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* * *

 

Niklas Böhm war wieder in der Geltinger Gegend gesehen worden. In Rabenholz hatte er von Haus zu Haus gebettelt, und jeder hatte ihm etwas gegeben; der Arme ein Stück Brot und einen kleinen Schnaps, die Bauern ein Stück Speck oder ein paar Pfennige, – wofür Niklas sich natürlich auch Schnaps kaufte. Man gab's ihm nicht gerne; am liebsten hätte man den Strolch die Tür vor der Nase zugeschlagen oder ihn mit Hunden vom Hofe gehetzt, aber man suchte ihn in gutem loszuwerden, denn das Messer saß ihm lose in der Tasche – so sagte man – und die Strohdächer waren leicht in Brand gesteckt.

Eines Morgens ging Hans Thordsen den Strand entlang nach der Birk, da sah er zwischen dem hohen Strandgras eine dunkle Gestalt liegen. Er ging darauf zu. Zwei listige Augen blitzten ihn an.

»Dag, Niklas!« sagte er.

»Dag!« knurrte es aus dem hochgezogenen Kragen des zerlumpten Rockes hervor.

»Hest du de Nacht hier lägen?«

»Näh!«

Der Faulenzer drehte sich auf die andere Seite. Der Fischer ging weiter. Ein ganzes Stück war er schon fort, da hörte er hinter sich seinen Namen rufen, und als er sich umschaute, sah er Niklas Böhm herankommen. Er blieb stehen.

»Ich wollte noch ein Wort mit dir schnacken«, fing Niklas an und lachte spöttisch. »Mir ist heute früh was Putziges passiert, das wollte ich dir mal erzählen.«

»Was denn?«

Ja, aber mein Bett war ein bißchen kalt, hast du nicht erst en kleinen Schnaps für mich?«

»Tut mir leid, habe ich nicht, aber en Stück Brot kannst du kriegen.« Er holte sein Vesperbrot aus der Rocktasche.

Der Vagabund biß kräftig hinein.

»Danke brauch' ich bei dir nicht zu sagen«, sagte er, mit vollem Munde kauend.

»Nein, das brauchst du nicht, wenn du nicht willst.«

»Du bist mir doch noch etwas schuldig.«

»Daß ich nicht wüßte.«

»Wenn ich damals nicht das Tau gehalten hätte, als Fritz dich aus dem Wasser holte, dann hätten sie dich in dem schwarzen Kasten nach Gelting getragen.«

»Kann wohl sein, Niklas, es tut mir leid um Fritz, das kannst du mir glauben.«

»So? Na, dann bist du aber der einzige, der so denkt. Der Kappler Gendarm meinte, das wäre noch die beste Stelle, wo ihn die Krähen hätten finden können, dort am Noorgraben. Die Biester hätten sich nur gewundert, daß er kein hänfernes Halsband umgehabt hätte.«

Hans Thordsen schüttelte den Kopf.

»Sieh mal da«, fuhr Niklas fort und deutete auf ein paar Raben, die am Strande entlang liefen und nach toten Seetieren suchten. »Die beiden Gesellen warten auf mich.« Er hob einen Stein auf und warf dicht an den auffliegenden Vögeln vorbei. »Paß mal auf, die kommen mir doch nach. Sieh mal, da machten sie schon den Bogen. Da sitzen sie wieder hinter dem Steinhaufen und lauern. Seit gestern abend sind sie hinter mir her. Die Krähen sind schlau, sie haben gesehen, daß ich Hanf bei mir habe.« Er zog eine daumendicke Schnur aus der Hosentasche.

»Was soll das?« fragte sein Begleiter.

»Ach, nichts weiter. Ich habe das Hundeleben satt! – Was sag' ich? – Hundeleben? – Kein Hund hat's so schlecht.«

»Warum arbeitest du nicht?«

»Arbeiten? – Den möchte ich mal sehen, der mir Arbeit gibt. Geld zum Schnaps geben sie mir, aber keine Arbeit. Ich habe übrigens auch keine Lust dazu, die Bauern reich machen zu helfen. Aber weißt du, mit der Zeit wird einem das Leben doch schwer, auch wenn man nichts tut. Und da dachte ich gestern nachmittag, ob es nicht besser sei, mich zu verändern. Weißt du, Hans Thordsen, der Pastor macht ja viel Geschichten davon, aber ich glaube, so ganz viel schlechter als hier kann es da drüben für unsereinen auch nicht sein. Da dachte ich gestern abend, ich wollte dahin reisen und mal durch dies Loch kucken.« Er hob die Schlinge hoch.

»Aber du hast es doch nicht getan.«

»Nein, mir kam was dazwischen.«

»Na, dann überleg' dir die Sache noch mal gehörig. Du kannst. –«

»Laß dir erst mal erzählen, wer da kam«, unterbrach ihn Niklas Böhm. »Ich war nämlich gestern abend nach der Birk gegangen, denn ich wollte noch die letzte Nacht unter dem alten Dach liegen, unter dem ich auf diese verrückte Welt kam. Die Alten sind tot. Jens Norgaardt ist ja wohl in Amerika. Peter Thiesen wollte mich aber nicht einlassen, und als ich vom roten Hahn sprach, meinte er, ich sollte den Stall man anstecken, wenn ich ins Zuchthaus wolle, ihm gehöre er nicht. Da bin ich denn weiter gegangen, denn seine großen Jungens waren zu Hause, und habe mich hinter einem dichten Dornbusch ins Gras gelegt.«

»Das war ein kaltes Lager«, warf Hans Thordsen ein.

»Wenn man zwei Zoll Branntwein im Magen stehen hat, dann merkt man das nicht so, aber gegen Morgen wurden mir die Zähne doch schnatterig, da richtete ich mich auf und wollte ein bißchen Öl auf die Lampe gießen. Ich kriegte aber gar nicht mal die Flasche hoch, so verwunderte ich mich! – Und was meinst du, was ich sah?« –

»Das kann ich doch nicht wissen.«

»Näh, das kannst du nicht mal raten. – Ich sah da ungefähr hundert Schritt vor mir zwischen den Büschen den Birkfuchs umherschleichen.«

»Mensch, das ist ja Unsinn!«

»Wenn ich's dir sage! Einen Augenblick war's nur, daß ich sie sah. Dann verschwand der rote Kopf in den Büschen. Ich war selbst ganz baff.«

»Unsinn! Die hat hier nichts mehr zu suchen.«

»Der Teufel soll mich holen auf der Stelle, wenn's nicht wahr ist.«

»Wo ist sie denn geblieben?«

»Weg! Verschwunden!«

»Das ist erst recht nicht möglich.«

»Warum nicht? In den dichten Eichenbüschen kann sie einem schon aus den Augen kommen. Und dann war der Birkfuchs immer höllisch flink. Ich suchte an der Seite nach bis zur Birkkate hin. Sie wird aber nach Birknack zu ausgerissen sein.«

»Das kann gar nicht angehen. Mensch, du hast zu viel Schnaps gesoffen und hast dann allerlei Gespenster gesehen.«

»Gespenster?« – Der Vagabund stieß ein rauhes Gelächter aus. »Du meinst, ich hätte das Delirium gehabt. Näh, Hans Thordsen, das kenn' ich ganz genau, das war's nicht.«

»Ach, geh los mit deinem Lügenkram.« Verächtlich wandte sich der Fischer ab und ging an den Strand. Der andere aber blieb ihm dicht auf den Hacken und erzählte weiter: »In Kappeln war es, da hab' ich's mal gehabt. Da wachte ich eines Morgens auf und sah schwedische Gardinen vorm Fenster. Da wußte ich es, ich war im Loch. Wie ich hereingekommen war, das wußte ich aber nicht. Alle Knochen taten mir weh, ich hatte wohl Prügel gekriegt; im Schädel hämmerte und sägte es umher, als wenn's für Akkord ging. Wie ich nun so lag und grübelte, wo ich gewesen war, da sah ich auf einmal, daß da vom Fenster aus 'ne Eisenstange sich reckte und ringelte. Immer länger wurde sie, wie 'ne Schlange, aber sie hatte 'nen Kopf wie 'ne Ratte. Ich sah das ganz genau. Sie guckte mich an mit ihren kleinen, wütenden Augen und zeigte die spitzen, ganz langen Zähne. Auf einmal schlägt ihr die helle Flamme aus den Nüstern. Mit dem Strahl brennt sie ein Loch in die Bretter. Ich sah es brennen und rauchen. Dann piepst es und schreit es, und heraus kommen Ratten und immer mehr Ratten. Sie kommen auf mich los, eine hinter der anderen, und springen mir ins Gesicht. – Ja, ja, Hans Thordsen, so war es. Sie bissen mich in die Lippen und schnappten nach meinen Augen. Da brüllte ich, was ich konnte. Aber kein Mensch kam. Ich wollte um mich schlagen, da packte mich aber jemand von hinten mit langen Krallen in den Hals. Ich jammerte und heulte, bis mir die Stimme wegblieb. Immer fester drückten die langen Klauen meine Kehle zu. Vor den Augen sah ich glühende Funken umhertanzen, und vor mir saßen Ratten, schwarze und rote Ratten, mit langen Schwänzen und grimmigen Schnauzen. Die waren so schwer, daß sie mir die Brust eindrückten. Da kam mir auf einmal in den Sinn, ich müßte beten. Ich wußte aber nichts. Auch das Vaterunser kannte ich nicht mehr. Nichts – gar nichts! – Nur ein ganz kleines Kindergebet fiel mir zuletzt ein, ich kann's nun auch nicht mehr, das babbelte ich immerzu. Was dann kam, weiß ich nicht. Sie haben mich ins Krankenhaus gebracht und sagten nachher, ich hätte Delirium gehabt. – – Aber heute morgen, da habe ich ganz klar gesehen. Das waren keine Ratten, das war der Birkfuchs, und um den Kopf hatte sie ein graues Tuch.«

Durch Hans Thordsens Kopf gingen allerlei Gedanken. Sollte sie wirklich hierher gekommen sein, um die Auskunft zu holen, die er ihr damals Vorjahren hatte geben wollen? Was sollte ihr die nützen? Was trieb sie überhaupt hierher, war es die Liebe oder der Haß? Oder gab es noch eine andere Triebfeder? Vielleicht ging es ihr wie diesem Geächteten an seiner Seite, der müde war, sich hetzen zu lassen. Vielleicht war sie elend und lebensverzagt, krank und verdorben zurückgekommen, um dort ins dichte Dornengestrüpp der Birk zu kriechen und zu verenden, wie das todwunde Tier des Waldes?! – Als dieser Gedanke ihm kam, fühlte er ein stechendes Weh in der Brust. Da empfand er auch mit dem Geächteten an seiner Seite Mitleid. »Du sagtest vorhin, ich sei dir noch etwas schuldig, Niklas«, fing er an. Sein Begleiter schaute mit rotunterlaufenen Augen fragend zu ihm auf. »Ich will dir mal was sagen«, fuhr Hans Thordsen fort. »Du willst die Bauern nicht reich machen helfen, aber vielleicht willst du es mal versuchen, für dich selbst zu arbeiten.«

»So ganz schlimm verlegen bin ich ums Arbeiten ja nie gewesen«, grinste Niklas, »aber ich kann's ja mal versuchen. Was denn?«

»Du kannst mit mir zusammen fischen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja. Aber du mußt erst rein sein.« Er sah den Struwelkopf mit hochgerunzelter Stirn an. Niklas verstand ihn nicht ganz, er sah an seinem blanken, schwarzen Rock hinunter, den früher wohl ein Pastor oder ein Schulmeister getragen hatte, und meinte, indem er mit den Händen ihn abklopfte: Ja, da sitzen noch die Federn von meinem Bett am Rock. Aber 'ne Bürste hab ich nicht, sonst hätte ich sie abgebürstet.«

»Die Federn meine ich nicht, ich meine die Bienen«, sagte der Fischer trocken, und griff sich mit einer bezeichnenden Handbewegung hinter den Rockkragen.

