte es ihr bisher genügt, für ihren Mann zu leben, so empfand sie es jetzt auf einmal, daß mit ihm leben erst das eigentliche Glück sei, und schnell wie das Herz diesen Gedanken erweckte, so lernte sie auch vom Herzen, ihm lebendige Bedeutung geben. In die tiefste Tiefe ihrer Seele ließ sie ihn schauen; still war's darin wie auf der Oberfläche, aber in dieser Stille welch ein Leben! Wie in der Natur, wie an den verborgensten Stellen des Waldes, wo der Sturm seine Macht verliert, wohin die Sonne nur Lächeln, nicht blendende Strahlen hinsendet.

Aber auch solche tief verborgene, stille Plätzchen bleiben nicht von der vernichtenden Berührung des Lebens verschont. Sie werden aufgefunden, Fußtritte zerstören den sammetnen Rasen des Bodens, unbedachte Hände pflücken die Blüthen, die Axt fällt die Bäume, der Waldfrieden wird gebrochen und der Platz ist verwandelt zum Nichtwiedererkennen. Vollkommen darf auf Erden nichts bleiben. Das Vorrecht gehört dem Himmel, die Menschen haben es verscherzt, die Sünde der Väter büßend, wie die eigene, fortwuchernde Schuld.

Ein Jahr beinah war Arnold vollständig glücklich gewesen, da kamen die Fußtritte, die Axtschläge, die Stürme, der Herzensfrieden ward gebrochen, und langsam nahm die Stätte, die er zum Tempel reinsten Glückes erhoben, das Ansehen tiefster, schmerzlichster Verödung an.

Ganz befangen von seinem Glück, wurde Arnold durch nichts an die Vergänglichkeit desselben gemahnt, wurde es um so weniger, als Anna's sich langsam entwickelndes Leiden unter dem Einfluß desselben Glückes eher still zu stehen, als zuzunehmen schien. Da starb der kleinste Knabe an einer im Dorf epidemisch herrschenden Kinderkrankheit, starb, nachdem die gesunde Constitution desselben lange gegen die Macht des Todes gekämpft und der Kampf einen fast aufreibenden Wechsel von Furcht und Hoffnung in den Herzen der ihn pflegenden Eltern erregt hatte. Das Kind starb in den Armen der Mutter, in denen es allein noch Ruhe fand und die es oft stundenlang, mit Aufbietung aller ihrer Kräfte, so herumzutragen pflegte.

Als der Kleine wie schlummernd an ihrer Brust ruhte, sie mit todtenblassem Gesicht und geisterhaftem Lächeln auf ihn herabsah, und das Lächeln zwar in einem tiefen Zug des Schmerzes unterging, als sie die Wahrheit erkannte, sie aber ohne Klage, ohne Thränen, immer die Blicke auf die kleine Bürde in ihren Armen gesenkt, mit wankendem Schritt über die Stube glitt, dem Vater das todte Kind zu bringen, da durchschauerte es diesen kalt. Der Anblick mahnte ihn wieder an das Bild des Engels, der das todte Kind seiner himmlischen Heimath entgegenträgt.

Er verlor das Bild nicht wieder aus dem Herzen. Er stand nicht einmal am Grabe seines Sohnes ohne den Gedanken: er schlummert dort unten, bis die Mutter kommt, ihn in den Himmel zu tragen. Er wird nicht lange warten, ihr wachsen schon die Flügel.

Anna's Leiden, in letzter Zeit durch das belebende Gefühl unsaglichen Glückes unterdrückt, dann, so lange die Krankheit des Kindes währte, durch Anspannung aller Kräfte zum Schweigen gebracht, rächte sich nun für die lange Nichtachtung, für den gewaltsamen Zwang. Es ließ sich nicht mehr unterdrücken, wechselte aber in seinen Erscheinungen, gewährte für lange Zeit Ruhe, um dann mit verdoppelter Kraft aufzutreten, und veranlaßte so Jahre des Siechthums, in denen der Tod immer drohend an der Schwelle des Hauses stand und sein Flügelschlag oft zitternd durch die Luft rauschte.

Anna's Leiden war ein allmähliches Sterben oder vielmehr eine allmähliche Verklärung ihres irdischen Wesens. Tiefe Schatten fielen auf Arnold's Glück, sie wechselten mit blendenden Lichtern, denn krampfhaft klammerte sich sein Herz an jede neu aufleuchtende Hoffnung, und für Augenblicke von dieser beherrscht, wurde das durch sie erregte Gefühl fast zur Extase. Aber nur innerlich machte er diese Kämpfe durch. Seine Manneskraft errang ihm die äußere Ruhe, deren er Anna bedürftig hielt und die ihr allerdings in sofern wohlthätig war, als dieselbe sie über seinen eigentlichen Seelenzustand täuschte.

Für sich hatte sie abgeschlossen. Sie glaubte an ihren Tod und fügte sich sanft und still in den Willen des Himmels, so schwer es ihr wurde. Mächtige Bande fesselten sie an die Erde, mit tiefem Herzensweh löste sie sich von denselben los. Sie wußte, ihre Zeit war ihr kurz zugemessen, deshalb war jeder Augenblick ihr kostbar, und in verdoppelter Güte, gesteigerter Liebe offenbarte sich ihr Festhalten an den irdischen Banden. –

 

Nah beieinander wohnen Schmerz und Freude! War's bei Rosetten und Friedrich auch der Fall? Wenigstens stand der Tod nicht an der Schwelle ihres Hauses, aus dem heraus sogar meist recht lebendiges Leben in den Wald hineinschallte.

An dem Tage, an dem wir sie jetzt wieder aufsuchen, war das sogar mehr wie je der Fall, denn trotz der Umsicht der Mutter gingen doch Vorbereitungen zur Aufnahme eines Gastes, wie sie heut getroffen wurden, nicht ganz ohne Geräusch ab.

Seit Adelens Verheirathung hatte Rosette dieselbe nicht wiedergesehen und jetzt, jetzt erwartete sie den Besuch derselben. Sie war ganz verwirrt, ganz aufgeregt von der Freude. Sie kehrte ihr ganzes Haus um, bot alle Kunstfertigkeit, allen Geschmack früherer Tage auf, es der vornehmen Freundin einigermaßen würdig auszustatten. Die Kinder hatten neue Kleider bekommen, sie war selbst nach Stettin gefahren, sich mit der Mode wieder einmal etwas in Rapport zu setzen; der Mutter, auch ihre eigene Garderobe bedürften einer Auffrischung, denn waren ihre Kleider auch noch lange nicht alle vertragen, so wollte sie doch nicht in den Anzügen vor Adelen erscheinen, die jener von früherer Zeit her bekannt waren.

Auch in der Einrichtung des Hauses setzte sie manche Verschönerung durch, von der sie von Anfang ihrer Ehe an geträumt hatte, deren Verwirklichung aber, der fehlenden Mittel wegen, immer wieder aufgeschoben war. Jetzt oder nie! dachte Rosette, und obgleich es ihr nicht gelang, ihrem Manne zu beweisen, daß der Besuch einer wohlhabenden Freundin ein triftiger Grund für unbemittelte Leute sei, die durch die Verhältnisse dringend gebotene Einfachheit mit einem eben so unnützen als unvernünftigen Luxus zu vertauschen, so wurde doch, wie fast immer, seine Stimme durch die ihre, sowie die ihrer Mutter zum Schweigen gebracht.

Es ist selbst für einen energischen Baß schwer, zwei im Affect erhobene Frauenstimmen zu übertönen; Friedrichs Organ wie seine Willenskraft waren längst an dieser Aufgabe gescheitert, und so auch diesmal, wo er durch die für nothwendig erklärte Einrichtung seiner Frau sein kleines Einkommen, schon ehe er es erhalten, für Monate vorher verausgabt sah.

»Das ist blos, weil ich Dich gebeten habe, für die Tage, wo Adele hier ist, in dem neuen Schuppen zu schlafen,« grollte Rosette, »wie soll ich es denn aber machen? Wo soll ich denn Adelen wohnen lassen, wenn nicht in unserer Schlafstube? Soll ich die arme alte Mutter aus ihrem kleinen Stübchen unten verdrängen? Selbst wenn ich es über das Herz bringen konnte das zu thun, so geht es ja gar nicht. Die Stube muß zugleich Entrée sein, wie ist das möglich, wenn Du darin wohnst? Du würdest wahrhaftig nicht die Rücksicht nehmen, es so aufgeräumt zu halten, daß Keiner ihm die Schlafstube ansieht. Das kann wohl eine Frau, aber ein Mann nicht. Ich habe mich auch so gefreut, mit Adelen mein Zimmer zu theilen. Wie wird mich das an die glückliche Zeit erinnern, wo ich noch ein Mädchen war, wo ich mit Adelen oft die halbe Nacht verplauderte, denn wir sagten uns Alles, und was erlebten wir nicht Alles! Da lohnte es noch zu reden. Jetzt freilich, wo so ein Tag hingeht wie der andere, wo es mein Loos ist, mich den ganzen Tag mit den Kindern abzuplagen, da vergeht Einem die Lust zu erzählen: wenn man da Abends in sein Bett kommt, kann man nichts Besseres thun als einschlafen, um alle Sorgen und Quälereien zu vergessen. Ich beklage mich wahrhaftig nicht darüber, und Du kannst mir doch diese kurze Zeit der Erholung, dies Zusammensein mit Adelen gönnen.«

»Ich thue es von Herzen, liebe Rosette,« sagte Friedrich freundlich. »Ich werde im Schuppen nicht weniger gut schlafen und ich will Dich gern Deiner Freundin überlassen, so viel Du es nur willst.«

»Ach ja, das glaube ich, was bin ich Dir denn auch?« seufzte Rosette. Ein Achselzucken Friedrichs war die einzige Antwort, die er gab. Rosette bemerkte es.

»Dieses verwünschte Achselzucken!« sagte sie ärgerlich, »wie oft habe ich Dich schon gebeten es Dir abzugewöhnen! Es liegt etwas so Beleidigendes darin, es ist so, als wäre ich eines Wortes der Erwiderung nicht werth. Du kannst doch Deine Meinung sagen, so gut wie ich es thue.«

»Es kommt nur nichts dabei heraus,« bemerkte Friedrich.

»Nun, doch das, daß man weiß wer Recht behält,« fuhr Rosette fort.

»Das heißt, Du meinst, wer das letzte Wort behält; das will ich Dir gern lassen,« unterbrach sie Friedrich.

