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* * *

 

Hans Thordsen verlebte den letzten Abend im alten Jahr recht angenehm. Er warf den Nachbarn einige Töpfe gegen die Tür und rannte dann fort, um in angemessener Entfernung die Wirkung zu beobachten. Nachher verzehrte er seine Reisgrütze mit Butter, hörte etwas schläfrig zu, als seine Mutter langsam und andächtig ein Neujahrskapitel aus dem Gesangbuch vorlas, und ging dann zu Bett. Er träumte von der Seefahrt und von der »Marianne Dahl«.

Es gingen aber doch noch einige Wochen hin, bis die Bark, auf der er seine erste Reise über die blaue Ostsee und den weiten Ozean antreten sollte, in Sicht kam. Täglich stand er am Strande oder saß oben auf der Leiter am Lotsenhause und spähte hinaus auf die See. Kein Segel, das am Horizont auftauchte, entging seinem Auge, und wenn er von der Schule nach Hause kam, war seine erste Frage: »Ist sie schon vorbeigekommen?«

»Wer? – der Birkfuchs?« sagte eines Tages mit höhnischem Lächeln ein Fischerjunge. Im nächsten Augenblick lag er im Sande und noch acht Tage später hatte er ein blaues Auge. Das waren die Folgen des Kampfes um die »Düppler Schanzen«.

An einem Sonntagnachmittag war es, da sah Hans Thordsen nördlich von Ärrö die Segel eines größeren Schiffes auftauchen, sie wuchsen am Horizont und wurden größer und größer. Es war eine Bark. »Dat ist dien Schipp, dat is de Marianne«, sagte der alte Lotse Matthiesen, der hinter ihm stand und das lange, altmodische Fernrohr, den Kieker, vorm Auge hielt. Da schlug dem Jungen das Herz mächtig gegen die Rippen, er fühlte sich, als wenn er einen Fuß gewachsen sei: er gehörte nun zu den Seeleuten, da kam sein Schiff. –

Wieder einige Wochen später, da stand der junge Seefahrer mit seinen Schulkameraden vor dem Altar der Geltinger Kirche, um konfirmiert zu werden.

Fast alle Konfirmanden trugen lange schwarze Röcke, denn das »gehörte dazu«, nur Hans Thordsen und zwei Knaben aus Kronsgaarde hatten blaue Jackettanzüge an und darunter ein blaues Flanellhemd, das den Hals und oben die Brust frei ließ. Was sollten die auch mit langen Röcken und schwarzen Westen machen?! – Sie wollten ja zur See! Sie standen am Altar nebeneinander. Der alte Pastor Hansen richtete, als er sie eingesegnet hatte, an »seine Seefahrer« einige besondere Worte der Mahnung, er gedachte auch im Gebet ihrer und ihrer Eltern. Das ging Mutter Thordsen, die ganz hinten unter dem alten Orgelboden saß, sehr zu Herzen. Das Licht der dicken Wachskerzen, die auf dem Altar standen, flimmerte vor ihren Augen: einen Augenblick sah sie dort nicht mehr ihren Jungen in der Reihe der Konfirmanden. Auch Pastor Hansen sah sie nicht mehr – es war Pastor Jensen, der dort stand: der alte Pastor Jensen, der einst seine weiße zitternde Hand auf ihr volles blondes Haar gelegt hatte, als sie den Myrtenkranz trug. Und zwischen den Altarlichtern tauchte aus dem Nebelschleier, der vor ihren Augen lag, eine andere Gestalt auf: das war der, auf dessen Heimkehr sie so lange und sehnlichst gewartet hatte. Seine ernsten, blauen Augen blickten nach ihr hin, und seine segnenden Hände sah sie erhoben über dem Haupt ihres Jungen. – – – »Amen«, sprach der Pastor, und das war wieder Pastor Hansens weiche, freundliche Stimme. Da verblaßte das Bild, das vor ihren Augen gestanden hatte, und zerflimmerte im Lichtschein. Sie fuhr sich mit dem weißen Taschentuch über die alten Augen. – Nun sah sie wieder alles klar. – – –

Hans Thordsen gingen diese Worte des Pastors sehr zu Herzen; er fühlte, wie stolz er auf seinen Beruf sein mußte. Vor der ganzen Gemeinde richtete der Pastor seine Worte an ihn und seine beiden Kameraden, an sie, die armen Tagelöhner- und Schifferjungen, und nicht an die reichen Bauernsöhne oder an solche, die Schneider oder Knecht werden wollten. Das war etwas Besonderes! – Aber er ließ es sich nicht anmerken, daß ihm das so nahe ging, denn es schickte sich nicht für einen Seemann. Als die drei Seeleute auf ihrem Platz saßen, hatte Thordsen sich schon so weit gefaßt, daß er seine beiden Kameraden auf das Schiff aufmerksam machen konnte, das neben dem Taufstein an der Decke hing. Er hatte nämlich mit Kennerblick herausgefunden, daß der Besanmast zu kurz und das Schiff überhaupt vorn viel zu völlig gebaut sei, um gut segeln zu können. Seine beiden Kameraden bestätigten dieses Urteil. –

Bald darauf ging es fort von der Heimat. An einem Märztage in aller Frühe, als es noch ganz dunkel war, trat er mit einem ansehnlichen Bündel beladen die Reise nach Flensburg an. Er und seine Mutter hatten die ganze Nacht nicht geschlafen, darum waren sie auch so früh auf. Als gestern abend die alte Frau ihrem Jungen die Strümpfe und Hemden zusammenwickelte und ins Bündel packte, vergaß sie auch die Bibel nicht. Manche gute Ermahnung und freundliche Warnung hatte sie außerdem noch mit hineingeschnürt. Vieles hatte sie zu sagen gehabt. Heute morgen war sie ganz stille. Als sie zum letzten Mal am Kaffeetisch einander gegenübersaßen, wollte es ihnen beiden nicht schmecken.

»Iß doch tüchtig, du hast einen langen Weg vor dir«, sagte sie und schob ihm ein Stück Schwarzbrot hin, das dick mit Butter und braunem Sirup bestrichen war. »Ich will dir auch noch eine Tasse Kaffee einschenken.« Sie holte den Kessel vom Herde und goß ihm die Tasse voll, obwohl sie nur halb leer war.

»Ich bin noch gar nicht hungrig«, meinte er. Das Brot wurde ihm so lang im Munde; kleinlaut sagte er dann: »Es ist noch so früh.« Nun blickte er sie an: er sah, wie ihre Lippen zuckten und wie eine Träne ihr an der runzligen Wange herunterrann. – Da, zum ersten Male, fiel es ihm so recht schwer aufs Herz, daß er bisher nur an sich gedacht habe, daß er eigentlich all die Jahre lang alle Wohltaten, alle die sorgende Mutterliebe als etwas Selbstverständliches betrachtet hatte, als etwas, das ihm von rechtswegen zukam, ohne daß er dafür besonders dankbar zu sein brauchte. In diesem Augenblick fühlte er, wie ungerecht das war. Und da überkam den großen Jungen das Gefühl, als wenn er der lieben, treuen Mutter um den Hals fallen und ihr danken müßte für alle die Liebe und Sorge und Arbeit, die ihr Leben ausgefüllt hatten, um ihn groß zu ziehen. Aber er drängte doch das Gefühl zurück, wenn's ihm auch schwer wurde, denn solche Zärtlichkeiten waren in Falshöft nicht Mode, und als Seemann mußte er ja hart sein, hart wie Stahl. – Wenn er ihr nun um den Hals fiel, dann würde er weich werden, dann würde er bitterlich weinen müssen.

So blieb er denn fest, trank langsam und schweigend seinen Kaffee aus. Scholli, der kleine, langhaarige Wachtelhund, der lungernd mit den Vorderfüßen auf seinem Stuhl stand, bekam Brocken um Brocken von dem leckeren Sirupsbrot, bis es alle war. Dann stand Hans auf, faßte die Hand der alten Frau und streichelte ihre Wangen: »Adieu, Mutter!« –

Sie aber lief in die Küche, holte die alte Öllaterne und zündete sie an. Sie konnte ihn noch nicht so gehen lassen. »Komm, Scholli.« Der Hund sah sie verständnisvoll an und wedelte mit dem Schwanz. So machten sie sich denn alle drei auf den Weg.

Bis Nieby wollte sie mitgehen, als sie aber Mangelsen's Pappelallee hinter sich hatten, da konnte sie sich noch nicht von ihm trennen. »Es ist noch so dunkel«, sagte sie, »und du bist nun an das Licht der Laterne gewöhnt. Dann geht sich das nachher so schlecht, und die Laterne kannst du doch nicht mitnehmen!« Sie versuchte zu lächeln. – »Ich gehe noch ein bißchen mit, bei Nordschau will ich umkehren.« – So ging sie denn weiter, immer ganz dicht hinter ihm her, das Licht ihrer Laterne fiel voraus auf den schmalen, trockenen Fußsteig und auf die tiefen, schmutzigen Wagenspuren des Fahrweges. Da kam es ihr in den Sinn, daß dies das letzte Mal sein könnte, wo sie ihrem Jungen den rechten Weg zeigte, und dann gingen ihr allerlei Gedanken durch den Kopf. Das Herz wurde ihr so voll und die Zunge so schwer, sie konnte das nicht sagen, was sie für ihn fühlte. Sie gingen weiter bis an den Goldhöfter Berg, da blieb sie stehen:

»Hans!«

»Ja, Mutter?« – Er drehte sich um und sah vor sich nieder.

»Hans du gehst nun fort in die weite Welt.« Ihre Stimme zitterte.

»Ja, Mutter.«

»Dein Vater hat früh von uns weg müssen, er konnte dir nicht ...«, sie stockte.

»Ja, Mutter, du bist immer gut zu mir gewesen.«

»Ich bin eine schwache Frau, aber ich zeigte dir doch den Weg, so gut ich konnte, wie ich es auch heute tue.«

»Ja, Mutter, das hast du getan.«

»Du gehst nun in die weite Welt. Geh den schmalen Steig, Hans! Tritt nicht rechts in den breiten, schmutzigen Weg. Fall nicht links in den tiefen Graben.« Das Bild hatte sie vor Augen gehabt, als sie hinter ihm ging, das mußte sie ihm sagen.

»Nein, Mutter, das will ich auch nicht.« Er verstand noch nicht so ganz, wie sie es meinte.

