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* * *

 

Die beiden nächsten Tage gabs viel zu tun an Bord, am dritten Tage sollten sie um 10 Uhr vormittags im Seemannshause abmustern. Da bekamen die Mannschaften vom »Pompejus« eine hübsche Handvoll Geld, denn sie hatten eine lange Reise hinter sich.

Hans Thordsen hatte seine Sachen nach dem Seemannshause schaffen lassen, Thetje Fein wohnte natürlich bei Mutter Tostedt. »Mensch, nun sind wir frei!« rief er aus, als er den Berg hinabstieg und seine Schritte nach der Erichstraße lenkte.

»Wie lange?« fragte etwas spöttisch sein Begleiter.

»Bis das Geld alle ist!« war die prompte Antwort. Bald trennten sie sich. Hans Thordsen hatte »was vor«, wie er sagte. Sein Freund kniff das eine Auge zu, grinste ihn vertraulich an, schlug ihn auf die Schulter und rief:

»Du bist so'n Heimlicher, Hans Thordsen, ich glaube, du hast dich an die feine Rothaarige herangemacht?!«

Der wehrte lachend ab und ging seiner Wege.

Wo wollte er eigentlich hin? Er wußte es selber nicht. Die Freiheit wollte er erst mal genießen, ein paar Tage in Hamburg bleiben und dann die alte Heimat wieder besuchen. Er schlenderte die Langereihe auf und nieder, dann ging er nach Altona zu. Einmal kam ihm in den Sinn, Meta Norgaardt aufzusuchen. Er konnte sich ja ein Gewerbe machen, konnte sie fragen, ob sie nicht an irgend jemand in der Heimat etwas zu bestellen habe; kein anderer sollte ein Sterbenswörtchen davon erfahren. – Er hat wohl Lust, sie einmal bei Tageslicht zu sehen. – Gleich darauf sagte er sich aber: »Was geht dich der Birkfuchs an?!« – Er blieb am Nobistor stehen, schlug sich diese Gedanken aus dem Kopf und stieg bedächtigen Schrittes die Stufen hinab in Peter Moyes berühmten Grogkeller.

Es waren wenige Gäste da. Ein Mann mit langem Haar und hageren Zügen saß in einer Ecke, er musterte mit unstetem Blick den Eintretenden. Zwei Handwerker würfelten um Grog. Ein alter Mann stierte starr vor sich hin; als er ein Glas Kognak bestellte, zog er scheu seinen Geldbeutel und zählte heimlich den spärlichen Inhalt. Hans Thordsen rührte bedächtig mit der Glasstange im Grogglase, bis der Zucker aufgelöst war, dann schlürfte er langsam das heiße und starke Getränk.

Als er so dasaß, kam über ihn das Gefühl der selbstzufriedenen Behaglichkeit. Er war ein freier Mann und hatte Geld in der Tasche. – Der Dampf, der aus dem zweiten Glase aufkräuselte, malte ihm lustige Bilder vor. Auf dem Platz vor der Geltinger Kirche stand er, die Männer schüttelten ihm die Hand, die Frauen und Mädchen nickten ihm freundlich zu. Da kam Peter Ottsen angefahren. Als er an den dachte, stieg noch ein Bild aus dem Glase auf, das war Meta, so wie er sie auf Schnarstruphof gesehen hatte. – Wie freundlich besorgt war sie um ihn gewesen, als er schwach und hilflos auf seinem Leidenslager um sein Leben rang. Damals war ihr Bild durch seine lichten Träume geflossen.

Aber das Bild war dann in den Schmutz getreten. Das hatte Peter getan; mit ihm wollte er noch abrechnen. – Er selbst hatte Meta doch gewarnt! Nun litt sie ihre Strafe dafür, denn daß sie schwer an ihrer Schande trug, das hatte er ihr trotz aller stolzen Worte und hochfliegenden Pläne nur zu gut angemerkt. Die beiden finsteren Falten zwischen den Augenbrauen hatten ihm mehr davon verraten, als die widerstrebenden Lippen. Man merkte es, daß sie sich ihrer jetzigen Stellung schämte! Würde sie ihn sonst gebeten haben, darüber zu schweigen? Er wußte, wie schwer dem trotzigen Birkfuchs das Bitten wurde! – Als er daran dachte, kam wieder die Lust, das Gespräch von gestern fortzusetzen. Aus dem Glase stieg sie ihm ins Blut, keine nüchterne Erwägung konnte sie zurückdrängen. Auge in Auge wollte er vor ihr stehen. Er wußte wohl, was er dann sagen wollte. Wenn sie die weißen Zähne auch zornig zusammenbiß, die roten Lippen sollten doch freundliche Worte reden. – –

In der Trommelstraße führt ein schmaler Zugang zwischen zwei hohen Häusern entlang in einen Hof. »Meyers Wohnungen« steht über dem Bogen des Eingangs. Geht man hindurch, so findet man rechts und links graue Wände emporragen. Vor den kleinscheibigen Fenstern flattert Wäsche, man sieht Kinderhöschen, Schürzen und Bettücher von zweifelhafter Farbe und allerlei Buntzeug. Schmutzige Kinder lärmen umher, in den Türen stehen schwatzende Weiber, es riecht nach gebratenem Speck und Armut.

An einer der engen Türen ist ein Messingschild angeschraubt, es ist voller Grünspan, aber man kann doch noch den Namen lesen: »August Schwarze, Schlosser« steht darauf. Eine ausgetretene Treppe führt nach oben, sie verliert sich ins Dunkel. Man muß schon das blankgeschlissene Tau in die Hand nehmen, das die Stelle eines Geländers vertritt, wenn man den Weg nach oben finden will. Suchend tastet der Fuß von Stufe zu Stufe. Wer hier nicht Bescheid weiß oder keine Streichhölzer anzuzünden hat, der kann lange suchen, ehe er einen Türdrücker findet.

Dem Manne, der langsam und vorsichtig die Treppe hinaufstolperte, fehlte das, er suchte und klopfte hier und da; eine Tür wurde aufgerissen, und eine Weiberstimme schrie: »Wer ist denn das? Was wollen Sie?«

»Entschuldigen Sie, wohnt Meta Norgaardt hier?«

»Wer?«

»Eine Sängerin sollte das sein.« Hans Thordsen wählte diese Form der Anfrage, weil sie einen gewissen Abstand andeutet. Das Weib, dem die grauen Haare ungekämmt um den Kopf flatterten, stemmte beide Arme in die Seiten und schaute den Fragesteller mit höhnischem Lachen an.

»Soll es sein? Sie werden schon wissen, wo Sie hinwollen, junger Mann. Man nicht so schüchtern!«

»Es ist eine Jugendbekannte von mir«, sagte er etwas kurz. »Wohnt sie denn nicht hier?«

»Meinen Sie die Rote?«

»Ja, rotes Haar hat sie.«

»So?! – Na, da müssen Sie sich schon etwas weiter bemühen, Herr Kapitän, die wohnt hier gegenüber. Wünsche Ihnen viel Glück, junger Mann!«

Sie lachte aus vollem Halse und schlug die Tür zu.

Der Weg hinunter war nicht besser als der Aufstieg. Hans Thordsen hielt aber das Tau fest und kam heil unten an. Unschlüssig stand er einen Augenblick vor der Tür und schaute umher. Da hörte er hoch oben ein Fenster aufgehen; als er hinaufblickte, sah er wieder den grauen Frauenkopf, und zwischen den engen Wänden schallte es herunter: »Dort drüben, junger Mann, die Tür, die halb offen steht, da ist es. Da gehen Sie nur hinein. Vier Treppen hoch! Das gnädige Fräulein wird sich sehr freuen! – Immer herein, junger Mann!«

Die letzten Worte hörte er kaum noch. Eilig entfernte er sich; er wollte nicht belauert werden. An der Hamburger Grenze blieb er jedoch stehen und sah sich um; langsam schritt er dann den Weg zurück. – Sollte er sich bange machen lassen? – Er blieb eine Weile unschlüssig vor dem Eingang stehen. – Die Kinder lärmten drinnen auf dem Hof, sonst war niemand zu sehen. – –

In einer kleinen Küche, dicht unterm Dach eines der Häuser da drinnen, stand Meta Norgaardt und wusch Kinderkleider. Der kleine Kerl, dem sie gehörten, saß auf der Diele und spielte mit Garnröllchen, die mit Bindfaden zu einer Wagenreihe verbunden waren. Er ging etwas ungeschickt mit seinem Fuhrwerk um und auch mit seinem hagern Körperchen. Wer ihm ins Gesicht schaute, bemerkte bald, woran das lag. Ein blödes Lächeln lag auf den schlaffen Zügen, und der zu große Kopf ruhte schwer auf den dürren, schmächtigen Gliedern. Die Augen blickten verständnislos, nur wenn ihm die Mutter freundlich zurief, flog ein Fünkchen Leben und Freude über das ältliche, faltige Gesicht. Und sie sah oft zu ihm hin, die Mutter; nickte ihm zu und gab ihm allerlei Schmeichelnamen. Als er einmal umgefallen war und jämmerlich weinte, ließ sie die Arbeit liegen, hob ihn auf, herzte und küßte ihn und sang ihm dann zur Beruhigung ein schönes Lied vor. Der Kleine aber packte mit beiden Händen in ihr goldiges, krauses Haar, lallte »Mama, Mama!« und drückte den Kopf an ihre Brust.