»Gern lassen!« wiederholte Rosette spottend, »das Gern kenne ich. Du thust Alles gern, das heißt Du sagst es, Dein Gesicht spricht aber das Gegentheil und macht Deine Sanftmuth zu Schanden. Sanftmuth an einem Manne ist überhaupt unangenehm, ist eine ganz unnatürliche Eigenschaft. Ich wollte, Du poltertest lieber einmal, Du würdest tüchtig heftig und böse, dann könnte ich doch etwas darauf geben, wenn Du gut bist. So ist aber gar nichts daran gelegen, denn die Verdrießlichkeit, die bei Dir den Zorn ersetzt, die imponirt mir gar nicht, die macht mich nur ärgerlich.«

»Ich bin nicht verdrießlich,« entgegnete Friedrich.«

»O nein, Du hast auch gar keine Launen, Du bist auch nicht geizig, es ist eigentlich wohl Verschwendungssucht, daß Du über die kleine Ausgabe, die ich wegen Adelen machen muß, mit so brummigem Gesicht herumgehst,« stotterte Rosette. »Wenn's nur Anna wäre, die mich besuchen wollte, dann würde der geringe Aufwand, den ich nothgedrungen, des Anstands wegen mache, nicht zu viel sein!«

»Es ist nur zu viel, weil wir es nicht dazu haben, liebe Rosette,« entgegnete Friedrich mit derselben geduldigen Freundlichkeit, »sonst würde ich Dir gern die Freiheit lassen, Deine Freude über den Besuch Deiner Freundin in jeder Art zu äußern. Jetzt kann ich nur wiederholen, daß ich es unvernünftig finde und daß ich überzeugt bin, sie würde sich gewiß scheuen Dich zu besuchen, wenn sie wüßte, in welche Verlegenheit uns dieser Besuch dadurch stürzt, daß Du Dich nicht entschließen kannst, die vornehme Dame über der Freundin zu vergessen.«

»Nein, das kann ich auch nicht vergessen, dazu habe ich zu lange mit ihr gelebt. Es liegt auch zu viel davon in meiner Natur, sonst würden Deine Lehren und Dein Beispiel mehr über mich vermocht haben,« bemerkte Rosette bitter.

Friedrich biß sich auf die Lippen.

»Wir wollen die Sache fallen lassen,« sagte er dann, »wenn Du ärgerlich bist, weißt Du nicht was Du sprichst, und ich fühle es, daß es mir immer schwerer wird, Deine kränkenden Worte als Uebereilung zu betrachten und zu vergessen.«

»Ich bin nicht übereilt und Du sollst sie auch nicht vergessen. Will ich denn in den Wind sprechen?« fuhr Rosette, heftiger werdend, fort, brach aber dann, als Friedrich, ohne ein Wort zu erwidern, in die Nebenstube ging, in eine Fluth von Thränen aus.

In dem Augenblick trat die Mutter ein.

»Herr Gott, Du weinst schon wieder, hat er Dich schon wieder geärgert, Du armes Lamm, Du?« fragte sie.

»Ach, es ist ja nichts mit ihm anzufangen,« klagte Rosette. »Er ist ein Stockfisch, nichts regt ihn auf, nichts freut, nichts ärgert ihn, an nichts nimmt er Theil. Durch sein verdrießliches Gesicht verdirbt er mir jede Freude. Er kann nicht einmal meinetwegen die paar lumpigen Thaler ausgeben ohne die Armesündermiene. Wenn er mich lieb hätte, müßte es ihn nicht kümmern und wenn er mehr Schulden hätte als Haare auf dem Kopf.«

»Also ist es wieder das Geld, wegen dessen er mit Dir gezankt?« sagte Frau Wallner. »Gut ist es freilich nicht, daß wir die Schulden machen müssen, aber es ist doch auch gemein, immer nur daran zu denken. Und leidet Einer Noth deshalb, so sind wir es und nicht er, wir werden's schon wieder zusammenbringen, er soll unbesorgt sein. Er weiß ja vom Wirthschaften nicht mehr wie ein kleines Kind; wäre ich nicht gewesen, die Leute hätten ihm schon in den ersten paar Wochen seines Hierseins die Haut über die Ohren gezogen. Aber das ist nun der Dank dafür. Ich habe ihn wie einen Sohn behandelt, noch ehe ich ahnte, daß er es werden würde. Um seiner dummen Liebesangelegenheit willen habe ich mich gegrämt, daß es mir das Herz fast abdrückte, Tag und Nacht habe ich gesonnen, wie er zu trösten sei. Die eigene Tochter habe ich ihm gegeben, sie war wahrhaftig eine Partie, die sich sehen lassen konnte – und nun diese Undankbarkeit. Wenn etwas im Hause ist, kommt es ja doch nur von Dir, was hat er sich da hineinzumischen?«

»Es ging doch auch nicht anders, Mutter,« schluchzte Rosette, »man muß doch anständig sein, auch wenn man arm ist.«

»Gewiß,« bestätigte diese, »wenigstens wir fühlen so, wir können der Ehre und dem Anstande nichts vergeben und bringen deshalb freudig die Opfer, über die er brummt. Wenn Deine Freundin wüßte, wie Du um ihres Besuches willen leiden mußt, wahrhaftig! sie würde Dir die paar lumpigen Thaler, um die es sich handelt, mehr als ersetzen.«

»Um Gottes willen, Mutter, daß sie das nicht erfährt!« fuhr Rosette aus. »Wenn ich nicht einmal die Freude haben soll, es ihr so gut es geht in meinem Hause behaglich zu machen, wenn ich das bezahlt nehmen sollte, wahrhaftig, dann liefe ich lieber auf und davon.«

»Nun, nun, sie soll's ja nicht erfahren, ich meinte nur so,« beruhigte Frau Wallner die Tochter und ermahnte sie dann ihre Thränen zu trocknen, da ja in wenigen Stunden ihr Gast schon da sein könne.

»Ach, mir sieht man das Weinen nicht lange an, Gott sei Dank!« sagte Rosette, »ebenso, wie ich schnell allen Kummer und alle Noth vergesse, wenn es nur wieder ein klein bischen hell um mich ist.«

»Ja, Gott wußte wohl, warum er Dir das leichtherzige Gemüth gab, mein Kind,« meinte die Mutter liebkosend, »Du hast es von mir geerbt. Wem Gott ein schweres Leben zuertheilt, dem giebt er wenigstens einen leichten Sinn. Du wirst Dich aber jetzt anziehen müssen. Willst Du allein nach Swinemünde, sie zu empfangen, oder geht Friedrich mit Dir?«

»Friedrich geht mit,« entgegnete Rosette. »Ich hatte mich erst gefreut den Spaziergang mit ihm zu machen, aber nun er so häßlich war, ist die ganze Freude daran fort. Nun werde ich recht müde werden, denn weißt Du, Mutter, wenn ich betrübt gewesen bin, dann fühle ich es immer wieder, wie hinfällig ich eigentlich bin. Die vier Kinder haben mir viel Kräfte gekostet. Es geht aber immer recht verkehrt zu im Leben. Früher, wo ich Stunden und Stunden gehen konnte, ohne zu ermüden, da standen mir immer Wagen und Pferde zu Gebote, jetzt muß ich gehen und wenn ich mich auch kaum fortschleppen kann.«

»O, heute hättest Du wahrhaftig fahren können,« meinte die Mutter. »Du mußt in Swinemünde ja doch einen Wagen nehmen, die reiche Frau wird nicht gehen wollen, und die paar Groschen, die es mehr kostet, wenn Du den Wagen von hier genommen, brauchtest Du ihr wirklich nicht zu sparen.«

»Den Wagen darf sie nicht bezahlen,« wandte Rosette ein. »Ich hole sie ab, das habe ich ihr geschrieben, sie darf sich bei uns um nichts bekümmern. Ich will hier ganz die Wirthin machen, das hat mir Friedrich erlaubt.«

»Das ist ja sehr gut von ihm,« spottete die Mutter, »aber dann hätte er doch wenigstens daran denken können,daß es auf die paar Groschen nicht ankommt und daß Deine Kräfte mehr werth sind.«

»Ja, Gott! so ist er nun einmal nicht,« seufzte Rosette, »da er nie müde wird, fällt es ihm auch nicht ein, daß Andere es werden können.«

»Ja, wenn man lernen will, was Egoismus heißt, muß man heirathen,« sagte Frau Wallner, »selbst mein guter Alter hatte eine gute Portion davon. Dem ging seine eigene Behaglichkeit über Alles; ehe er die Pfeife aus dem Munde genommen, hätte ich dreimal sterben und verderben können. Selbstsuchtslos zu lieben verstehen nur wir Weiber.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen verging die Zeit und die Stunde nahte, in der Rosette den Weg nach Swinemünde antreten mußte, um zur rechten zu Adelens Empfang dort zu sein. Sie hatte sich angezogen, vielfach durch die Kinder gestört, von denen alle Augenblicke eins oder das andere kam, um irgend einen Anspruch an die Mutter zu erheben. Sie war immer bereit gewesen ihnen zu willfahren, hatte aber auf Friedrich gebrummt, weil dieser fortgegangen und sie der Meinung war, daß er ihr doch für eine halbe Stunde wenigstens hätte die Sorge für die Kinder abnehmen können. Mit ziemlicher Ungeduld erwartete sie dann seine Rückkehr.

»Kind, der hat es lange vergessen, daß er mit Dir gehen soll, der läßt Dich im Stich,« behauptete die Mutter, »er hat ja so jetzt keine anderen Gedanken als die an Anna und ihre Krankheit, die wahrlich nicht so viel zu sagen hat. Sie ist nur ein weichliches Ding und nimmt sich gar nicht ein bischen zusammen. Wenn ich denke, was Du ausgestanden hast in den letzten Jahren! Ihr hat ja kein Finger weh gethan, während Du vier Wochenbetten zu überstehen hattest.«

»Ach Mutter,« sagte Rosette mit einem Ausbruch warmen Gefühls, das in ihrer beweglichen Seele eben so schnell mit leichtfertigen, fast herzlosen Empfindungen wechselte, als Frühlingssonnenschein mit winterlichem Schneegestöber im April, »ach Mutter,« ich glaube, ein Kind verlieren macht größere Schmerzen als vier bekommen!«

»Dir, mein Kind, ja, das glaube ich,« bestätigte Frau Wallner. »Du hast das Gemüth dazu, aber die Anna, die ist so kalt wie Eis.«

»Das ist sie nicht,« widersprach Rosette, »an ihrem Gemüth ist nichts auszusetzen; überhaupt, es ist nichts an ihr zu tadeln. Wenn Friedrich sie nicht lieb gehabt hätte und nicht noch an ihr hinge, wenn sie nicht überhaupt so viel besser wäre als ich, so glaube ich, könnte ich sie recht lieb haben. Wenn sie todt sein wird, werde ich es bereuen sie nicht schon jetzt lieb zu haben, aber ich kann's noch nicht. Ich bin gar nicht eifersüchtig, nicht im mindesten, was mache ich mir viel aus Friedrich! Aber mein Mann soll an keine Andere denken als an mich. Er soll mich nicht vergessen, wie eben jetzt wieder. Kommt er nicht bald, gehe ich allein.«

Frau Wallner trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.

»Ich bin gewiß geduldig,« sagte sie, »aber der Mensch erschöpft auch die Geduld eines Lammes. Nein, wenn ich das gedacht hätte!«

In dem Augenblick trat Friedrich ein. Er war ganz athemlos, so rasch war er gegangen.

»Sie kommen wohl vom Fangel, wie geht es der Frau Försterin?« fragte Frau Wallner spitz.

»Ich komme nicht daher,« entgegnete Friedrich, »ich komme von Häringsdorf, wo ich einen Wagen bestellt habe. Es macht wenig Unterschied, ob wir ihn dort oder erst in Swinemünde nehmen, und Du schienst mir heut so ermattet, Rosette, ich konnte es nicht über's Herz bringen, Dich gehen zu lassen.«

Rosettens Gesicht klärte sich auf. Sie lachte, schlug in die Hände und sagte fröhlich:

»Nun kann ich mir noch rasch ein anderes Kleid anziehen, nun kann ich mich so hübsch als möglich machen, Adele soll mich nicht verändert finden!«

 

Adele fand sie auch nicht verändert. Trotz der vier Kinder, der namenlosen Leiden bei ihrer Geburt, von denen Frau Wallner dem Gast schon in den ersten Stunden ein haarsträubendes Bild entwarf, trotz der mancherlei häuslichen Sorgen und der vielen häuslichen Verdrießlichkeiten hatte Rosette doch nichts von der Frische ihres Aeußern, ja selbst wenig von der Leichtherzigkeit ihrer Empfindungen eingebüßt.