»Ich kann dir dann nicht mehr auf deinen Weg leuchten. Aber der liebe Gott kann das. Er geht mit dir. Ich will ihn jeden Morgen und jeden Abend bitten, daß er dich nicht verläßt, daß er dir den rechten Weg zeigt. – Tu du das auch!«

»Ja, Mutter, das will ich auch.«

»Und dann schreib.«

»Ja, Mutter.«

Sie hatte umkehren wollen und nun ging sie doch weiter. Von Zeit zu Zeit rauschte es in den Büschen am Wege, Scholli sprang über den Wassergraben und erschien im Lichtkreise der Laterne. Schwanzwedelnd schaute er seinen Herrn an und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. Im Nordschauer Holz schlugen die Drosseln der Dämmerung entgegen, sonst war alles stille. In Gelting war hinter einigen Fenstern schon Licht. Sie gingen durchs Dorf und am neuen Kirchhof entlang nach Ohrfeld zu. Dann fing es an zu dämmern. Die alte Frau blieb stehen, löschte die schwelende Laterne aus und stellte sie auf den Fußsteig. »Hans, nun muß ich umkehren!«

»Mutter! – Mutter! Liebe Mutter!« Er konnte es nicht mehr zurückhalten, der aufwallende Schmerz durchbrach den Damm, den der Knabenstolz künstlich aufgeworfen hatte. Wie er als kleines Kind es getan hatte, wenn Leid ihn drückte, so warf sich jetzt der große Junge an ihre Brust: »Mudder, mien leewe Mudder, nu mutt ick weg von di!« Und er weinte bitterlich.

»Mußt nich weenen! – Mußt ja doch nich weenen!« schluchzte sie und wischte ihm die Tränen mit ihrer Schürze ab, wie früher, wenn er mit dem Kopf auf ihrem Schoß gelegen hatte und sie ihn tröstete.

»Bist du mi ock gud, Mudder? – Bist du mi ock gans gewiß öwer nix mehr bös, wat ick dahn heff?« –

»Du bist mien leewe Hans! Mußt ja nich weenen! Du kümmst ja werrer! – Und denn freuen wi uns. – Un ick bäd ja jeden Dag tom leewen Gott för di, mien Jung!« –

Ihre Stimme wurde wieder fest und zuversichtlich. Nun ihr Kind weinte, wurde sie stark und still. So ist das Mutterherz. – Eine ganze Weile hielt sie ihn umschlungen, streichelte seine Backen und trocknete ihm die Tränen.

Vom Ohrfelder Hof hörte man einen Wagen über das Steinpflaster rummeln, dann mahlten die Räder leise im Kies der Straße. Ein Peitschenknall kam von der nächsten Wegbiegung, man hörte das Schnauben der Pferde, da raffte Hans sich zusammen:

»Adjüs, Mudder, mien leewe Mudder!«

»Adjüs, Hans! Gah mit Gott!« – Das waren ihre letzten Worte, die rief sie ihm noch nach, als er zurückschaute und ihr zuwinkte. Dann verschwand er hinter den Büschen. Einen Augenblick stand sie still, gleich darauf war sie aber an der nahen Wegbiegung, da sah sie ihn noch einmal in der Morgendämmerung rüstig fortschreiten. – Nun war er fort. – Sie lockte Scholli heran, der mit aufgehobenem Vorderfuß winselnd sie anschaute, und streichelte ihm freundlich das nasse, schmutzige Fell. Er hatte ja auch seinen Kummer. – »Komm, Scholli! Wir können nicht mit, wir müssen nach Haus.« Dann nahm sie ihre Laterne und ging heim. Nun durfte sie weinen.

Als sie anderthalb Stunden später wieder die ersten Häuser von Falshöft erreichte, war sie wieder ruhig und stark. »Es steht in Gottes Hand!« Das felsenfeste Gottvertrauen hatte ihr beigestanden in Not und Tod. Als sie damals die Nachricht bekommen hatte, daß ihr Mann nie wieder heimkehrte, da hielt das sie aufrecht. Nun hatte sie wiederum ihr Einziges und Liebstes hergegeben, aber »ohne seinen Willen fällt kein Haar von unserem Haupte«, so stand für sie geschrieben im heiligen Buche! – Wohl dem, der eine so feste Stütze hat, die ihn hält, wenn alles rings umher schwankt und wankt, und wehe dem, der einem schwachen Menschen den Grund unterwühlt, auf dem diese Stütze ruht. – Weiß er denn, wann und wo jener sie gebrauchen muß, und kann er gerade diesem Menschen etwas besseres wiedergeben? – –

Als der Frühling den ersten Hauch von frischem Grün über die Weiden und Wiesen an der Flensburger Förde legte, als der Kiewit schreiend über das Noor dahinstrich und in den Binsen seinen Nistplatz suchte, als die schwarzweißen Tauchenten wieder zu zweien am Strande fischten und die großen Haffmöwen im Sonnenschein mit dem warmen Westwind spielten, da glitt eines Abends die »Marianne Dahl« mit vollen Segeln am nördlichen Ufer der Außenförde der Ostsee zu. Hans Thordsen war Decksjunge, denn er verstand schon etwas von der Sache, er hatte harte Hände und helle Augen und kletterte wie eine Katze. – Es war beim Wenden eine Leine an der Marsraa unklar geworden, und er wurde hinaufgeschickt, um sie klar zu machen. Er blieb aber merkwürdig lange oben. Die Landzunge, die an dieser Stelle die Förde verengt, war ja seine Heimat. Von der luftigen Höhe aus konnte er weit ins Land schauen. Und nun glitten im raschen Fluge die lieben, bunten Bilder an ihm vorüber, die er so gern festgehalten hätte. Es war ihm, als wenn er wieder in den Guckkasten schaute, mit dem der alte, bucklige Peter Benz im Winter von Schule zu Schule zog. Das war den Kindern auch immer zu schnell gegangen. Immer ein neues Bild! – Und man hatte das andere doch erst halb betrachtet. Aber es half nichts, daß man versuchte, ihm die Hand festzuhalten. Dann drehte er nachher um so schneller. Bild auf Bild zog vorüber, bis das letzte kam und man in den schwarzen, dunklen Kasten hineinstarrte.

So auch jetzt. Die Beveröer Mühlen kamen in Sicht, die beiden großen, die so langsam und bedächtig ihre Flügel bewegen und die beiden kleinen Bockmühlen, die es so eilig haben. Sie müssen das Wasser aus dem Noor mahlen, damit die Kühe vom Hofe dort ihr Futter finden können. – Gleich darauf aber schob sich der Wald vor das Bild und links tauchten die hohen Pappeln am Niebyer Wege auf. Zwischen ihnen war er neulich hindurchgegangen, als seine Mutter ihm das Geleite gab; schlank und gerade, wie eine Reihe Grenadiere standen sie da drüben, als wenn sie den Sohn der Heimat noch einmal grüßen wollten. Dann kam das einsame Eichen- und Schwarzdorngebüsch am Strande der Birk, das von Jugend auf gegen die scharfen Nordwinde einen harten Kampf ums Dasein geführt hatte. Vor ihm lag der gleichmäßig öde Strand mit dem braunen Tangsaum, endlich erschien das altersgraue Birkhaus mit dem zerzausten Strohdach und den grünlichen Fachwerkbalken. – Ein rothaariger Mädchenkopf tauchte vor ihm auf, er sah ihn freilich nicht mit den Augen, dazu war das Haus zu weit weg. »Birkfuchs, wenn du am Strande wärst, könntest du mein Schiff noch mal sehen!« murmelte er, dachte dann aber an wichtigeres. Hinter dem Birkhaus wurde jetzt der weiße Falshöfter Strand sichtbar, und in der Ferne hoben sich einzelne Häuser und Baumgruppen vom Abendhimmel ab. Dort lag seiner Mutter Haus. –

Er hörte nicht, daß unten zum »Backen und Banken« gerufen wurde, er lag oben auf der Raa und schaute hinüber nach dem Land. – Der Wind blähte die Segel und trieb die »Marianne Dahl« weiter und weiter. Da wischte er mit dem Hemdärmel über die Augen und machte rasch seine Arbeit fertig.

Die Jahre vergingen. – –

Des Schulmeisters Georg war ein kleiner dummer Junge, als Hans Thordsen konfirmiert wurde, nun war er in Schleswig auf dem Gymnasium. Wenn der wohlbestallte Tertianer in den Ferien zu Hause war, sah man ihn oft am Strand. »Was macht Hans?« rief er dann, wenn er Mutter Thordsen im Garten sah, und reichte ihr durch die Lücke in der Dornhecke die Hand.

»Hans geht's gut«, war stets die Antwort, ein freundliches Lächeln flog dabei über die faltigen Züge, und die grauen Augen fingen an zu leuchten. – »Hans ist in China« – »Hans fährt jetzt ums Cap Horn herum«, so oder ähnlich hieß es, und meistens setzte sie hinzu: »Komm man mal mit herein, Georg, ich will dir was Schönes zeigen.«

Die Kommode, auf der die Geburtstagstassen in Reihen aufgestellt waren, enthielt Schätze, die Hans mitgebracht hatte. Da gab es allerlei chinesisches Schnitzwerk zu sehen und Malereien auf silberglänzenden Perlmuttermuscheln, auch Haifischzähne und vergiftete Pfeilspitzen. Das Wunderbarste aber war ein vollständig aufgetakeltes kleines Schiff, ein Dreimaster, in einer Glasflasche. Der Hals der Flasche war so eng, daß der Rumpf des Schiffes eben hindurchkonnte, und doch stand es dadrin mit Masten und Raaen. Das war die reinste Hexerei; und es war doch keine Hexerei, denn die Sache war nicht von einem Chinesen, sondern von Hans Thordsen selbst gemacht. Mutter Thordsen wußte auch, wie es gemacht wurde, das durfte sie aber nicht nachsagen. Und dann wurden die letzten Briefe hervorgeholt, die Messingbrille wurde aufgesetzt, und Georg lauschte den Berichten von Sturm und grober See, von schwarzen und gelben Menschen.

Damals hatte der qualmende Dampfer, der ruppige Geselle, der sich um Wind und Sturm nicht zu kümmern braucht, noch nicht die Oberhand auf dem weiten Weltmeer, damals galt der Segler noch etwas, und die kostbarsten Lasten vertraute man ihm an. Wenn die erste Tee-Ernte in den beiden großen Teeverschiffungsplätzen Chinas, Hankau und Futschau, ankam, dann warteten dort schon die berühmten Teeklipper auf die Fracht. Und hatten sie diese wohlverstaut im Raum, dann ging die Wettfahrt los. Alle Segel wurden gesetzt, dann hieß es biegen oder brechen, denn wer die erste Ladung auf den Londoner Markt brachte, der erhielt von den Verfrachtern eine hohe Prämie. Außerdem wurde gewettet, große Summen wurden gesetzt, verloren und gewonnen; die Kapitäne und Mannschaften aber setzten ihr Leben ein, um Geld und Ruhm zu gewinnen. Zur Führung dieser riesig aufgetakelten Chinaklipper gehörte Erfahrung und Wachsamkeit, aber auch Wagemut und Kaltblütigkeit; die Mannschaft mußte die gewandteste und kühnste sein.