»Der Junge hat es nicht ganz richtig«, sagten die Nachbarn. Aber sie sagten das nur, wenn die Mutter es nicht hörte. War sie dabei, dann hieß es: »Heute sieht Klein-Peter besser aus, er kömmt sich wohl noch!« Dann freute sich das junge Weib. Das liebende Mutterauge ließ sich gerne täuschen, ihr Herz schöpfte neue Hoffnung.

Sie setzte das Kind wieder auf die Decke am Fußboden, gab ihm den Rollenwagen in die ungeschickte Hand und wusch weiter. – Da klopfte es an die Tür. Gleich darauf trat ein Mann ins Zimmer; ein großer, breitschultriger Mensch im blauen Seemannszeug; er mußte sich bücken, als er durch die niedrige Türöffnung schritt. Die Wäscherin starrte ihn sprachlos an, dann rief sie laut und unwillig: »Was willst du hier, Hans Thordsen?«

Er blieb auf der Schwelle stehen und behielt die Türklinke in der Hand; auf einen solchen Anblick war er nicht gefaßt. Die schöne Sängerin stand in schlechtem Hauskleide, mit aufgekrempelten Ärmeln und losem Haar an der Waschbütte, und das war wahrscheinlich ihr Kind. – Als er beim Grog saß, wußte er, was er sagen wollte. Aber diese scharfe Anrede wirkte wie ein Wasserguß, seine Gedanken stockten. Nur mühsam kam er damit heraus: »Ich wollte dich noch um etwas fragen, Meta.« – »Du mich? Was denn? Mach' mal erst die Tür zu!« Dann trat sie erregt an ihn heran und fragte noch einmal: »Was willst du von mir, Hans Thordsen?«

Er schaute in ihre blitzenden Augen. Sie war glühend rot geworden. Er sah, wie die krause, rote Glut um den weißen Hals sich ringelte und wie der Busen unter der leichten, zurückgeschlagenen Bluse sich hob und senkte. – Die schöne Einleitung aber, die er anbringen wollte, paßte nicht hierher; er kam ziemlich ungeschickt damit heraus: »Ich wollte dich mal fragen, Meta, ob ich nicht mit Peter Ottsen sprechen soll, daß er – daß er – Geld schickt zu deiner Ausbildung.«

Sie zuckte zusammen, wie früher, wenn ihre boshaften Peiniger ihr einen Schimpf angetan hatten, sie zog die Lippen zwischen die Zähne und starrte sekundenlang den Seemann an. Er wich mit unsicherem Auge dem Blick aus, denn in diesem Augenblick fühlte er nichts mehr von der Überlegenheit und der prickelnden Lust, die im Keller so schön gediehen waren und ihn hierher gebracht hatten.

Sie faßte sich bald. Kurz und höhnisch lachte sie auf, dann beugte sie sich vor und sagte im Flüsterton, scharf zwischen den Zähnen hindurch: »Du Narr! Glaubst du, er kann das mit Geld gutmachen, was er an mir verbrochen hat?!«

»Das nicht. Das will ich nicht damit sagen«, suchte er einzulenken.

»Ruhig! Die Leute horchen an der Tür und sie sollen es nicht wissen.« Sie flüsterte ihm das halblaut ins Ohr und hob sich dabei auf die Zehen. Ihr warmer Atem streifte sein Gesicht, er haschte nach ihrer Hand:

»Meta, ich wollte dir ja nicht wehe damit tun. Ich wollte dir doch bloß helfen.«

»Helfen? Mir kann keiner von euch helfen! Ich selbst muß mir helfen, ich will und ich muß hindurch. – Und wenn ich mit meinem Kind« – sie deutete auf den Kleinen, der sich an einem Stuhlbein aufgerichtet hatte und blöde herblickte – »und wenn ich mit seinem Kind verhungern sollte, von ihm nehme ich nichts! Keinen roten Dreiling!« Sie horchte auf, nichts war im Nebenzimmer laut. Dann nahm sie ihr Kind auf den Arm und trat nahe an ihn heran. »Da du nun doch mal hier bist, so will ich dir noch etwas sagen.« Es war, als ob der oft zurückgedrängte Haß gewaltsam durchbrach: »Manche Nacht liege ich und grüble mir allerlei zurecht. Weißt du, was ich möchte und wofür ich alles, was ich habe, hingeben wollte? Auch mein Leben und meine Seligkeit – alles!« Die Falten zwischen den Augenbrauen zogen sich dicht zusammen, ihre Augen funkelten und ihre Hände ballten sich. »Ich möchte reich, angesehen und schön sein, und dann möchte ich ihn zu meinen Füßen sehen: arm und krank, verachtet und elend. Und dann – dann will ich ihm ins Gesicht schlagen und ihm sagen: Du hast mich belogen und betrogen. Du hast mich ehrlos gemacht, und dann hast du mich wie einen räudigen Hund von dir gestoßen! Nun liegst du selbst im Schmutz, in den du mich hineintreten wolltest. Ich könnte dir jetzt die Hand reichen, Peter Ottsen, und dich herausziehen. Aber ich will nicht! Nein, ich will dich noch tiefer hineintreten, daß Schande und Schmach über dich zusammenschlagen. Ich will – –« Immer erregter hatte sie gesprochen.

»Ruhig!« mahnte Hans Thordsen. »Sie horchen ja an der Tür!« Da brach sie mitten in ihren Verwünschungen und Racheplänen ab und schien sich zu besinnen. Ein Zittern ging durch ihren Körper; mit krampfhaftem Aufschluchzen sank sie auf einen Stuhl. Dabei preßte sie das Kind an ihre Brust, daß es aufschrie. Das gebrechliche Geschöpflein war ja das einzige menschliche Wesen auf der weiten, weiten Welt, das mit Liebe an ihr hing, und dem sie Liebe geben durfte. Sein Vater aber hatte ihr Ehre und alles geraubt.

»Was stehst du noch hier?« sagte sie nach einer Weile zu dem Besucher. – Ja was wollte er noch? – Er fühlte Mitleid, herzliches Mitleid mit dem armen, verachteten Geschöpf, das wie Unkraut auf dem Acker aufgewachsen war, jedem zur Willkür in die Hand gegeben.

»Kann ich dir helfen, Meta?« fragte er, dieser plötzlichen Eingebung folgend. »Viel habe ich nicht, aber vielleicht langt es doch für einige Zeit, und dann – –«

Sie sah ihn an und las in seinen ehrlichen Augen, daß es ihm Ernst war mit seinem Anerbieten. Sie wußte auch, daß er ihr den Aufstieg nach oben, den sie im Sinne hatte, erleichtern konnte, und doch schüttelte sie den Kopf. »Ich muß meinen Weg alleine gehen, Hans!« sagte sie. »Aber du sollst mir nochmals versprechen, daß du von allem diesen, was du gehört hast, nichts zu Hause sagen willst. Nichts! hörst du?«

Er gab ihr die Hand, sie hielt sie fest. Keiner sprach ein Wort.

Nach einer kleinen Weile, als sie ruhiger geworden war, fuhr sie in leisem Tone fort: »Du glaubst gewiß, mit mir ist es nicht ganz richtig, daß ich so redete. Ich bin immer noch so wie früher. Ich kann mich selbst nicht bändigen.« Sie sah eine Weile still vor sich hin: »Du denkst, ich sei nicht recht klug«, sagte sie dann traurig. »Ich rede hier von Glanz und Reichtum und dabei muß ich jeden Tag auf jeden Schritt sehen, daß ich nicht im Morast umkomme.«

»Sieh dich vor, Meta! Fang' lieber etwas anderes an als dies, ich will dir ja doch helfen.« Er sagte das so eindringlich, daß sie einen Augenblick mit der Antwort zögerte. »Du hast, als ich krank war, ja auch für mich getan, was du konntest, nun laß mich etwas zurückbezahlen, ich kann es ja, drängte er.«