In einem Augenblick fast erdrückt von all' den Anforderungen, die zu befriedigen sie nicht genug Festigkeit des Willens besaß, im nächsten alle Last und Sorge des Lebens von sich werfend, stellte diese heftige Schwankung vielleicht wieder eine Art Gleichgewicht her. Freude und Kummer streiften mehr ihre Seele, als daß sie dieselbe in ihrer Tiefe erfaßt hätten, darum vermochte sie es eben so rasch zu lachen als zu weinen und eins löschte immer das andere aus. Adele fand in ihr ganz denselben ungeordneten aber anmuthigen Geist, dasselbe gutmüthige, warmfühlende aber unzuverlässige Herz wieder.

In den ersten Stunden ihrer Anwesenheit im Försterhause schien die Sonne gleichsam in alle Ecken und Winkel desselben. Rosette war glücklich und ihre Freude spiegelte sich in Friedrichs Antlitz; Frau Wallner trug alle Würde und Freundlichkeit einer geliebten Mutter, Schwieger- und Großmutter zur Schau und sonnte sich in dem Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit; die Kinder waren blöde und deshalb artig. Es waren hübsche, nur sehr unerzogene Kinder, da Rosette sie mit großer Inconsequenz behandelte, die Großmutter sie sehr verwöhnte und Friedrich sie nie strafen durfte, ohne einen solchen Sturm des Unwillens bei Frau und Schwiegermutter heraufzubeschwören, daß er, um diesen zu vermeiden, mehr als gut war, fünf gerade sein ließ. Dergleichen übersieht man jedoch weder in der ersten Stunde, noch ist man geneigt gleich über alles Auffällige nachzudenken, es sich auslegen und erklären zu lassen. So sagte Adele selbst nichts über Willfried's, des ältesten Knaben, seltsames Antlitz, obgleich die Schönheit der Form und Züge, sowie die Gedankenlosigkeit des Ausdrucks ihr im ersten Moment auffielen. Auf Adelens Fragen antwortete er mit abgerissenen Worten, die auch nur ein halbes Verständniß andeuteten.

»Willfried ist ein sonderbares Kind,« sagte Rosette, Adele von ihm abziehend, »den versteht nicht gleich Jeder, den verstehe eigentlich nur ich.«

Erst als sie des Abends mit der Freundin, mit der sie ihr Schlafzimmer theilte, allein war, erst da ergänzte sie das Bild ihres häuslichen Lebens und Glückes, von dem Adele ja nur einen flüchtigen Umriß gesehen. Es war ein seltsames Bild, vielfach verzeichnet und fast überall falsch beleuchtet.

Adele konnte dadurch nur die Ueberzeugung gewinnen, daß Rosette nicht glücklich sei. Dagegen protestirte diese jedoch, ebenso gegen die Behauptung, daß sie ihren Mann wohl nicht so recht liebe.

»Doch,« sagte Rosette, »aber er imponirt mir nur nicht. Er läßt sich Alles von mir und der Mutter gefallen, und das reizt mich natürlich, ihm immer mehr zuzumuthen. Dann versteht er sich auch so wenig auf die Kinder. Ich darf es gar nicht zugeben, daß er sich in die Erziehung mischt, er würde ihre Kindlichkeit ganz und gar unterdrücken. Er will, daß sie schon einem Wink gehorchen, das ist doch nicht durchzusetzen, das zwingt man höchstens mit Schlägen und ich will nicht, daß meine Kinder geschlagen werden. Mit Schlägen erzieht man Hunde, nicht Menschen. Du solltest nur sehen, wie empört sie sind, wenn man sie schlagen will. Lieber lasse ich sie unartig sein! Was schadet's auch! Mir wird zwar manchmal der Kopf warm, wenn Willfried seinen Raptus hat, aber was soll ich machen? Den kann ich am allerwenigsten schlagen, den armen Jungen!«

»Was ist eigentlich mit dem Kinde?« fragte Adele theilnehmend, »es liegt etwas sehr Trauriges in seinem Gesicht.«

»Friedrich behauptet, er habe keinen Verstand,« klagte Rosette, »aber das ist nicht wahr. Er versteht nur nicht Alles und versteht schwer, es ist aber schon viel besser mit ihm geworden. Erst dachte ich, er würde gar nicht sprechen lernen, aber da hat sich Friedrich viel Mühe gegeben. Immer und immer wieder hat er ihm die Dinge gezeigt und die Namen derselben so lange genannt, bis er sie nachsprechen lernte, wenn auch mit etwas schwerer Zunge. Er weiß Dir nun Alles zu nennen, die Sonne, den Mond, die Sterne, alle Möbel im Hause, er weiß was ein Baum und was Wasser und Feuer ist, aber er bringt noch keinen Zusammenhang hinein. Das würde er aber auch noch lernen, wenn Friedrich sich mehr Mühe geben wollte. Aber die Mutter hat ganz recht, wenn sie sagt, daß er zu bequem dazu ist. Es ist freilich leichter, einem Kinde den Verstand abzusprechen, als einem etwas schwerfälligen Geist zu Hülfe zu kommen. Und dabei ist er so inconsequent, denn wenn der arme Junge wirklich schwachsinnig wäre, dann dürfte er doch wenigstens nicht diese übertriebenen Ansprüche an seine Artigkeit machen. Er ist aber gleich bei der Hand ihn zu bestrafen, wenn er seine kleinen Anfälle von Eigensinn und Tücke hat, das leide ich aber nicht. Willfried darf am wenigsten geschlagen werden, er gehorcht auch viel eher, wenn man ihm gut zuredet.«

»Ist das Kind von seiner Geburt an so gewesen?« fragte Adele.«

»Eigentlich ja,« gab Rosette zu. »Die Mutter meint, ein heftiger Schreck, den ich kurz vor seiner Geburt gehabt, sei daran schuld. Friedrich versteht sich gar nicht darauf, Einen ein wenig zu schonen, und ihm hatte ich den Schreck zu danken. So ist er gewissermaßen schuld an dem Unglück des Kindes, und er gerade ist am wenigsten geneigt, Nachsicht mit den Unarten desselben zu üben.«

Adele hatte im Lauf der acht Tage, die sie bei Rosetten blieb, noch hinlänglich Gelegenheit, des Kindes Geisteszustand zu prüfen, sowie sich von dem Charakter seiner Unarten zu überzeugen. Ebenso gewann sie einen Einblick in die häuslichen Verhältnisse ihrer Freundin, so weit das möglich war in einer Zeit, in der Alles, Haus wie Menschen, sich nur auf's beste herausgeputzt zeigten. Aber auch ohne gerade eine sogenannte Scene zu erleben, sah sie doch genug, um sich zu überzeugen, wie wenig Rosette ihrer Aufgabe gewachsen war, wie Friedrich nicht die gehörige Festigkeit, vielleicht auch nicht Einsicht genug besaß, die Charakterlosigkeit derselben zu ergänzen, welchen schlimmen Einfluß die Mutter durch ihre Einmischung in jeden kleinen Zwiespalt der Eheleute, sowie durch ihre entschiedene Parteistellung ausübte.

Sie war überzeugt, Rosette liebe ihren Mann mehr, als sie selbst es glaubte und zugestehen wollte, aber sie war wie ein Kind: das schützt die Liebe allein selten vor Unart, es bedarf auch noch der Erziehung. Rosette war aber nie erzogen worden und ebendasselbe versäumte sie nun auch an ihren Kindern.

Obgleich in der Gewohnheit des Reichthums erzogen, eine Gewohnheit, die in der Regel ein Verständniß für dürftigere Verhältnisse nicht aufkommen läßt, bemerkte Adele dennoch, daß manches Zerwürfniß, mancher Zwiespalt aus jener mangelnden Uebereinstimmung zwischen den Ansprüchen an das Leben und den fehlenden Mitteln, diesen zu genügen, entsprang. Rosette klagte nicht, aber die Mutter that es in jedem Augenblick, in dem sie der reichen Freundin ihrer Tochter habhaft werden konnte, ohne daß Letztere dabei war. In solchen Augenblicken wurden auch die Seitenhiebe auf Friedrich verstärkt, denn obgleich Rosette es keineswegs daran fehlen ließ, waren sie bei ihr doch mehr unvernünftig als gehässig. Frau Wallner aber konnte gehässig werden, wenn sie daran dachte, wie viel mehr sie einst von Friedrich erwartet hatte, als er nun ihrer Meinung nach leistete. Es gehörte jetzt fast zu den Ausnahmen, daß Frau Katzenpfötchen in Beziehung auf Friedrich die Krallen einzog.

Adele gewann ein ziemlich richtiges Bild von der Sachlage der Dinge, aber sie war so verständig, sich jeder andern als indirekten Einmischung zu enthalten. Sie urtheilte und verurtheilte nicht, drang nicht guten Rath oder gute Lehren auf, aber sie behandelte Friedrich mit der Achtung, die er ihr zu verdienen schien, sie parirte Frau Wallner's Klagen dadurch, daß sie ihnen immer eine ganz unerwartete Auslegung zu Friedrichs Gunsten gab und so that, als habe seine Anklägerin sie selbst nicht anders gemeint, sie lachte über Rosettens Unvernunft und brachte diese dahin, in das Lachen einzustimmen, und es gelang ihr so, manchen Schatten unbemerkt zu zerstreuen, ohne durch ein plötzlich hineingeschobenes, zu grelles Licht eine in anderer Weise schädliche Wirkung hervorzubringen. Sie that das ohne Plan und Ueberlegung, nur aus dem natürlichen Tact eines guten Herzens und verständigen Geistes, und in derselben Weise versuchte sie es, den aus pecuniären Bedrängnissen hervorgehenden häuslichen Sorgen abzuhelfen, aber dabei stieß sie auf den festen, wenn auch ehrerbietigen Widerstand Friedrich's, und daß er diesen trotz seiner Schwiegermutter und seiner Frau behauptete, regte einen häuslichen Sturm auf, der Adelen mehr als alle bisher gemachten Erfahrungen den tiefen inneren Zwiespalt enthüllte, an dem dies häusliche Glück krankte.

Sie erbot sich nämlich, Willfried, in dessen wirrem kleinen Kopf ihr das Licht des Verstandes nicht vollständig erloschen schien, in einer der Heilung solcher Patienten gewidmeten Anstalt unterzubringen. Sie meinte, sorgfältige ärztliche Behandlung werde im Stande sein, die beschränkten geistigen Fähigkeiten des Kindes doch so weit als möglich auszubilden.

»Wozu?« sagte Friedrich traurig, »soll er etwa zum Bewußtsein seines Zustandes kommen! Ich fürchte, etwas Anderes würde damit nicht bezweckt werden, und dann wäre das arme Kind noch unglücklicher als zuvor. Meiner Meinung nach ist mit ihm nichts zu thun, als ihm alle die Liebe und Geduld zu zeigen, die nur Eltern, nicht Fremde für ihn haben können, aber auch mit Strenge die bösartigen Anlagen zu unterdrücken, die sich leider in dem Kinde entwickeln.«

»Siehst Du, so ist er!« unterbrach Rosette ihn heftig, »er ist der Erste, der das Kind für verrückt erklärt, aber der Letzte, der etwas für dasselbe thun lassen will.«

»Die Menschen werden ihm den Verstand nicht wiedergeben, den der Himmel ihm versagt hat,« wandte Friedrich ein.