Mit Stolz zeigte Mutter Thordsen ein Bild des berühmten Klippers »Hallowen«, das über der Kommode hing und in China für einen unglaublich billigen Preis recht nett gemalt war. Der hatte alle anderen Klipper geschlagen und in 89 Tagen die Reise von Shanghai bis Dover gemacht. Hans war bei dieser Wettfahrt Matrose auf dem Schiff gewesen und schrieb von den Gefahren und Strapazen des tollkühnen Rasens. – Mit Stolz las die Seemannsmutter das vor, gespannt horchte Georg, und wenn er ging, bekam er die fremden Briefmarken.

*

Peter Ottsen war um diese Zeit schon ein großer Herr. Sein Vater war in den letzten Jahren etwas grau und steif geworden. Die Anfälle waren häufiger gekommen und nach und nach immer länger geworden. Schüttelte er den Vampir ab, der ihm die Ruhe raubte und sein Blut vergiftete, so kam der Rückschlag: Scheu und verdrießlich blickte er umher und gab auf harmlose Fragen barsche Antworten. Den Leuten ging er aus dem Wege und sie gingen ihm aus dem Wege. Auch seine Frau hatte den Kampf aufgegeben, sie stand vor einem schweren, unabwendbaren Übel und suchte nur zu verhüten, daß der Besitz nicht zu sehr geschädigt wurde. Wenn er im Rausch einen dummen Handel abgeschlossen hatte, dann suchte sie diesen rückgängig zu machen; wenn er einen Knecht geschlagen oder einen Händler beschimpft hatte, dann gab sie Geld oder tat Abbitte. Gleichwohl wurde sie für ihre Umgebung immer stolzer und unnahbarer; es war, als wenn sie jede Demütigung, die sie für ihn ertrug, dadurch wieder wett machen müsse. – Sie tat es ja nicht allein für ihn, sondern für ihren Besitz und für ihren Sohn, auf den der Hof und der Reichtum möglichst ungeschmälert übergehen sollte. Sie rechnete die Jahre aus, bis Peter verheiratet sein werde, dann müßten sie auf die Abnahme ziehen. Dann hatte ihr Mann sein Festes und Gewisses, und dann würde auch das mit dem Trinken besser werden. So dachte und rechnete sie.

Vorläufig hatte der Alte allerdings noch die Zügel in der Hand und dachte nicht an Abgeben und Abnahme. Wenn er mit schweren Schritten, stier vor sich hinblickend, vom Dorfe her und am Schulhause vorbei kam, dann drückte sich Georg Lorenzen vorsichtig hinter die dichte Dornhecke, die den Garten umschloß. Mit angehaltenem Atem horchte er auf die Worte, die der Vorübergehende im Selbstgespräch ausstieß. Nach so einer Periode war er mit Gott, der Welt und dem Wetter meist sehr unzufrieden und hielt damit nicht hinter dem Berge.

War es längere Zeit trocken und warm gewesen, dann brummte er: Jeden Tag prellt uns die Sonne auf'm Buckel. – Wenn Er da oben für die Lilien auf dem Felde sorgen will, warum läßt er es denn nicht regnen! – Die Kühe haben nichts zu fressen und brüllen nach Futter, das kann jeden Menschen jammern, wenn man das ansieht. Aber Ihm ist das egal! – Das ist 'ne dolle Wirtschaft!« – Und wenn es regnete, wenn gerade der alte Ottsen sein Korn mähen oder einfahren wollte, dann war er ganz besonders wütend und schimpfte: »Nu hat Er alles wachsen lassen und läßt es verderben. Ist da Sinn drin? Ist das das richtige und gerechte Regiment, von dem der Pastor redet?! – Immer Regen und immer Regen, Tag für Tag! – Das ist ja 'ne verrückte Wirtschaft! – Da kann der Teufel ja besser regieren!«

Dem Jungen hinter der Hecke lief es kalt am Rücken hinunter ob der gotteslästernden Rede. Wenn der leibhaftige Gottseibeiuns aus dem tiefen Grunde des Brunnens dort an der langen Stange heraufgeklettert wäre und dem alten Bauern das Genick umgedreht hätte, so würde er das für eine ganz angemessene Strafe gehalten haben. Aber im Brunnen regte sich nichts, und der alte Lästerer ging weiter, schüttelte den Kopf, hob drohend den gelben Eichenstock gen Himmel und ärgerte sich über den lieben Gott, über die ganze Welt und am meisten über sich selbst.

Wenn dann nach einigen Tagen die üblen Folgen und bösen Nachwehen des Trunks verflogen, dann war der alte Ottsen ein anderer Mensch. Dann drohte er nicht dem lieben Gott da oben, sondern höchstens den Schulknaben, wenn deren »Trüll« ihm an die Holzschuhe lief. Das war aber auch nicht böse gemeint.

Die paar dänischen Brocken, die er aus früherer Zeit noch behalten hatte: »Will de wäre rolig!« erregten regelmäßig echt jungenmäßige Heiterkeit.

Der »junge Herr« spielte eine andere Rolle.

Als in der meerumschlungenen Nordmark noch der Danebrog wehte, als die Schlagbäume der Chausseen noch rot und weiß angestrichen und die Kanonen des Danewerks und der Düppeler Schanzen noch südwärts gerichtet waren, da seufzte man in diesem gesegneten Landstrich zwischen der Flensburger Förde und der Schlei über das dänische Joch. Man ballte die Faust in der Tasche und schimpfte im vertrauten Kreise über die Regierung in Kopenhagen und über die stockdänischen Hardesvögte, aber – man freute sich, daß man nichts mit den preußischen Feldwebeln zu tun hatte. Beim Militärdienst kam man glimpflich weg. Die Dienstzeit war kurz, und wer Geld hatte, kaufte sich einen Stellvertreter. So verdienten die einen, und die anderen brauchten nicht zu dienen. Das war recht nett und bequem.

Als dann aber die Sturmkolonnen der Preußen und Österreicher die deutsche Grenze nach Norden bis an die Königsau verschoben hatten, als man wieder frei und öffentlich das Schleswig-Holstein-Lied spielen und singen durfte, da zog mancher Militärpflichtige ein schiefes Gesicht, wenn – – vom »bunten Rock« die Rede war. Nun konnte man keinen Stellvertreter mehr schicken, nun mußte man selber kommen und sich vom Unteroffizier die Beine gerade biegen lassen. Das war kein Spaß für die Bauernsöhne. – Aber die Preußen waren gar nicht so schlimm, als es zuerst den Anschein hatte, bei ihnen gab's ja eine einjährige und eine dreijährige Dienstzeit. Die hohe Sprungleine, die vor das Einjährigenjahr gespannt war, steckte man damals einige Löcher tiefer, damit die Bauernsöhne hinüberkommen konnten. Die Ansprüche, die man beim Examen an sie stellte, waren in der Übergangsperiode recht mäßige, sie wurden erst später von Jahr zu Jahr verschärft.

Peter Ottsen hatte das Examen bestanden. Im Rechnen hatte er das große Einmaleins gut gekonnt, das war eine schöne Leistung! Er wußte auch, daß die Elbe ein Fluß bei Hamburg war, daß der König von Preußen Wilhelm hieß, und daß die Gans ein Wasservogel war. So kam er denn einige Monate später als flotter Husar auf Urlaub nach Hause. Als er mit der blauen Attila, den engen schwarzen Hosen und Reitstiefeln und mit langhängendem Schleppsäbel – alles natürlich feinste Extrauniform – spazierenging, damit alle Eingeborenen die Gelegenheit hatten, einen schönen preußischen einjährig-freiwilligen Husaren aus nächster Nähe zu sehen, stand Georg gerade an der Gartenpforte.

»Guten Morgen, Peter!« grüßte er freundlich und legte die Finger an seine kleine, grüne Tertianermütze. Der Husar warf nur einen halben Blick über den Schulmeisterjungen hinweg, blies eine Rauchwolke kräftig von sich und rasselte weiter. – Etwas besser erging es dem Lehrer, der an der Hausecke stand und seinem ehemaligen Schüler schon von weitem zunickte. Peter Ottsen nahm den Säbel in die Linke, drückte dessen oberes Ende an die Hüfte und schritt in würdiger Haltung vorüber, indem er die Rechte leicht gekrümmt, beinahe bis an den Mützenrand legte und genau so herablassend grüßte, wie die Offiziere es ihm gegenüber zu tun pflegten.

Lorenzen blickte ihm lächelnd ins Gesicht und zog, sich tief verneigend, die Mütze. Er glaubte, das Ganze sei nur Spaß; erst als Peter Ottsen den Säbel wieder aus der Hand ließ und mit langen Schritten weiterging, ohne sich umzublicken, merkte der harmlose Schulmeister, wie es gemeint war. Da nickte er ein paarmal bedächtig mit dem Kopfe, brummte etwas vor sich hin, das beinahe klang wie »dummer Bengel« und ging ins Haus.

Als aber am nächsten Sonntag Peter Ottsen nach Gelting zur Kirche ging, feierte er seine schönsten Triumpfe. Husaren hatte man in der Gegend allerdings schon gesehen, aber einen Einjährigen in so glänzender Uniform doch noch nicht!

Als die Glocken läuteten und der Pastor grüßend durch die auf dem Kirchplatze stehende Menge schritt, trat Peter Ottsen aus der gegenüberliegenden Gastwirtschaft heraus und ließ den Säbel auf den steinernen Treppenstufen klirren; sofort wandten sich die Köpfe dorthin und voller Verwunderung machte man ihm Platz. Ein Rekrut von der Sonderburger Festungsartillerie, der zum ersten Mal auf Urlaub in die Heimat losgelassen war, zog die Knochen zusammen und stand stramm, als der Husar vor ihm auftauchte. Er hielt die glänzende Erscheinung für einen Offizier.

»Süh mol dor, dat is Thomas Ottsen sien Söhn«, rief eine alte Frau.

»Kiek dor, Peter Ottsen!« hörte der Held des Tages hier und da flüstern. Er aber hielt den Kopf gerade im Kragen und hoch aus der Halsbinde heraus, er zuckte mit keiner Wimper. Er verzog keine Miene, wenn ihn aus den Reihen der Tagelöhner und Knechte jemand mit unverschämt vertrautem Lächeln begrüßte. Auch Peter Greggersens freundliches »Gun Dag, Peter!« überhörte er völlig. Und nachher beim Mittagessen äußerte er sich abfällig über den kleinen buckligen Kerl, der »die Kriegskasse mit sich herumtrug« und doch ein »verhungerter Schneider« war.