»Keine Angst«, lachte Niklas. »Ich komme ja eben aus Nummer Sicher, da lebt so was nicht. Da haben sie meinen Rock beim Auskochen ganz verdorben. Und das war ein feiner Rock, hat dem Pastor in Töstrup gehört.« Mit Bedauern hob er die zerknitterten, bräunlich-schwarzen Schöße hoch.

»Sooo?« – Etwas langgedehnt und fragend kam es heraus bei Hans Thordsen.

»Du denkst natürlich gleich, ich hätte ihn gezottelt. Das stimmt nicht. Geschenkt hat er mir ihn«, verteidigte sich der Strolch.

»Das Saufen hört aber auf, wenn du mit mir zusammen arbeitest.«

»Ab und an gibt's aber doch en kleinen in der Bottel?«

»Nichts! – Aber ordentliche Kost sollst du haben, dafür will ich sorgen. Wenn du was Rechtes im Magen hast, dann brauchst du keinen Schnaps. Du kannst noch ein ordentlicher Kerl werden, Niklas, wenn du willst.«

»Ich hab's schon zuweilen gewollt, aber es ging nicht lange. Weißt du, Hans Thordsen, ich bin von klein auf an so hineingewachsen ins Lumpenleben, da kommt man nachher schlecht wieder heraus.«

»Versuch's noch mal. Ich will die Schuld abzahlen, die du bei mir zugut hast fürs Tauhalten. Was ich deinem Bruder schuldig bin, kann ich nicht bezahlen, aber es soll dir zugerechnet werden. Willst du? Schlag ein!«

Hans Thordsen hielt ihm die Hand hin. Der andere zögerte noch: »Bist du nicht bange vor mir?«

»Vor dir, Niklas? Näh. Warum sollte ich vor dir bange sein?«

Er richtete sich vor ihm auf und stemmte die großen Arbeitshände in die Hüften: »Ich kann auch im Bösen mit dir fertig werden, aber ich will's im Guten versuchen.«

»Was werden die Leute sagen, wenn es heißt: Hans Thordsen fischt zusammen mit dem Spitzbuben Niklas Böhm von der Birk?«

Einen Augenblick flog ein Schatten des Unmuts über Hans Thordsens Gesicht, dann sagte er mit fester Stimme: »Was gehen mich die Leute an? Sie können schnacken, was sie wollen. Ich tue, was ich will! – So, nun frage ich dich aber zum letzten Mal: Willst du? Hier die Hand, schlag ein!«

»Ich will's wahrhaftigen Gott mal versuchen!« Er schlug ein und blickte dabei Hans Thordsen mit eigentümlichem Blick an. Es kam diesem so vor, als ob es in den glasigen Augen des Vagabunden aufleuchtete, als wenn unter dem Staub und Schmutz der Gemeinheit und unter der Asche der zerstörten Willens- und Lebenskraft doch ein Fünkchen jenes guten Geistes schlummere, den die Gottheit noch vor der Geburt jedem Werdenden ins Herz legt.

Die beiden Männer waren während des Gesprächs am Birkhaus vorbeigegangen. Hans Thordsen war noch immer nicht mit sich im klaren über die Geschichte, die Niklas von dem plötzlichen Auftauchen des Birkfuchses erzählt hatte. Hatten die überreizten Sinne dem Trunkenbold das Bild vorgezaubert, oder hatte er es gelogen, um dann bei dieser Gelegenheit um Schnaps zu betteln, oder war etwas Wahres an der Geschichte? Sein scharfes Auge glitt durch die Eichenbüsche, ob nicht zwischen den grünen Blättern ein roter Schein sich zeige. Er schaute den weiten, weißen Strand entlang bis nach Birknack und über die grüne Fläche des Noores bis zu den Beveröer Mühlen, aber er sah keine menschliche Gestalt in dieser Einsamkeit. Niklas hatte die Augen am Boden wie ein Spürhund.

»Dort links am Steig habe ich sie gesehen«, sagte er jetzt mit einem Male. Hans Thordsen schüttelte zweifelnd den Kopf. Gleich darauf blieb Niklas vor einem Maulwurfshaufen stehen.

»Solche Stiefel trägt Trina Thießen nicht«, sagte er mit verschmitztem Lächeln. »Sie tritt mit ihren Klaben andere Spuren.« Hans Thordsen ging hin und bemerkte in der ziemlich frisch aufgeworfenen Erde die Spur eines spitzen Stiefelabsatzes und einer schmalen Sohle.

Niklas sah ihn an und murmelte vor sich hin: »Als ich damals in Kappeln aus dem Krankenhaus herauskam, und wieder ins Kittchen ging, da habe ich nach dem Loch in der Decke gesucht. Ich hatte doch gesehen, daß die Schlange eins eingebrannt hatte. – Keine Spur zu finden! Aber hier diese Spur vom Birkfuchs, die ist noch da. Was sagst du nun?«

»Aber wo ist sie selbst geblieben?« fragte Hans Thordsen.

»Durch die Luft ist sie nicht weggeflogen, das ist gewiß«, meinte Niklas. »Auf der Erde muß man suchen.« Während er nun den Steig absuchte, erzählte er: »Wenn ich vor ein paar Jahren hinter Flensburg auf die Dörfer ging, sah ich mir auch immer die Fußspuren an. Der Gendarm hatte Soldatenstiefel an; seine Sohlen waren aber nur rundherum in zwei Reihen benagelt, sonst nicht. Die Nägel drückten sich wie sein Petschaft auf den Fußsteigen ab, ich kannte die Spur ganz genau. Ging sie ins Dorf hinein, dann kehrte ich um und ging dahin, wo er hergekommen war. In Bokjär lief ich ihm aber doch mal in den Rachen. Er konnte mir aber nichts anhaben, er knurrte bloß: »Wenn du Lump man ordentlich was anstellen wolltest, daß du ins Zuchthaus kämst, und wir dich hier aus der Gegend los würden!« – Ich hab' ihm aber den Gefallen nicht getan.«

Niklas war währenddessen um ein Dornengestrüpp herumgegangen, immer die Augen auf der Erde. An der Noorseite fand er einen schmalen, kaum erkennbaren Steig. Er nickte seinem Begleiter zu und deutete mit dem Finger dahin. Der enge Pfad führte ins Dickicht. Sie drängten sich durch die Brombeerranken und wilden Rosenbüsche hindurch und kamen nach einigen Schritten an eine alte Bank aus halb verwittertem Strandholz, die unter den knorrigen Zweigen eines Schwarzdornes stand. Deutlich erkennbare Fußspuren zeigten, daß kurz vorher jemand hier gewesen war.

»Der Fuchsbau!« sagte Niklas.

»Aber leer«, erwiderte Hans Thordsen.

Nach dem Strande hin waren die Fußspuren zu verfolgen, sie waren ganz frisch im feuchten Sande abgedrückt. Die Morgensonne hatte noch nicht einmal die scharfen Ränder verwischen können.

»Die ist in fixem Schritt nach Birknack gegangen, während ich hinter der Birkkate schlief«, meinte Niklas. Da wußte Hans Thordsen, was er tun wollte.

»Du kannst meinetwegen die Arbeit gleich anfangen«, sagte er. »Ich muß heute noch was besorgen, da kannst du die Netze gleich ausreeden und aufhängen. Willst du?«

»Wo willst du denn hin?«

»Das ist meine Sache.«

»Natürlich. Ich habe auch gar keine Lust, hinter dem Birkfuchs herzurennen.«

Hans Thordsen sah ihn an. Niklas verzog keine Miene und fuhr fort: »Wenn du vor dem Kliff, an der schmalen Stelle über den Noorgraben springst und dann quer über die Koppel gehst, so schneidest du ihr den Weg ab. Sie ist am Strand längs gegangen über Beveröe. Da braucht sie wenigstens zwei Stunden. Vor anderthalb Stunden habe ich sie aber noch hier gesehen.«

Sie redeten noch einiges, was Niklas zu machen habe und daß er den Mund halten solle, dann ging Niklas langsam nach Falshöft zu und reedete zur größten Verwunderung von Fritz Dose und Heinrich Stoltenberg die Netze von Hans Thordsen. So was hatte man noch nicht gesehen. Niklas arbeitete, als wenn er vormittags noch fertig werden müsse, bot ihm jemand »Gun Dag!« so brummte er etwas vor sich hin, was jeder sich nach Belieben deuten konnte, und sah sich gar nicht um. »He schämt sick vor de Arbeit«, sagte die alte Mutter Braak.

Hans Thordsen aber ging mit schnellen Schritten übers Noor, sah sich nach allen Seiten um, konnte aber keinen Birkfuchs entdecken und legte sich am Damm bei der Beveröer Mühle auf die Lauer.

Eine halbe Stunde hatte er gesessen, da sah er in der Ferne eine Frauengestalt herkommen. Nun fiel ihm ein, daß er schon einmal dem Birkfuchs nachgespürt habe, und daß ihm das damals schlecht bekommen sei. Was trat er ihr nun wieder in den Weg? – Wohl kam ihm der Gedanke, er könne sagen, er sei zur Mühle gewesen und – doch verwarf er ihn sofort wieder. – Er stand auf und ging der Ankommenden entschlossen entgegen.

»Guten Tag, Meta!« Ruhig stand er vor der schlanken Gestalt. Sie sah ihn verwundert an.

»Wie kommst du hierher, Hans Thordsen?«

»Ich warte auf dich.«

»Wer hat dir gesagt, daß ich hier vorbeikomme? Woher wußtest du das?«

»Das ist eine lange Geschichte. Es genügt wohl, wenn ich dir sage, daß nur ich – und noch einer – es weiß, daß du heute früh auf der Birk warst.«

»War das Niklas Böhm?«

Ja! – Er schweigt aber.«

»Ich habe nichts zu verheimlichen. Ich wollte nur nicht, daß die Leute mich angaffen und mir nachlaufen!« – Sie sah ihn an. Er verstand, was sie sagen wollte.

»Ich habe dir einmal von England aus geschrieben, Meta. Der Brief kam als unbestellbar zurück. Ich habe ihn noch zu Hause.« – Sie tat, als wüßte sie nicht, was er damit sagen wollte.

»Was machst du jetzt in Falshöft?«

»Ich bin auf See zu Schaden gekommen.« Er legte dabei die Hand auf die Hüfte, und sie hatte gesehen, daß er beim Gehen das linke Bein etwas nachzog. »In Glasgow kam ich als Havarist ins Dock. Sie konnten mich aber nur notdürftig flicken, seetüchtig wurde ich nicht wieder. Nun liege ich abgetakelt am Strande und mache, was die alten Kerle machen, die lahm und steif geworden sind, ich fange Fische.« Das klang bitter.

