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I.

»Und noch immer keine Aussichten? Ich sehe es an deinen finstern Mienen, daß auch dieser Weg ein vergeblicher war! Schon ist es Mittag! Um sechs Uhr fährt das Schiff ab. Schon zweimal waren die Leute hier, um die Koffer zu holen. Der Hauswirth aber weigert sich, dieselben, herauszugeben, so lange die rückständige Miethe nicht bezahlt sei!«

Mit diesen leidenschaftlich und hastig gesprochenen Worten empfing ein bleiches Frauenzimmer, das am Fenster einer ärmlich meublirten Mansarde stand, den eintretenden Gatten, welcher den grauen Filzhut stürmisch von dem Kopfe riß und ihn in einen Winkel warf, wo ein etwa vierzehnjähriges Kind mit einer leichten Handarbeit beschäftigt, leise weinend auf einer Holzkiste saß. Die Kiste trug die Signatur: »A.D… Amerika.« Das völlig ausgeräumte, kahlwändige Zimmer ließ auf Auszug der jetzigen Bewohner schließen. Nur ein sehr unförmiger hölzerner Tisch und zwei Rohrstühle, die dem Hauswirth gehören mochten, standen in der Mitte desselben. Kisten, Koffer und Paquete lagen in wilder Unordnung auf dem Fußboden. Frau und Kind erschienen schon im völligen Reisekostüm. Es war eine dürftige Garderobe. Der Mann in dem vom Kopf zu Fuß schwarzen, an vielen Stellen verdächtig glänzenden Anzuge, die Weste eng um den Hals zugeknöpft, ohne sichtbare Wäsche, mit schmutzig gelben Glacehandschuhen und fuchsig rothen Stiefeln machte den Eindruck eines heruntergekommenen Schulmeisters oder Advokaten. Adolar Dalwing war in der That das Letztere. Er gehörte nicht zu den zünftigen Jüngern Justinians, sondern war Winkeladvokat. Er zählte zu dem grossen Corps räthselhafter Existenzen, deren Anzahl in den grösseren Städten den Statistiker mit Staunen, den Menschenfreund mit Wehmuth und Mitleid erfüllen mag.

Adolar war, ohne auf die Frage der Frau zu antworten, an den plumpen Holztisch getreten und ergriff eine Rheinweinflasche, die auf demselben stand. Hastig führte er den langen Hals der grünen Bouteille an die Lippen, deren jetziger Inhalt eine Ironie auf die halbabgerissene, buntfarbige Etiquette derselben war. Ein scharfer Spiritusgeruch verbreitete sich, nachdem er getrunken, im Zimmer. Das weinende Kind saß noch immer im Winkel. Die Frau war zu dem Gatten getreten und legte beide Arme auf seine Schulter.

»So weit ist es mit uns gekommen?« flüsterte sie mit einer Stimme, die die Verzweiflung eines völlig entmuthigten und hoffnungslosen Herzens abspiegelte.

»Soweit!« wiederholte der Mann. Seine Stimme klang heiser, der Ton war voll giftigen Spottes und mitleidslos, fast höhnisch lachte er das bleiche Weib an, das jetzt die Arme schlaff herniedersinken ließ, und wie von innerem Schauder über diese Herzlosigkeit des Mannes einen Schritt zurücktrat.

»Ich habe dir's ja im voraus gesagt!« rief er nach einer Weile mit erhobener Stimme und starrte dann mit den rollenden schwarzen Augen durch die trüben Fensterscheiben zu dem verwitterten Giebeldache hinüber, das hoch und steil vor dem Fenster der elenden Mansardenwohnung aufstieg. Ein trüber Herbsthimmel lag über den Dächern. Nur selten lugte die Sonne durch den dichten Wolkenschleier, der in seltsamen Formationen den Himmel bedeckte. Der Wind, der an den Fensterläden rasselte, trieb von Zeit zu Zeit schwere Regentropfen an die Glasscheiben.