Die größeren Besitzer und ihre Söhne aber wurden von Peter eines freundlichen Blickes gewürdigt; ganz nach Leutnantsart fiel der Gruß hier aus. Einigen vertrauten, natürlich reichen, Bekannten streckte er die weißbehandschuhte Rechte entgegen. Bei Emma Marxen vom Kallumhof blieb er stehen, nahm die Hacken zusammen, legte die Finger an die Mütze und machte ihr eine etwas steife Verbeugung. Sie errötete bis ins blonde Haar hinein und reichte ihm die Hand, sie wußte aber im Augenblick gar nichts zu sagen und zu antworten. Da kamen auch die beiderseitigen Eltern hinzu, man tat sich zusammen und zog in die Kirche, nach dem erhöhten Platz, der Kanzel gegenüber. Ringsumher flüsterte man und stieß sich an; erst als der Pastor auf die Kanzel ging, gab es Ruhe und Andacht.

Ganz unten in der Ecke unter dem alten Orgelboden saß Meta Norgaardt; sie diente jetzt als »Binnerdeern« auf Schnarstruphof. Sie war eine von den wenigen Leuten, die Peter Ottsen nicht wegen unziemlicher Vertrautheit in die ihnen zukommenden Schranken hatte weisen müssen. Sie hatte das Gepäck vom Wagen geholt, als er ankam, und war in der Haustür beinahe gegen ihn angelaufen. Etwas verwundert war er stehengeblieben und hatte sie angestarrt. Das eigenartige leuchtende Rot ihrer Haare hatte ihm in die Augen gestochen; es war ihm auch gleich aufgefallen, daß ihre Gestalt hübscher geworden war – merkwürdig hübsch für eine Pflanze, die auf solchem Boden gewachsen! – »Hübsche Mädchen und flotte Husaren, das paßt zusammen«, so sagte man in Schleswig und sang dazu ein Lied von der »Soldatenliebe«, die von heute bis morgen früh dauert. – Peter Ottsen, der reiche Bauernsohn, nickte und lächelte, sie aber, das arme Dienstmädchen, verzog keine Miene, sie blickte starr und kalt an ihm vorbei, als hätte sie ihn früher nie gesehen. Im nächsten Augenblick war sie an ihm vorübergeschlüpft.

Es waren Tage der Wonne und Triumpfe, die Peter Ottsen in der Heimat verlebte, leider waren die nur von kurzer Dauer. Wenn er auf dem Grauschimmel durchs Dorf ritt, dann liefen die Leute an Türen und Fenster, und als er an der Schule vorbeikam, waren Ruhe und Aufmerksamkeit dahin, Lorenzen mußte erst einige Einreibungen mit »Haselfett« machen, um alles wieder in guten Gang zu bekommen.

Ein halbes Jahr später mußte Peter die glänzende Uniform ausziehen, leider ohne am Kragen die Tressen oder auch nur einen Gefreitenknopf bekommen zu haben. Eines Tages war er wieder auf Schnarstruphof, sah wieder so aus wie die anderen gewöhnlichen Menschen, lernte es auch wieder, mit ihnen zu verkehren. Natürlich spielte er den Knechten und Mädchen gegenüber den Herrn. Am besten gelang ihm das, wenn sein Vater nicht dabei war; so leicht ließ sich nämlich der Alte das Heft nicht aus den Händen nehmen. Er war zuweilen recht mißtrauisch und schrie ohne besondere Veranlassung die Leute an: »Noch bün ick Herr!« Peter fand sich aber in seine Rolle hinein; als ihm dann doch die Zeit dabei etwas lang wurde, ging er ein Jahr nach Kappeln auf die Ackerbauschule. Dort sah man ihn mit Heften und Büchern gehen, sehr oft saß er aber auch bei Scharstein und trank Bier und Grog – je nach der Jahreszeit.

So kam das Jahr 1872 heran.

*

Klaus Groth sagt in seinem Gedicht »De Floth«:

»De Ostsee is je'n Pohl,
Awer de Floth, de is dull!« –

Wer die große Sturmflut vom 13. November 1872 an der Ostsee miterlebt und miterlitten hat, der weiß es aber, daß nicht nur die Nordsee eine Mordsee ist, sondern daß auch die friedliche, freundliche Ostsee toben und wüten, daß sie Gut und Leben der Menschen erbarmungslos verschlingen kann.

Ein starker, anhaltender Wind hatte von Westen her viel Wasser um Skagen herum in die Ostsee getrieben. Dann sprang er nach Nordost um und bald drängte ein gewaltiger Sturm die Wassermassen auf die südwestlichen Küsten des großen »Pohls«, namentlich auf das schleswig-holsteinische Land.

»Das Wasser ist hoch«, hieß es am Abend des 12. in Falshöft, aber man dachte sich nichts weiter dabei. Man ging an den Strand und zog mit »Horiöh« und »Alle Mann nochmaal!« die Fischer- und Lotsenboote höher hinauf auf die Drecht. Dann ging man ruhig zu Bett, machte mit nassem Finger das Talglicht aus, zog die Bettdecke bis an die Ohren hoch und freute sich, daß die Häuser hohl und die Dächer dicht waren. Der Püsterich mochte pfeifen und an Türen und Fenster klopfen – herein konnte er nicht. Wenn er dann einen Augenblick anhielt, um neuen Atem zu schöpfen, dann hieß es: »Aha! Nun kann er nicht mehr. Nun geht ihm die Puste aus. Ja, ja, so was hält man nicht lange aus!« – Dann kam er aber gleich wieder und heulte höhnisch durch den weiten Schornstein: »Ich kann noch besser!« – Er riß die Haken aus dem morschen Holz der Stalltüren und warf die dann donnernd auf und zu, er pochte an die Fensterladen und durchs Eulenloch: »Ich will euch Schlafmützen bald zeigen, was ich kann!« Dazu aber brüllten und brausten die Wellen; das drang weit hinein ins Land.

Am frühen Morgen, als der erste graue Schimmer über Aerö sichtbar wurde, standen die Falshöfter Fischer am Strand und schauten auf die Brandung, die den flach ansteigenden Strand peitschte. Als es heller wurde, kamen immer mehr Leute, um sich das Schauspiel anzusehen, das Wind und Wellen boten. Wie sie heranstürmten, die langgestreckten, weißköpfigen Brecher! – Draußen in der Tiefe bäumten sie sich und spielten mit dem Sturm; wenn sie aber den Sandrewel erreichten und festen Boden unter sich fühlten, dann bildeten sie schräge anlaufende Sturmkolonnen; sie richteten sich hoch auf und warfen sich brüllend auf die Schanzen, die ihnen entgegengestellt waren. Sie konnten aber nichts dagegen ausrichten: sie überschlugen sich in ohnmächtiger Wut und wichen in Schaum vergraben zurück. Aber gleich drängte der Hintermann mit noch wilderer Hast nach. Er kam auch schon ein Stück höher hinauf, wo noch keiner vor ihm gewesen war, und warf, hinstürzend die weiße, mollige Mütze hoch in die Luft, weithin über Sand und Tang, hinüber auf die Felder, in die Gräben und auf die Dächer des Dorfes. »Wir kommen nach!« brüllten draußen und am Strande die übermütigen Stürmer des Meeres: Wir kommen nach und treiben die Menschen vor uns her, die da glauben, sie seien die Herren dort!«

Aber die Leute verstanden nicht, was die krausköpfigen Brecher schrien; sie glaubten nicht, daß sie jene Grenzen überschreiten würden, die seit Menschengedenken Flut und Wellen überragt hatten. Die alten Lotsen freuten sich sogar, daß ihnen mal wieder ein anständiger Seewind um die Nase pfiff. Sie saßen hinter den Booten und erzählten von den Taifunen, die sie in den chinesischen Gewässern erlebt hatten. Da waren die Masten abgeknickt wie Zündhölzer, vierzöllige Trossen waren gerissen wie Bindfäden, das Meer hatte ausgesehen wie Schwarzsauer und der Himmel gelb wie Schwefel. – Ja, das war fürchterlich gewesen; dagegen war dies der reine Spielkram. – So sagten sie.

Mutter Thordsen war auch an den Strand gekommen. »Wat'n Storm! – Wat'n Storm!« sagte sie wohl zehnmal und band sich das bunte Tuch fester über die grauen Haare. »Ach Gott, so'n Storm, un denn buten op See!«

Aber Lotse Matthiesen tröstete sie: »Hans lag vor sechs Tagen seeklar in Riga. Sie haben gegen den Wind kreuzen müssen. Jetzt sind sie ganz gewiß auf hoher See. Die »Enigheden« ist ein gutes Schiff und wer das unter den Füßen hat, der braucht nicht bange zu sein.«

»Wat'n Storm awers!« sagte Mutter Thordsen.

»Ach was, das hat keine Not«, entgegnete Matthiesen ärgerlich. »Die Frauensleute sind gleich bange. Bei so'n Wetter liegt man mit einem Segel hart im Wind, dann pfeift er durchs Tauwerk und die Wellen waschen mal über Deck, aber machen können sie nichts. – Machen können sie gar nichts.«

»Ich weiß das wohl«, sagte die Frau. »Mein Mann hat mir genug davon erzählt. Aber wer weiß, ob der Schoner jetzt die offene See vor sich hat!?« – »Bange bin ich auch nicht«, setzte sie dann nach einer kleinen Weile hinzu. »Ich bin doch 'ne Seemannsfrau. Aber 'ne Seemannsmutter macht sich doch noch mehr Gedanken, als 'ne Seemannsfrau. – Und er ist ja mein Einzigster.« – Die Männer sagten nichts dazu, sie aber konnte die bösen Gedanken nicht los werden. Sie ging wieder heim, nahm die alte Bibel und las darin. Sie dachte an die vielen Nächte, die sie in jungen und alten Tagen schlaflos gelegen, wenn der Sturm über ihr niedriges Strohdach brauste und die See ihr die Sorge um Mann und um Kind ins Ohr brüllte. Wie oft hatte sie dann die Hände gefaltet und aus tiefstem Herzen heraus so laut und lebendig mit ihrem Herrgott gesprochen, daß sie die feste Überzeugung gewann, er strecke die starke Hand aus und halte den in sicherer Hut, für den sie gebetet. Und doch war es nicht immer so geschehen. – War sie lässig oder kleinmütig gewesen? »Des Herrn Wege sind nicht unsere Wege«, hatte damals Pastor Hansen sie zu trösten gesucht. – Es war ihm nicht gelungen, erst die Jahre hatten das trostlose Gefühl abgeschwächt. Nun war sie zu alt, um noch Schwereres zu verwinden! –

Immer mehr Leute kamen an den Strand.