»Das können Sie nicht wissen, lieber Friedrich, Sie sind nicht allwissend,« belehrte ihn Frau Wallner mit sanftem Tone, in dem nur leise die unterdrückte Aufregung vibrirte.

»Willfried ist nicht verrückt, es ist sehr lieblos, das von seinem eigenen Kinde zu sagen,« fuhr Rosette mit gesteigerter Heftigkeit fort, »und wenn er verrückt wäre, welche Unvernunft ist es dann, ihn für Dinge zu strafen, für die man ihn nicht verantwortlich machen kann! Du bist gleich dabei, ihn für jede Unart zu züchtigen, wenn er es doch nicht verstehen kann, was artig oder unartig ist.«

»Liebe Rosette,« sagte Friedrich, »es ist sehr traurig, durch nichts Anderes als Furcht auf ein Kind wirken zu können; sind uns aber andere Mittel versagt, muß es geschehen. Willfried muß aus Furcht das unterlassen, wovon weder Liebe noch Einsicht ihn zurückhalten können. Wird seine Bösartigkeit durch Nachsicht begünstigt, so kann er einmal schweres Unheil für sich oder Andere veranlassen. Man kann ihm ja doch nicht sagen, was gut und böse ist, man kann ihn nur dadurch zugänglich für das eine machen, nur dadurch ihn von dem andern zurückhalten, daß man ihm für das eine Gutes, für das andere Strenge erweist. Jeder Schlag, den er den Geschwistern giebt, muß ihm weh thun, er ist nicht anders zu erziehen!«

»Wie ein unverständiges Thier!« meinte Rosette.

Friedrich zuckte die Achseln.

»Ich möchte das Kind schon deshalb aus dem Hause geben, weil es Dir verhaßt ist,« fuhr sie fort, »um es dieser lieblosen Behandlung zu entziehen, auch wenn ich nicht die Hoffnung hätte, daß es gesund werden könnte.«

»Gnädige Frau, sagen Sie es doch Rosetten,« wendete sich Friedrich an Adele, »in welcher Weise man in den öffentlichen Heilanstalten auf Verrückte wirkt, ob es nicht auch die Furcht ist, die sie zum Gehorsam bringt, und ob, wenn das Heilverfahren auch vielleicht auf der andern Seite Nachsicht und Geduld bedingt, diese der Liebe der Eltern gleichkommen kann. Ihn kleiden, für seine Nahrung sorgen, wird wohl auch eine bezahlte und überwachte Wärterin, ihn liebkosen nur eine Mutter,« fügte Friedrich mit einem freundlichen Blick auf Rosetten hinzu.

»Ich bestreite Ihnen das nicht,« sagte Adele, »ich hatte nur die Vortheile ärztlicher Behandlung im Sinne, ich meinte, sie könne den schlummernden Verstand in dem Knaben wecken und empfinge er dann mit Bewußtsein die Liebkosungen seiner Mutter, so müsse ihm das reichen Ersatz für die zeitweilige Entbehrung derselben gewähren.«

»Man kann etwas Schlummerndes wecken, aber nicht etwas Todtes,« entgegnete Friedrich.

»O, mit dem kannst Du noch zwei Stunden, kannst Du noch tage-, jahrelang reden,« versicherte Rosette erbittert, »in diesem Punkt ist er wie ein Stein. Für ihn ist und bleibt Willfried verrückt. Ich sehe doch nicht ein, warum gerade ich ein verrücktes Kind haben soll?«

»In unserer Familie ist wenigstens der Fall noch nicht vorgekommen,« fügte Frau Wallner hinzu.

»Liebe Rosette, wenn es Dich beruhigt, gieb den Jungen hin,« sagte Friedrich, ohne von Frau Wallner's Bemerkung Notiz zu nehmen. »Wenn Du wüßtest, was Du thust, würdest Du lieber die zehnfache Last auf Dich nehmen, ehe Du um dieses hoffnungslosen Versuches einer Heilung willen dem unglücklichen Kinde bei allen schmerzlichen Entbehrungen auch noch die auferlegst, die Beweise Deiner Liebe vermissen zu sollen. Meine Meinung ist, daß dem Jungen nichts helfen kann, daß jeder Versuch dazu eine Grausamkeit ist, daß gar kein Verstand besser ist als der Funke, der uns nur die eigene Nacht zeigt, ohne sie erleuchten zu können; das denke ich, aber nun entscheide Du, ich kann mich ja auch irren.«

»Ach, wenn Du so redest, kann ich ihn ja doch nicht hingeben,« klagte Rosette, »wenn Du glaubst, daß es ihn unglücklich macht, werde ich doch nicht die Verantwortung dafür auf mich nehmen. Es ist traurig, daß Du nie so denken kannst wie ich, es ist sehr traurig, daß Dein Vorurtheil gegen Willfried nicht zu erschüttern ist. Ich wollte, Du hättest in anderen Sachen mehr Willen und bei dieser etwas weniger Eigensinn. Ich wünschte, Willfried wäre nie geboren!«

»Oder Du hättest Dich vor der Geburt des Kindes mehr schonen können, meine arme Tochter!« fügte Frau Wallner hinzu. »Hätte man Dich mehr vor Aufregung und Schreck bewahren können, so wäre Willfried wohl nicht mit diesem aufgeregten, verschüchterten Wesen auf die Welt gekommen. Es ist ein Wunder, daß die kleinen Mädchen nicht auch so sind, aber da warst Du wohl schon ein wenig abgestumpft gegen alle die schädlichen Einwirkungen, denen Du schonungslos ausgesetzt wurdest. O, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, lieber Friedrich,« wendete sie sich dann mit halber Neckerei an diesen, als sie sah, daß erst Erstaunen, dann Unwille sich in Adelens lebhaftem Antlitz wiederspiegelte, »gewiß, das thue ich nicht, denn ich weiß ja, wie Rosette von Ihnen geliebt wird, aber Sie sind ungeschickt, liebster Sohn, verstehen sich nicht auf kleine Rücksichten.«

»O, Sie glauben nicht, was er alles für Dinge angab,« fuhr sie in derselben scherzenden Weise zu Adelen gewendet fort, »er that immer, als wäre sie eine ganz Gesunde, er achtete ihre reizbare Stimmung für nichts und sparte ihr keinen Widerspruch, keinen Verdruß.«

Friedrich entgegnete nichts. Er wußte, er hatte sich nichts vorzuwerfen, wenn er auch nicht im Stande gewesen war all' den Anforderungen zu genügen, die man bei den eben besprochenen Gelegenheiten an ihn gemacht hatte. Sein Herz trieb ihn immer zu den freundlichsten Rücksichten, gleichviel ob ein Gesunder oder Kranker sie in Anspruch nahm; seine harmlose Gemüthsart war sein bester Schild gegen die Angriffe der übeln Laune Anderer, aber er begriff es nie, daß man die Menschen weicher berühre mit Glacéhandschuhen, als mit der unbedeckten sanften Hand. Rosette war, wie die meisten charakterlosen Menschen, sehr empfindlich gegen geistige wie körperliche Leiden und geneigt, beide zu übertreiben. Ein wahres Märtyrerthum hatte sie über Friedrich verhängt, und für den Himmelssegen, der in dem Lächeln eines zum Leben erwachten Kindes liegt, zahlte er mit monatelanger Frohnarbeit im Reich unvernünftigster Anforderungen.

Bald machte er die Thür zu leise, bald zu laut auf; bald knarrte sein Stiefel, bald war sein Tritt zu wenig zu hören; bald lachte er nicht genug, bald bewies seine Heiterkeit ein mitleidloses Herz. Genug, er hatte es nicht gelernt, eine Frau, die Mutter werden soll, wie ein ungezogenes Kind zu behandeln; er verstand es nicht, sich in jeder Minute, in der man es von ihm verlangte, zu ängstigen; er hatte seiner Zeit viel und gern gesungen, aber nie Klagelieder; vor Allem glaubte er nicht, daß Jemandes Kopf auf dem Spiele stehe, wenn er sich mit einer Nadel den Finger ritze, und alle diese mangelnden Fähigkeiten machten eben das Unglück aus, das Frau Wallner ihm vorwarf, das sie immer und Rosette in Momenten der Aufregung und des Verdrußes als Grund von Willfried's Unglück anzusehen geneigt war.

Adele unterbrach endlich das Schweigen, das Frau Wallner's unpassender, ja bitterer Neckerei gefolgt war.

»Ich stehe von meinem Vorschlag ab,« sagte sie freundlich zu Friedrich, »ich meinte es gut damit, aber Sie mögen ganz recht haben ihn zurückzuweisen Vielleicht sind Sie einem andern geneigter. Geben Sie mir eins ihrer kleinen Mädchen zur Erziehung, ich werde die Kleine lieb haben, werde für sie sorgen wie eine Mutter. Sie haben ja Ihr Häuschen voll, und eins weniger gewinnt Raum für die anderen. Was meinen Sie hierzu?«

Friedrich war ganz blaß geworden bei dem Vorschlage.

Fast erschrocken und ohne zu überlegen was er sprach, sagte er: »O Gott, nein, nein, was soll das arme Ding nachher bei mir! Unsereins kann nicht mit dem Leben spielen!«

»Du bist jetzt sehr unhöflich gegen meine Freundin sowohl wie gegen mich,« unterbrach ihn Rosette heftig.

»Sie sind auch sehr schnell dabei, Ihre Entscheidungen zu treffen, lieber Sohn,« fuhr Frau Wallner fort, »hat denn die Mutter nichts zu sagen?«

»Liebe Adele, Du hast mich verdorben, hast Du es denn gehört?« fing Rosette wieder an. »Ich habe bei Dir gelernt mit dem Leben zu spielen! Wenn es wahr wäre, sollte er Dir dafür danken, statt es zu tadeln. Gottlob, daß ich das Leben noch ein wenig leicht nehme! Wenn ich das nicht thäte, wie sollte ich es denn anfangen noch mitunter vergnügt zu sein in dieser trübseligen Einöde! Er verdirbt mir ja jede Freude, auch die, Dich bei mir zu haben, da ich Dich nicht einmal vor seiner übeln Laune und Unhöflichkeit schützen kann.«

»Gnädige Frau, ich hoffe, Sie haben mich nicht falsch verstanden,« wendete sich Friedrich an diese, »hoffe, Sie halten mich nicht für undankbar. Ich bin es nicht, ich empfinde tief Ihre Güte, aber« – er sagte die letzten Worte mit bebenden Lippen und einem schmerzlichen Blick auf Rosetten – »aber ich möchte für keins meiner Kinder das Vaterhaus zu einer trübseligen Einöde gemacht sehen!«

Rasch wendete er sich dann um, verließ das Zimmer, und wenige Minuten darauf das Haus.

»Siehst Du, so ist er!« brach Rosette los und eine Fluth von Thränen strömte über ihre Wangen, »die Worte nimmt er mir aus dem Munde, um mir einen Vorwurf daraus zu machen, und dann geht er fort, um nur keine Gegenrede mehr zu hören. Ich kenne das Gesicht schon, mit dem, er wiederkommt, die Milch könnte sauer davon werden. Ich würde es so schnell vergessen, wenn wir uns gezankt haben, Gottlob! ich bin nicht nachtragend, aber wenn er so, tagelang schmollt, ließe ich mich lieber todtschlagen, ehe ich nur ein Wort mit ihm spräche.«

»Daran liegt's vielleicht,« meinte Adele, »sprächst Du freundlich mit ihm, würde sich sein Gesicht gewiß aufklären.«

»Dazu ist Rosette zu stolz!« antwortete Frau Wallner statt der Tochter.