»Das hast du dir damals in Hamburg auch nicht träumen lassen, als wir uns zuletzt sahen.«

»Nein!« Ein wehmütiger Blick flog hinüber nach der Förde, wo weiße Segel im Sonnenschein leuchteten. »Nein, damals hatte ich große Pläne im Kopf. Nun muß ich umlernen.«

»Du brauchst aber doch nicht hier im abgelegenen Winkel zu sitzen und zu verkommen.«

»Na, laß nur!« wehrte er ab. »Aber nun darf ich auch wohl fragen, was trieb dich denn wieder in den abgelegenen Winkel?«

Zwischen die braunrötlichen Augenbrauen legten sich krause Falten, in den dunklen Augen aber blitzte es auf; scharf klang wieder ihre Stimme: »Ich wollte meine Erinnerungen auffrischen.«

Einige Schritte gingen sie stumm nebeneinander, dann sah er sie mit den Augen des Seemanns, der in die Wetterwolke blickt: »Dort?« Er deutete mit dem Daumen nach rückwärts, nach der Birk. »Oder dort?« Er zeigte etwas nach links hinüber, wo hinter der Hügelkette die Allee von Schnarstruphof aufragte.

Sie sah vor sich auf den Boden. »Ich kann's doch nicht vergessen«, kam es endlich leise von ihren Lippen. – Er wußte genug.

Die Häuser von Goldhöft tauchten hinter dem Knick auf; breite Strohdächer lugten zwischen weitästigen Linden hervor; auf einer der Scheunen drehte sich ein Mühlrad im Winde. Hans Thordsen zeigte mit der Hand nach rechts: »Der da weiß besser sein Geld zusammenzuhalten, und seine Jungens haben arbeiten von ihm gelernt. Die verkaufen kein Land, wie der Schnarstruphöfer, sie kaufen zu. Die bauen große Scheunen, und er hat nicht Geld genug, um seine Dächer anständig flicken zu lassen.

»Steht es so schlecht mit ihm?« fragte sie mit leiser, unsicherer Stimme.

»Sehr schlecht!«

»Der Fuhrmann hat mir gestern abend davon erzählt, und Thiesens auf der Birk, bei denen ich die Nacht war, sagten das auch. Ist er denn ganz blind, daß er nicht sieht, wohin er treibt?«

»Er lügt sich selbst und anderen was vor; er ist bange, die Augen aufzumachen.«

»Trinkt er?«

»Nicht so wie der Alte. Er säuft sich nicht von Sinnen. Er lebt aber in Saus und Braus und kommt nicht zu Sinnen. Laß ihn, Meta!«

»Ich will nichts von ihm!« fuhr sie auf.

»Ich weiß. Aber ich denke eben daran, daß die Stunde vielleicht nicht weit ist, von der du einmal sprachst. Jedenfalls ist es in wenigen Jahren aus mit ihm. Ob du inzwischen auf die Höhe gekommen bist, die dich lockte, das weiß ich allerdings nicht.«

»Das will ich dir sagen, Hans Thordsen.« Mit ernsten, ruhigen Augen sah sie ihn an. »Ich trage meinen alten Haß noch immer mit mir herum, aber viele wirre Gedanken habe ich fahren lassen. Als ich sein Kind, das ich unter dem Herzen getragen habe, in den Sarg legte, da legte ich noch manches dazu, das mit mir aufgewachsen war, an dem ich hing. Damals stand ich am Scheidewege. Ich war frei und hätte denselben Weg gehen können, den Tausende gehen, die hübsch und lebenslustig sind. Ich wollte es auch, aber ich konnte es nicht. Man hat mich ja immer für schlecht gehalten, und ich will mich nicht besser machen als ich bin. – Gott und Menschen zum Trotz wollte ich leben und das Glück erjagen. Ich wollte alles daran setzen, was ich hatte, aber da sah ich vor mir zwei weinende Äuglein und ein blasses Gesichtchen, da konnte ich es nicht. Ich konnte mich nicht erdreisten, ins helle Licht der Lampen und in die lachenden Gesichter der Menschen zu sehen. So schwach war ich. Da bin ich umgekehrt und bin einen dunklen Weg gegangen. Ich habe gearbeitet von früh bis spät, zuerst in einer Wäscherei, dann habe ich selber ein solches Geschäft angefangen in der Hafenstraße. Ich habe mein Brot und noch etwas mehr.«

»Und was wolltest du denn nun hier?« Er fragte nochmals.

»Ich sagte es dir ja schon! Aber du glaubst mir wohl nicht, Hans Thordsen. So will ich dir noch mehr sagen: Der Haß war es nicht allein, der mich hertrieb. Der lodert zwar immer wieder in mir auf. Wenn ich an das Kliff da drüben denke und an das, was er mir dort sagte, dann krampft sich mir das Herz zusammen, und es schreit in mir nach Vergeltung, wenn ich mir das Bild jener Stunde vormale, als ich bettelnd vor ihm lag. Das brennt! Und dann möchte ich ihm ins Gesicht schreien, wie sehr ich ihn verachte.«

»Und dieser Brand vergiftet dein Dasein«, er warf es ruhig und bestimmt dazwischen. »Du sprachst vorhin von besserem. Laß dich nicht immer wieder unterkriegen.« – Sie sah ihn mit unwilligem Blick an, er aber fuhr fort: »Du sagtest, der Haß sei es nicht allein gewesen, der dich hertrieb. Was war es denn sonst noch, Meta?«

Sie antwortete nicht gleich. Eine ganze Weile gingen sie stumm nebeneinander. Dann sprach sie: »In der Nacht, mitten in dunkler Nacht kam es an mich heran: Ich sah die Allee von Schnarstruphof und den Garten, und ich hörte das Singen der Wellen und des Windes am Strande der Birk. Da kam mir die Sehnsucht nach dem Fleckchen Erde, wo ich als Kind geträumt habe, das ich liebe, wenn ich auch viel Leid und Schande dort erlebt habe. Ich mußte einmal sehen, wie es hier steht, aber ich wollte nicht gesehen werden. So kam es. Und nun will ich wieder fort, ich habe hier nichts mehr zu suchen.« Sie blieb stehen und reichte Hans Thordsen die Hand.

Da sagte er unwillkürlich: »Ich wollte, ich könnte mit nach Hamburg.«

»Das kannst du ja doch«, erwiderte sie schnell.

»Was soll ich da machen?« Das kam wieder so bedächtig heraus, daß sie ungeduldig rief:

»Du kannst dort arbeiten!«

»Das könnte ich.« Er schüttelte den Kopf. »Aber jetzt kann ich nicht fort. Es geht nicht.«

»Was hast du denn? Was hält dich hier fest, Hans?«

Sie blickte ihn mit ehrlicher Teilnahme an. Da sagte er: »Niklas Böhm hält mich.« Und er erzählte sein Erlebnis und sein Versprechen von heute vormittag. »Als ich vorhin übers Noor ging«, so schloß er seine Erzählung, »da dachte ich an dich, Meta, aber auch an ihn dachte ich. Ich bin in seiner und seines Bruders Schuld. Heute lief er mir gerade in die Arme. Er hat mich gemahnt. Als ich den ersten Widerwillen überwunden hatte und mit ihm sprach, fiel mir ein, daß vielleicht unser Herrgott mir ihn geschickt habe, damit ich die Schuld zahlen solle.« – Hans Thordsen stockte und wurde verlegen. Er ließ sich nicht gern ins Herz blicken und hatte nun doch von dessen Regungen geplaudert.

»Was werden die Leute hier sagen, wenn du mit dem Landstreicher zusammenarbeitest und mit ihm Boot und Brot teilst?« Prüfend blickte sie ihn an. »Das ist doch Angeliter Art«, fügte sie etwas spitz hinzu. »Was sagen die Leute? davor haben die meisten eine große Angst.«

Er sah ihr mit ruhigem Ernst in die Augen: »Was geht das mich an? – Und was geht es dich an, Meta Norgaardt, was ich tun will. Du gehst deinen Weg, ich gehe meinen Weg.«

»Sei nicht böse, Hans.« In aufwallender Weichheit streckte sie ihm beide Hände hin. Ihm aber klang ihr Spott noch in den Ohren, und ihm fiel ein, daß sie schon einmal so vor ihm gestanden hatte, damals im Garten von Schnarstruphof.

»Lebewohl, Meta!« sagte er ruhig. »Wir wollen in Frieden auseinandergehen. Vielleicht sehen wir uns doch einmal wieder in Hamburg. Jetzt habe ich hier noch zu tun.«

Dann wandte er sich um und ging am Noorwall entlang nach Falshöft zu. Am Knüppeldamm drehte er sich noch einmal um, da sah er sie nicht mehr. In ernstem Sinnen mit schweren Schritten ging er heim.

»Nach Hamburg!« so klang es ihm in den Ohren. Er hatte oft daran gedacht, einen anderen Beruf zu ergreifen, wenn er mit magerem Fange heimwärts segelte, oder seine zerrissenen Netze flickte. »Fort von hier! – Hinaus, wo der Strom des Lebens flutet!« Der Gedanke ließ ihn an diesem Abend nicht einschlafen. Und als sich endlich nach vielem Grübeln die Augen schlossen, fand er doch keine Ruhe. Bunte Traumbilder zogen vorüber an seiner Seele. Einen stolzen Dreimaster sah er hinter der Birk hervorkommen, die Segel standen voll im Winde und die Wellen spielten am schlanken Bug. Das Schiff kam näher; gerade auf ihn zu richtete es seinen Kurs. Jetzt sah er vor sich das Gallionsbild. Ein schönes Weib streckte die Hände nach ihm aus, ihre dunklen Augen leuchteten und lockten, ihr langes goldenes Haar wallte im Winde und loderte empor am Bugspriet in roten Flammen; ihr weißes Gewand reichte hinab bis in die blaue Flut; um ihre nackten Füße schäumten die Wellen. – Er aber stand, in einen alten Ölrock gehüllt, mit schweren Wasserstiefeln im Boote, er konnte den Blick nicht abwenden von der verlockenden Erscheinung. – Sie winkte. Er wollte nach den Rudern greifen, aber Niklas Böhm hielt sie fest. Da wendete das Schiff: langsam ging es in den Wind, die Segel flatterten und wurden herumgelegt. Nun sah er das Gallionsbild nicht mehr. Der Mann am Heck hielt lachend ein Tauende über Bord und schnitt Grimassen. Er erkannte ihn. Das war ja sein alter Freund Thedje Fein; der verhöhnte nun den lahmen Seemann, der am Falshöfter Strand aufgelaufen und ein kümmerlicher Fischer geworden war.

Am anderen Morgen erwachte er erst spät und ging mit finsterer Miene an den Strand. Sie wurde noch finsterer, als er Niklas Böhm im Boot stehen sah. Der merkte nichts. Er hatte Netze und Tröge fertiggemacht, nahm ruhig die Riemen und ruderte hinaus auf die See.

Den ganzen Sommer über hielt Niklas Böhm sich gut. Das Fischen war ja keine schwere und keine regelmäßige Arbeit, die hielt er aus. Die feurige Glut, die der Branntwein über sein Gesicht geworfen hatte, war inzwischen von Wind und Sonnenschein in ein kräftiges Braun verwandelt, die Augen blickten ruhiger und klarer, sein Gang war fester und sicherer. Als der alte Weber Truelsen eines Tages Hans Thordsen traf, nahm er dessen kräftige Rechte in seine beiden welken, zitterigen Hände, drückte sie und sprach: »Es ist mehr Freude im Himmel über einen verlorenen Sohn, der heimkehrt, als über 20 Pharisäer! – Da hast du ein gutes Stück Arbeit gemacht.« Hans Thordsen wurde verlegen. Er wurde wirklich ganz verlegen, der große Kerl, und sagte nichts weiter. Erst als der Alte fort war, fiel ihm ein, was er hätte sagen können und müssen.