»So lange ich denken kann, ist das Wasser nicht so hoch gewesen«, sagte der alte Vater Tramm, »und das sind nun bald 70 Jahre.«

»Zwei Fuß kann es noch steigen, ehe es an meine Schwelle kommt«, meinte Lotse Matthiesen und blickte hinüber nach seinem kleinen, schmucken Hause, das er vor drei Jahren am Haff, auf der Höhe der Drecht, gebaut hatte. – »Aber so hoch kommt es nicht«, setzte er dann hinzu.

»Wenn es aber erst über die Drecht läuft, dann wird es schlimm«, sagte Vater Tramm. »Dann versäuft uns das Vieh im Stall.«

»So hoch kann es unmöglich kommen«, versicherte Peter Jansen.

Gleich darauf kam sein Junge angelaufen, er hatte die Holzschuhe in der Hand und rannte, was er konnte, auf Strumpfsocken. »Das Birkhaus steht schon im Wasser«, schrie er.

»Dann kriegt Jens Norgaardt nasse Füße.« Peter Jansen lachte. »Und du kriegst gleich en Jackvull, wenn du die Holzschuhe nicht anziehst«, bedeutete er seinem Jungen. Keiner lachte mit. Aber man ließ die Hoffnung nicht sinken und redete sich gegenseitig Mut zu:

»Der Wind geht nach Norden um.«

»Dann muß er abflauen.«

»Es schien heute morgen, als ob das Wetterglas wieder ein bißchen herauf wollte.«

So redete man, Wind und Wasser aber kehrten sich nicht daran. Immer weiter, Schritt für Schritt, leckte die hungrige Flut am Strand empor. Bald schien sie zu stehen, dann machte sie aber wieder einen Sprung bergan. Wo vor einer Stunde nur noch die ungestümsten Dränger den trockenen Sand berührt hatten, da wälzte sich jetzt schon Woge auf Woge. Immer schneller erfolgte der Angriff: Die anprallende Woge riß die kraftlos zurückweichende zu neuem Ansturm mit sich fort, immer wilder brüllten Sturm und Brandung, und immer mehr wich die Hoffnung aus den Herzen der ohnmächtigen Menschen.

Wieder kam ein Junge gelaufen: »Hinter der Birk läuft das Wasser über die Drecht ins Noor. Man kann den breiten Streifen vom Schmiedeberg aus sehen.« Da fuhr allen der Schreck in die Glieder.

Nun fiel ihnen der Feind, dem sie zuerst neugierig, dann furchtsam ins Gesicht gestarrt hatten, auf Umwegen in den Rücken. Sie verließen eiligst die Schanzen; sie sahen nicht mehr, wie auch hier die Sturmflut über den Berg stieg, wie dann alle Hemmnisse durchbrochen und fortgeschwemmt wurden. Sie rannten nach Hause, um zu retten, was zu retten war.

Peter Jansen blieb; sein Haus lag am anderen Ende des Dorfes, am weitesten vom Strand, er ließ überhaupt die Hoffnung nicht fahren. »Das gibt Luft«, meinte er, als er hörte, daß bei der Birk das Wasser überflutete. Aber das bißchen Wasser, was aus der Ostsee herauslief, war nur ein Tropfen. Das Haff war voll genug, und der Wind sorgt für Nachschub. Bald mußte auch Peter Jansen die Hoffnung aufgeben, denn nun drängte ein breiter Wasserstrom in den Weg hinein. Die wütende Flut riß Sand und Steine, Boote, Brückenbohlen und Segelhaus mit sich fort, alles im bunten Durcheinander. Man meint, daß er es noch verflucht hat, sein Boot zu bergen, aber niemand hat's gesehen. Er hat's auch keinem erzählen können.

In Falshöft aber wogte in jedem Hause der Kampf um Gut und Leben. Jetzt war es bitterer Ernst. – Die Stalltüren auf, sonst geht's dem Vieh ans Leben! – Für die Schweine war es am schlimmsten; wenn man sie an den Ohren packte, so drängten sie rückwärts, und zog man sie am Schwanz, so wollten sie vorwärts. Bald stand das Wasser höher als die Stalluken und man mußte sie ihrem Schicksal überlassen. Den wenigen Kühen, die im Dorf waren, wurden die Klagen abgenommen; mit Schlägen trieb man sie gegen den Strom ins Freie, nach Nieby zu, auf den Schmiedeberg. Dort standen sie naß und zitternd hinter dem Knick. – Die Hühner flogen in ihren Ställen von einer Stange auf die andere, immer höher, aber das Wasser kam nach.

Mutter Thordsens Haus lag höher als die Straße. Bald schon lief ihr das Wasser über die Türschwelle auf die Hausdiele und in die Stube. Sie hatte aber schon die Stühle auf den alten, dicken Eichentisch gestellt. Oben darauf packte sie das Bettzeug und allerlei Hausgerät – so hoch konnte das Wasser doch nicht steigen! – Aber es stieg und stieg. Es trieb die Mäuse aus den Löchern des gemauerten Feuerherdes, ohne Scheu schwammen sie in der Küche und der Stube umher, die spitzen Schnauzen eben über Wasser, die Ohren hoch. – Das hielten sie aber nicht lange aus, so kletterten sie denn an den Tischbeinen und Schränken empor. Niemand kümmerte sich um sie, jeder dachte an das eigene Leben.

Das Wasser aber stieg und stieg, es löschte das Feuer auf dem Herd aus und plätscherte unter den Brettern der Bettstelle, es füllte die Schubladen der Kommode und warf die schönen Geburtstagstassen um, die oben drauf so nett in Reih' und Glied standen; es hemmte den Perpendikel der alten Wanduhr, die bisher unbekümmert um das Hasten und Treiben in gleichmäßigem Ticken weitergearbeitet hatte; es stemmte sich unter den schweren, alten Kleiderschrank, hob ihn auf und warf ihn um. Nach einer Stunde schon plätscherte es am Balken der Decke, nun mußten die Mäuse doch dran glauben! – Die Menschen aber waren rechtzeitig auf den Boden geflüchtet.

Mutter Thordsen jammerte nicht um ihren mühsam erworbenen Hausrat; ihre Gedanken waren draußen auf dem wilden, wütenden Meer. Aber nach dort hinaus sehen konnte sie nicht, ihre Bodenluke führte nach der Dorfstraße; hier sah sie Unglück und Verwüstung genug. So weit sie blickte, nur Wasser: trübe, brausende Flut, die im Sturmlauf landeinwärts drängte. Die Pappeln und Apfelbäume ragten standhaft daraus empor, vom Buschwerk auf dem Knick sah man aber nicht viel mehr, nur die Spitzen der Haselbüsche und Schwarzdornsträucher patschten im Wasser umher. Wie kleine trostlose Inseln lagen die grauen und grünmoosigen Strohdächer der Häuser mitten in der gewaltigen Sintflut.

Auf Peter Jansens kleinem Backhaus saß oben zwischen den Hängehölzern, im weißlichen Seegras, ein Hase. Der hatte wahrscheinlich am Grabenwall gelegen; der angenehme Geruch des grünen Kohls hatte ihn zu lange dort festgebannt. Dann war plötzlich der Graben voll Wasser gelaufen und die Flut war am Wall hinaufgestiegen. Hätte die alte, krumme Weide nicht an der Mauer gestanden, und wäre von hier aus das Backhaus nicht mit einem guten Sprung zu erreichen gewesen, so hätte er zum letzten Mal Kohl gerochen. – Nun drückte er sich hinter den Schornstein, aber Jansens Kinder sahen ihn doch. Sie dachten aber nicht daran, ihn mit Steinen totzuschmeißen, sie schrien nach ihrem Vater. Der kam immer noch nicht. Der kam nimmermehr! – Als man ihn wiederfand, lag er unter seinem gestrandeten Boot mit eingedrücktem Brustkasten: tot. – – –

Mutter Thordsen hatte die Hände gefaltet und blickte stumm hinaus auf die Verwüstung. Ihr konnte der Tod heute oder morgen kommen, wenn er nur ... Ein starker Stoß erschütterte plötzlich ihr Häuschen, gleich darauf scheuerte und rammte, von den Wellen hin und her geschleudert, ein schwerer Gegenstand an der Giebelwand vorbei, das war Fischer Hans Braacks großes, grünes Boot. Bald trieb es weiter am Knick entlang, blieb an den hohen Eschenbüschen hängen, schwenkte herum und wurde mit Macht gegen die Hausecke seines Eigentümers geworfen. Hier kenterte es und trieb mit gebrochenem Steven kieloben weiter.

Fischer Braack saß mit seiner Frau und seinem kleinen Enkelkinde auf dem Boden. Seine Schwiegertochter lag mit fiebernden Wangen und matten Augen, mit Bettzeug zugedeckt, auf dem Stroh. Vor acht Tagen hatte sie das Knäblein geboren. – Der alte Braack sagte kein Wort, als er das Wrack seines Bootes vorübertreiben sah, er fand es in diesem Augenblick eigentlich ganz natürlich, daß an diesem Unglückstage auch dieser treue Geselle sein Ende fand. – Er dachte aber an jene Nacht, wo er vor zwei Jahren bei Schleimünde vom Gewittersturm überrascht wurde. Schwarzblau stand damals der Himmel im Osten über dem Wasser; züngelnde Blitze schossen daraus hervor und beleuchteten grell die dunkle See. Der Donner grollte von fernher dumpf herüber. – Sie hatten sich zuerst nicht viel darum gekümmert; sie hatten nur ein Reff in das Großsegel geschlagen und waren weiter gefahren, denn von Osten kam ja doch fast nie ein Gewitter auf. Das Wasser zog es an und ließ es nicht hoch. Und sie wollten noch vor Dunkelwerden nach Hause. – Dann aber war urplötzlich ein Heulen und Pfeifen, ein Prasseln und Krachen durch die Luft gegangen; von den dunklen Massen im Osten hatte sich eine schwarze Fahne losgetrennt und war nach Schwansen hinübergezogen. – »Die Schoten los! Großsegel herunter!« schrie der alte Braack. Aber das Boot legte sich so weit über, daß das Wasser über den Bordrand lief; das Großsegel stand noch prall und stramm, das Boot war unklar geworden. Da ging es auf Leben und Tod. In der Angst hatte der alte Braack mit dem Bootshaken das Segel entzwei gehauen. – Ja, in der Todesangst! – Nicht um sein altes Leben, sondern um Christian seines, der hinten am Steuer saß. Die Lappen des Großsegels flatterten und prasselten gegen den Mast, das alte Boot richtete sich wieder auf und ging langsam und schwerfällig in den Wind. Damals ging's noch gut. Am nächsten Sonntag gingen beide in die Kirche und hielten, als sie im Gotteshaus waren, ihre Mützen sehr lange vors Gesicht. Dieses Mal nicht aus alter Gewohnheit, sondern weil sie ihrem Herrgott was zu sagen hatten! –