»Stolz?« wiederholte Adele, »ich meine, man kann stolz sein auf den, den man lieb hat, aber nicht gegen ihn.«

»Ja, das können Sie vielleicht, gnädige Frau,« fuhr Frau Wallner fort. »Ihr Mann ist doch etwas in der Welt. Friedrich ist nichts und will nichts sein, worauf soll Rosette da stolz sein?«

»Er ist doch er selbst!« bemerkte Adele, »so weit ich ihn kennen gelernt habe, glaube ich, daß ich als seine Frau stolz auf ihn sein würde.«

Rosette trocknete ihre Thränen ab und sah Adelen forschend an.

Als Frau Wallner jetzt das Zimmer verließ, sagte Adele:

»Rosette, laß keinen Dritten sich zwischen Dich und Deinen Mann stellen, auch die Mutter nicht, mach' Alles allein mit ihm aus, laß nur Dein Herz mit ihm reden, ihn behandeln.« – Da stürzte ihr diese um den Hals und sagte mit erstickter Stimme:

»O manchmal habe ich ihn lieb, sehr lieb, so wie keinen andern Menschen, aber dies ist für mich nicht genug, denn siehst Du, ich fühle gar nicht, daß ich nöthig habe ihm zu gehorchen. Ich bin so gern ungehorsam und es ist nichts in ihm, was mich zwingt. Er soll nicht streng gegen mich sein, aber ich möchte nur wissen, daß er es sein könnte!«

Adele mußte lachen.

»Du bist ein kindisches, unvernünftiges Ding,« sagte sie. »Du bist unbefriedigt aus lauter Opposition. Dich hat das Leben noch nie hart angefaßt, das thut Dir noth.«

Und dann sagte sie ihr ein Lied her, das ihr Mann in den ersten Tagen ihres Ehebundes gedichtet, in jenen Tagen, in deren sonnenhelle Freude auch der Sturm hineinbrauste, da die plötzliche Kunde von Elisabeth's Tode gerade mit jener Zeit zusammentraf, Dorn in tiefster Seele erschütterte und Adelen auf's Neue Gelegenheit gab, die ganze Fülle und Macht, die unantastbare Echtheit ihrer Liebe zu bewähren. Sie siegte im Kampf mit überwältigenden Erinnerungen, besänftigte die Bitterkeit unwillkürlich aufsteigender Selbstvorwürfe, sie scheuchte die Wolken vom Horizont des Lebens und brachte volle Klarheit in widersprechende Empfindungen.

Adelens erster Lohn war das Lied, das sie jetzt, in Erinnerung an ihr Gefühl beim Empfange desselben, ein Gefühl, das noch in voller Stärke bestand, mit einer Wärme und Innigkeit hersagte, die noch viel tieferen Eindruck auf Rosetten machte, als die Worte selbst. Doch auch diese verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie lauteten:

Wer nie des Unglücks tiefe Nacht
Durchwanderte in bangen Schmerzen,
Der fühlt auch, wenn das Glück ihm lacht,
Des Sieges Jubel nicht im Herzen.

Dem ist das Leben nur ein Bach,
Mit Blumen hold geschmückt am Rande,
Der still dahinfließt, klar und flach,
Hin über seines Grundes Sande.

Wie anders doch, wenn über'm Meer
Das Wetter schweigt, die Angst geendigt
Und Sonnenfunken licht und hehr
Die Wellen schmücken, sturmgebändigt.

In ihrem Rauschen welch ein Ton
Andächt'ger Ehrfurcht, unergründlich:
O Herr, ist auch das Leben schon
An Stürmen reich, Dir dank ich's stündlich!

»O,« sagte Rosette, »wo ist denn das Glück, das unantastbar bleibt und das selbst einem Leben voll Stürme Werth verleiht?«

»Das fragst Du?« sagte Adele vorwurfsvoll, »und Du mußt doch ein Herz haben, da Du es weggeben konntest!«

Rosette fuhr halb in Gedanken verloren fort:

»Wo Stürme sind, da ist kein Sonnenschein, und nur im Sonnenschein ist man vergnügt.

»Ja, im Sonnenstrahl tanzen die Mücken,« bemerkte Adele.

Rosette lachte.

»Kann sein, ich wäre ganz zufrieden mit dem Mückenglück,« sagte sie leichtsinnig. –

 

Erst nach Stunden kam Friedrich nach Hause. Auf seinem Gesicht war zwar kein Sturm, aber eine tiefe Nacht unverkennbaren Schmerzes.

»Anna ist todt,« sagte er im Eintreten, »sie ist heut früh gestorben.«

Weiter sagte er nichts, verließ auch das Zimmer wieder.

»Geh ihm doch nach,« flüsterte Adele Rosetten zu.

Sie that es schweigend. Frau Wallner weinte bitterlich.

»Das arme, arme Ding, so jung sterben zu müssen!« seufzte sie, und dann brachte sie der Verstorbenen die übliche Opfergabe verspäteten Lobes dar, die Keinen besser macht, weder den Opfernden selbst, noch den, dessen Andenken in die Weihrauchwolke gehüllt wird.

Rosette war während dessen zu ihrem Manne geeilt.

Sie fand ihn am Fenster stehen, den Blick hinausgerichtet, scheinbar nichts sehend und hörend und eben so wenig die Thränen hemmend, die langsam über die gebräunten Wangen in den Bart flossen.

»Ich habe nicht geglaubt, daß Du sie noch so lieb hättest,« sagte sie bitter, »ich glaube, Du sähest mich lieber im Sarge als sie!«

»Gottlob, Du stehst vor mir, blühend und gesund!« entgegnete er. »Es muß ganz entsetzlich sein, sein geliebtes Weib zu verlieren, seine Kinder ohne Mutter zu sehen. Der arme Arnold, er war so glücklich!«

»Denkst Du wirklich nur an ihn?« fragte sie zitternd.

»An ihn und die Kinder und sie selbst, die noch so gern gelebt hätte,« erwiderte Friedrich und fuhr dann fort: »ich denke auch an unsere Kinder- und Jugendzeit und was ich damals dachte und hoffte. Es ist so traurig, diese bunten und frischen Gedanken mit der kalten, leblosen Gestalt vergleichen zu müssen, die ich eben vor mir gesehen. Für sie ist doch nun all' das Glück zu Ende, das ich noch besitze, und mir – thut das Herz weh, wenn ich mein Haus neben das Arnold's stelle.«

Rosette sah ihren Mann groß an, es war unmöglich, hinter seinen einfachen Worten noch einen zurückgehaltenen Gedanken zu vermuthen, nein, in die Trauer um die Jugendgeliebte mischte sich nichts, was er vor seiner Frau hätte verbergen müssen. Sie jubelte im Stillen auf, aber der Jubel bedeutete mehr als einen Triumph der Eitelkeit. Darum blieb er still, darum fand er im ersten Augenblick keinen andern Ausdruck als den, daß sie sich stumm in seine Arme schmiegte.

»Ich möchte auch keins der Kinder Adelen mitgeben,« sagte sie endlich leise, »wir wollen Alle beisammen bleiben!«

Sie sagte es aus aufrichtigem Herzen, und obgleich sie nur von einem äußerlichen Beisammenbleiben sprach, so hielt das Band, das innerlich bindet, sie doch auch fest zusammen, fester als sie in vielen Augenblicken ihres Lebens zu glauben geneigt war.

 

Hätte sie sich das nur immer recht klar gemacht, hätte sie nur gefühlt, wie der leiseste Zweifel schon solches Seelenband lockert, wie man geneigt ist solchem Zweifel nachzugeben, wie er tausend andere Consequenzen mit sich führt: dieses Nachlassen in den zarten Aufmerksamkeiten der Liebe, dieses rücksichtslose sich Hingeben an Stimmungen, diese Geneigtheit einfache Dinge zu verwirren, zu urtheilen und zu verurtheilen, wo ein einfaches Hinnehmen im allerbesten Glauben das Beste wäre. Mancher gelangt erst durch Zweifel zum wahren Glauben, aber dann ist es ein langes Kämpfen und Ringen, das für Viele ein ganzes Leben hindurch währt, ohne ihnen ein Resultat zu geben, das wirklich veredelnd und beglückend auf die Seele wirkt. Je ursprünglicher der Glaube im Herzen aufgesproßt ist, je mehr er mit der Seele gleichsam geboren, auch mit ihr wächst und reift, um so glücklicher macht er diese. Fast noch mehr ist das mit der Liebe der Fall. Je freier sie von Reflexion, um so frischer, belebender entströmt sie der Seele, um so klarer und reiner brennt die Flamme ihres Lichtes.

Sie giebt nicht Extase in einem Augenblick und Niedergedrücktheit im andern, sie giebt ein schönes Gleichgewicht echt menschlicher Empfindungen, giebt unantastbaren Glauben, unsterbliche Hoffnung. '

Die Liebe, die freieste, ursprünglichste, menschlich schönste Strömung des Lebens, ist nicht den Gesetzen von Ebbe und Fluth unterworfen. Es können Stürme darüber hinziehen, Windstille kann die Wellen fesseln, Regengüsse die klare Fluth trüben, Steine und Blumen hineinfallen, gleichviel, sie bleibt doch dieselbe, sie überströmt die Ufer nicht und tritt nicht von ihnen zurück, weil sie keine hat. Es giebt für sie nicht Zeit und Raum, nicht Geburt und Tod, denn ihr Sterben ist nur eine Wandlung. Sie lebt fort selbst in der Trauer, in den Thränen um eine verlorene Vergangenheit; ihres Irrthums überführt, hält sie fest an dem, was einst Wahrheit war oder schien, zertreten von der Gemeinheit wird sie mitleidiges Erbarmen, und selbst in dem Schauder, mit dem die Hand der Samariterin den emporzuheben sucht, den sie einst in Glorie geschaut, ja in dem Schmerz der Verachtung glüht noch der Funke, der einst Flamme war und jetzt mit zuckendem Licht die todte Asche beleuchtet.

Man kann aufhören einen Menschen zu lieben, aber man kann nicht vergessen, daß man ihn geliebt hat, und darin liegt die Unsterblichkeit des Gefühls, liegt zugleich die Rettung vor der Schmach, daß ein vom Himmel stammendes Gefühl sich in seinem irdischen Ziel so tief verirren konnte.

Um an diese Unsterblichkeit der Liebe zu glauben, muß man aber erst die volle Kraft ihres Lebens empfinden, und wie schwer ist das da, wo man der freien Entwickelung der Natur vorgriff und sie künstlich vor der Zeit in's Leben rief. Liebe muß dieselbe sein und bleiben, gleichviel ob ihr das Ziel gewährt ist, das ihr vor der Welt Geltung verschafft. Sie war aber noch nicht da, als Rosette ihr das Ziel steckte, das in der Heirath mit Friedrich bestand, und es mit dem unsichern Dämmerlicht der Reflexion zu erhalten strebte. Darum hinkte nun die Liebe noch und sehnte sich nach dem Moment, wo sie die Krücken würde fortwerfen können.

Wird der Augenblick kommen? Wird Rosettens Liebe, die noch nicht einmal gehen kann, je fliegen lernen? Denn das muß sie können, hoch fliegen über allen Staub, alles Weh der Erde hinweg, selbst vor dem Tode muß sie die Schwingen nicht zusammenfalten.