Tischler Schinkel stand einmal eine halben Vormittag neben Niklas Böhm, als dieser am Wege die Netze aufhing, und redete eifrig auf ihn ein. Endlich ging er betrübt fort und erzählte jedem, der es hören wollte: »So ist das noch gar nichts mit Niklas, der hat sich wohl gebessert, aber er ist nicht bekehrt.« Die Ansichten waren eben geteilt. Den meisten ordentlichen Leuten war es überhaupt nicht recht, daß Hans Thordsen den Landstreicher hier festhielt. So lange er in der Gegend war, waren sie nicht ruhig. Wenn er in der Dämmerung irgendwo gesehen wurde, so nahmen die Frauen noch immer die Wäsche von der Leine, und die Männer gingen ums Haus herum und sahen nach, ob etwas gestohlen sei oder ob es im Dachstroh glimmte. Frieg Scheel, der seit seiner Tätigkeit auf der Torffabrik bis an sein Ende den Titel »Torfbäcker« führte, faßte die Sache von der praktischen Seite auf. »Wenn Niklas Böhm noch länger so blifft, denn ward de Bramwin billig!« So rechnete er. Niklas arbeitete ruhig weiter.

An einem trüben Novembermorgen, als der erste Schnee in dicken, losen Flocken von Osten herübertrieb, und das Haff so grau und kraus dalag, wie ein umgepflügter Heideacker, gingen Hans Thordsen und sein Gehilfe mit ihren Netzen und Mulden dem Strande zu. Bei Hans Marxens Scheune blieb Niklas Böhm stehen und starrte die Wand an. Unwillkürlich sah dann auch Hans Thordsen dahin. Es war nicht viel zu sehen: ein Pfeil und einige Krickelkrackel mit Kreide waren darauf gemalt. »Komm!« sagte er dann.

Niklas stand noch immer da und rührte sich nicht.

»Was ist daran zu sehen?« fragte Hans Thordsen.

»August Schruflos von Wackerballig ist dagewesen«, stieß er endlich hervor.

»Wer ist das?«

»Wenn sein Geschäft sonst nicht gut geht, dann bettelt er Klapp ringsumher bei den Bauern, am liebsten weiter weg, wo man ihn nicht kennt. Da erzählt er denn, das Dach von seinem Haus sei ganz alt und schlecht; wenn er nun noch 12 Klapp Stroh hätte, dann könnte er es wieder decken lassen. Im nächsten Dorf verkauft er aber wieder, was er einzeln zusammengebettelt hat.«

»Das ist ja ein nettes Geschäft, Niklas!«

»Aber nicht das schlimmste.«

»Komm nun!« Sie gingen weiter. Als sie aber nachher im Boot saßen und ihren Netzen zusegelten, da erzählte Niklas nach und nach mehr.

»Das sind Zeichen, die am Haus angemalt sind. Die versteht nicht jeder«, erklärte er. Nun ging Hans Thordsen ein Licht auf.

»Es ist noch einer dabeigewesen, den ich kenne«, sagte Niklas, »der ist eben erst wieder losgekommen. Sie haben mich gesucht. Ich soll heute abend an eine Stelle kommen, wo sie mich sprechen wollen.« Er sprach es hastig und aufgeregt.

»Du gehst doch nicht hin?«

»Hin muß ich, sonst lassen sie mir erst recht keine Ruhe.«

»Aber lassen sie dich denn nachher in Ruhe?«

»Darüber will ich gerade mit ihnen sprechen, sie müssen!«

»Niklas, bedenke was auf dem Spiel steht.«

»Ich weiß das alles, Hans Thordsen.« Nach einer Weile setzte er dann leiser hinzu: »Aber du weißt nicht alles von mir.«

»Sag' es mir, Niklas, ich will dir helfen!«

»Das kannst du nicht. – Und wenn du es wüstest –«

»Sprich weiter.«

»Nein, ich selbst muß wissen, wie ich da herauskomme. Du hast mir so viel geholfen –« er stockte und schluckte ein paarmal – »aber du kannst mir hierbei nicht helfen!«

Dabei blieb es. Am Abend, als es zu dämmern anfing, steckte Niklas Böhm sein verdientes Geld ein, sagte der alten Mutter Braak, daß er erst spät wiederkommen könne und trat den Gang an.

Es muß doch wohl ein schwerer Gang gewesen sein, denn Mutter Braak erzählte nachher, daß er am Abend gar nichts gegessen und in seiner Kammer immer halblaut vor sich hin geredet habe. Sie hatte das Ohr an die Tür gelegt und hatte es doch nicht so recht verstehen können. Seinen dicken Eichenknüppel, den er mitgebracht hatte, als er damals zerlumpt einzog, hatte er auch mitgenommen auf diesen Weg. Diese Nacht kam Niklas Böhm nicht wieder, die nächste Nacht auch nicht, er ist überhaupt nie wieder nach Falshöft gekommen. Ein Lebenszeichen hat man erst nach Wochen von ihm erhalten, jedenfalls nahm man an, daß es von Niklas Böhm herrühre; es kann auch jemand anders gewesen sein. –

In einer Nacht nämlich, als Peter Ottsen und seine Frau von einer lustigen Gesellschaft heimkehrten, scheuten die Pferde plötzlich auf dem Wege, sie schnaubten, stiegen hoch und drängten den Wagen rückwärts in den tiefen Graben. Der Kutscher war gleich vom Bock und packte die Pferde am Zaum, sie standen zitternd still und waren nicht von der Stelle zu bringen. Es war nichts Verdächtiges zu sehen und zu hören, nur auf einem nahen Bauernhofe heulten die Hunde. Halb schlaftrunken fuhr Peter Ottsen aus der Chaise heraus: »Was ist denn los, Fritz?«

»Ick seh nix, Herr, awers de Peer.«

»Wat denn?«

»De könnt mehr sehn as Minschen, irst recht üm Middernachtstied.«

»Du büst wol duhn!«

»Ick nich, Herr, awers mit rechten Dingen geiht dat nicht to, sehn se mal de Peer an!«

Die Pferde zitterten am ganzen Leibe und bliesen mit hoch gehobenen Köpfen den Dampf durch die weitgeöffneten Nüstern. – In diesem Augenblick knackten und rauschten die Zweige auf der gegenüberliegenden Seite des Knicks, und auf der Koppel hörte man die schweren Tritte eines davonlaufenden Mannes. Da wurde auch Peter Ottsen die Sache unheimlich; aus dem Wagen aber tönte der Angstschrei seines Weibes. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er dem Kutscher die Peitsche aus der Hand gerissen und hieb auf die Pferde ein. Ganz wild drängten diese noch weiter zurück, der Wagen neigte sich weit über gegen den Wall. Er wäre umgeschlagen, wenn nicht im nächsten Augenblick der Kutscher die Pferde am Zügel nach vorn gerissen hätte. Dann sprangen die Gäule plötzlich an und warfen sich in die Siele. Die Frau war aus dem Wagen gesprungen und schrie laut um Hilfe. Das gab Peter Ottsen einigermaßen die Besinnung wieder, er half die Pferde zur Ruhe und den Wagen auf die Straße bringen, legte die fast Besinnungslose auf den Sitz, stieg selbst auf den Bock und ließ den Kutscher mit der Wagenlaterne bis zum nächsten Kreuzweg vorausleuchten. Dann ging's im Galopp weiter, die Berge auf und nieder, die Allee hinunter und auf den Hof hinauf.

Am nächsten Tage erfuhr man, daß in Wittsbüll bei Johann Thießen eingebrochen sei. Zwei Schinken waren aus der Speisekammer gestohlen. Man wollte auch Niklas Böhm wieder in der Gegend gesehen haben, gefaßt hat man ihn aber nicht.

Das war aber nicht das Schlimmste. Menschenleben wurden in dieser Nacht vernichtet, das war schlimmer. Die junge Frau sah ihrer schweren Stunde entgegen; am nächsten Tage mußte Fritz-Kutscher mit verhängten Zügeln zur Hebamme und zum Doktor fahren. Als er wieder kam, war es schon zu spät. Zwei Tage nachher lag in der besten Stube unter einem schneeweißen Laken ein schneeweißes Frauengesicht. Ihr Arm hielt den, auf den man jahrelang gewartet hatte: ihn, der Erbe von Schnarstruphof hätte werden sollen. Ein kleines, schwächliches Mädchen aber streichelte die kalte, schlanke, wachsbleiche Hand der toten Mutter und hauchte darauf ihren Atem. Die blieb aber starr und steif. Die Tote wurde im silberbeschlagenen, eichenen Sarg gebettet, der Trauerwagen mit den Pferden war in Flor eingehüllt, und die Gutsherrschaften rings umher folgten im Leichenzuge. Überall Trauermienen; als aber nachher die Leidtragenden im Geltinger Wirtshaus beim Grog saßen, wurde viel von Leichtsinn, Hypothekenkündigungen und Konkurs geredet. Trotzdem hielt sich Peter Ottsen in verzweifeltem Kampf, mit verzweifelten Mitteln noch geraume Zeit über Wasser.

*

Die Abenddämmerung senkte sich herab auf den Hamburger Hafen. Ein grauer, kalter Nebel legt sich dicht und schwer auf den Strom, auf die Kais und Lagerschuppen, auf die langen Schienenwege und die krausen Wellen der Elbe. Die Schiffsglocke der »Ceres« verkündet mit sechs hellen Schlägen die Feierabendstunde. Das Rasseln und Stöhnen der Dampfwinden verstummt, der lange, schwarze Arm des Kaikrans nimmt die letzte Hiewe aus dem Raum und schwingt sie unter das Dach des Schuppens. Der Taljemann macht einen Querstrich über die vier Graden und zählt rasch die Strichreihen zusammen, der Kranführer öffnet den Zylinderhahn, daß der Dampf mit scharfem Zischen ausströmt, die Arbeiter im Schuppen ziehen ihre Röcke an, und einer nach dem andern geht fort.

Die Schauerleute, die im Raum der »Ceres« die schweren Kisten und Ballen bis an die Luken herangeschafft hatten, daß der Kran sie packen konnte, klimmen rasch an den steilen, eisernen Leitern empor und warten auf den Schlepper, der sie abholen soll.

Hier und da taucht ein rotes und dann wieder ein grünes Licht auf aus dem Nebelschleier, die Dampfer schieben sich geschickt zwischen den Booten und Schiffen hindurch; ein großer Seeschlepper legt an der Backbordseite der »Ceres« an. Er pfeift laut und lange. Es ist gar nicht nötig, denn die Leute stehen schon an der Reeling bereit und warten auf sein Kommen. Wie die Katzen klettern sie die Leiter hinunter an Deck des Schleppers.

Wieder ein Pfiff, scharf und warnend dringt er durch den Nebel. Dann ein Glockensignal nach dem Maschinenraum: »Langsam vorwärts«, und der derbe schwarze Geselle setzt sich in Bewegung. Ins Graue hinein geht's. Bald hört man an Steuerbord, bald an Backbord eine Dampfpfeife heulen, scharf und drohend klingt die Warnung. Zuweilen wird's hell hinter dem dichten Nebelvorhang, rötlich oder grünlich schimmert eine Laterne hindurch.