Im letzten Frühjahr aber war Christian von den erbarmungslosen, beutegierigen Fluten doch gefaßt; bei Weidefeld hatten sie nach fünf Tagen seinen Leichnam an den Strand geworfen, bei Golsmaas trieb das Boot an. Die ganzen Tage hatte der alte Braack im Wasser und am Strand nach seinem Sohn gefischt; ein Glück wenigstens, daß sie ihn überhaupt fanden. So kam er doch endlich zur Ruhe. Christians Kameraden Johann Dau fand man erst viel, viel später. –

Der alte Vater hatte dann seinen Sohn in diesem Boot geholt. Es war so schönes Frühlingswetter gewesen, die klaren Wellen hatten an den Bug geplätschert und dem Toten ein letztes Seemannslied gesungen. – Ein trauriges Lied! – Wie gerne hätte der alte Braack sich dort am Boden des Bootes lang und steif hingelegt, wenn der Junge hätte das Ruder in die Hand nehmen können. – Und er nahm wieder die Mütze ab und hielt sie vors Gesicht. Er warf sich auf die Knie, er betete und bettelte und glaubte im einfältigen Kinderglauben, in der Überreizung der fünf, von Sorge und Qual erfüllten, durchwachten Nächte und Tage, der liebe Gott dort oben könne und müsse ein Wunder tun, wie einst zu Nain geschehen. – Aber der Jüngling vor ihm blieb steif und starr. Als der Vater das Segel zurückzog, sah er in das fahle Totenantlitz mit dem wirren Haar und den fest zugekniffenen Lippen. – Da rollte ihm eine heiße Tränenflut an den Wangen nieder, er konnte weinen! –

Seit einem halben Jahr lag nun Christian in Gelting auf dem Friedhof, und der alte Braack fuhr allein aus zum Fischen, er mußte auch noch für die Witwe seines Sohnes und für sein Enkelkind sorgen. – Wie aber sollte es nun damit werden? – Das kam ihm erst in den Sinn, als das Wrack aus dem Gesichtskreis verschwunden war.

Vom Strande war nichts mehr zu sehen, über die Drecht hinweg brandeten überall die Wellen. Soweit man hinausschauen konnte, sah man nur weiße, hochgepeitschte Kämme über der dunklen Flut hinwegrollen. Aber wer kümmerte sich noch darum, was draußen auf der See vorging!? – Fast alle Fischer und Lotsen, Kätner und sonstigen Dorfbewohner waren von den Fluten auf die Dachböden gedrängt. Hier wurden sie belagert; jeder Einzelne und jede Familie hatte genug mit sich selbst zu tun. –

*

Im Birkhaus war man ganz von Gott und aller Welt abgeschnitten. Als die ersten Spritzer über die Drecht hinwegflogen, sagte Fritz Böhm: »Nach meinem Leben frag' ich nicht viel, denn wenn ich tot bin, kann ich ruhig liegen und brauche nicht zu schuften und zu rackern, aber – im Wasser mag ich nicht versaufen!« – »Wenn wir man einen in'n Buddel hätten!« fügte Niklas Böhm hinzu. – »Adjüs, Jens Hannemann!« riefen sie Norgaardt zu. »Paß auf, daß das Wasser dir nicht in die Toffeln läuft! Das ist nicht gesund!« Dann machten sie sich auf die Lappen nach Falshöft zu.

Als sie bei der Stelle ankamen, wo vor einer halben Stunde das Salzwasser nur in einer flachen fußbreiten Rinne ins Noor geflossen war, machten sie große Augen und fingen an zu fluchen. Dort floß nämlich jetzt schon ein breiter Strom, der Sand und Tang, Kies und Steine vor sich ins Noor hineinwälzte und gierig nach beiden Seiten griff.

»Immer durch!« schrie einer dem anderen zu. »Noch ist's Zeit. Fix drauf los, wenn's auch nasse Füße gibt!« Sie gingen hinein bis an die Knöchel und sanken weiter bis an die Knie. »Oha, oha!« – »Zurück!« hieß es da. Ja, zurück, das war leichter gesagt als getan. Der aufgeweichte Sand saugte, er hielt fest, was er hatte. Auf allen Vieren mußten sie zurück; die Holzschuhe, die sie vor acht Tagen erst beim Höker in Gundelsbye gestohlen hatten, blieben im Grunde stecken. Das war schlimm, aber das Leben hatten sie doch geborgen. Eiligst mußten sie den Rückzug antreten.

Jens Norgaardt war's nicht spaßig zu Mute, als sie wieder beim Birkhaus ankamen, aber er lachte doch. »Nu habt ihr ja nasse Füße gekriegt und ich nicht.« – »Das kommt noch!« war die brummige Antwort. Dann gingen alle daran, die Türen fest zuzumachen und von außen mit Grassoden zu verstopfen. Das Wasser trieb sie bald von ihrer Arbeit, durchs Fenster kletterten sie ins Haus.

Zwei Stunden später saßen sie auf dem Boden, unten war das Wasser. Die beiden alten Böhm jammerten über ihren armseligen Schrank und die elenden Bettstellen, die im Wasser schwammen. Ihre Ziege hatten sie mit herauf gerettet, die schnupperte im Heu herum und schien sich ganz behaglich zu fühlen. Die beiden Söhne saßen in der westlichen Dachecke, wo der Wind nicht ankam, und schauten stumpfsinnig hinüber nach dem Niebyer Kliff, das steil aus der Flut emporragte und von dem die Brandung machtlos abprallte.

Das ganze Noor war ein weites Meer. »Wenn das abläuft, bleiben 'ne Masse Aale im Noor zurück«, meinte Niklas Böhm.

»Die kriegst du diesmal nicht, aber vielleicht kriegen sie diesmal uns«, höhnte Fritz, der ältere Bruder.

Niklas sah auf: »Wie meinst du das?«

»Einen Tod kann der Mensch nur sterben«, war die Antwort.

»Der Deuwel hol!« fuhr Niklas auf. »Du meinst doch nicht, daß es uns ans Leben geht? So schlimm wird's wohl nicht werden.«

»Wenn's noch ein paar Stunden so weiter geht, dann steh ich für nichts. Auf der Leeseite sind die Mauern schon heraus, nur das Fachwerk steht noch.«

»Das ist aber eichen und fest!«

»Jawohl, so lange noch die Dachlast darauf liegt. Ich bin nicht umsonst dem Zimmermann aus der Lehre gelaufen, soviel habe ich doch gelernt.«

»Schnack du und der Deuwel! – So hoch kommt das Wasser nicht.«

»Der Deuwel hilft uns nicht – den laß nur jetzt in Ruhe. Der mag mit'm Wasser nichts zu tun haben. Der hat mit dem Schnaps mehr im Sinn.«

»Verdammich, du willst wohl nun noch en Betbruder werden! – Kannst dein Vaterunser noch? Hast oft genug Prügel gekriegt, wenn du's in der Schule nicht konntest.«

»Halt's Maul! Uns nützt kein Beten, aber auch kein Fluchen. – Ich bin für mein Leben und vorm Sterben nicht bange. Hab' schon mal den Strick um den Hals gehabt, damals als ich zum ersten Male in Kappeln im Loch saß. Da dachte ich dann aber, daß ich mich noch bessern könnte und ließ das Hängen sein. – Als ich wieder herauskam, hatte ich nichts zu beißen und keine Stelle zum Schlafen, und als ich mir ein paar Bankschillinge zusammengebettelt hatte, da kaufte ich mir Schnaps. Am anderen Tage traf ich dich beim Jebenholzer Krug. Weißt du das noch? – Da saßen wir denn und redeten vom »roten Hahn«, daß die Leute Angst bekamen und uns Branntwein gaben und Geld, damit wir weiter gingen. Nachher kam der Gendarm uns auf'n Hals. Und am Abend saß ich schon wieder in Kappeln im Loch und du nebenan, und dann am andern Tag ...«

»Donnerwetter, laß das Geplärr!« fuhr Niklas auf. »Was gibst du mir die Schuld, die hast du ebenso gut auf dem Gewissen.«

»Pst! Stille!« mahnte Fritz und vergrub die bloßen Beine tiefer ins Stroh. »Red' dich nicht um deinen Hals.«

»Kümmer' du dich um deinen Hals, Bangbüx!« schrie der andere so laut, daß er das Brausen des Sturmes und das Brüllen der Wellen übertönte.

»Streitet euch nicht!« rief Jens Norgaardt herüber. Er saß, den Kopf in die Hände gedrückt, auf einem alten Fischkasten. Seine Frau saß neben ihm. Sie hatte, was sich an Zeug und Lumpen auftreiben ließ, um Leib und Brust gewickelt; keuchend ging ihr der Atem aus der kranken Lunge. – Ein altes Gesangbuch lag auf ihrem Schoß, aufgeschlagen war die Nummer 850; mit leiser Stimme las sie das für »In Wassersnöten« bestimmte Lied:

Wir sind in Not:
Laß uns, o Gott,
Die Flut nicht überschwemmen!
Nimm uns in Acht;
Wehr ihrer Macht;
Du kannst die Wogen hemmen!
Verbirg jetzt nicht
Dein Angesicht;
Gedenk an uns in Gnaden!
Gott, wenn uns itzt
Dein Arm beschützt:
Was kann das Meer uns schaden?
Ach, hilf uns, Herr
Allmächtiger,
Um Jesu Christi Willen!
Ach, du allein,
Kannst uns befrein:
Kannst Sturm und Wellen stillen!
Erbarme dich!
Hilf väterlich!
Beschütz uns Gut und Leben!
Dann wollen wir
Dir, Gott, dafür
Dank, Preis und Ehre geben.

Finster blickte der Mann vor sich hin. Er sagte kein Wort, aber wenn die Balken ächzten, dann zuckte er zusammen. Durch sein Gehirn schossen Gedanken und Pläne, wie er sich selbst würde retten können, wenn dieser wackelige Bau zusammenstürzte. An seine Frau dachte er nicht. – Was kam's darauf an, wenn sie in den Fluten ihren Tod fand, dann hatte die kranke Brust nicht mehr zu arbeiten, dann war er eine Last los.

»Wie wird Meta um uns in Angst sein«, flüsterte sie, wie im Selbstgespräch, vor sich hin. – »Ach Gott, wie wird sie sich sorgen.«

»Die hat's besser wie wir«, brummte er ärgerlich. Da knackte das Haus in allen Fugen, voller Schrecken sprang er auf und schob den Kasten, auf dem er gesessen hatte, an die Dachluke. Daran wollte er sich klammern, wenn's ins Wasser ging.