 

Das that sie auch in Arnold's Seele nicht, als er an der Bahre seiner Anna die nächtliche Todtenwacht hielt.

Weit genug hatte seine Liebe die Schwingen ausgebreitet, ihn in das Reich des Lichtes nachzuziehen. Er fühlte, sein Leben würde von nun an ein Sterben sein; wie ein Grab lag die Welt vor ihm, nur Trümmer der Vergangenheit gähnten ihn an, Schönheit, Glück, Licht und Segen war nur da, wo sie weilte. Es war eine traurige Richtung seiner Natur, daß sie alle ihre Kraft immer nur auf Eins zu werfen verstand, daß, wenn sein Geist zerstörend oder erobernd auf ein Ziel losging, alles Andere als wesenlos in den Staub versank.

Er saß ganz stumm und still an dem Todtenlager; er sah die schlummernde Gestalt auch nicht an, er sah in sich hinein und sein Leben zog an ihm vorüber, zerrissenen Wolken gleich, die der Wind über den Himmel jagt, bis die Nacht Alles in eintönige Finsterniß hüllt. Er war nicht allein. Vater Reimer hatte, seit Anna ihre letzten Seufzer ausgehaucht, das Haus noch nicht wieder verlassen. Er hatte nicht gefragt, ob er bleiben dürfe, er hatte überhaupt nicht viel gesprochen, aber er war da, er sorgte für die Kinder, er entfernte Alles was Arnold stören konnte, er schaffte ihm Ruhe, überhob ihn der Nothwendigkeit, in den Augenblicken tiefsten Schmerzes seinen Geist auf die täglichen Erfordernisse des Lebens richten zu müssen. Das ist nicht für Jeden eine Wohlthat, denn Manche überwinden den Schmerz dadurch, daß sie ihn zerstreuen, nicht so Arnold, der das, was überwunden werden sollte, erst concentriren mußte. Seine Kämpfe waren nie Einzelgefechte, er setzte seine volle Kraft nur gegen die Massen ein.

Die Lampe, dieselbe kleine Lampe, bei deren Licht Anna zu arbeiten pflegte, wenn sie, ihren Mann erwartend, oft bis Mitternacht aufblieb, dieselbe, die mit verdecktem Schirm manche leidensvolle Stunde hindurch an ihrem Lager gestanden, warf auch jetzt ein mattes Dämmerlicht über das Zimmer. Kein Gegenstand trat deutlich hervor, nur das weiße Antlitz der Todten und das weiße Gewand, in das sie gehüllt war, schienen Licht zu empfangen oder vielleicht auszustrahlen. In Arnold's Seele mochte der Gedanke an diesen Tod vielleicht auch der einzige sein, der sich aus dem wirren Chaos seiner Gefühle zu bestimmter Deutlichkeit emporrang, ein tief erschütternder, das Herz zermalmender Gedanke, und doch auch fähig Licht auszustrahlen; das Chaos mußte nur erst bewältigt werden.

»Sie hätte vielleicht noch gerettet werden können, wenn ich reich wäre,« sagte er auf einmal, »darf man denn nichts ungestraft verachten, nicht einmal das elende Geld? Der Reiche kämpft oft noch dem Tode die Beute ab, wenigstens auf Jahre, auf Tage, und ach! von einem solchen Leben, wie das hier war, ist selbst jede Secunde das Opfer von Schätzen werth. Ich sprach im vorigen Jahr einen berühmten Arzt, der, in Häringsdorf das Seebad gebrauchte,« fuhr er in mehr erzählendem Tone und zu Vater Reimer gewendet fort, »der sagte mir: ›Befreien Sie die Kranke von jeder Sorge und Arbeit, verschaffen Sie ihr nur heitere Eindrücke, erfrischen Sie die sinkenden Lebensgeister durch Abwechselung, und vor Allem suchen Sie ein wärmeres Klima auf, dann kann ihr Leben noch jahrelang erhalten werden.‹ Wie sollte ich ihr das Alles schaffen?«

»Mit Erlaubniß, der Doctor hat nicht gewußt, was er sprach,« sagte Vater Reimer, »solche kostbaren Mittel sind allerdings nur für die Reichen, aber nicht nur weil sie Geld kosten. Sie sind auch viel zu künstlich für eine einfache Natur. Die Mittel hätten dies Leben nicht verlängert, sie hätten es nur unglücklich gemacht. Mein Gott, was sollten wir armen Leute denn anfangen, wenn nicht doch der liebe Gott wäre, der über Tod und Leben zu gebieten hat, der liebe Gott und sonst weiter Niemand, weder Geld noch Geldeswerth, noch die Aerzte, noch all' das dumme Zeug, das sie sich ausdenken, und der Teufelstrank, den sie brauen. Nein, nein, was uns gegeben und was uns genommen wird, giebt und nimmt nur der liebe Gott.«

»Wenn wir nun aber selbst fortwerfen, was er uns gegeben hat, und dann die Stunde kommt, wo wir es hätten brauchen können und der Verlust des einen mißachteten Gutes zieht den eines viel theureren nach sich, was dann?« fragte Arnold.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen,« entgegnete Vater Reimer.

»Nun, so will ich's Euch deutlicher sagen, alter Freund,« fuhr Arnold fort, »es ist gerade der rechte Ort und die rechte Umgebung zu der Geschichte, und sie, deren sanftes Herz und deren friedliche Seele ich nie habe betrüben und kränken mögen, indem ich ihr den Zwiespalt zeigte, der meine Seele zerriß und hundertmal zum Schweigen gebracht, immer wieder auflebte, sie mag ihn dann mit in's Grab nehmen. An mir hat das Leben das Aergste gethan, meine Seele ist todt für Alles, was nicht mit der stillen lieben Gestalt zusammenhängt, die hier vor mir liegt, die Schöpferin meines Glückes war und die es nun mit hinunternimmt.«

Und nun erzählte er mit halber Stimme die Geschichte seiner Jugend. Es war als erzählte er sie der Todten, denn er wandte kaum den Blick von ihr und hielt während der ganzen Erzählung die kalte Hand derselben in der seinen. Aber so brennend auch die Erinnerung war, so heiß auch wieder der Zorn in ihm aufloderte und sein Blut erhitzte, die Todeskälte der Hand, die er umschloß, erwärmte sich davon nicht, die geschlossenen Augen blieben geschlossen, selbst im Geist sah er nicht ihr mildes, sanftes Licht zu der Erzählung aufleuchten, der die Versöhnung fehlte.

Als er in seiner Erzählung bis zu dem Zeitpunkt gekommen war, wo er zum ersten Mal das elterliche Haus verlassen, holte er tief Athem. Es war, als fiele noch einmal die volle Verantwortlichkeit dieses Schrittes auf seine Seele, eines Schrittes, der entscheidend für sein ganzes Leben gewesen war.

»Ich ging in der Nacht fort,« sagte er dann, »es war eine Nacht wie heute, – sternenklar wie sie heut auf ein todtes Glück herabschaut, das keine irdische Zukunft mir wiederzugeben vermag, so leuchtete sie damals den Abschiedsthränen, mit denen ich vom Vaterhause, von der Heimath, dem Schauplatz einer glücklichen, zum Theil schwer geprüften Kindheit schied. Ich weinte auf dem Grabe meines Vaters, aber dann schloß ich mit dem Kummer ab, und in dem raschen Uebergang der Gefühle, dessen nur ein junges Herz und ein unreifer Verstand fähig ist, jauchzte meine Seele der längst ersehnten Freiheit entgegen.

Hoffnungsvoll schaute ich den Sternen in die Augen. Das Leben lag vor mir, meine Kraft war ungebrochen und der Stachel im Herzen, der mich heut an eine Todeswunde mahnt, warf in jenem Augenblick der Aufregung meiner jugendlichen Zuversicht nur ein Sporn, denn damals fühlte ich das Unrecht, das ich erlitten, viel zu scharf, um dem, was ich begangen, mehr als einen flüchtigen Gedanken zu schenken.

Ich ging auch nicht dem blinden Ungefähr entgegen, ich hatte wenigstens für die ersten Schritte in das wechselvolle, unsichere Leben hinein ein bestimmtes Ziel. Im Gebirge; wohnte eine alte Bekannte unserer Familie, zu der lenkte ich meine Schritte. Gesehen hatte ich sie nicht mehr seit meinen Kinderjahren, aber wir schrieben uns oft, namentlich seit des Vaters Tode, der sie lieb gehabt. Die Mutter wußte nichts von diesem schriftlichen Verkehr. Sie würde ihn nicht verboten, aber sie würde ihn verspottet haben, und ich war gerade in dem Alter, wo das Selbstbewußtsein auf viel zu schwankenden Füßen steht, um solchen kleinlichen Angriffen Stand halten zu können. Die Mutter wußte also nichts von meiner Freundschaft mit Ernestine Arnold, der ersten Wärterin meiner Kindheit, sie dachte wohl kaum der treuen Person, obgleich sie ihr doch auch in schweren Stunden zur Seite gestanden, obgleich sie in jener Zeit bei uns gewesen war, als der Tod kurz nach einander meine älteren Geschwister dahinraffte und sie die Schmerzen, Mühen und Sorgen jener Zeit redlich mit den Eltern getragen hatte. Als sie den Förster Arnold heirathete, hörten ihre Beziehungen zur Mutter auf, während in meines Vaters warmem Herzen nie die Erinnerung an Jemand aufhörte, der auch nur eine Stunde des Leids oder der Freude treu mit ihm getheilt hatte: Er dachte noch in seinen letzten Lebenstagen mit Thränen in den Augen an die unerschütterliche Anhänglichkeit der ehemaligen Dienerin, eine Anhänglichkeit, die vielen Anfeindungen von Seiten meiner Mutter siegreich getrotzt hatte.

Ernestine Arnold hatte ich im Sinn gehabt von dem Augenblick an, wo der Gedanke an Flucht aus dem elterlichen Hause in meiner Seele auftauchte, zu ihr flogen seit langer Zeit meine Gedanken, und das Dörfchen, in dem sie lebte, war das Ziel meiner damaligen Wanderschaft.

Ich vergesse den Morgen nie, der hell und heiter über meinem Haupt hereinbrach, als ich so in die Welt hinausschritt. Den herzbeklemmenden Kummer, den Kummer keine Heimath zu haben, hatte ich abgeworfen, die schwermüthige Erinnerung an meine Kindheit verbannte ich auf's Neue, die arme kleine Schwester, die ich vereinsamt zurückließ, überwies ich dem Schutze Gottes und der Liebe Flora's; selbst an dem Grabe des Vaters weilten die Gedanken nicht mehr, denn da ruhte ja doch nur sein Staub, er selbst schaute vom Himmel auf mich herab, sein Segen folgte mir, sein Gebet führte mich.

O, ich war voller Kraft, voller Muth, voller Freudigkeit, es lag wenig hinter mir, den Blick zu fesseln, alles zu Erringende winkte mir in der Ferne.

Es sah auch Alles um mich her so lachend aus, so frisch, so hoffnungshell und freudig, und ich war sechszehn Jahre alt, hatte den Kopf voll kindischer Träume und das Herz voll Mannesmuth. Mir war als könnte ich die ganze Welt erobern, aber tief in der Seele loderte der niedergehaltene Groll und brachte Disharmonie in die überschwänglichen Gefühle.