Plötzlich taucht vorn, an der Backbordseite des Schleppers, groß und dräuend, unheimlich rasch wachsend, der Steven und der Schornstein eines entgegenkommenden Schiffes auf. Ein kurzer Pfiff der Dampfpfeife ertönt hüben und drüben. Zwei rasche Glockenzeichen erklingen, gleichzeitig ruft der Steuermann dem Maschinisten durchs Sprachrohr zu: »Stopp!« In gleichem Atemzuge folgt: »Vollkraft rückwärts!« Mit kräftigem Schwung reißt er das Steuerrad herum, daß die Ketten rasseln und schlagen; unten im Raum wird die Steuerung der Maschine klirrend auf rückwärts geworfen. Eine Sekunde nur steht die Maschinenkurbel still, dann sausen die Kolbenstangen wieder auf und nieder, und mit schnellen Stößen arbeitet die Maschine rückwärts, schäumende Wassermassen werden am schrägstehenden Ruder entlang geschleudert. – Auch von drüben her hören die Leute, die dichtgedrängt an Deck stehen, das gleiche Klingen, Klirren, Stampfen und Rauschen. Aber von den Männern spricht keiner ein Wort. – Langsam dreht der Gegner ab, beide gehen zurück, der schwarze Bug verschwindet im Nebel, die Backbordlaterne malt noch einen mattroten Kreis auf die Nebelwand – dann verschwindet auch dieser. »Langsam vorwärts« ertönt's im Maschinenraum, zwischen Fährdampfern und Barkassen hindurch, bald mit einem Pfiff, bald mit zwei Pfiffen rechts oder links ausweichend, schiebt sich der Schlepper durch das Feierabend-Hafengewühl. Am Landungsponton der Rosenbrücke legt er an, rasch verlassen die Schauerleute das Schiff. »Klock acht bi Sagebiel!« ruft einer dem andern beim Auseinandergehn zu.

Zwei kräftige Männer in grauer Wolljacke, blauem Rock und altem Schlapphut, der weit nach hinten gerückt ist, gehen zusammen an den Vorsetzen entlang.

»Die Stauer geben nach, das sag' ich dir, Hans Thordsen! Ja, du schüttelst den Kopf, ich weiß es, du bist so'n alter Vernünftiger und Bedächtiger, aber du wirst es sehen, sie kriechen zu Kreuz, wenn sie merken, daß wir einig sind.« So redete eifrig der Kleinere, ein Mann, dem man an dem scharf gesprochenen r und dem wie a klingenden e die ostpreußische Heimat anhörte. Der andere schwieg eine ganze Weile still, dann sagte er langsam und ruhig:

»Ich verkaufe meine Knochen auch gern so teuer wie möglich. Ein Narr, der das nicht tut, denn unsere Knochen sind unser Kapital, aus dem wir etwas herauswirtschaften müssen. Aber dieser Streik hat doch seine Bedenklichkeiten!«

»Ach was, Bedenklichkeiten!« schrie erregt der Kleine. »Gar keine Bedenklichkeiten sind dabei. Wir müssen den Stauern und Reedern den Daumen nur gleich fest aufs Auge setzen. Jetzt ist es gerade die rechte Zeit dazu, der Hafen liegt voller Schiffe. Nur nicht bange!«

»Bange bin ich nicht«, entgegnete ganz ruhig Hans Thordsen. »Das solltest du wissen, Paul. Aber ich glaube, daß wir erst mal die Zulage annehmen sollten, die sie uns bieten. Dann haben wir doch erst mal was. Zum Frühjahr können wir wieder anklopfen, und dann fallen vielleicht wieder ein paar Pfennige aus den großen Geldsäcken in unsere kleinen Taschen. Wenn der Winter vor der Türe steht, dann ist es schlecht streiken!«

»Ach was, Winter! Wir haben Geld in der Kasse. Viel Geld kommt aus dem Inlande«, und Paul Kopitzki setzte geheimnisvoll flüsternd hinzu: »Geld kommt auch massenhaft aus England, weißt du, Tom Mann ...«

»Da gebe ich nichts auf!« unterbrach ihn Hans Thordsen, »da gebe ich gar nichts auf! Wer sich auf andere verlassen muß, der ist bald verlassen genug! Ich bleibe dabei, man sollte erst noch einmal bei den Stauerbaasen anklopfen, nicht so mit der vollen Faust, wie der Gerichtsvollzieher, wenn er Geld holt, sondern nett und ordentlich. Ich meine, das ist das beste.« –

»Nur nicht bitten und betteln! – Wir sind doch keine Labammel! – Wir müssen fordern!« war die heftige Entgegnung. »Wir streiken und fangen nicht eher wieder an, bis alle Forderungen bewilligt sind. Nicht eher sag' ich, und wenn es darüber Sommer wird. Die Kerle sollen schon klein werden!«

Hans Thordsen schwieg eine Weile, als wenn er den Zorn des anderen erst verrauschen lassen wollte, dann meinte er gelassen: »Ich kann's so lange aushalten, aber das Schlimme ist, daß die meisten Arbeitskollegen das nicht können. Wenn jeder bei Zeiten –«

»Na, woher soll man denn was haben?« brauste gleich wieder der Ostpreuße auf. »Du hast gut reden. Du bist ein Fetthammel aus der »chuten Chechend« und hast schon lange feste Arbeit bei deinem Baas. Ich aber und hundert andere solche arme Deuwels, wir müssen herumlaufen von einem Stauervize zum andern. Man muß sich freuen, wenn man mal ein bißchen was abkriegt. Das ist ja 'ne Schweinerei, so was!«

»Reg' dich nicht auf, dazu ist heute abend noch Zeit genug«, entgegnete Hans Thordsen. »Ich weiß, daß die Wirtschaft mit den Stauervizen nicht nett ist. Aber so ganz ohne Schuld ist mancher von euch auch nicht. – Na, begehr' man nicht gleich wieder auf.« Er lachte ein bißchen und stieß ihn an. »Es gibt doch Leute genug, die ihr sauer verdientes Geld am liebsten zu Hein Schacht oder Korl Kniep oder zu einem anderen Püselwirt auf die Sparkasse legen. Die Kerls stehen mit ihrem dicken Bauch hinter der Tonbank und raken immer nur so die Arbeitergroschen zusammen. Kommt ein Bekannter hin, so heißt es: »Gun Dag, mien Fietje! Hallo old Fründ Thetje, komm mal herinn!« So geht das denn, und da gehen sie gleich auf den Leim, einer nach dem andern. – Wenn was verdient wird, wird was verzehrt, und wird mal nichts verdient, dann schreibt er an. Er weiß aber aufzupassen, daß er nachher sein Geld kriegt. Erst kommt er, dann erst kommt Mudder.«

»Das ist ja wahr«, bestätigte der andere etwas kleinlaut, denn er hatte erst kürzlich sich darüber beklagt.

»Sieh mal da drüben: Wirtschaft an Wirtschaft«, fuhr Hans Thordsen fort. »Sie stehn sich gut, aber ihre Kunden stehn sich nicht gut, manchem geht es sogar recht schlecht. Wenn's Geld alle ist, wird geborgt und versetzt. Erst kommt die Uhr nach Polack, dann der Sonntagsrock und das Bett. Die meisten können sich keine vier Wochen über Wasser halten, und du redest davon, wir sollen streiken bis zum Sommer?!«

»Schlimm genug, daß es so ist!« erwiderte der andere. »Du mußt aber gleich dabei sagen, daß viele Stauervize selbst so 'ne Köhminsel haben. Da muß man denn hin und um Arbeit anfragen, oder sein Geld holen. So trinkt man denn hier einen und trinkt da einen, zuerst, weil man muß und dann, weil man mag, und dann – wird das Geld bald alle. Das stimmt. – Aber wer hat die Schuld? Wer hat immer wieder die Schuld, Hans Thordsen? – Ich will es dir sagen: der verfluchte Kapitalismus ist an allem Elend schuld!«

»An vielem, ja! Das stimmt! Aber nicht an allem.« Hans Thordsen blieb ganz ruhig. »Man kann auch selbst etwas dabei tun. Und zuerst soll und muß man das tun, was man selbst tun kann. Ich spare und habe doch meine Arbeit.«

»Ja, du!« machte abwehrend Kopitzki, »du!« Und das klang, als ob jener zu einer ganz anderen Sorte Menschen gehöre.

»Ich kann ebensogut an einer Wirtschaft vorbei kommen, wenn ich zehn Taler in der Tasche habe, als wenn zehn Pfennige darin sind. Das können allerdings manche andere auch, aber das können die meisten Kollegen nicht. – Schnack nicht dazwischen!« fuhr er jetzt den Kleinen mit starker Stimme an. »Es ist wahr, was ich sage; wie die Nachteulen nach dem Licht, so gehen so viele nach dem hellen Schein der Destillen. Dumm und blind sind sie! Da gibt es Sparklubs und Skatklubs, Lotterie- und Pfeifenklubs und Gott weiß was für Schröpfköpfe mehr. – Schiebt nicht alles auf den Kapitalismus, schiebt auch was auf die eigene Dummheit und Schwachheit, und da fangt zuerst an zu streiken! Damit könnt ihr gleich heute anfangen. Nachher, wenn wir selbst getan haben, was wir konnten, dann bringen wir das andere, was sonst noch getan werden muß, schon etwas leichter fertig.«

»Du redest ja wie ein Pastor«, warf spöttisch der Kleine ein. Aber Hans Thordsen fuhr ruhig fort: »Wenn wir jetzt das Geld hätten, was in den letzten Jahren die Püselwirte an den Vorsetzen und der Hafenstraße als Verdienst auf die Banken gebracht haben – von unserem Gelde, von den Arbeitergroschen, weißt du!« – könnten wir ruhig streiken. Aber nun? – Ich habe kein Vertrauen mehr dazu!« Darauf ging Kopitzki nicht ein. »Geld gibt's genug!« war die stete Antwort. »Selbst ist der Mann!« sagte Hans Thordsen. Damit trennten sie sich.

Schon vor acht Uhr abends war der große Sagebielsche Saal voll von Menschen. Unten in den Gängen drängten sich die Platzsuchenden und auf den Galerien saßen und standen sie in engen Reihen hintereinander. Man hörte kräftige, wettergebräunte Männer die Ereignisse der letzten Tage besprechen. Man stritt über die Eingabe an die Stauerbaase und über die Antworten der Reeder. Man wußte dies und das über die Absichten der Hamburger Arbeiterführer und über die Ratschläge des Engländers Tom Mann. Man sah auch Scharen halbwüchsiger Bengel umherlungern, die schmierige Mütze aufs Ohr gedrückt, die qualmende Tonpfeife in der Mundecke. Sie drängten sich durch die Menge, begrüßten sich mit kräftigen Redensarten und schwatzten allerhand, das mit den ernsten Fragen des Abends in keinen Beziehungen stand. Auch die edle Zunft der »Hopfenmarktslöwen« hatte einige Vertreter gesandt. Es waren die Leute, die früher auch wohl mal am Hafen gearbeitet hatten, und die sich nun »Gelegenheitsarbeiter« nannten, weil – wie man sagte – sie jeder Arbeitsgelegenheit aus dem Wege gingen. – Ärgerlich drückten sich die ehrlichen Arbeiter beiseite, wenn in ihrer Nähe die zottige Mähne oder die Kupfernase eines solchen »Löwen« auftauchte. Die aber hielten wacker stand.

Über dem Ganzen lag eine dumpfe, drückende Luft; ein Gemisch von Tabakqualm, Fuselduft und Arbeitsschweiß. Gewandt drängten sich die Kellner mit vollen Seideln durch die Menge; es war schwer, alle Wünsche zu befriedigen. Da war mancher, der das vorausgesehen hatte. Er langte in die Tasche und holte die Flasche hervor.