Aber noch hielten die eichenen Pflöcke die Ständer fest. Die Wellen stießen alle Lehmwände heraus und konnten an keine Flächen mehr anprallen. Als dann aber das Dach an der Traufe eintauchte, als das Wasser hinauf auf den Heuboden stieg, da wurde die Gefahr wieder größer. Die Menschen kletterten höher hinauf und machten sich Löcher oben in dem alten Strohdach, um hinauszuschauen und im äußersten Notfall sich aufs Dach retten zu können; die Ziege folgte nach. Jens Norgaardt vergaß nicht, seinen Kasten mit nach oben zu schleppen. Sein gebrechliches Weib hoben die beiden Böhmen auf ihre Schultern und brachten es in Sicherheit. Dabei brummte Niklas: »Dein Kerl ist ein noch viel größerer Lump als wir beiden zusammen. Wenn ich mich nicht schämte, mich an so'n jämmerlichen Lappen zu vergreifen, dann kriegte er Prügel!« – Sie hörte es kaum, sie dachte an ihre Tochter.

»Hallo, was ist das?« schrie auf einmal Fritz Böhm. »Da kommt ein Schoner von draußen. Steckt mal ein Notzeichen durch das Dachloch. Vielleicht setzt er ein Boot aus.«

»Der wird sich hüten, hat genug mit sich selbst zu tun«, meinte Niklas.

In Jens Norgaardt aber kam Leben. »Schnell, schnell!« schrie er und versuchte eiligst mit allen Kräften eine Latte aus dem Dach zu brechen. »Gib ein Stück Lappen her, Line!« Und er riß ihr das Tuch fort, das ihre Brust umhüllte.

»Laß ihr das Tuch!« schrie Niklas. »Nimm deinen eigenen Rock!« Er packte ihn mit kräftiger Faust am Genick, riß ihm den alten Rock in Fetzen vom Leibe und warf ihm die Lumpen vor die Füße. »Da hast du deine Fahne, du feiger Kerl!«

Der so plötzlich Überfallene stieß nur einen Fluch aus und warf dem als gewalttätig weit und breit bekannten Menschen giftige Blicke zu. Dann knotete er das zerrissene Lumpenwerk an das Ende der Latte und steckte seine Notflagge zum Dachloch hinaus. Die Böhmen lachten verächtlich.

Vom Kliff aus hatte man den Schoner schon länger beobachtet und die Manöver, die er machte, besprochen. Es standen da gewaltig kluge Leute – leider konnten sie den Leuten an Bord weder raten noch helfen. Das Schiff war, mit Sturmsegeln vor dem Winde treibend, von Aerö herübergekommen, und nun sahen die Seeleute hier statt der Einfahrt in die Flensburger Förde ein unbekanntes, weites, wildes Meer vor sich. Alles war überschwemmt; die Gegend fast unkenntlich gemacht. Was tun? – Man ging daher über Stag und lag nun mit kleinen Segeln hart am Winde. So trieb der Schoner schwerfällig in der brausenden See.

Bald nach Mittag war es. Ein Matrose stand am Ruder und paßte auf, daß die Segel eben voll standen. Der Kapitän hatte die Wache gehabt, er war nach unten gegangen, um etwas zu essen. Der Steuermann hatte das Glas vorm Auge und beobachtete scharf die Küste. Er sah mitten im Wasser einen grauen Punkt und dann eine Flagge. – Plötzlich wurde es ihm klar, wo er war. Im nächsten Augenblick stand er vor dem Kapitän.

»Wir treiben auf die Birk zu. Ich kenne jetzt die Gegend genau. Alles ist unter Wasser, wo sonst Land war.« Hans Thordsen war es, der das rief, und das Schiff war die »Einigheden«, die mit Roggen von Riga kam.

»Und was nun?« fragte der Kapitän unschlüssig.

»Wir müssen sofort Segel setzen und mit raumem Wind um die Birk und den Kalkgrund herum!«

»Bei dem Sturm lauf ich ohne Lotsen nicht in die Förde ein; ich habe schon einmal auf dem Kalkgrund gesessen. Ich will mein Patent nicht riskieren.«

»Lotsen gibt's heute nicht!« sagte Hans Thordsen bestimmt. »Bei dem Sturm können keine hinaus.«

»Die Kerle sitzen natürlich bei ihrem Glas Grog und reiben sich den Buckel am Ofen. Setz' die Lotsenflagge, sie sollen her. – Das wollen wir doch gleich mal sehen.«

»Unmöglich!«

»Den Deuwel auch! Wofür werden sie denn bezahlt? Lot' mal, wieviel Wasser wir haben.« Sie gingen nach oben.

»Noch haben wir acht Faden«, sagte Hans Thordsen ruhig, »aber das wird bald anders. Sehen Sie dort die Brandung, das ist der Sandrewel, da gibt's vielleicht schon Grund. Das Schiff ist steuerlastig, geht hinten zehn Fuß.«

Ratlos starrte der Kapitän nach dem Lande hinüber.

»Wenn wir nicht bald die Lappen hoch kriegen, dann nützt es überhaupt nichts mehr«, drängte nun der Steuermann. »Wir müssen sofort das Marssegel setzen und mit Vorsicht in die Förde und in die Geltinger Bucht hineinfahren. Das geht noch, in zehn Minuten aber ...«

»Ohne Lotsen tue ich's nicht!« schrie der Kapitän mit heiserer Stimme.

»Was wollen Sie denn machen?« fragte Hans Thordsen.

»Halsen!«

»Halsen? – Ehe wir herum sind, sitzen wir schon fest.«

»Halsen! Dann wieder hart an den Wind!« entschied der Kapitän.

»Sett de Mars!« rief mit mächtiger Stimme Hans Thordsen. Dann knatterte und knallte das Marssegel im Sturme. Der Steuermann hielt das Schiff hart in den Wind. Die Brassen wurden angeholt. Sturm und Wellen packten gleich darauf das Schiff und schleuderten es wie eine Nußschale hin und her. Dann kamen die Brecher von hinten und wuschen über das Heck und über den Mann am Steuer hinweg; der aber stand ruhig und sicher. Die Matrosen braßten die Marsraa. Nun wurde das Schiff nach der anderen Seite hinübergeworfen, daß die Reeling im Wasser stand; dann ging es wieder hart an den Wind. In diesem Augenblick gab's hinten einen Stoß, daß die Leute hinstürzten. Das Schiff krachte und zitterte und taumelte wie ein betrunkener; brausend und brüllend stürmten die wütenden, grauen Mordgesellen über die Reeling hinweg, alles mit sich fortreißend, was nicht niet- und nagelfest war, und was nicht mit eisernen Fäusten sich festhielt. Zwei- oder dreimal stieß der Kiel noch auf den Sand; dann war das Schiff über den Sandrewel hinweg und bekam wieder etwas tieferes Wasser.

»Anker los!« brüllte der Kapitän. – Hans Thordsen machte den Stopper los; klirrend und funkensprühend schoß die Kette durch die Klüse. Dann drehte der alte Schoner wieder langsam die Nase in den Wind.

Der Anker hielt, wider Erwarten; man ließ nun so viel Kette auslaufen als irgend möglich, damit er besser halte und das Schiff stetiger liege. – Wie lange? – Hans Thordsen stand vorn auf der Back; er blickte in die kochende See hinaus und hinüber nach seiner Heimat. Wie mochte es dort aussehen?

Der alte Schoner ächzte, wenn ihn ein Wellenberg hoch warf und dabei die Ankerkette anzog, daß sie straff stand wie ein Zwirnsfaden; der alte Schoner stöhnte, wenn er dann gleich ins tiefe Tal hinabschoß. Im nächsten Augenblick tauchte sein Ausleger mit der Spitze in den schäumenden Kamm der aufbäumenden Welle, die Sturzsee schwang sich über die Reeling und peitschte klatschend das Deck entlang. –

Der Wind hatte ein paar Minuten etwas nachgelassen; gleich danach aber pfiff und heulte er wieder durch das Tauwerk, als ob der Teufel los sei. – Die Ankerkette klang und klirrte und knirschte in der Klüse, als sollte sie gesprengt werden, wenn das Schiff hoch aufbäumte. Mit einem Male gab's an der Ankerwinde einen Schlag und ein knatterndes Klirren, als wenn der Blitz niedergeht – ein Kettenende fuhr funkensprühend aus der Ankerklüse heraus. – Die nächste Welle warf das haltlose Schiff vorn hoch empor und riß es dann mit sich fort. Schwerfällig schaukelnd trieb es über Steuer in den schaumbedeckten Wellen dem Strande zu.

Hans Thordsens Stimme übertönte Brüllen und Brausen.

»Hoch die Vorsegel! Herum mit dem Ruder!«

Jetzt gings ums Leben, so oder so. Das Schiff schwankte und stampfte; die Männer konnten sich kaum an Deck und vorn am Ausleger halten, aber sie kriegten doch den Klüver los und ein Stück hochgezogen. Das Segel flatterte und knallte.

»Höher hinauf damit! – Haalt an!«

Steif stand es im Winde. Schwerfällig drehte der Schoner sich etwas herum, aber Sturm und Wogenprall waren zu mächtig! – Ja, wenn der Strand nicht schon zu nahe, wenn sie etwas mehr Zeit gehabt hätten, mehr Segel zu setzen, dann wäre dies Manöver vielleicht – vielleicht ihre Rettung gewesen. Nun war's zu spät. Gerade vor dem Birkhaus war es, da faßte die Landbrandung das taumelnde, fahrtlose Schiff; gleich darauf stieß es mit dem Ruder und mit dem Hintersteven hart auf Grund. Das Schiff trieb wieder herum, mit dem Bug nach Land zu; ein paarmal wurde es noch von den Wellen gehoben und immer fester auf den Sand gerammt, dann gingen die Brecher über das Schiff hinweg, schlugen das Boot gegen die Schanzkleidung, daß die Splitter umherflogen und wuschen von Deck fort, was nicht bordfest war.

»Wo is de Stürmann?« brüllte der Kapitän den Matrosen zu, die hinter der Reeling Schutz suchten. Die zeigten nach vorn. Dort hatte er das Boot klar machen wollen. Sie wußten nicht, daß er dabei vom Bootsdavit am Kopf getroffen und hingestürzt war. –

Krampfhaft hielt Hans Thordsen sich im ersten Augenblick an einer Decksluke fest, die von den Sturzseen losgeschlagen war. Aber die verlor den Halt und wurde mit dem Mann über Bord gespült.