Meine Träume von Glück, wie ich sie damals hegte, verworren, unklar, auf nichts Bestimmtes gerichtet, ach – hier waren sie alle auf's schönste verwirklicht,« seufzte Richard mit einem Blick auf die vom ewigen Schlummer umfangene Geliebte, »und hier sind sie alle versunken und haben mir nichts zurückgelassen als qualvolle Erinnerung, als tödtlichen Schmerz. –

»Ich will mich kurz fassen,« fuhr er nach einer kleinen Weile fort, »habe ich doch auch wenig zu berichten, was sich in Worten klar wiedergeben ließe. Alles was ich erlebte: Freude, Kummer, Täuschungen und Glück, erlebte ich mehr innerlich. Ereignisse häuften sich nicht auf einander! Wie auch Gedanken an Abenteuer in meinem Hirn gespukt haben mochten, der feste Entschluß, den Befürchtungen meiner Mutter Trotz zu bieten, nicht unterzugehen, kein Vagabond zu werden, hielt allen jugendlich ausschweifenden Ideen das Gleichgewicht und drängte mich gleich von Anfang an auf den Pfad realen Lebens.

Freilich hatte ich damals noch Träume von zu erreichenden höheren Zielen, meine Phantasie schwelgte in dem Gedanken, mir selbst einen Namen zu machen und eine Stellung zu erringen, die meine Mutter zwingen sollte, mit Stolz auf ihren verstoßenen Sohn zu blicken, aber die nüchternen Anforderungen der Wirklichkeit vernichteten diese Träume und es kam ein Moment, der mich auf's Neue und so unwiderruflich von meiner Mutter schied, daß auch der Wunsch schwand, ihre Anerkennung zu erringen, und der Gedanke an ihr Lob mich eher mit Hohn und Verachtung als mit Freude erfüllte. In jenem Moment wäre meine Seele vielleicht untergegangen im Strom gehässiger, unseliger, unkindlicher Gefühle, da rettete mich allein die Liebe, da hielt sie, meine Anna, mich über den Wogen, da griff ich nach ihrer Hand, und ohne zu wissen was sie that, nur aus innerer Nothwendigkeit und weil in ihrer reinen, beseligenden Nähe die Sünde zaghaft zurückbebte und das Unrecht nicht frei empor zu wachsen wagte, vollendete sie ihre irdische Mission und bewahrte den unkindlichen, verstoßenen Sohn vor der Gefahr, aus Grimm und Weh ein schlechter, verlorener Mensch zu werden.«

Wieder hielt er eine Weile inne, wieder suchte sein Blick erst das Antlitz der Todten, um aus der tiefen Ruhe desselben auch Ruhe für sich zu schöpfen, dann fuhr er fort:

»Ich kann Euch nimmer die Freude beschreiben, mit der Ernestine Arnold mich aufnahm, den Jubel, mit dem sie ihren ehemaligen Pflegling., den Sohn ihres angebeteten Herrn erkannte, wie hülfsbereit, wie dienstfertig sie war und wie verständig ihre Rathschläge und wie nachhaltig Alles, was sie für mich that.

Sie war inzwischen Wittwe geworden, sie hatte keine Kinder, hatte nur einen Stiefsohn gehabt, der aber kurz vor ihrem Manne gestorben war. So stand sie ganz allein, von ihrer Hände Arbeit und einer kleinen Pension lebend, die ihr die frühere Herrschaft ihres Mannes auszahlte. Sie war bereit, was sie hatte, mit mir zu theilen, ich wies natürlich Alles zurück, wodurch ich einen Raub an ihrer Armuth begangen hätte. Aber schon der erste Abend bei ihr entschied über meine künftige Richtung. Sie erzählte mir von ihrem Manne, von dem einsamen Leben mit ihm im Walde. Meine Kindheitsträume wachten auf, die selige Zeit, in der ich an meines Vaters Hand durch die Felder und Wälder gestrichen, stand wieder lebendig vor mir da. Die Eichen, in deren Schatten wir gesessen, rauschten um mich her, wie sie damals meines Vaters Erzählungen begleiteten, ich glaubte die himmlische Waldluft einzuathmen, ich fühlte den vollen Zauber jener unvergeßlichen Stunden auf's Neue.

Undeutliche Bilder der Zukunft hatten mich umschwebt, während ich durch die Berge dahinwanderte, an das Schwert hatte ich gedacht und an die Bergmannshaue, an Pflug und Grabscheit, aber das Alles war jetzt fort und grün wehte die Fahne der Freiheit aus Waldesduft und Waldeseinsamkeit mir entgegen, grün wölbte sich das Dach meiner künftigen Heimath über meinem Haupte, auf grünem Teppich schritt mein Fuß dahin und unter dem Grün hervor winkten einfache Waldblumen in Unschuld und Liebreiz mir ihre Grüße entgegen.

Ich träumte von meinem Eden, wie Ihr seht, alter Freund, ich fand Alles im Walde, was ich suchte: Freiheit, Einsamkeit, Arbeit und Muße, und die Blume fand ich auch, aber zwei Bilder mischten sich damals nicht in den Traum: an die Reue dachte ich nicht, die Gift in den Freudenkelch träufelt, und nicht an den Tod, der mit der Sense hinter uns herschreitet und auch Blumen mäht, wenn sie reif zur Ernte sind. An Beides zu denken, bleibt mir neue Muße, bis die Sense auch mich trifft.«

Wieder schwieg er, in tiefe Schwermuth versunken. Da unterbrach Vater Reimer zum ersten Mal die Stille.

»An Reue zu denken, was frommt's der Seele?« fragte er.

»Ihr meint, das Gift herzhaft trinken sei besser?« unterbrach ihn Richard.

»Nein, nur so viel davon, als zur Heilung taugt,« fuhr Vater Reimer fort.

»Auch im Tode ist Heilung!« sagte Richard.

»Im Tode, der über uns kommt, gegen den keine Abwehr hilft, nicht in dem, den wir rufen, den wir suchen, dem wir auf halbem Wege entgegengehen,« entgegnete Vater Reimer feierlich.

»Ich gehe ihm nicht entgegen,« versicherte Richard ernst, »aber ich erwarte, hoffe, ersehne ihn und stehe still, ihn jubelnd zu empfangen.«

»Die Kinder da drinnen werden bitten, daß er Euch noch lange fern bleibt,« sagte Vater Reimer, »und an der Bitte wird Gott Euer Hoffen und Sehnen messen.«

Arnold zuckte zusammen. Hatte er doch an die Kinder kaum gedacht, und es fiel doch auch auf diese ein tiefer Schatten des Leids, das über seinem Haupt hereingebrochen.

»Die Zweige werden nur geschüttelt vom Sturm, der Stamm des Baumes bricht,« sagte er wie in Fortsetzung seiner Gedanken, dann wendete er sich zu seiner Erzählung zurück.

»Ich beschloß also Jägersmann zu werden. Durch Ernestinen's Vermittlung, die sich bei Freunden ihres verstorbenen Mannes zu meinen Gunsten verwendete und mich für einen nahen Verwandten ausgab, fand ich bald ein Unterkommen in einer herrschaftlichen Försterei. Es war mir lieb, daß meine neue Stellung mich weit von der Heimath entfernte, ja, daß sie mich in eine andere Provinz berief. Ich fürchtete nicht, daß die Mutter mir nachforschen und meine Rückkehr erzwingen würde, ich baute in dieser Beziehung auf ihren Unwillen, auch auf ihre Gleichgültigkeit. Ich war überzeugt, sie würde mich der Strafe des Himmels empfehlen und keine Regung mütterlicher Liebe oder weichherzigen Bedauerns würde sie veranlassen, diese Strafe mildern oder verhüten zu wollen.

Ich machte meine Lehrjahre dort, wo ich zuerst Zuflucht gefunden hatte, durch. Ich gewann meinen Beruf dort lieb, aber ich streifte zugleich allmählich die schimmernden Illusionen ab, mit denen ich eigenmächtig mein Schicksal in die Hand genommen hatte. Ich war glücklich und war es auch wieder nicht. Meine Stellung befriedigte mich für den Augenblick, und das Bewußtsein meiner rüstigen Jugendkraft, die Ueberzeugung, mich selbst erhalten zu können und der mir zukommenden Reichthümer nie zu bedürfen, noch sie zu entbehren, verließ mich keinen Augenblick, ja, ich blickte auf letztere mit einer Art stolzen Selbstbewußtseins herab und stellte meine Menschenwürde um so höher, als ich freiwillig allem Dem entsagt hatte, was sie äußerlich stützen konnte. Daher kam also der Schatten nicht, der dennoch auf meiner Seele lag und für den ich immer wieder andere Namen erfand, den ich Sehnsucht, Heimweh, verwundetes Selbstgefühl nannte, den ich aus meinem gemißhandelten Kinderherzen emporgestiegen wähnte. Er kam doch nirgends anders her, als aus dem unnatürlichen, feindseligen Verhältniß zwischen mir und meiner Mutter, und sage ich auch heute noch, sie trug die größere Schuld daran, so ist doch die Stimme längst verhallt, die mich von Schuld freisprach, und je mehr sie verhallte, um so größer wuchs der Schatten, der jetzt, seit jene Augen sich geschlossen haben, mit tiefer Finsterniß mich umhüllt.

Auch damals mochte ich es ahnend fühlen, wenn auch nicht wissen, woher er kam, denn ich weiß, ein paarmal ergriff mich die Sehnsucht nach der Heimath, ja nach der Mutter, nach ihrem Herzen, das ich nie besessen, nach einem freundlichen Blick, wie er mir nie geleuchtet, einem freundlichen Wort, wie ich es nimmer hörte, mit so unwiderstehlicher Gewalt, daß kein Zorn, kein Trotz, kein falsches Selbstgefühl und unzeitiger Stolz im Stande war, die Regung zu unterdrücken, die mich zu Versöhnungsversuchen trieb. Einmal, das erste Mal, schrieb ich, dann ging ich selbst, und beide Male errang ich nichts dadurch, als daß die Felswand undurchdringlicher wurde, die sie von mir schied.

Seht, alter Freund, der Schmerz, mit dem ich heut auf das Todtenlager blicke, ist Glücksgefühl gegen den, mit dem ich mich immer wieder von meiner Heimath und den Wünschen und Hoffnungen, die sich an dieselbe knüpften, losriß, denn geschlagen, zu Boden geworfen wie heute, liege ich doch vor dem Antlitz Gottes und fühle seine Hand, die mich hält, während ich dort nur mit bitteren, gehässigen Gedanken zu ihm aufsah, Zorn und nicht Erbarmen in seinen Blicken suchte.

Wer den Zorn heraufbeschwört, stürzt selbst in den Sturm hinaus, stellt sich selbst in den Wetterstrahl, darf er sich wundern, wenn er niedergerissen, wenn er getroffen wird? – –

Ich lernte Friedrich dort, wo ich zuerst war, kennen und durch ihn das Glück warmer, echter Freundschaft. Ich liebte ihn damals schon, obgleich ich diese reine, schlichte, kindliche Natur wohl kaum schon in ihrem vollen Werth erkannte. Ich liebte ihn sehr, wie ich ihn heut noch viel mehr liebe, aber mein Vertrauen, was diesen einen Punkt betrifft, hat auch er nicht. Ich habe es bisher nie Jemandem sagen können, daß ich eine Mutter habe, die mich ausstieß. Das war so ein Geheimniß, das man sich aufspart bis zu seiner Todesstunde, und meine Todesstunde ist heut. Ein solches Geheimniß stört die letzte Ruhe. – –

Das Leben trennte mich sehr schnell von Friedrich, denn als wir unsere Lehrjahre überstanden und einigermaßen selbstständigen Fuß faßten, war von einem Beisammenbleiben natürlich nicht die Rede.