»Nein!« sagte sie, »ich will nicht, ich brauche es auch nicht, es geht auch so. Lege dein Geld lieber auf die Geltinger Sparkasse, da ist es sicherer.« – Er stand ärgerlich auf. Da faßte sie seine Hand und hielt sie fest. »Sei nicht böse, ich habe es mir nun mal in den Kopf gesetzt und setze es auch durch. – Weißt du, schon als Kind habe ich davon geträumt, daß ich einmal eine berühmte Sängerin werden wollte. Meine Mutter hat mir früher davon erzählt, daß ihre Großmutter einmal in Kopenhagen vor dem dänischen König gesungen habe, und der habe ihr einen prachtvollen goldenen Ring geschenkt. Der ganze Hof habe ihr zugejubelt. Sie soll das Geld mit vollen Händen weggegeben haben. Nachher hatte sie nichts, war krank und verbittert. Meine Mutter hat als kleines Kind ihr Bild gesehen, sie sagte, ich sähe ihr sehr ähnlich. Sie hat auch rotes Haar und dunkle Augen gehabt, und die Augenbrauen seien auch so dicht zusammen gewesen wie meine.« Meta Norgaardt stand auf, über ihre Züge flog ein freundlicher Schein, als sie fortfuhr:

»Als Kind lag ich so gern im weichen Strandgras zwischen dem grünen Eichengestrüpp auf der Birk. Die Büsche waren so dicht, daß mich niemand finden konnte. Da lag ich stundenlang ganz allein mit meinen Gedanken. Ich blickte hinauf in den blauen Himmel und sah in den weißen Wolken, die herüberzogen, Wunderdinge. Da war alles, von dem Mutter mir erzählt hatte: Feen und Geister, Ritter und Edelfrauen. Ich horchte auf die leisen Töne des Windes, der mit den Blättern und Zweigen spielte, und auf die tiefen Stimmen, die vom Strande herübertönten, wenn die Wellen entlang rollten. Das alles deutete ich mir auf meine eigene Weise zurecht. Ich träumte davon, daß ich einmal groß und schön sein werde und dann reisen könnte, weit fort von dem armen Flecken Erde dort, hinaus in die große, herrliche Welt. Dann sang ich mit dem Winde um die Wette und erfand Melodien, die mir herrlich klangen. Die wollte ich singen, wenn ich später einmal als armes, schlecht gekleidetes Mädchen in die große, fremde Stadt gekommen sei. Dann würde man horchen und staunen, und ich wollte immer schöner singen! – Von Samt und Seide träumte ich, von goldenen Wagen und prächtigen Zimmern.«

Meta Norgaarts Augen leuchteten, als sie mit leisen, sich überstürzenden Worten von dem Sonnenblick erzählte, den Träume und Hoffen in das graue Kinderdasein gesenkt hatten. – Dann aber flog gleich wieder ein Schatten darüber hin; ihre Stimme klang traurig und hart, als sie sagte: »Und nun stehe ich hier in einer engen, schmutzigen Küche und wasche ärmliche Kinderkleider. Nur am Abend komme ich hinaus und blinzle in das Licht. Ich trage aber nur Flittergold und geborgte Pracht. Um mich herum ist der gleiche Schmutz und Schlamm, den ich von Kind an kenne; nur bunte Lappen sind darüber gelegt, daß er von außen nicht so widerlich aussieht.«

»Meta«, sagte Hans Thordsen und sah ihr in die Augen, »wer da hindurch geht, der macht sich die Füße schmutzig. Mancher sinkt hinein und kommt nicht wieder heraus. Ich habe mich in der Welt genug umgesehen, weiter als du. Geh' nicht da hindurch!«

»Ich sinke nicht, ich will nicht sinken! Ich will höher hinauf. Warum soll ich denn versinken? Von klein auf bin ich gewohnt, mich zu wehren. Nur einmal ließ ich mich täuschen, weil ich töricht war, und ihm vertraute. – Das ist nun anders! Hier sehe ich jeden Abend, was unter der schönen Decke steckt. Wenn sie angetrunken sind, so fällt die Hülle ab, dann kommt die Gemeinheit zum Vorschein. Kein Hund ist so aufdringlich und so schamlos, wie mancher dieser Gesellen, die sich an unsereinen herandrängen. Sie meinen, sie können alles für Geld haben, es komme nur darauf an, was sie zahlen wollen. Der Wein ist dabei ihr bester Helfer, den haben sie gleich zur Hand. Sie wissen auch warum. – Mich widert's an, wenn ich ihre lüsternen Augen sehe und ihre frechen Reden höre. Nein, Hans Thordsen, für Champagner und Geld bin ich nicht zu haben. Halte mich nicht für schwächer oder schlechter als ich bin. Ich habe auch meinen Stolz.

»Ich halte dich nicht für schlecht!«

»Aber für leichtsinnig, hast du gesagt.«

»Meta, ich will –«

»Nichts, Hans Thordsen! Du mußt jetzt gehen!«

»Kann ich denn gar nichts für dich tun?«

»Ja! Schweige und schreibe mir ein paar Worte, wie es – wie es bei Peter Ottsen aussieht.« – Er sah sie fragend an. »Ich hörte, er wirtschaftet schlecht. Bei ihm geht's rückwärts! Vielleicht – – –«

»Da ist noch viel Geld«, warf er ein.

»Das weiß ich. Aber das kann doch vertan werden. Schreibe mir! Ich muß wissen, wie es steht. Gib den Brief aber erst in Kappeln auf die Post. Hab' Dank für deine gute Absicht. Leb' wohl!«

Sie reichte ihm die Hand und drückte sie.

Dann stolperte er wieder die steile, ausgetretene Treppe hinunter.

*

In Falshöft hielt sich Hans Thordsen diesmal nicht lange auf, die Menschen in der Heimat fingen an, ihm fremd zu werden. Aus den Jungen, die ihre Äpfel miteinander geteilt und sich geschneeballt hatten, waren Männer geworden, die durch Schranken voneinander getrennt wurden. Die einen waren Gutsbesitzer und Bauern, die anderen Knechte, Tagelöhner oder kleine Handwerker. Hans Thordsen hatte mehr gesehen und erlebt, als sie alle, daher war ihm der Gesichtskreis der »kleinen Leute« zu eng begrenzt; die Bauern aber sahen über ihn hinweg, denn er war kein seßhafter Mann, der etwas Eigenes besaß, und seine paar ersparten Taler zählten nicht mit. Nur bei Lorenzen, seinem Lehrer, fühlte er noch die alten Beziehungen. Da saß Hans Thordsen manche Stunde, trank Cichorienkaffee mit Kandiszucker, aß eigengebackenes Schwarzbrot dazu und erzählte von den Freuden und Leiden des Seemanns, von fremden Ländern und Sitten. Dort erfuhr er denn auch mancherlei, was sich inzwischen in der Heimat ereignet hatte. Von Peter Ottsens Torffabrik erzählte ihm Lorenzen ausführlich. »Der Torf wurde viel zu teuer«, schloß er diesen Bericht. »Wenn man Arbeitslohn und Fracht der Maschinen und alles rechnete, dann kostete er doppelt so viel, als wenn früher die Tagelöhner ihn machten. Nun steht der ganze Kram nutzlos da. Das ist 'ne schlimme Sache für Peter!« »Na, er kann's bezahlen«, meinte Hans Thordsen leichthin. »Sooo?« fragte langgedehnt der Lehrer. »Meinen Sie nicht, Herr Lorenzen?«

»Das zu beurteilen ist nicht meine Sache!« brach der kurz ab. Nach einer Weile sagte er aus seinen Gedanken heraus: »Ich fürchte, es steht schlimm.« Weiter war nichts aus ihm herauszuholen.

Hans Thordsen erkundigte sich auch noch bei anderen Leuten nach dieser Angelegenheit. Er bekam verschiedene Antworten: »Das kommt alles noch in Gang und dann verdient er viel Geld«, meinten einige wenige. »Das kann ihm das Genick brechen!« sagten andere. »Dor kümmt nimmer wat nah«, war das Urteil aller Einsichtigen. Er bekam auch sonst noch manches zu hören.

Als nämlich im Sommer auf der großen Koppel dicht hinter Schnarstruphof Rapssaat gedroschen wurde, ging es noch hoch her. Der alte Weber stand am Wall und blickte hinüber auf das Treiben. Im Galopp jagten die Knechte mit den »Slöpen« über die Stoppeln, sie holten die trockenen Bunde heran, die das weite Feld bedeckten, und warfen sie auf das in der Mitte ausgespannte große Segel, auf dem die alten Dreschflegel wieder zu Ehren kamen. Zehn Mann schwangen sie im Fünftakt und immer höher wurde der Berg des ausgedroschenen Strohes. Immer lauter wurde auch das Rufen und Singen, das Fluchen und Gröhlen der Leute, denn vom Hof wurde reichlich Braunbier und Schnaps geliefert. Daran ließ man es nicht fehlen beim Rapssaatdreschen!

Der lahme Matthies Schuster kam mit seinem Handwagen von der Mühle, er ließ das Fuhrwerk auf dem Fußsteig stehen und trat mit heran an das Heck.

»Da drüben auf der Koppel ist ja wohl der Deuwel los«, sagte er.