Keiner schrie: »Mann über Bord!«, nur der Sturm brüllte sein Lied! – Ein paar gewaltige Wellen gingen über ihn hinweg, mit starren Fingern hielt er sich an dem eisernen Griff des Lukendeckels fest und wurde hin und her geworfen. Als er wieder auftauchte, war er vom Schoner schon drei Schiffslängen ab; noch rief er im Todeskampf: »Hälpt – häl ...«, den Rest erstickten die Fluten. Die schweren Seestiefel zogen ihn nach unten und der steife Ölrock hemmte seine Bewegungen. – Die Luke kippte um. – Aber die Todesangst gibt Riesenkräfte. Noch einmal spannte sie die Muskel und Sehnen des Halbbetäubten. Mit beiden Fäusten krallte er sich an dem vorstehenden Deckelrand fest und warf sich herum, daß die Wogen von hinten über ihn hinwegschlugen. Da kriegte er wieder einen Moment, wo er Luft holen konnte, drei, vier kurze, röchelnde Atemzüge nur, aber sie gaben ihm so viel Besinnung, daß er die Arme anziehen und den großen hölzernen Deckel unter die Brust schieben konnte. – Es war die höchste Zeit, viel an Lebenskraft und Muskelspannung hatte der Mann nicht mehr zu vergeben, und was noch im haltlosen Körper drin war, das war nötig, um den Kopf über Wasser zu halten. Welle auf Welle ging über ihn hinweg, sie rasten um ihn herum, sie schleuderten ihn hinunter in die Tiefe und hoben ihn wieder mit Hohngebrüll auf ihren schaumbedeckten Rücken, daß er mit halbem Leibe auftauchte. Weit ab sah er den Schoner den gleichen Kampf kämpfen. Dann verschwand das Bild. Es wurde dunkel vor seinen Augen, ganz dunkel, wie mitten in der Nacht. Eine angenehme Müdigkeit aber zog nun durch seine Glieder; er fühlte den Krampf in den Armen und den Schmerz in den Fingernägeln nicht mehr, warm rieselte es durch seinen Körper. – Einmal noch hoben ihn die Wellen hoch, aber nicht so gewaltsam wie vorher. Es war ihm, als würde er von lieben Armen getragen. Die hoben ihn ans Licht, um ihm noch einmal die Heimat zu zeigen. Er sah ein kleines Haus mit Strohdach aus dem Wasser herausragen und eine Fahne sah er auf dem Dach. – Man winkte. – Einen Augenblick nur war der Schleier von diesem Bilde gezogen, – dann verschwand es. Ein Singen und Klingen tönte herüber von weiter Ferne, dann brauste und läutete es dicht vor seinen Ohren. – Das waren die Geltinger Kirchenglocken, so hatten sie geklungen, als er zum ersten Male als Junge zur Kirche ging. Und dazwischen hörte er das laute, vielstimmige Rufen der Rabenschwärme, die in den hohen Eichen am Hausgraben von Geltinghof zu hunderten ihre Nester hatten – »de Baron sien Kreien«. – Aber lauter noch schrien sie heute als damals, und sie schlugen nach ihm mit ihren schwarzen Flügeln. – – Dann sah er seine Mutter. Sie hielt ihn an der Hand, die Glocken klangen feierlich und die Orgel spielte »Nun danket alle Gott«. Er aber stand wieder mit den beiden Kronsgaarder Jungens vor dem Altar. – Seine Mutter strich ihm mit leiser Hand liebreich über das Haar. – Da wurde er ruhig, – ganz ruhig. –

»Er treibt hier gerade auf uns los«, sagte Niklas Böhm. – »Näh, doch nicht. Nun wirft ihn die Brandung wieder weiter hinüber.«

»Hallo!« rief Fritz und legte beide Hände an den Mund. »Hallo!« »Hol di!« »Hier is Land!« »Hol di!«

»Der ist tot.«

»Dann hielt er sich nicht mehr auf dem Brett fest.«

»Da hat er sich an festgekrallt in der Todesangst.«

»Kann sein, es kann aber auch noch Leben in ihm sein«,

»Kann gar nicht angehn.«

»Donnerwetter! – Nun treibt er wieder hier herüber gegen die hohen Dornbüsche. – Hallo! Hol di!«

Dicht an die Hausecke heran trieb schwerfällig in den Wellen der Mann auf der Luke. Hätten sie einen langen Bootshaken gehabt, so hätten die Böhmen ihn heranholen können. Nun trieb er weiter gegen einen der dichten Dornbüsche an, die eben aus dem Wasser emportauchten und dick voll von angeschwemmtem Tang saßen. Da schoß Fritz Böhm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf.

»Jens Norgaardt! Die lange Fangleine, die du im Sommer bei Falshöft gefunden hast, wo ist die?«

»Weiß nicht«, war die knurrige Antwort.

»Du hast sie damals hier auf'm Boden verstaut. Her damit!«

»Ich hab' sie nicht, ich weiß von nichts!«

»Her damit.« brüllte ihn nun der Strolch an. »Her damit, oder ich schlag dir, hol' mich der Teufel, alle Knochen entzwei.« – Er packte ihn an der Brust und schüttelte ihn. Der Däne riß sich los; ehe der andere wieder zufassen konnte, hatte er den Fischkasten umgedreht, darunter lag die Fangleine: sein Rettungsseil.

Einen Augenblick hatte die Geschichte nur gedauert. Im nächsten Augenblick hatte Fritz Böhm Rock und Weste ausgezogen und sich das eine Ende des Seiles um die Brust geknotet.

»Halt das Ende, Niklas«, sagte er und gab es seinem Bruder in die Hand.

»Willst du's wirklich?« fragte der verwundert.

»Man kann doch nicht die Hände in die Taschen stecken und zugucken, wenn so'n Mensch, der um sein bißchen Leben so gekämpft hat, hier vor unseren Augen ersäuft.«

Jens Norgaardt lachte höhnisch und rief: »Der Bengel ist verrückt geworden.«

Niklas Böhm sagte nichts weiter. Er stemmte sich gegen die Dachbalken und hielt das Tauende mit beiden Händen fest.

Fritz glitt vom Heuhaufen hinunter ins Wasser hinein: »Huh – huh! – Brr!« machte er. »Huh! Huh! Bannig kalt!«

Dann arbeitete er sich durch das offene Fach des Dachgiebels und warf sich mit weitvorgestreckten Armen in die Flut. – Es war die Luvseite, die Wellen brachen sich vorn am Dache. Hier wogte das Wasser in langer Dünung hin und her, nur etwas weiter ab, wo die Dornenbüsche anfingen, stiegen wieder die weißen Kämme hoch. Dort wurde der Schiffbrüchige noch immer von den zähen und zackigen Zweigen festgehalten.

Wie eine Ratte schoß der Kerl durch die Flut. Er hatte nicht umsonst als Junge tagelang im und am Wasser herumgelegen, schwimmen konnte er! – Als er aber aus dem Schutz des Hauses herauskam, ging der Tanz erst richtig los. Zwar trieben ihn die Wellen auf den Verunglückten zu, aber der Strom stand quer zum Noor hin. Fritz Böhm merkte das gleich, er arbeitete mit aller Macht nach der Seeseite zu, als wollte er nach Kekenis hinüber. – Niklas verstand das Manöver und ließ langsam immer so viel Leine los, als eben nötig war. – »Stopp!« rief dann der Schwimmer; Sturm und Wellen überbrüllten ihn zwar, aber Niklas wußte Bescheid. Er hielt die Leine stramm, daß der Strom den Bruder mitnahm und landwärts gegen das Dornengestrüpp trieb. – Noch ein paar kräftige Schläge mußte Fritz mit den Armen machen, dann zog Niklas mit kurzem Ruck das Tau an. Fritz packte mit der rechten Hand in die zähen Zweige des Schwarzdorns und hatte im nächsten Augenblick den Gestrandeten mit der Linken zu sich herangezogen. – »Hol di, Hans Thordsen!« rief er laut. Der aber griff mit lahmen Händen in die Luft, die irren Augen öffneten sich weit und aus seinem Munde kam ein gurgelnder Laut. – Fritz hatte mit den Füßen Halt gefunden und stand aufrecht auf einem Ast. »Hol di, Hans Thordsen!« – Da kam noch einmal etwas Leben in den todesmatten Menschen, er ließ die Luke fahren und klammerte sich an den Retter.

Fritz Böhm hatte mehr als einmal mit seinem elenden Leben gespielt, ihm hatte das Wasser und das Messer schon öfters an der Kehle gesessen. – Wie der Fuchs im Eisen hatte er dann um sich gebissen und gleichzeitig nach einem Ausweg geschaut. Auch jetzt verlor er die Geistesgegenwart nicht.

Um seinen Leib hatte sich der Verunglückte geklammert, mit den Beinen hielt er selbst sich im Baum fest, die eine Hand hatte er frei. Nun lockerte er vorsichtig und gewandt die Schlinge, die ihm auf der Brust lag; im nächsten Augenblick schlang er sie um Hans Thordsen. Das war nicht so leicht.

»Los! Laat los, Hans Thordsen!« Der wußte noch immer nicht, was mit ihm geschah. Mit Gewalt mußte Fritz Böhm sich freimachen. Er hielt den Ermatteten an den Handgelenken. »Haal an!« rief er nach drüben: »Donnerwetter, haal an!« Nun verstand ihn Niklas. – Ein Ruck! – Hans Thordsen stieß einen Schrei aus und griff mit beiden Händen in die Luft. Dann fühlte er die Brust zusammengeschnürt und sich durchs Wasser gezogen. – Zwei kräftige Fäuste packten ihn. Im nächsten Augenblick lag er lang hingestreckt auf dem Heu. – Gerettet!

In der gleichen Minute ließ Fritz Böhm den Dornbusch fahren und schwamm zurück. Das war ein Verzweiflungskampf, schlimmer als er geglaubt hatte. Es ging auf Tod und Leben! – Mit kräftigen Zügen kam er zuerst vorwärts, fast bis zur hintersten Hausecke. »Die Leine her!« – so wollte er rufen, aber eine Welle ging über ihn hinweg. Niklas war auch nicht an der Luke, der hatte noch mit Hans zu tun. – Aus dem Loch im Strohdach aber schauten Jens Norgaardts tückische Augen heraus. – Fritz trieb von der Hausecke ab ins Noor hinein. – Als er bei den beiden Pappeln vorbei kam, die am Gartenwall stehen, da spannte er noch einmal alle Kräfte an. – Aber hier kam er auch schon aus dem Schutz des Hauses hinaus. – Mit jeder Faser kämpfte er ums Leben, da packte ihn eine Welle und warf ihn an die Pappel. Dumpf schlug sein Hinterkopf gegen den Stamm, dann ging der Schaum über ihn hinweg. Einmal sah Jens Norgaardt noch ein paar geballte Fäuste aus dem Wogenkamm ragen. – Als Niklas wieder mit dem Seil an die Bodenluke trat, war sein Bruder verschwunden. Der eine der beiden »Landschrecken« hatte sein »Lumpenleben« abgeschlossen.


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