Ich weiß nicht, wo er damals hinging, mich warf mein Schicksal in eine Wildniß, aber in eine, die in ihrer ursprünglichen, Gott entstammten Schönheit aller künstlichen Cultur der Menschen spottet, in der man kaum menschlichen Umgangs bedarf, ja, in der Einem von zehn Gesichtern neun zur Fratze werden, weil man sie so verständnißlos und nüchtern in diese chaotische Schönheit und maßlose Größe und Erhabenheit hineinblicken sieht.

Es war meine erste selbstständige, wenn auch äußerlich ziemlich dürftige Anstellung, die ich dort hatte. Ich trat sie unter dem Namen Robert Arnold an, den ich auf Ernestinen's Vorschlag angenommen hatte und den zu behaupten sie mir die Möglichkeit gab, indem sie mir die auf die Geburt ihres Stiefsohnes bezüglichen Papiere überwies. Das war die letzte Wohlthat, die ich von ihr empfing. Sie starb bald darauf und nahm mein Geheimniß, das sie in treuester Gewissenhaftigkeit bewahrt, mit in ihr Grab. Meine Thränen, mein Dank folgten ihr. Gott möge ihr vergelten, was sie für mich gethan.

Ich war sehr traurig, als ich ihren Tod erfuhr, aber wie in mir sich immer die Gegensätze grell berühren, so geschah es auch damals, denn unmittelbar darauf lernte ich Anna kennen.«

Er schwieg, er verhüllte sein Gesicht mit den Händen, tiefe Seufzer entrangen sich seiner Brust.

Dem alten Manne, der so lautlos der Erzählung zugehört, traten die hellen Thränen in die Augen, da ermannte sich der Förster.

»Verzeiht,« sagte er, »von jener Zeit kann ich nicht sprechen, von ihr – –,« er deutete auf Anna, »überhaupt nicht. Sie sprach für sich, wer sie sah und nicht erkannte, wer ihr Leben kennt und sie nicht liebte, verleugnet Gott in einem seiner schönsten Werke.«

Wieder hielt der Erzählende inne und fuhr dann, wie unfähig, die Fülle seiner Gedanken in Worte zu bringen, in abgebrochenen Sätzen sprechend, fort:

»Damals, als ich sie kennen gelernt hatte und dann hierher kam – mit keinem andern Gedanken als dem an sie, mit keinem andern Wunsch als dem, sie hier zu haben zum Stern, zur Freude, zur Hoffnung meines Lebens zum Heil meiner Seele – zum Entzücken meines Herzens – damals versuchte ich wieder, versuchte es zum zweiten Mal, den Schatten los zu werden, der mein Leben verdunkelte und den auf ihre Seele zu werfen ich Anstand nahm. –

Damals schrieb ich nicht, aber ich ging in meine Heimath. Ihr werdet Euch der Zeit erinnern, alter Freund, als verlorener Sohn und dennoch glückseliger Mensch kehrte ich zurück. – Ein Band hatte ich zerrissen, ein anderes geknüpft. Ihr wußtet nur das Letztere. Als Bräutigam kam ich zurück. Ihr saht die jubelnde Freude über mein Glück, – fragt den Wald, was er belauschte. Die tiefe Nacht war's nicht, die heute mich umhüllt, aber ihr erster finsterer Saum am Horizont meines Tages.

Ich war also nach Hause gegangen und hatte meinem kindlichen Herzen den Todesstoß geholt. Die Mutter hatte wieder geheirathet. Ihre Heirath fiel in die Zeit, als meine erste Bitte um Versöhnung zurückgewiesen wurde, ihr zweiter Gemahl war mein Vormund, war der Bruder meines Vaters, von dem ich Euch schon erzählt und dessen verstellte Liebe und zweideutige Rathschläge ich lange erkannt hatte. Diese Heirath brandmarkte ihn in meinen Augen zum Verräther, sie entwürdigte zugleich meine Mutter, die sich in weibischer Schwäche von dem Betrüger hatte überlisten lassen.

So empfand ich damals,« setzte er nach einem augenblicklichen Innehalten hinzu, »heute würde ich vielleicht in diesem Punkt anders empfinden, würde in der Schwäche, die dem Betruge diente, doch das Herz erkennen, das zu erobern vielleicht auch einer andern, bessern Macht gelungen wäre, als dem Betruge.«

»Der Macht der Liebe, kindlicher, duldender, unterwürfiger Liebe,« schaltete Vater Reimer leise ein.

»Ja, aber der Quell war versandet, und nun wurden die Steine darauf geworfen, ihn für ewig zu verschütten,« fuhr Arnold fort.

»Ich sah meine Mutter,« erzählte er dann weiter, »ein Zufall führte mich mit ihr zusammen, denn ich wollte sie nicht sehen – seit ich von ihrer Heirath gehört, wollte ich es nicht. Aber der Himmel beschloß es anders. Wir standen uns noch einmal, zum letzten Mal gegenüber. Ich lag zu ihren Füßen und weinte meinen Schmerz, mein inneres tiefes Weh vor ihr aus. Hätte sie mich aufgehoben, wäre sie da nachsichtig gewesen! – aber sie stand vor mir, hart, kalt, mit ungebeugtem Willen wie immer. Nicht mit einem Schritt, nicht mit einem Wort kam sie mir entgegen, kein Erröthen, kein Erbleichen, kein Blick, keine Thräne und kein Lächeln verriethen ein Herz für mich.

Wie mit einer Todtenhand berührte sie das meinige und vernichtete jedes warme Gefühl darin.

Böse Geister errangen den Sieg. Nie hat wohl der Mund einer Mutter so harte, erbarmungslose, vernichtende Worte gesprochen, als der meiner Mutter es that; nie hat sich vielleicht ein Sohn so weit vergessen, alle Liebe und Ehrfurcht, alle Pietät so vollständig, so schonungslos zu verleugnen. Die Worte, die dort hin und her geworfen wurden, wie tödtliche Geschosse, wie zerschmetternde Steine, lassen sich nie vergessen, und nie kann sich in Liebe je wieder begegnen, was sich so feindlich gegenüberstand. Was die Natur, was Gott verknüpft, zerriß menschliche Sünde für immer und ewig. Ich bebe heut noch in tiefem Entsetzen vor jener schrecklichen Scene zurück. Nur ein Sonnenstrahl leuchtet in die tiefe Finsterniß hinein. Er kam aus einem holden Kinderauge, aus dem Auge meines jüngsten Bruders. Seine Stimme tönte wie Engelsgruß in die Disharmonie unseres unseligen Streites, einen Augenblick umfingen mich seine Arme, fühlte ich das kleine unschuldige Herz an dem meinen schlagen und durchbebte mich ein Gefühl der Versöhnung. Neben dem Haß, dem Hohn, der Verachtung wachte der Engel der Liebe, wachte die Unschuld; in dem kurzen Augenblick, in dem ich das Kind in meinen Armen hielt, war meine ganze Seele ein warmes Gefühl des Gebetes, Gott schütze, Gott segne Dich, Gott bewahre Dich vor meinem Schmerz, meiner Verzweiflung, meiner Sünde, Gott bewahre die Liebe in Deinem Herzen, Gott vergebe mir um Deinetwillen! so flehte ich wortlos, aber mit heißer Inbrunst – dann entriß sie das Kind meinen Armen, als müsse sie es schützen selbst vor meinem Gebet, und ich stürzte fort.

Ich verlebte die letzten Stunden in meiner Vaterstadt in einer schwer zu beschreibenden Stimmung. Ich war in einem Gasthof, geradeüber dem väterlichen Hause, eingekehrt, ich sah den ganzen Abend in die hell erleuchteten Fenster desselben. Sie feierte den Geburtstag ihres jüngsten Sohnes durch eine glänzende Gesellschaft – – – dem ausgestoßenen Erben schickte sie durch ihren Buchhalter ein Almosen hinüber. Ich wies es natürlich ab.

Mitten in der Nacht ging ich fort. Ich schüttelte in Wahrheit den Staub von meinen Füßen, und der Schwur, zu gehen, auf Nimmerwiederkehr zu gehen, fand treuliche Erfüllung.

Für die Mutter, für die Meinigen, für die Heimath war ich in der Nacht gestorben, aber das Herz war nicht todt, es fühlte nur verdoppelt die Macht des Lebens, das Schmachten nach Liebe, die Sehnsucht nach einem neuen Morgen. – Da verlobte ich mich mit Anna, da fing ich mein Dasein von vorn an und nahm von der Vergangenheit nur das hinüber, was sich gewaltsam meiner Seele bemächtigte, was sich nie vergessen ließ, was heut scheinbar getödtet, morgen wieder auflebte, ich meine die Erinnerung, die, vom Herzen verworfen, vom Willen zurückgestoßen, in's Gewissen flüchtet, um vergangene Thaten, vergessene Worte in das Gedächtniß einzugraben wie in eine Tafel von Erz.

Sie stehen dort oft jahrelang unbeachtet, undurchforscht, fast vergessen, aber ein plötzliches Licht fällt darauf, ein Blitz oder ein Sonnenstrahl, das Aufleuchten eines Sternes – und die ganze Schrift steht uns vor Augen, und das, was sie bedeutet, erschüttert das Herz in seiner tiefsten Tiefe.

Menschenaugen habe ich die Tafel nie gezeigt, vor Gottes Angesicht steht sie unverhüllt da. Ich weiß sein Urtheil, wie ich das der Menschen weiß. Diese würden den unkindlichen Sohn in Schutz nehmen. Sie würden sagen: die Frau, mit der Du gebrochen hast, führte selbst den Bruch herbei, sie ist eine harte, kalte, schroffe Frau; der Himmel aber spricht: sie ist Deine Mutter!«

Auch in dem Antlitz des alten Vater Reimer mochte ein ähnliches Wort liegen, als Arnold seine Erzählung geendigt, denn Letzterer stand auf, ging leise zu dem alten Manne hin, legte die Hand auf seine Schulter und sagte:

»Es ist einmal eine verlorene Sache und ihre Folgen müssen getragen werden. Gut machen läßt sich's nicht. Daß man nicht glücklich sein kann und darf mit einem so tiefen Schatten auf der Seele, glaube ich jetzt, aber ich kann den Schatten nicht verlöschen.«

»Was sagte sie denn dazu?« fragte Vater Reimer leise, auf die Todte deutend.

»Ich wußte, was sie sagen würde, und deshalb schwieg ich gegen sie,« antwortete Arnold.

»Was sie gesagt haben würde, sie sagt es noch,« fuhr Vater Reimer fort, »steht denn nicht auf dem Gesicht Frieden, Versöhnung?«

Arnold seufzte, trat wieder an das Lager der Todten zurück, sah ihr lange in das stille Antlitz und sagte dann:

»Anna, vergieb, ich kann nicht thun, was Du gethan haben würdest. Ich kann mich nicht mit der Mutter versöhnen. Sie hat kein Herz und das schloß mir das meine für sie auf immer zu, aber man versöhnt sich nur mit dem Herzen. Es ruht ein Fluch auf einem so zerrissenen Bande, ich werde den Fluch tragen, in Segen wandeln kann ich ihn nicht.«


 << zurück weiter >>