»Warum denn der Deuwel?«

»Peter Ottsen sein Vater hat oft genug gesagt, der Deuwel solle die ganze Wirtschaft holen, wenn ihm das Wetter oder sonst was nicht in den Kram paßte. Nu kommt er.«

»Laß den Alten in Ruh, er hat vielen Leuten Gutes getan.«

»Das hat er, Hans! Er war ein guter Kerl, nur wenn er ein Dutzend Glas Grog im Leibe hatte, war schlecht mit ihm auskommen. Dann bölkten ihm die Taler aus dem Halse, und unsereiner war ihm nicht mehr wert als der Dreck an seinen Holzschuhen.«

»Laß das ruhen, Matthies, dafür konnte er nicht. Das war bei ihm eine Krankheit, die kein Doktor heilen konnte. Er selbst hat am meisten darunter gelitten. Laß ihn ruhen.«

»Soll er auch! Laß ich auch! Aber wenn er auch tot ist, so ist doch nicht alles tot von Thomas Ottsen. Das erbt weiter.«

»Was erbt weiter?«

Matthias Schuster sprach leiser: »Du kennst doch die Geschichte mit dem Moor und dem Meineid – –«

»Ach, Unsinn!«

»Na, mit Peter geht's doch auch schon so. Er kriegt auch schon seine Touren, wie der Alte sie hatte. Das geht bis ins vierte Glied.« – – Der Weber schüttelte den Kopf. Matthies aber fuhr fort:

»Mit seiner Wirtschaft geht's rückwärts. Die Frau versteht gar nichts davon, aber sie gebraucht viel Geld, und ihm laufen die Taler auch fix durch die Finger. Und dann die Torffabrik! – Das ist schlimm.«

»Na, na, das kann noch alles werden«, meinte Hans Weber. »Und dann sieh dir mal drüben den Haufen Rapssaatstroh an; was da herausgekommen ist, trägt die Katze nicht auf dem Schwanz weg. Das Geld, das Peter in den nächsten Tagen für Rapssaat einnimmt, möchte ich wohl haben.«

»Ich nicht!«

»Du nicht?« – Der Weber lachte laut.

»Nein, ich nicht, denn er kriegt nichts mehr dafür, weil er das Geld schon längst weg hat; verbraucht wird es auch schon sein. Vielleicht, noch ehe er es hatte.«

»Du weißt ja genau Bescheid!«

»Das sagt hier jeder. Und wenn er so leicht Geld kriegen könnte, dann hätte er zu Mai wohl seine Knechte und Mädchen pünktlich bezahlt. Was sagst du denn dazu?«

Der Weber schwieg und sah nachdenklich nach Schnarstruphof hinüber. Hinter den hohen, schlanken Lindenstämmen der Allee leuchteten die weißgekalkten Wände der großen Scheunen hervor, und darüber lagen die breiten, grün bemoosten Strohdächer, die noch nicht einmal ausreichten, den reichen Erntesegen, den der Herbst brachte, aufzunehmen. Aber der Übermut war ins Herrenhaus hineingezogen. Peter Ottsen hatte mit den alten Bauernsitten aufgeräumt. Sie hatten weichen müssen; mit ihnen war aber auch der behäbige Bauernwohlstand ausgezogen, der so lange dort geherrscht hatte. Etwas protzig waren freilich auch die Alten gewesen: »Wenn des Rademachers Frau ein paar Pfund Speck brauchen kann, dann kann sie sich's holen lassen, wir haben genug.« So hatte die alte Frau Ottsen zehn Pfund Speck verschenkt. Oder der Alte hatte zum Tagelöhner Thomsen gesagt: »Du kannst dir gerne ein paar Tausend Torf auf meinem Moor streichen, wie voriges Jahr, aber ich verlange, daß du jedes Jahr vorher zu mir kommst und darum bittest. Verstanden?« – Das war die alte Bauernart gewesen.

Das war alles anders geworden. Peter Ottsen war nach unten hin knickerig, aber nach oben ging das Geld mit vollen Händen fort. In der Küche und der Meierei ging's »wie es best' konnte«, seit die Mutter auf der Abnahme saß und nicht mehr hineinreden durfte. Die junge Frau verstand nichts und konnte auch keine tüchtigen Wirtschafterinnen halten. Ein Kind war geboren, ein schwächliches und kümmerliches Ding, wie sie früher nie auf Schnarstruphof zur Welt gekommen waren. Eine Amme wurde beschafft, das war in der Gegend etwas Ungewöhnliches. Jede Mutter nährte selbst ihr Kind, und unter dem Dach dieses alten Bauern-Herrenhofes hatte noch jeder Säugling den Bauernstolz mit der Muttermilch eingesogen. Das neue Geschlecht hatte keine Kraft dazu in sich. Fremden Dienstleuten mußte man den Stammhalter von Schnarstruphof an die Brust legen. Die alte Frau Ottsen hatte auch selbst ihren Erstgeborenen in Schlaf gesummt und mit dem Fuß die Wiege bewegt, während die fleißigen Finger seine Strümpfchen strickten; nun mußte ein Kinderfräulein aus der Stadt dies besorgen. Die Mutter war nicht gleichgültig gegen ihr eigen Fleisch und Blut. Sie liebte ihr Kindchen zärtlich, aber all diese Pflichten und Arbeiten konnte sie doch nicht selbst übernehmen, dazu hatte man ja die Leute. –

Das alles und noch manches mehr erfuhr nun auch Hans Thordsen von Matthies Schuster, als er ihm ein paar Stiefel zum Besohlen brachte. Der Unglücksrabe schloß seine Erzählungen: »Der jetzt Herr hier ist, geht noch mal von Schnarstruphof auf hölzernen Toffeln, und was die gnädige Frau ist, die kann dann froh sein, wenn sie 'ne Stelle als Kinnerdeern kriegt. Das sag' ich. Aber sag' ja nichts nach, Hans Thordsen, denn sonst verliere ich die Arbeit am Hof.« – –

Am nächsten Tage erfuhr Hans Thordsen vom Lotsen Matthiesen, daß von Flensburg die Bark »Dronning Marie« in kürzester Zeit nach Glasgow aussegeln sollte, daß aber noch ein zweiter Steuermann fehle. Sofort telegraphierte er nach Hamburg, daß man seine Seekiste nach Flensburg senden sollte. Diesmal machte er seinen Weg dahin ganz allein, nur die Fischer, die am Wege standen und ihre Netze an die Stangen hingen, riefen ihm ein: »Glückliche Reis'!« nach, und Schmied Bustedt trat vor die Tür, um ihm zum Abschied die Hand zu schütteln, sonst quälte sich keiner darum, ob er kam oder ging. Er fühlte sich denn auch erst richtig wohl, als er wieder Decksplanken unter den Füßen hatte.

Wegen der schleunigen Zurüstung und Abreise hatte er aber gar nicht Zeit gefunden, Meta Norgaardt Nachricht zu geben. Als er eines Abends wirklich schreiben wollte, kam er über die Anrede: »Liebe Meta!« nicht hinaus. Das machte ihn schon unsicher. Er riß daher den Briefbogen in Fetzen und verschob die Angelegenheit, die immerhin mit etwas Vorsicht besorgt sein wollte, auf gelegenere Zeit.

Einige Wochen später hatte Hans Thordsen allerdings Zeit genug zum Schreiben, er schrieb also an Meta Norgaardt, daß es auf Schnarstruphof nicht zum Besten stände, es würde toll dort gewirtschaftet, aber immerhin glaube er, daß ein solcher Hof nicht so schnell verlottert und durch die Kehle gejagt werden könne, als sie vielleicht glaube. Es werde auch viel geschnackt, was nicht wahr sei, usw.

Nach einiger Zeit erhielt er den Brief zurück. Hinten darauf war vermerkt: »Adressatin verzogen. Wohin, unbekannt.«

Eines Tages war nämlich zur Zeit der Abenddämmerung ein unheimlicher Gast eingekehrt in den engen Hof, wo Meta Norgaardt wohnte. Er war unmerklich die steilen Treppen hinaufgeschlichen und hatte Eingang gefunden in die ärmlichen Wohnungen. Niemand wußte, woher er kam, niemand hatte ihn gesehen und gehört. Aber er war im Hause gewesen. Bald klagten hier und da die Kinderlein, daß ihnen der Hals weh täte. In der nächsten Nacht aber kniete Meta an dem Lager ihres Kleinen und strich mit Sorge über sein heißes, verschwollenes Gesichtchen. Drei Tage darauf stolperte ein Mann in abgetragenem schwarzen Anzug mit einem altmodischen, breitkrempigen Zylinder auf dem Haupte die Treppen hinunter und ging langsamen Schrittes über den Hof auf die Straße. Er trug an einem Riemen, quer vor der Brust, ein schwarzes Kistlein. Darauf lag ein grüner Tannenkranz, und darin lag im weißen Linnenhemdlein Meta Norgaardts Kind.

»Es ist ein Glück für sie und das Kleine«, sagte eine der Frauen, die auf dem Hofe standen.