Als Hans Thordsen in den Saal trat, streifte er einen Mann, der an einer Säule lehnte. »Good Dau!« begrüßte ihn der mit höhnischem Grinsen. Jens Norgaardt war es, der vor Jahren mit Peter Ottsens Geld seine Tochter in Amerika suchen wollte, und mit leerem Beutel in Hamburg festgeraten war. Er sah sehr verkommen aus.

Hans Thordsen beachtete ihn nicht; er ging langsam nach vorn an die Rednertribüne heran und stand bald inmitten einer Gruppe von Schauerleuten. In diesem Kreise war die Stimmung ernst, das sah man an den Mienen, das hörte man aus den teils warnenden, teils erregten Auslassungen. Ein großer Arbeiterausstand, der größte, den Hamburg je gesehen, stand drohend in allernächster Nähe, wurde vielleicht heute beschlossen. Und was dann?

»Die Minorität muß sich fügen«, sagte ein junger, klug aussehender Mann zu Hans Thordsen. »Wie auch die Entscheidung fällt, die Minorität muß sich unter allen Umständen fügen. Die Solidarität aller Arbeiter muß anerkannt und hochgehalten werden.«

»Solidarität? So was kenne ich nicht«, sagte laut und scharf ein Mann mit dichtem, grauen Haar und langen, eckigen Gliedern. »Ich kann tun, was ich will, das geht keinen Menschen was an!«

»Wie kann man nur so dumm reden!« rief der Jüngere. »So fangt nur an, dann hat die Geschichte gleich ein Ende.«

»Solidarität kenn' ick nich!« war die trotzige Antwort.

»Dann wird dir das beigebracht!« hieß es von der anderen Seite. »Ein Lump, wer den Kameraden in den Rücken fällt.«

»Keinen Handschlag tun wir, ehe die Stauer nachgeben! Generalstreik!« rief Paul Kopitzki.

»Nun wollen wir mal die Herren spielen.« Ein breitschultriger Ewerführer rief es laut und warf sich in die Brust. Dann sang er mit tiefstem Steinkohlenbaß:

»Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will!«

»So weit sind wir allerdings noch nicht«, warf Hans Thordsen ein. »Wir wollen uns doch erst mal heute abend darüber aussprechen. Wir wollen beraten, was geschehen kann und soll.«

»Das wird dir alles gesagt werden!« meinte ironisch Kopitzki. Hans Thordsen schwieg, aber ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen, als er jetzt eine Schar junger Burschen bemerkte, die sich lärmend hereindrängte bis dicht vor die Tribüne. Sie hatten sich augenscheinlich Begeisterung und Mut an irgend einer Tonbank gekauft und suchten nach Betätigung.

»Von denen da soll mir das wohl gesagt werden?« fragte nun scharf Hans Thordsen und deutete auf die Lärmenden, dann ging er, um an einem Seitentische Platz zu nehmen, von wo man ihm zuwinkte. Dort saß er neben einigen älteren Kollegen, sie ließen sich Bier kommen und sprachen von dem, was die Gemüter aller bewegte.

Der Redner ließ etwas auf sich warten. Die Spannung stieg von Minute zu Minute. Für und wider den Streik sprach man, viel mehr für, als wider. Die Streiklustigen waren mutig und in ihren Reden herausfordernd; die Arbeitswilligen mehr zurückhaltend, sie kamen nur vorsichtig mit ihrer Meinung heraus.

Hans Thordsen und eine Anzahl seiner Arbeitskollegen waren mit der Absicht hergekommen, gegen den Streik zu stimmen und für nochmalige Verhandlungen mit den Arbeitgebern einzutreten. Ihn hatte man beauftragt, wenn nötig, das Wort zu ergreifen. Er war kein Redner, das wußte er, aber er hatte Mut genug, seine Überzeugung zu vertreten und wollte nicht mit seiner Meinung zurückhalten. Er wußte, daß viele ältere Männer seiner Ansicht waren. Mit solchen Gedanken war er in den Saal getreten.

Eine Stunde war inzwischen vergangen. Da hatte sich schon manches geändert. Der alte Peter Maas, der seit 20 Jahren bei H. B. Gewens arbeitete, hatte vorhin gesagt: »Du, de Saak liggt doch anners, as ick dacht harr.« – Und sein Kollege Wilhelm Clausen hatte ihm zugestimmt mit den Worten: »Dat helpt nix, wi mött se wiesen, dat wi keen Knechten sind.« – Es war nicht mehr die Stimmung von heute früh. Viele der alten, soliden, handfesten Leute waren gegen den Streik gewesen, nun aber schien die Stimmung doch etwas anders zu werden. Hans Thordsen merkte es, er merkte aber auch, daß ihm selbst der frühere Entschluß nicht mehr so eisern fest vor der Seele stand. Die ganze Umgebung, der Zündstoff, der in der Luft lag, und die Wirkung der genossenen Getränke ließ die schwarze Wolke, die vor ihm gelegen hatte, kleiner und lichter erscheinen. Der Blick auf die tausendköpfige Menge, auf die langen Reihen kräftiger, trotziger Gestalten, gab Mut und Wagelust. Die Sorge um das eigene Ich trat zurück, die Solidarität schob sich vor die Einzelmeinung und drängte sich mehr und mehr an die Wand.

Endlich eröffnete man die Versammlung, und nach einigen einleitenden Worten gab der Vorsitzende dem Referenten das Wort. Dröhnender Beifall begrüßte den Redner. Mit einer kurzen und energischen Handbewegung wehrte er ab. Totenstille trat ein. Einen Augenblick ließ er den Blick über die Menge gleiten, während ein stolzes Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. Einen Augenblick nur, dann fing er an:

»Genossen! Einen Tag wie den heutigen hat die alte Hansastadt Hamburg noch nie gesehen, solange die rotweiße Flagge von ihren Türmen weht, solange die Schiffe von ihrem Hafen aus das Weltmeer kreuzen. Die Hamburger Handelsherren waren von jeher stolz auf ihren Reichtum und ihre Macht, sie haben Fürsten und Völkern ihren Willen aufgezwungen, heute aber sollen diese Machthaber sehen, daß es einen Willen gibt, der mächtiger ist als die Befehle der Besitzenden, daß es eine Macht gibt, die stärker ist als ihr Gold. Kaiser und Könige haben die steifen Nacken der Hanseaten nicht beugen können, – ihr Männer der Arbeit könnt es, wenn ihr wollt!

Mit Kriegsschiffen und Kanonen hat man den Handel der Hansestädte nicht lahm legen können, hat man die Hamburger Schiffe nicht vom Weltmeer fegen können, ihr könnt es, wenn ihr wollt! – Kein Schiff geht die Elbe herauf und hinunter, kein Speicher wird voll oder leer, kein Kran hebt eine Last, keine Winde dreht sich, man hört nicht den Ton der Dampfpfeife, nicht den Gesang der Matrosen, die den Anker lichten, die Kontore der fürstlichen Kaufleute werden leer und die Börse verödet, wenn ihr, die Männer mit der schwieligen Faust, heute abend bei der Abstimmung die Hand aufhebt. – – Jetzt ist die große Stunde da, wo ihr zeigen sollt, daß ihr nicht gewillt seid, Druck und Ausbeutung zu ertragen, daß ihr selbst eingreifen wollt in die Speichen!«

Der Redner machte eine Pause. Da donnerte wieder der Beifall durch die weiten Hallen und pflanzte sich fort durch die geöffneten Türen. Abermals winkte der Redner, und die wild brandenden Wogen der Begeisterung legten sich. Nun sprach er weiter, zuerst ganz ruhig, dann wieder scharf die Schlagworte betonend; bald die Schwächen der Gegner geißelnd, bald mit flammendem Blick und zündenden Worten die Genossen zum Widerstand anspornend. Er sprach von dem kläglichen und unsicheren Verdienst der Schauerleute und von den Millionen, die Stauer und Reeder einsteckten; er sprach von bitterster Armut und üppigem Wohlleben, von schwerer Arbeit und bequemem Couponabschneiden, von derben Fäusten und Glacéhandschuhen; er sprach von Tom Mann, dem Führer der englischen Hafenarbeiter, von den Genossen in ganz Deutschland, deren Augen hierher gerichtet seien, vom Fluch des Kapitalismus, von der Verelendung der Arbeiter. – »Genossen, ihr könnt alles, ihr könnt Hamburg, ihr könnt die Welt erobern, wenn ihr den Streik beschließt und dann einig und unerschütterlich zusammenhaltet. Ihr werdet alle Gegner niederzwingen. Ihr werdet siegen, wenn ihr nur wollt!« So schloß er.

Minutenlanger Beifall übertönte alles. Man sah hocherhobene Hände, man schwenkte Hüte und Mützen, man schlug mit den Eisenfäusten auf die Tische, man hob die Gläser und trank sich zu. – So ging die ruhige Überlegung auch vieler Bedächtigen unter in der aufgeregten Stimmung. Erst am anderen Morgen klopfte sie wieder an die Tür der Schlafkammer und begehrte Einlaß. –

Lange bemühte sich der Vorsitzende vergebens, durch Schwingen der Glocke und Winken mit den Händen die Ruhe wieder herzustellen. Endlich gelang ihm dies soweit, daß er das Wort »Diskussion« verständlich in den Saal hinausschreien konnte. Niemand meldete sich. Wer wollte es auch wagen, nach diesem Mann zu reden. Widerstand wäre Wahnsinn, Zustimmung nur Abschwächung gewesen.

Hans Thordsen glaubte allerdings, daß er doch verpflichtet sei, seine Bedenken vorzubringen. Er zögerte aber. –

»Na, nun man los!« rief Kopitzki mit höhnischem Lachen zu ihm herüber. Das half! Hans Thordsen hob die Hand; er wollte seine Ansicht vertreten. In diesem Augenblick sah er, daß ein grauhaariger Mann die Treppe zum Podium hinaufstieg. – Also doch Diskussion, da konnte er nachher noch reden.

Im Saale wurde es jetzt ganz stille. Man war doch neugierig, was der alte Genosse zu sagen habe. Etwas unbeholfen und stockend fing er, auf Hochdeutsch, an. »Lauter!« schrie man von hinten. »Lauter!« tönte es von allen Seiten. Er fing noch mal an, jetzt mit kräftiger Stimme und auf Plattdeutsch. Das ging ihm besser vom Munde und kam von Herzen. Achtzehn Jahre habe er bei seinem Baas gearbeitet und sich immer gut mit ihm vertragen. Bei seinem jüngsten Jungen habe sein Baas Pate gestanden und zu seiner silbernen Hochzeit – – –«

»Dat geiht uns nix an«, schrie jemand im Saale.

»Schluß! – Schluß!« riefen andere.

Der Vorsitzende stellte die Ruhe wieder her, er ermahnte den Redner, bei der Sache zu bleiben und sich kurz zu fassen. Da fing der Alte noch mal an. Er mahnte zur Vorsicht, er sprach vom kommenden Winter und von darbenden Familien, von den vielen Arbeitslosen, die in die offenen Stellen rücken würden, und riet, noch einmal in Ruhe und Güte mit den Stauern zu unterhandeln. Nun steigerte sich die Unruhe, sie wuchs derartig an, daß auch der Vorsitzende sie nicht zurückdämmen konnte.