»Ja, nun ist sie die Last los«, meinte die andere.

»Die Alimente auch!« brummte die bissige Alte aus dem Nebenhause.

»Schämen Sie sich!« riefen drei oder vier Stimmen.

»Das habe ich nicht nötig, ich sag' nur, was recht ist.«

Da war der Streit im Gange. Die aber, deren Ehre angegriffen und verteidigt wurde, ging gesenkten Hauptes ganz allein hinter dem Leichenträger her, und ihre Augen waren voller Tränen. – Je elender und je liebebedürftiger ein Kind ist, desto größer und stärker wird die Liebe der Mutter, desto herber ist der Schmerz, wenn alle Sorge und Pflege, alles Nachtwachen und Beten das Fünklein Gottesleben in dem schwächlichen Erdenleibe nicht zurückzuhalten vermochte!

In der Abenddämmerung kam sie wieder zurück vom Altonaer Kirchhofe und schlich sich hinauf in ihr kleines dunkles Hinterstübchen. Unten im Hofe lärmten noch die Kinder, ihr Rufen und Lachen drang zu ihr hinauf; drinnen aber war es stille, ganz stille. Das Bettchen, das in der Ecke stand, war leer. Nun hatte sie nichts mehr auf der Welt, an dem ihr Sehnen und ihre Seele einen Halt finden konnten. – Sie hatte das brennende Verlangen gehabt, sich emporzuschwingen, hinaus aus dem grauen Nebel der Sorge und Schande, hoch auf zur Sonne. Wie tief war sie niedergeschmettert worden ins ödeste Dunkel des Lebens! Aber ein schmaler Sonnenstreifen war ihr doch nach ihrem schwersten Fall immer noch geblieben, der hatte ihren Lebenspfad noch so weit erhellt, daß sie nicht strauchelte und versank! Nun war auch der erloschen, nun war es dunkel rings umher!

Sie hörte vom nahen St. Pauli-Kirchturm die Uhr sieben schlagen. Man hatte schon vorgestern nach ihr geschickt, sie müsse zum Singen kommen, und gestern war wieder jemand bei ihrer Wirtin gewesen. Man wußte dort nicht, was für Pflichten und Sorgen sie hatte. Das hatte sie aus guten Gründen verschwiegen. Sie hörte Schritte auf der Treppe und horchte. Gleich würde wohl wieder ein Bote kommen oder die Frau Direktorin selber. Was sollte sie sagen? – Bittere Gedanken kamen, und wechselnde Bilder stiegen auf von der Seele des vor Aufregung und Nachtwachen fiebernden Weibes. Nun war die Sorge um das kränkliche Kind von ihr genommen, aber auch alle Freude. – Nun stand sie alleine. Keinem Menschen auf der weiten Welt war sie Rechenschaft und Verantwortung schuldig, für die Heimat war sie tot, und niemand ging es etwas an, was aus ihr wurde. Und Gott? – Hatte er ihr nicht die frischen Farben und eine blühende Gestalt gegeben! – Warum schmückte er sie mit dem Glanz der rotgoldenen Haare? Warum legte er Feuer in ihren Blick und heißes Verlangen in ihren Busen? –

Sie zündete Licht an, zog einen Schlüssel aus der Tasche und ging an den Schrank. Da hing das Samtmieder und das seidene Röckchen, und am Boden standen die hohen, vielknöpfigen Stiefel mit den zierlichen Absätzen. Sie nahm mit unsicherer Hand und irrem Lächeln die Sachen heraus und legte sie auf den Tisch. »Sie glauben doch alle, daß ich so bin, warum soll ich nicht so sein? – Frisch hinein in den Schmutz, desto eher kommt man hindurch! – Sie machen's alle so, die hindurch wollen. – Ich bin ein Narr. – Ich bin zaghaft, darum ging das Glück an mir vorbei.« – In kurzen abgerissenen Sätzen stieß sie das hervor. Dann nahm sie das Licht und trat an den Spiegel. »Bin ich nicht schön? – Man hat mir das doch oft genug gesagt.« Sie machte ihr Haar los. In langen, welligen Strähnen fiel es ihr über die Schultern und den wogenden Busen. Mit nervöser Hast ordnete sie es, ihre Finger zitterten, ihre Gedanken irrten umher. Es war ihr selbst nicht klar, was sie wollte. – Nur nicht denken und grübeln, nur nicht länger leiden und stillhalten müssen!

Etwas Entscheidendes, etwas, das ihren Gedanken eine andere Richtung gab, mußte sie tun.

Als sie die dicken Flechten festgesteckt hatte, zog sie die Kommodenschublade auf, da lagen oben ein Paar lange, hellseidene Strümpfe, dicht daneben ein Paar verwaschene Kindersocken und ein verflicktes Kinderhemdchen. – Die ausgestreckte Hand sank ihr schlaff zurück. Dann nahm sie die Kinderstrümpfe heraus. Ihre Knie zitterten, vor den überwachten Augen flimmerte und flackerte das Licht, schwer stützten sich ihre Hände auf die knarrende Schublade, dann sank sie nieder auf den Fußboden und weinte. – Sie weinte, wie nur eine Mutter weinen kann um ihr einziges Kind.

Ihre bitteren Tränen netzten den Nachlaß des kleinen Toten. Ihre Gedanken aber flogen hinweg über die Dächer Altonas und weiterhin über die Wiesen am Diebsteich; sie eilten vorüber an herrlichen Marmordenksteinen und hohen Taxusbäumen bis an die äußerste Ecke des Kirchhofes. Dort, wo die vielen einfachen, schwarzen Kreuzlein stehen, flogen sie umher und fanden ein kaum zugeworfenes kleines Grab.

»Ganz allein liegt Klein-Peter da, so ganz allein auf dem großen, dunklen Kirchhof.« Sie sprach es schluchzend vor sich hin und richtete sich auf. Die Uhr am St. Pauli-Kirchturm schlug vier helle Schläge und dann acht volle, laute dahinter. Sie zählte ohne zu denken. Da fiel ihr ein, daß die Direktorin gleich kommen könne, um sie zu holen, und sie schauderte zusammen. Hastig sprang sie auf, schob die Kommodenschublade zu, warf ihren Mantel um, setzte den Hut auf und eilte die Treppe hinunter. Sie hörte noch, daß eine Frauenstimme ihr etwas nachrief:

»Was soll ich?« fragte sie hinauf.

Ihre Nachbarin, eine arme Frau, die mit ihrem Mann einst bessere Tage gesehen hatte, rief ihr über das Treppengeländer zu: »Fräulein Norgaardt, trinken Sie doch 'ne Tasse Kaffee mit uns. Ick heff grad 'n bäten warm makt. Se hebbt den ganzen Dag nix Warmes hatt, dat geiht jo doch nich.« – »Välen Dank! Ick kann nich, välen Dank ok!« fort war sie. In ihrem zermarterten Hirn fand in dieser Stunde nur noch der eine Gedanke Raum: Ihr Klein-Peter lag drüben in der kalten Erde allein, so ganz allein!

Sie fand das Kirchhofstor geschlossen. Das hinderte sie nicht. Hinten auf der Exerzierweide ging sie durch den Drahtzaun und über die Dornhecke, sie stolperte im Halbdunkel über die Gräber hinweg, aber der Mond leuchtete genug, daß sie in der Stadt der Toten das viereckige Fleckchen finden konnte, wo ihr Klein-Peter so ganz allein lag.

Der Wind strich durch die dichten Kronen der Taxus und durch die Wand der Rhododendron, die sich scharf von der grauen Fläche abhoben, er spielte mit den welken Blättern, den knisternden Papierblumen und den flatternden Bändern der Kränze, die auf den Gräbern lagen. Sie lauschte den Stimmen, aber sie fürchtete sich nicht. Andere Lieder als einst im Dorngestrüpp der Birk raunte ihr hier der Wind ins Ohr. Er kühlte ihre brennende Stirn und sang eine eintönige Weise vom Leid der Armen, von getäuschter Hoffnung, von unverstandenem Weh der Geächteten und Verkannten.

Er ließ auch Saiten in ihrer Seele wieder erklingen, die Haß und Rachsucht und im Dunkeln geil aufgeschossene Ehrfurcht überspannt und verstimmt hatten. Regungen und Gedanken sind an diesem Spätabend durch ihr Herz gegangen, die sonst nur schüchtern an die Tür geklopft hatten. Sie fanden nicht eine wohlbereitete Stätte, aber sie rangen mit den trotzigen Gewalten, die das Menschenherz in den Tagen der Leidenschaften blenden. Das Glück macht den Menschen kurzsichtig und taub, im Leid wird er weitsehend und hellhörig. – –

Am nächsten Morgen in der Frühe packte Meta Norgaardt ihre Sachen in einen großen, weidengeflochtenen Reisekorb. Die seidenen Strümpfe und langen Knopfstiefel, ein grellbuntes Mieder und ein kurzer Rock kamen zuerst hinein, ganz unten; darüber breitete sie dicht und fest den alten Mantel, den sie getragen hatte in der Nacht, als sie vom Schnarstruphof flüchtete. Dann kamen ihre anderen Sachen, und in einem besonderen Kasten die Hemden und Kleidchen, die der kleine Peter noch nicht ganz verschlissen hatte. Auch der Wagen aus Garnröllchen, den sie ihm gemacht, und an dem er seine ersten Zähnchen probiert hatte, kam mit. Alles was ihr gehörte, packte sie ein, drückte den Deckel fest zu und legte zwei Vorhängeschlösser vor den Riegel. Am Nachmittag holte ein Mann den Korb ab. Bald nachher kam Meta und verabschiedete sich von ihren nächsten Nachbarn. Sie wolle sich etwas anderes suchen. Was und wo, das erfuhr niemand. In den nächsten Tagen sprach man noch oft von ihr auf den Treppen und Vorplätzen, die eine meinte, ein schwerreicher alter Herr habe sich in sie verliebt und wolle sie heiraten. Da lachten andere höhnisch. Bald hieß es, sie sei mit einer Sängergesellschaft nach Amsterdam gegangen, am Venloer Bahnhof habe man sie in einen Wagen vierter Güte steigen sehen. Gewisses wußte keiner, desto mehr wurde geredet. Als bald darauf ein Briefträger einen Brief von Hans Thordsen, der aus England kam, für Meta Norgaardt abgeben wollte, da mußte er ihn als unbestellbar wieder mitnehmen.

*

Als die »Dronning Marie« im Belt lag, hingen ihre Segel schlaff an den Stengen, und spiegelblank lag die See. Im Kattegat drehte sich der Wind und brachte das Schiff schnell nach Skagen. Als man dann ins Skagerrak kam und nach der Nordspitze Schottlands zuhielt, mußte man schon die Marssegel reffen; ein starker Sturm kam vom Atlantik herüber.

Es war in der nächstfolgenden Nacht, kurz bevor Hans Thordsens Wache zu Ende war, als eine gewaltige Sturzsee über die Schanzkleidung und das Deck hinwegschlug. Ein schweres Wasserfaß, das nicht ordentlich festlag, wurde losgerissen und traf Hans Thordsen so unglücklich, daß er hinstürzte und sich nicht wieder aufrichten konnte. Man trug ihn in die Koje, und hier stellte der Kapitän fest, daß das linke Bein oben am Hüftgelenk verrenkt oder gebrochen sei. Da lag er nun hilflos und elend. Alle Mann hatten an Deck zu tun, nur ein Junge blieb bei ihm und machte kalte Umschläge. Über ihm die schweren Schritte der Matrosen, die kurzen Kommandorufe und Pfiffe des Kapitäns und der Steuerleute, das Knattern und Klatschen der Segel; um ihn herum das Brüllen des Sturmes und der Wellen, das Knarren und Ächzen des Schiffes, in ihm der Schmerz und das trostlose Gefühl der Untätigkeit. Vier Tage und Nächte kämpften sie. Die Leute oben an Deck kämpften um Schiff und Leben, Hans Thordsen unten auf seinem Lager mit Fieberschauern und Schmerzen.

Als sie sich der Clyde näherten, signalisierte Kapitän Hansen einen Dampfer heran, der nahm den Verletzten an Bord und brachte ihn nach Glasgow. Am anderen Morgen kam er ins Krankenhaus, es war höchste Zeit! Tagelang lag Hans Thordsen hier in Fieberphantasien. Er kämpfte dann einen erbitterten Kampf mit Peter Ottsen. Wenn er aufspringen und den Gegner mit der Eisenfaust an der Gurgel packen wollte, dann wich dieser zurück; er aber konnte nicht folgen, denn er hatte nur noch ein Bein. Peter Ottsen hatte einen langen weißen, leinenen Rock an; jeden Morgen und jeden Nachmittag kam er und beugte sich über sein Bett. Und dann war noch jemand da. Ein Mädchen war es. Sie wachte an seinem Lager wie Meta Norgaardt damals, auf Schnarstruphof. Aber sie hatte nicht mehr so krause rote Haare. Glatt und glänzendschwarz schmiegten sie sich der weißen, schmalen Stirn an, eine schneeweiße Haube überdeckte den Scheitel. – Und sie war nicht Peter Ottsens Frau, sie war immer noch Meta Norgaardt. Sie ging ab und zu mit leisen Schritten, sie kühlte seine brennende Stirn und flößte ihm Speise und Trank ein. – – Eines Morgens, als er nach dem langen, schweren Kampfe der endlosen Nacht die müden Blicke an die Decke richtete, beugte sich die weiße Haube wieder über ihn; er sah ein freundliches Gesicht mit zwei stillen, dunklen Augen. Das war nicht Meta Norgaardt! – Ein Lächeln flog über die Züge der Pflegerin. Sie wusch sein Gesicht mit kühlem Wasser, glättete sein Haar und brachte ihm Milch und Brot. Da erst wurde es ihm klar, wo er sich befand, und es dämmerte nach und nach die Erinnerung auf das, was mit ihm geschehen war.

Vier Wochen lag der deutsche Seemann in dem englischen Hospital. Er erfuhr, daß der Arzt anfangs eine Operation für nötig gehalten hatte. Um das Leben des Mannes zu retten, sollte das Bein geopfert werden. Seine kräftige Natur und die Fürbitte der Pflegerin aber hatten den Sieg über das Messer der Ärzte davongetragen. Er behielt sein Bein, aber es war ihm wie abgestorben und blieb steif im Hüftgelenk.

»Es wird besser werden!« tröstete ihn das stille, freundliche Mädchen, als er zum ersten Male wieder zu gehen versuchte. Ohne Krücke ging es nicht, und er konnte sich gar nicht an das ungewohnte Werkzeug gewöhnen.

So saß er nun im Hospitalgarten auf der Bank, weit von der Heimat, wie ein havariertes Schiff auf der Klippe. Und würde er jemals wieder hinaus können auf die See? – Würde er nicht ein Krüppel bleiben? – Er hatte den Arzt gefragt, der hatte mit der Achsel gezuckt und von »Geduld« geredet; dann war er seines Weges gegangen. Sie aber hatte ihm mit wehmütigem Lächeln die Hand gereicht. Da war Hans Thordsen das Blut in das blasse Gesicht gestiegen. War es das erste Anzeichen der wiederkehrenden Jugendkraft oder war es Dankbarkeit, die aus seinem Herzen emporwallte?

Käte Bruce war eine freiwillige Pflegerin, die nur vorübergehend im Seemannskrankenhause zu Glasgow war. Der blonde deutsche Seemann war der erste, dem ihre Pflege und ihre Sorge galt. Sie hatte an seinem Lager gewacht und gebetet, gezagt und gehofft; sie hatte gesehen, wie der Tod seine Hand nach einem frischen, jungen Leben ausstreckte. Eine Eiche war vom Sturm zerspellt, ein Menschenleben voller Kraft und Energie war mit einem Schlage geknickt, ein kräftiger Mann war zum Krüppel geworden! Tiefes Mitleid hatte sie erfaßt, als er in Fieberphantasien kämpfte. Mitleid und Liebe wohnen in einem unberührten Frauenherzen nahe zusammen.

Im Laufe seiner Seemannsjahre hatte Hans Thordsen etwas Schiffsenglisch gelernt, das allerdings wenig Handhabe für den Verkehr mit seiner Pflegerin bot. Es bewegte sich auf einem ganz anderen Gebiet, aber sie verstand ihn doch. Die Sprache der Augen ist übrigens überall die gleiche, sie ist weit ausgebildeter als das Wort des Mundes; eine flüchtige Berührung der Hände sagt oft mehr als eine lange Rede. So spinnen sich aus Blicken und Gedanken die zartesten Fäden.

Ende August war es, als Hans Thordsen durch den deutschen Konsul von der Reederei der »Dronning Marie« seine rückständige Heuer und eine nicht unbedeutende Entschädigung erhielt. Es war manches in schlechtem Zustand an Bord gewesen, so daß der Kapitän vor dem Seeamt eben mit einem blauen Auge davonkam. Aber mit dem Gelde konnte Hans Thordsen sich keine gesunden Glieder kaufen. Er ging jetzt nicht mehr an der Krücke, sondern nur noch am Stock, aber das linke Bein war schwach und steif geblieben. Zum Steuermann taugte er nicht mehr. Das war hart!