»Angstmeier!« – »Bangbüx!« – »Verräter!« – »Schluß!« – »Raus!« – »Runter mit ihm!« So schallte es von verschiedenen Seiten. Hinter dem Tisch, wo Hans Thordsen saß, hatte sich eben eine Schaar Kesseljungens eingedrängt, die fingen an zu johlen und zu pfeifen. Er drehte sich nach ihnen um und rief ihnen zu:

»Wat hebbt ji hier to dohn? – War geiht ju dat an?«

Sie lachten frech, und einer der kleinsten und dreckigsten rief laut:

»Wat makst du denn hier, Jan Bumann ut Poppenbüttel? – Gah gau na Hus, de anner is bi din Fro.« Man brüllte vor Lachen.

Verächtlich wandte sich Hans Thordsen ab. Also auch mit dieser Sorte sollte man sich solidarisch erklären, mit solchen Schlingeln sollte er an einem Strange ziehen?! – Ärgerlich trank er sein Bier aus; er wollte nun jedenfalls auch noch reden. Es sprach jetzt ein anderer Redner, der sehr ruhig und bestimmt seinen Standpunkt bezeichnete: »Nachgeben ist Schwäche«, so schloß er.

Es wurde Schluß der Debatte beantragt und abgelehnt; eine ganze Anzahl von Männern hatte sich noch zum Wort gemeldet. Man beantragte, die Redezeit auf zehn Minuten einzuschränken, auch das wurde abgelehnt. Dann aber wurde ein Antrag auf Schluß der Rednerliste eingebracht und mit großer Mehrheit angenommen.

»Hast du dich in die Rednerliste eintragen lassen?« fragte mit ironischem Lächeln Kopitzki.

Hans Thordsen schüttelte den Kopf. Es tat ihm leid, daß er seine Ansichten vom Rednerpult aus nicht vertreten konnte, denn er wußte, daß sein Wort bei manchen tüchtigen Kollegen etwas galt. Er mußte nun aber darauf verzichten, die Probe zu wagen.

Nun wechselten die Redner ab, alle sprachen nur kurze Zeit, alle betonten, man dürfte sich nicht mit Hungerbrocken abspeisen lassen. Überall klang es hervor: »Fix oder nix!« – Der Referent hatte das Schlußwort. Er konnte sich kurz fassen, die Sache war entschieden, noch bevor die Abstimmung gewesen war. Man hörte an allen Tischen, wie es werden würde, man las es aus den Mienen, man sah es an der ganzen Haltung der Versammlung. Siegerstimmung lag in der Luft und nahm alle Sinne gefangen. Auch Bedächtige sahen die Vorgänge jetzt mit anderen Augen an als vordem.

Etwas nach zwölf Uhr wurden zwei Resolutionen eingebracht. Über die weitgehendste mußte zuerst abgestimmt werden. Diese Resolution ging dahin, sogleich den Streik zu beschließen. Als sie verlesen war, trat einen Augenblick tiefe Stille ein.

»Wer für diese Resolution ist, der erhebe die Hand«, erscholl es laut vom Tische des Vorsitzenden.

Sofort flogen eine Anzahl Hände aus den vorderen Reihen in die Höhe, und das wirkte wie ein Flugfeuer. Immer mehr Hände wurden erhoben, tausende waren es. Langsam hob auch Hans Thordsen die Hand. Nun hatte auch ihn die Stimmung gefangengenommen. Jedenfalls wollte er sich »solidarisch« erklären mit der Mehrzahl seiner Kollegen. Was beschlossen wurde, das war auch ihm Gesetz.

Mit erdrückender Mehrheit war die Resolution angenommen. Ein tausendstimmiges, donnerndes Hoch »auf die völkerbefreiende, internationale Sozialdemokratie« erscholl aus rauhen Männerkehlen. Die Arbeitermarseillaise brauste empor, und der Strom zwängte sich durch die Türen, hinaus auf die Straßen. Die nächsten Wirtschaften füllten sich. Die meisten aber eilten heim, um den gespannt und ängstlich harrenden Weibern das Ergebnis zu verkünden: Streik! Der Anfang des allgemeinen Hafenarbeiterstreiks, eines Ringens, wie es Deutschland noch nicht gekannt hatte.

Als Hans Thordsen am nächsten Morgen bei seinem Arbeitgeber, dem Stauerbaas Rettmann, vorsprach, um den rückständigen Lohn und sein Geschirr abzuholen, sah dieser ihn verwundert an: »Nanu, Thordsen, was ist denn mit Ihnen los? Warum wollen Sie denn aufhören?«

»Der Streik ist gestern abend beschlossen, Herr Rettmann.«

»Ja, was geht Sie das an? – Wir beide haben doch nichts miteinander gehabt.«

»Wir hören alle auf, alle! – Die anderen Kollegen kommen auch noch.«

»Von euch hat aber doch keiner etwas von mir verlangt. Ihr habt im Akkord gearbeitet und habt, meine ich, gut verdient.«

»Das stimmt alles, Herr Rettmann, aber wir Schauerleute haben uns alle miteinander solidarisch erklärt. Ehe nicht unsere Forderungen bewilligt sind, darf die Arbeit nirgends wieder aufgenommen werden.«

» Ihr dürft nicht?« fragte der Stauer etwas spöttisch. »Wer hat denn das verboten?«

»Wir selbst. Es ist so beschlossen.« Hans Thordsen sagte dies mit großer Bestimmtheit.

Einen Augenblick schien der Stauer nachzudenken, dann sagte er freundlich: »Kommen Sie mal mit in mein Kontor, Thordsen, ich habe noch ein Wort mit Ihnen zu reden.«

Mit gemischten Gefühlen, unter denen auch etwas Neugierde war, folgte Hans Thordsen dem Mann.

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, fing ohne viel Umschweife der Stauer an. »Hören Sie mal zu! Der Streik ist nur für die Schauerleute bindend, die in Stunden- und Tagelohn stehen, und die in Akkord arbeiten, nicht wahr?«

»Das ist wohl richtig, aber –«

»Nun abern Sie man nicht gleich, Mann! Ich meine die Vorleute oder die Vizen, die im festen Wochen- oder Monatslohn stehen, oder solche, die gewissermaßen Beamte und Angestellte – Sie verstehen mich! – der Stauerbaase sind, die sind in euren Abmachungen jedenfalls nicht mit einbegriffen.«

»Das sind sie wohl nicht«, bestätigte Hans Thordsen.

»Natürlich nicht! – Da wären sie auch schön dumm! – Na also, ich hatte schon längst die Absicht, Sie zum Vize zu machen. Sie arbeiten schon lange bei mir und sind mein bester Mann; ich will Sie gleich als Vize für die Hansalinie einstellen. Ich denke, Sie haben nichts dagegen.«

Einen Augenblick überlegte Hans Thordsen, dann sagt er ruhig, aber bestimmt: »Das wird nicht gehen, Herr Rettmann. Da müßte ich jedenfalls erst mal mit den Leuten vom Ausschuß darüber reden.«

»Mit was für'n Ausschuß?« Das Gesicht des Stauers wurde rot und die Stimme laut.

»Mit dem Streikausschuß. Ich kann doch nicht an einem Abend mich solidarisch erklären mit meinen Kollegen und am andern Tag, ohne sie zu fragen, so etwas abmachen. Das geht doch nicht, Herr Rettmann, darin müssen Sie mir recht geben.«

»Also Sie wollen erst reden und fragen und bitten, ob Sie bei mir arbeiten dürfen? – Mann, wer hat Ihnen denn was zu sagen?« Mit Mühe zwang sich der Stauer zur Ruhe.

»Wir haben uns solidarisch erklärt, da muß der einzelne sich fügen.«

Nun war's vorbei mit der Geduld des Stauers:

»Meinetwegen brauchen Sie gar nicht erst nachzufragen. Donnerwetter noch einmal, glauben Sie, daß ich von Ihnen abhängig bin?! – Ihr sollt noch aus der Hand fressen lernen.«

Da sagte Hans Thordsen ganz ruhig: »Das wird sich zeigen, Herr Rettmann. – Und daß wir uns recht verstehen, Herr Rettmann, ich habe nichts gegen Sie und kann nichts gegen Sie haben, denn Sie sind ein reeller Mann und lassen Ihre Leute was verdienen. Es ist nur wegen der Sache. Ich kann nicht anders handeln, als beschlossen ist. Täte ich es, so wäre ich ein Lump. Ich bin aber ein ehrlicher Kerl und will es bleiben.«

»Hier haben Sie Ihr Geld, Thordsen!«

»Danke, Herr Rettmann!« Er blickte ihn an mit seinen ehrlichen Augen, als wollte er noch etwas sagen; der Stauer aber schlug ärgerlich den Pultdeckel zu und winkte kurz mit der Hand. Er war entlassen. Als sich die Tür hinter der breitschultrigen Gestalt geschlossen hatte und sein schwerer, noch immer etwas schleppender Schritt auf dem Hausflur verklang, da brummte der Stauer halblaut vor sich hin: »Schade um den Kerl! – Dem haben sie den Kopf verkeilt.«

Von diesem Augenblick an war Hans Thordsen fest entschlossen, sein möglichstes zu tun, den Sieg an die Fahnen der Hafenarbeiter zu heften. Am Abend dieses Tages wohnte er einer Versammlung der Ewerführer bei. Als die Stimmung zuerst hin und her schwankte, wie die Wogen der Elbe zwischen Ebbe und Flut, da war es ein Mann der Arbeit, kein geschulter Redner, der ihr die Wege wies. Hans Thordsen fing in etwas schwerfälliger Sprache an, es den Leuten klar zu machen, daß nur Einigkeit zum Ziele führen könne, daß daher nun alle Hafenarbeiter in den Streik eintreten müßten. Seine Worte machten Eindruck, denn man merkte es, daß sie von fester Überzeugung und ehrlichem Willen getragen wurden. Allmählich gewann die Sprache auch Sicherheit im Ausdruck, zum Schluß lohte die innere Glut durch und zündete. »Gestern abend ist der Würfel gefallen«, rief er mit starker Stimme über die Menschenmenge hinweg. »Gestern um diese Zeit konnten wir uns noch streiten über das, was getan werden sollte. Ich selbst wollte weiterarbeiten. Die Abstimmung hat aber den Streik beschlossen. Nun gibt es kein Zurück. Nun gibt es für uns nur eins: alle Kräfte müssen wir einsetzen, daß wir siegen. Wir werden aber nur dann siegen, wenn wir einig sind. Nun gibt es keine weißen oder schwarzen Schauerleute, keine Ewerführer, keine Kohlenjumper oder Kornakkordarbeiter mehr, nun gibt es nur Hafenarbeiter. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit schweißt uns zusammen, das nennt man Solidarität. Gemeinsam vom ersten bis zum letzten, vom jüngsten bis zum ältesten müssen wir eintreten in den Streik der Kai- und Hafenarbeiter. Einzeln fallen wir, geeint stehen wir. Haltet fest zusammen, dann werden wir siegen! – Brüder – –«, lebhafter Beifall unterbrach seine Rede. Er hatte genug gesagt und wollte zurücktreten, da legte sich der Lärm, rasch trat er wieder einen Schritt vor und rief, daß es bis in die entferntesten Saalecken hallte: »Brüder! Nur Einigkeit macht stark. Beschließt heute abend den Streik!«

Es wurde abgestimmt. Fast alle Hände erhoben sich.