Um diese Zeit kam Käte Bruces Vater nach Glasgow, er wollte seine Tochter heimholen, zuvor aber noch einige geschäftliche Angelegenheiten in der Stadt erledigen. Tom Bruce betrieb eine Ackerwirtschaft und Gärtnerei in Aberfoyle, dem Endpunkt der Eisenbahn, von wo man die Trossachs, eine der schönsten Gegenden des schottischen Hochlandes besucht. Der biedere Schotte war bald bekannt mit dem deutschen Seemann und fand an ihm Gefallen. So gut es ging, begleitete Hans Thordsen ihn auf seinen Ausgängen in Glasgow, und als der Abschiedstag heranrückte, lud der Schotte den Angliter ein, das Land von »Rob Roy« und der »Lady of the Lake« zu besuchen und dann erst heimzukehren. Als er das sagte, schaute ihn Käte mit ihren klaren, ernsten Augen an, und er las in ihrem Blicke den Wunsch, die Trennung hinauszuschieben. – Am nächsten Tage fuhren sie zusammen ab.

Es sind bequeme Wege dort im Seengebiet, und die Berge lassen sich ohne große Mühe und Gefahren besteigen. Für den Sohn des Schleswig-Holsteinischen Flachlandes war das Hochland eine neue, wunderbare Welt. Wohl hatte er, von der See aus, an Südamerikas Küste himmelanragende Gebirgsriesen gesehen, wohl hatte er in Norwegens Fjorden hinaufgeschaut zu den schneebedeckten Firnen, die mit schimmerndem Weiß die höchsten, aus blauer Flut aufreckenden Felsen krönen; noch nie aber hatte sein Fuß solch Gebiet betreten.

Auf vierspännigen und vielsitzigen Mail-coaches machen die Reisenden aller Herren Länder gewöhnlich die vorschriftsmäßige Reise: Aberfoyle-Trossachs-Callander, oder sie fahren von Trossachs auf dem herrlichen See Loch Katrine gen Stronachlachar. Gemächlich auf einem Bauernwäglein fuhr an einem schönen Morgen Tom Bruce mit seinem Gast und seiner Tochter von Aberfoyle der aufgehenden Sonne entgegen, um über Thornhill das Seengebiet zu erreichen.

Das goldene Morgenlicht lag auf den Höhen von Stirling, es blitzte in den Fensterscheiben des mächtigen Schlosses. Finster und trotzig ragte das alte Gemäuer empor auf der steilen, rötlichen Felsenwand; ein Wahrzeichen alter schottischer Kraft und Wehrhaftigkeit. Südlich davon dehnten sich grüne Felder aus. Der Alte hielt auf einer Anhöhe den Wagen an und zeigte hinüber nach dem Schlachtfeld von Bannockburn.

»Vor mehr als fünfhundert Jahren«, sprach er, »schlug dort einer meiner Vorfahren in blutiger Schlacht die Engländer aufs Haupt. Er erstritt die Unabhängigkeit Schottlands und trieb die Feinde aus dem Lande.«

»Wer war das?« fragte Hans Thordsen.

»Ein schottischer König!« antwortete stolz der Alte. »Robert Bruce hieß er. Auf dem Platz vor Stirling-Castle steht sein Denkmal.«

Der Alte mit den verwitterten Zügen und dem arbeitsgebeugten Rücken schien Hans Thordsen wenig Königliches an sich zu haben, aber als sein Blick über das edle Gesicht der Tochter glitt, die sinnend in die Ferne schaute, da schien ihm des Alten Rede wohl glaubhaft. Er wußte nichts von der Eigentümlichkeit so mancher Bewohner dieses Landes, die von dahingeschwundener Größe zehren. Auf diesem Boden wurden viele edle Geschlechter ausgetilgt oder von ihrer Höhe gestürzt; ihre Nachkommen hausen nun zwischen den Trümmern ihrer Stammsitze und suchen dem harten, steinigen Boden ihr kärgliches Brot abzugewinnen.

»Dann sind Sie eine Königstochter, Käte«, sagte Hans Thordsen nach einer Weile des Stillschweigens. Es sollte leicht scherzend klingen, doch floß etwas wie scheue Bewunderung in den Klang seiner Stimme.

Sie lächelte und sprach: »Wenn ich es wirklich wäre, wie mein Vater meint, so nützte es mir doch nichts. Was ist aus den schönen Frauen geworden, die einst von jenen Mauern von ›The Queens lookout‹, hinabschauten? Sie und die stolzen Ritter, die in des Königs Garten ihre Tourniere und Waffenspiele abhielten, glaubten, um sie drehe sich die Welt. Staub und Asche von ihnen sind längst vergangen, aber manche üble Tat lebt heute noch fort im Munde des Volkes.«

»Manche gute auch, Mädchen!« warf der Alte ein. Sie hörte nicht darauf. – »Herrisch und stolz sind die Herren dieses Landes immer gewesen«, fuhr sie fort. »Mit Blut haben sie ihre Namen in die Bücher der Geschichte geschrieben. Das hat nicht verhindern können, daß sie ausgetilgt wurden aus der Liste der Herrscher und daß ihre Nachkommen Pächter und Knechte geworden sind der Engländer.«

»Leider Gottes«, seufzte Tom Bruce. »Man hat uns entrechtet und unterdrückt.«

»Und doch hat Gott es gewollt«, fuhr sie fort, »daß unser Volk es lernte, den trotzigen Nacken zu beugen. Der Engländer war nüchtern und schlau, unser Volk war kühn und tapfer, doch Trunk und Zügellosigkeit verdarben viel. So ist es immer noch. In Glasgow könnt ihr es sehen.« Und sie erzählte von den Arbeitern, die am Sonnabend in den Schenken ein- und ausgehen und spät in der Nacht betrunken nach Hause wanken. Auch von Frauen sprach sie, die sinnlos berauscht dem Pöpel zum Spott und zur Belustigung dienen. Hans Thordsen glitt ein hartes Schimpfwort über die Lippen. Sie sah ihn an, eine tiefe Falte stand ihr zwischen den dunklen Augenbrauen und sie sagte: »Es sind arme, bedauernswerte Geschöpfe! Was für eine Erziehung haben sie meistens gehabt! Wie viel Menschen- und Männerschlechtigkeit, Not und Elend ging oft vorher, ehe sie so weit kamen.«

Da mußte Hans Thordsen unwillkürlich an den »Birkfuchs« denken. – Was war aus ihr wohl geworden? Und wie ganz anders war hier dies Mädchen! – Sie war eine werktätige Christin. Ihr ernstes Wesen hatte ihn angezogen, aber er fühlte sich ihr gegenüber so klein und unbeholfen! – Sie sprach so klug und sinnig, und er wußte gar nichts darauf zu sagen. Er hatte lange dankbar zu ihr aufgeschaut, sie war ihm zuerst eine Helferin geworden, dann aber sah er sie über sich emporwachsen. Er selbst wurde immer kleiner. Daß er ihre Sprache nur mangelhaft beherrschte, trug auch dazu bei, seine Unbeholfenheit zu vermehren. Wenn er sich im Ausdruck vergriff, dann pflegte der Alte dröhnend zu lachen, auch um Kätes Lippen zuckte dann zuweilen ein kleiner Spott.

Thornhill lag hinter ihnen, nach Norden ging der Weg.

Hans Thordsen war schweigsam geworden. Seine Augen sahen bunte Bilder vorübergleiten, sie blieben aber nicht haften in seiner Seele. Er dachte an die Heimat und er fing an, sich nach den Angler Knicks und Strohdachhäusern zu sehnen. Auch Käte Bruce schien besonderen Gedanken nachzuhängen. Auf dem halben Wege nach Callander waren sie jetzt, rechts kamen schon die blinkenden Wasser der Teith zwischen grünen Ufern in Sicht, und links schoben sich die Berge in den wunderbarsten Formen dichter zusammen; hier lenkte der Alte in einen schmalen Seitenpfad ein, der sich zwischen zwei Höhenzügen nach oben wand. Vor ihnen erhob sich aus dem grünen Meer der kleineren Hügel und Vorberge ein mit grauen Felstrümmern übersäter Bergwall, gekrönt mit rot glühender Heide. Ganz oben ragte aus der Purpurglut ein grauer, mächtiger Steinblock hervor. Wie eine Burg sah er aus, die das Geschlecht der Riesen einst in diese Wildnis baute. Der Wagen schwankte hin und her auf dem rauhen Pfade. Hans Thordsen hielt das schlanke Mädchen fest. Das gesunde Bein hatte er gegen den Wagenrand gestemmt; fest legte er den Arm um ihren Leib, sie lehnte sich an ihn. –

Der Wagen hält. Links schlängelt sich ein schmaler Fußpfad bis zur Spitze. Der Alte hat noch mit dem Pferde zu tun, er strängt es los und nimmt ihm die Trense ab, damit es von dem langen, feinen Gras fressen kann. Die beiden jungen Leute gehen den steilen und rauhen Pfad aufwärts. Er ist allerdings ein schlechter Weg für Hans Thordsen; da merkt er wieder, daß er ein Krüppel geworden ist, und doch mag er es gerade jetzt nicht merken lassen.

»Eine Liebe ist der anderen wert«, sagt Käte Bruce freundlich, jetzt zitterte ihre sonst so ruhige und sichere Stimme. Dann reicht sie ihm die Hand, und nun stützt sie ihn mit ihren Armen, wie sie es getan hat, als er noch im Glasgower Seemannskrankenhause umherging. Keiner von beiden spricht ein Wort.

Eine Viertelstunde steigen sie so bergan, dann macht der Pfad plötzlich eine Schwenkung, und nach einigen Schritten stehen sie in einer Lücke des grauen Steingipfels. Vor ihren Füßen liegt das weite Hochland mit seiner wilden Herrlichkeit und derben Schönheit. Kein Ruhepunkt, keine ebene Fläche bietet sich dem Auge, soweit es auch schweift. Leuchtendes Grün ringsum im Grunde, nur hier und da blitzt wie Silber der Spiegel der Teith aus der Tiefe empor. Wall an Wall, wie die Wellen des Meeres, erst mit breiten Zwischentälern, dann immer enger sich zusammenschiebend, so ziehen die Höhen durchs Land bis an den fernen Horizont. Purpurn schimmern die Gipfel. Nur die Bergriesen, die das Panorama ganz hinten begrenzen, bergen ihre graue Stirn im weißen Wolkenrand. Gewaltige Felsblöcke, rings umhergestreute Steinmassen, mächtige Trümmer reden in ihrer Sprache von einer furchtbaren Katastrophe, die in der Urzeit einer werdenden Welt über dieses Land hereinbrach. Sie reden so gewaltig, daß des Menschen Rede sich nicht hervorwagt. Darüber aber wirft die scheidende Abendsonne ihr goldenes Licht, sie malt hinter den wildgeformten, schroffen Felswänden dunkle Schatten, die fallen langsam über die grüne Fläche und dämpfen das leuchtende Rot der blühenden Heide. Der Abendwind spielt leise mit den langen Farren, die aus dem Spalt der Felswand emporwuchern, und mit den Blättern einer einsamen Birke, die hinter dem grauen Gestein Schutz sucht. Ein Berghuhn streicht mit schwerem Flug am Abhang entlang, dann ist alles wieder still. Keine Menschenstimme, kein Laut von unten durchdringt dies majestätische, das Menschenherz überwältigende Schweigen.

Eine ganze Weile steht Hans Thordsen im Anblick des herrlichen Bildes versunken und vergißt, was um ihn her vorgeht. Durch seine Seele zieht ein Sehnen. – Die grünen Berge, die hochaufgetürmten Felsriesen, die Purpurhöhen und düsteren Talränder des Ben Venue mit seiner grauen, steil abfallenden Wand und dem dunklen mit Wolken gekrönten Haupt gehören einer ihm fremden Welt und einem anderen Volk an. Sie passen zum Charakter der Bewohner dieses Landes, aber in ihm erwecken sie Sehnsucht. Das Bild der Heimat tritt ihm vor die Seele, wie er vom Scheersberg es sah: ein Bild der Arbeit und des Segens. Helle, wogende Kornfelder und dunkle Wiesen, durchzogen von grünen Hecken, breiten sich dort aus bis an den Horizont, dazwischen lugen grau-grüne Strohdächer hervor. Eine Mühle dreht fleißig ihre weißen Flügel im Wind. Eine schlanke Kirchturmspitze deutet wie ein Finger nach oben. Nicht wild zerklüftet und mit rauhem Gestein besät sind die Höhen der Heimat; in sanften Wellenlinien wechseln dort Tal und Hügel, und jeder von ihnen redet vom Fleiß und Schweiß des Landmannes. Nichts Lebendes sieht er hier zwischen den Trümmern einer zerschmetterten Welt, nur drüben am grünen Abhang scheint das graue Gestein sich zu bewegen: eine Schafherde sucht sich ihr Futter zwischen den dunklen Farren und den helleuchtenden Birkenstämmen, man kann sie kaum von den umhergestreuten Felsblöcken unterscheiden. In seinem lieben Angeln sieht man die rotbraunen Kühe im Klee stehen, und kräftige Pferde ziehen den Pflug durchs Ackerland. Über die blaue Flensburger Förde mit ihren kühn geschwungenen Ufern schweift der Blick hinweg, bis zum Meer mit den weißen Wogenkämmen und den von fernher kommenden Schiffen! – – Das Meer, ja, das Meer! – Hans Thordsen ist fern von seiner Ostsee, die den Knaben grüßte und lockte. Das hier ist nicht sein Land. Es ist schön, aber es ist ihm fremd und wird ihm fremd bleiben, das fühlt er jetzt. Das Heimweh, das tief im Herzen lag, wurde wach auf Barnock Dun.

Er blickte sich um nach Käte Bruce. Er sieht sie nicht. Er geht um das wild-zerrissene Felsenbollwerk herum, das auf des Berges Spitze vorgebaut ist; einige Schritte nur, dann bleibt er stehen. Dicht an der Felswand auf dem roten Heideteppich kniet das Mädchen mit gefalteten Händen und hat im stillen Gebete sich und die Welt vergessen. Er will zurücktreten, da blickt sie auf. In ihren Augen schimmern Tränen. Das weltliche Rot, das die flüchtig aufsteigende Liebesflamme auf die schmalen Wangen gezaubert hatte, ist gewichen. Ruhig steht sie auf und winkt ihm mit der Hand.

»Ich fühlte die Nähe Gottes«, spricht sie, ihre Stimme klingt wieder so klar und fest, wie sonst. »Er rief mich, als ich hier allein stand, und meine Seele hat mit ihm gesprochen.« Sie schweigt, als wenn sie von ihm Antwort erwarte.

In ihm ringen zwei Gewalten. Nach einer Weile sagte er leise: »Käte, könnten Sie Ihr Land und Ihr Vaterhaus jemals verlassen und fortziehen übers Meer zu anderen Menschen?«

»Nein.« Wie schwer wird ihr das Wort! –

Langsam und schweigend gehen sie dann den rauhen Bergpfad hinab. –

Dem Alten war die Zeit schon lang geworden, das Pferd stand angesträngt vor dem Wagen. Als sie zurückfuhren, war nur der Alte redselig, er erzählte von den Siegen und den Kämpfen, die diese Berge und Täler zum Schauplatz einst hatten.

Zwei Tage darauf reiste Hans Thordsen ab. Auf dem Bahnhof schüttelte Tom Bruce ihm die Hand und versicherte ihm mit vielen herzlichen Worten seine immerwährende Freundschaft. Kätes schmale Hand zitterte in der seinen, und in ihren Augen sah er einen feuchten Schimmer: »Ich werde es nie vergessen, was Sie an mir getan haben, Käte! Der liebe Gott möge es Ihnen lohnen, ich habe es nicht können.« – Da flog noch einmal über ihr feines Gesicht ein heller Schein: »Gott sei mit Ihnen!« Er fühlte den Druck ihrer Hand: »Vergessen Sie uns nicht ganz!« – »Nie!« rief er. Dann ruckte die Lokomotive an, und sie entschwand seinen Blicken. – – –

Drei Wochen später wurde es abgemacht, daß Hans Thordsen bei der alten Mutter Braak in Falshöft wohnen und ihres verstorbenen Mannes Boot und Fischernetze übernehmen sollte. Er konnte, so lange sein Bein nicht kräftig war, nicht zur See. Der Arzt hatte zwar gesagt, daß es besser damit werden könnte, und Hans Thordsen hielt an dieser Hoffnung fest, aber bis dahin mußte er etwas anderes anfangen. Als Rentner konnte er von seinem Erbteil und seinen geringen Ersparnissen nicht leben, so mußte er denn erst mal nehmen, was sich bot. Der Winter ging langsam hin. Des Eises wegen waren die Fischer vielfach zur Untätigkeit verbannt, im Frühjahr und Sommer ging der Fang besser und ernährte notdürftig seinen Mann. Das Leben am Strande war so still und gleichmäßig, draußen aber auf der blauen Flut tauchten am Horizont die weißen Segel auf, sie zogen vorüber und verschwanden. – Hans Thordsen sah ihnen sehnsuchtsvoll nach, wenn er in seinem Boote zum Fischen ausfuhr oder am Strandwege seine Netze zum Trocknen aufhing. Er konnte nicht mit. Er war ein Wrack auf trockenem Sande. –

Während dieser Jahre hat Hans Thordsen viel gelesen und manches gelernt, wovon man in Falshöft nichts wußte. Er hielt sich eine Hamburger Zeitung, weil er aus dieser am meisten über Schiffsverkehr und Seeleben ersehen konnte. Er ließ sich auch Bücher kommen, die in der Pommerbyer Schulbibliothek nicht zu haben waren. Er galt etwas unter seinesgleichen, aber doch auch nur unter diesen. Die »Besitzer« bildeten eine Klasse für sich und sahen über den Falshöfter Fischer hinweg. So lebte er ruhig für sich und bildete sich seine eigene Meinung von der Welt und vom Leben.


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