Als Hans Thordsen den Saal verließ und durch die Vorhalle schritt, hörte er dicht neben sich eine rauhe Männerstimme: »Du, Hein, dat is he!«

Und dann rief ein anderer von hinten: »De anner mit de witten Beffchen, weest du, de se von Berlin herschickt hemm, de kunn bannig schnacken, awer düsse Mann hier, dat's een von de Waterkant, de weet, wie uns to Mood is. Dat's en fixen Kerl!«

Das Lob beschämte ihn. Im dichten Menschenstrom schob er sich durch die Türöffnung, da trat hinter den breiten Treppensäulen eine weibliche Gestalt hervor und folgte ihm. Er war schon eine Strecke weit gegangen, als er hinter sich eine Stimme hörte: »Bravo, Hans Thordsen!« Er sah sich um. Unter einem grauen, um den Kopf geschlagenen Tuch blitzten die Augen des Birkfuchs hervor. Es war wieder das grelle Flackern, das sich bei ihr zeigte, wenn der Funke des Hasses, der in früher Jugend ihr ins Herz gelegt war, neuen Zündstoff erhalten hatte. Das war eine andere Glut, als er sie im Herzen trug und im Herzen seiner Kameraden entfachen wollte. Er hatte die besten Regungen im Menschenherzen wachrufen wollen, das Gefühl der Brüderlichkeit und Treue, und dafür zollte ihm nun der Haß Beifall?! –

»Was geht dich diese Sache an!« sagte er kurz und scharf. »Was hast du überhaupt hier zu tun? – Das sind Sachen, die Männer angehen.«

»So? Haben nur die Männer das Recht, sich gegen das Unrecht aufzulehnen?« – Sie ging jetzt dicht neben ihm, einen halben Schritt zurück. Daß er sich nicht umsah und sie so kurz abfertigte, trieb ihr das Blut in die Wangen. »Nur weil so viele Männer Weiber sind, lassen sie sich knechten. Und wenn in diesem Kampf, in den auch dein Wort sie getrieben, ihre Frauen nicht mutig mitkämpfen, dann bleiben sie Knechte; darum muß in den Herzen der Weiber der Haß angefacht werden.«

Sie waren zusammen mit dem Menschenstrom weitergegangen und wandten sich nun der stilleren Gegend am Holstentor und dem Heiligengeistfeld zu. Hans Thordsen antwortete nicht gleich; mißtönend, wie eine zersprungene Glocke, klang ihm ihre Rede.

»Was meinst du wohl, Hans Thordsen«, fing sie nach einer Weile wieder an, »wenn die Leute, die heute die Unterdrückten sind, sich ihrer Macht bewußt werden? – Wenn sie dächten wie ich, obwohl ich nur ein Weib bin?«

»Na, und dann?«

»Dann würde nicht so lange und schön geredet. Dann würde nicht gebeten und gebettelt, dann nähmen sich die Leute, was sie brauchten. Zwanzigtausend Mann, das ist eine Macht!«

»Unsinn!« sagte Hans Thordsen. »Wenigstens so, wie du es meinst.«

Ja, ich weiß es, daß es Unsinn ist«, erwiderte sie darauf ganz ruhig; aber höhnisch und schneidend klang es. »Weil diese Männer zu feige sind, sich ihr Recht mit der Faust zu nehmen, darum bleiben sie Sklaven. Abends im Wirtshaus, da gibt der Fusel ihnen große Worte. Nachher spielen sie zu Hause den Tyrannen. Weiber und Kinder müssen es entgelten. Dann haben sie Mut, sonst aber – –.«

»Hast du deinen Vater dort gesehen?« unterbrach er sie. »Dann begreife ich deine Erregung.«

»Der geht mir vorsichtig aus dem Wege, seit ich ihm voriges Jahr meine Meinung gesagt habe. Es steht ja allerdings geschrieben: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren«, aber der erste Teil gilt nicht für mich. Er weiß Bescheid.«

»Sei doch nicht so bitter und verbissen.« Er dachte an ihre unglückliche Kinderzeit und all ihr Kämpfen und Ringen.

»Wie kann ich anders sein?« – Ihre Stimme klang nicht mehr so herausfordernd. »Von Kindheit an bin ich den Menschen ein recht- und ehrloses Geschöpf gewesen, das man verachtete und beschimpfte, schlug und quälte. Wie sollte ich da etwas anderes lernen als Trotz. Mein Vater war ein Tagedieb und ist auch heute noch nichts Besseres. Unsere Nachbarn waren Landstreicher und Spitzbuben oder etwas Schlechteres. Wenn meine Mutter nicht gewesen wäre, so wäre auch ich diesen Weg gegangen. Weil sie die einzige auf der Welt war, von der ich Liebe erfuhr, habe ich ihr das wieder vergolten. Ihr zuliebe wollte ich fleißig und ordentlich sein, für sie habe ich gebettelt und Schmach erduldet. Und daß ich wildes Blut in den Adern hatte, das war mein Glück! Ich habe es früh lernen müssen, mich gegen die Gewalt und die Schlechtigkeit der Menschen zu wehren. Da mußte ich wohl ein Birkfuchs werden – wie sie ja sagen – sonst wäre ich etwas Schlimmeres geworden.«

»Darin magst du freilich recht haben«, sagte Hans Thordsen.

»So? – Kannst du das einsehen?« – In ihre Worte floß neue Bitterkeit. »Du bist freilich in einer anderen Luft aufgewachsen. – Wie habe ich als Kind die ehrlichen und geachteten Leute beneidet, die ruhig ihre Straße gehen konnten, ohne verhöhnt und geschlagen zu werden. – Ich weiß noch ganz genau, wie damals, vor deiner Konfirmation, in der Schule der alte Lorenzen dich fragte: »Hans Thordsen, was willst du werden?« Da sagtest du stolz: »Ich will zur See!« – Und alle sahen voll Bewunderung dich an. – Ich dachte in diesem Augenblick: Wie glücklich ist der Junge. Und dann: Warum mußt denn gerade du so verachtet sein? – Siehst du, Hans Thordsen, mit dem Gefühl schleppte ich mich immer herum. Ist es da ein Wunder, wenn so ein armer Mensch verbittert wird?!« –

Hans Thordsen sah bei diesen Worten wieder den Birkfuchs als kleines, barbeiniges Mädchen, wie es mit Nägeln und Zähnen der rohen Angreifer sich erwehrte. Aber auch Schnarstruphof sah er vor sich und gedachte der Zeit, wo sie ihn schnöde abgewiesen hatte, weil sie eitle Hoffnungen hegte. – »Man muß auch nicht alle Schuld von sich abwälzen«, sagte er, und sie wußte, was er meinte. Sie fuhr aber nicht auf in raschem Zorn, wie er erwartet hatte, sondern ging still neben ihm her. Auch Hans Thordsen sagte kein Wort weiter.

Als sie bei der Hafenstraße waren, wo sich ihre Wege trennten, wollte er ihr mit kurzem Gruß die Hand geben und dann weiter gehen. Sie hielt aber seine Hand fest und mit ganz anderer Stimme als vorhin sagte sie: »Wenn irgend ein Mensch recht hat, mich an eine eigene Schuld zu erinnern, so bist du das, Hans Thordsen. – Du weißt, warum, und ich weiß es auch. Aber das ist jetzt zu spät! – Geschehenes kann man nicht ändern.«

»Reden wir also auch nicht darüber«, sagte er und wollte gehen, sie aber fuhr fort:

»Ich habe mich nie entschuldigt. Ich war blind, weil ich ihn liebte. Und ich hoffte, daß auch er mich lieb habe, so lieb, wie er es mir versicherte. Das hatte er nicht, denn sonst hätte er seinem Vater die Wahrheit gesagt und ihm Widerstand geleistet.«

»Blind bist du jedenfalls gewesen«, bestätigte er, »denn sonst hättest du wissen müssen, daß ein Angeliter Bauer niemals eine – – eine Tagelöhnertochter nimmt.« Es war ihm schwer, die rechte Bezeichnung zu finden. Sie merkte es und setzte hinzu: »Und die war ich auch nicht einmal. Meine roten Haare waren euch allen ein Zeichen der Schande, die sich forterbte. Ich stammte von hergelaufenen Leuten ab. Meiner Mutter konnte keiner was Schlechtes nachsagen, aber ihrer Mutter Großmutter sollte eine leichtfertige Person gewesen sein. Und daß mein Vater ein schlechter Kerl war, dafür habe ich büßen müssen. Ich weiß das alles ganz genau, Hans Thordsen. Ich weiß, daß ich blind war, als ich das alles übersah. Aber Peter Ottsen wußte das auch. Er war nicht blind, er war schlecht!«

»Weißt du das so gewiß, Meta?«

Sie zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann sagte sie: »Vielleicht gab es auch Stunden, wo auch er blind war, denn so schlecht, wie ich früher immer dachte, kann er nicht sein – – Und doch!« In ihren Augen flammte es auf. »Er hat mich schmählich verraten, er hat – –«

»Ruhig, Meta! – Wer weiß, vielleicht hat auch ihm das manche schwere Stunde gemacht. Du bist in der Birkkate zur Welt gekommen und wurdest – wie du bist. Er wurde in Schnarstruphof geboren und sog mit der Muttermilch den Bauernstolz ein. Weißt du denn auch noch, was er damals in der Schule rief, als Lorenzen sagte: »Peter Ottsen, was willst du werden?« – »Hofbesitzer!« rief er. – Was waren wir dagegen? – Nichts! – Es tut nicht gut, wenn man schon etwas ist, bevor man es geworden ist. Der Stolz, der mit dem Menschen aufwächst, ist der gefährlichste! – Das alles solltest du bedenken, Meta, wenn du seine Schuld gegen deine abwägst.« – Er wartete auf Antwort, aber sie erwiderte nichts darauf. Erst als er ging und er ihr zum Abschied nochmals die Hand reichte, sagte sie: »Du aber bist gewachsen heute abend, Hans Thordsen. Du bist ein Mann geworden!«

»Gewachsen bin ich nicht erst heute«, erwiderte er bedächtig. »Gewachsen bin ich, als ich glaubte, ich sei aus dem Mutterboden herausgerissen und zum toten Holz geworden. Mich hat das Unglück zum Nachdenken gebracht. Damals am Falshöfter Strand, als die Leute über mich hinwegsahen, bin ich gewachsen. Aber ich war zu schwerfällig. Ich mußte getrieben werden. Heute bin ich herausgetreten. Da sah man mich.«

»Du bist ein rechter Sohn deiner Heimat, Hans Thordsen.« Ein freundlicher Sonnenstrahl blitzte jetzt aus ihren Augen.

»Wie denn?«

»Eure Vorfahren sind in Wald und Busch und zwischen den Knicks groß geworden. Wer da seinen Weg geht, der sieht nur eine kurze Strecke vor sich. Um die nächste Biegung kann ein Feind kommen, hinter den Büschen kann ein Laurer stehen. Da habt ihr Vorsicht und kluge Bedächtigkeit gelernt! – Aber wer zu vorsichtig ist und sich zu wenig zutraut, der verpaßt die Zeit. So schnappte euch die Keckheit manches weg, was ihr durch zähe Hartnäckigkeit erobern wolltet. Dir ist es auch schon so gegangen, Hans Thordsen. Nachher war es zu spät, da war das Glück vorbeigeritten, oder – – es war in den Schmutz gefallen, und war verdorben. – – Gute Nacht.« – Rasch ging sie fort und war im nächsten Augenblick im Halbdunkel des Hofes verschwunden.

Nachdenklich ging Hans Thordsen nach Hause. Er dachte an den Abend auf Schottlands Bergen und an das Mädchen, das an seiner Seite gestanden hatte. War dort das Glück an ihm vorbeigeritten? – Oder war schon früher sein Glück in den Schlamm getreten, weil er nicht rasch und mit fester Hand zugegriffen hatte? – – –


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