»Damals freilich lag der Gedanke an solches Elend« – fuhr er mit dumpferem Tone und langsamer fort – »noch ferne. Aber ich sah's kommen! Ich wußt' es wohl! Von Jugend auf spielte das Fatum Fangball mit mir. Es führte mich nur darum zu Zeiten auf die sonnigen Höhen des Glückes, um sich hernach zu weiden über den tiefen Fall, der jedes Mal folgte!… Warum hörtest du nicht auf mich? Alles, Alles habe ich dir ja prophezeit – damals!«

»Damals – o damals!« flüsterte die Aermste und kreuzte beide Arme über die Brust, als drohe dort etwas zu springen vor entsetzlichem, übermenschlichem Weh! Es lag in diesem einen Worte eine ganze Welt voll Schmerz – es klang wie die Trauerglocke um ein ganzes, verlorenes Leben: damals!…

Er war dicht an das Fenster getreten und wühlte mit den schmalen und abgemagerten Fingern in dem Lockenhaar, das wild und unordentlich die hohe, bleiche Stirn umflatterte. Der herbe, ironische Zug, der vordem die schmalen, zusammengekniffenen Lippen umspielte, war jetzt verschwunden – auch in seine Züge trat ein unsägliches Weh, ein schmerzliches, krampfhaftes Zucken machte die Lippen erbeben.

»Ja damals – da du kamst zu mir und sagtest, daß du mich liebtest und ich trunkenen Auges in dein erröthendes Antlitz schaute – da war's zum ersten Male, daß ich Lieblingssohn des Unglücks, auf eine Wandelung meines feindseligen Geschickes hoffte. Auf deinen Wangen glänzte es mir wie Morgenroth eines neuen Lebens entgegen und die noch jugendlich begeisterte Phantasie träumte von glücklichen Zeiten!«…

Es zuckte jetzt wie Mitleid und Liebe in seinen dunklen Augen und er reichte, als wolle er sein voriges Unrecht gut machen, die Rechte dem armen Weibe hin, das sich dicht an ihn schmiegte.

»Und wenn auch jene Träume sich nicht erfüllten« – sprach sie mit sanfter, herzlicher Stimme – »soweit sie sich auf äußeres Glück bezogen – haben wir uns selbst nicht noch wie damals, mein Freund?… drüben beginnt ein neues Leben! Hoffe! Eine neue Heimath – ein neuer Herd winkt uns entgegen im Lande der Freiheit, wo der Mensch nur geschätzt wird nach dem, was er kann! Deine Gaben und Talente finden dort den weitesten Spielraum; keine Schlagbäume mittelalterlicher Zunft engen dort dich ein. In ungehinderter Entwicklung deiner Kräfte muß es dir gelingen, dich emporzuschwingen zu einer unabhängigen Stellung, wie sie dir das Vaterland leider nie gewährte! Und treulich stehe ich dir zur Seite! Muthig, stark und getreu will ich ausharren neben dir! Auch ich will arbeiten«

»Arbeiten? Ja wohl!… daß es sich mir inwendig umkehrt wie ein zweischneidiges Schwert, wenn ich dich da droben stehen sehen soll auf diesen weltbedeutenden Brettern! Ich ertrag's nicht!«…

»Schmähe nicht die Kunst, mein Freund. Sie war es ja, die uns zusammenführte!«

»Sie war's auch, die dich aus dem Hause des Glanzes und Reichthums, aus dem Stande höchster bürgerlicher Ehre und Ansehens hinausschleuderte in die wilde Brandung des Lebens und auf schadenfroher Welle hinübertrug zu meinem Elend, so daß wir selbander wie die Ausgeflossenen und Verfehmten gleichsam auf einer schwimmenden Insel vorüberflogen an Allem, was ein sicherer Herd, eine geachtete bürgerliche Stellung dir von der Wiege an bestimmt hatte!… Ich komme vom Protonotar. Du weißt, auf ihn hatten wir unsere letzte Hoffnung gesetzt. Umsonst! Vergebens! Ich bat – ich flehte – alle Teufel, ich glaube gar, ich weinte! Er blieb kalt –hart wie ein Marmorblock!«

»Noch Eins ist übrig!« rief sie, ihn leidenschaftlich unterbrechend und ihr Auge strahlte von höherem Glanze. »Ein Gott hat diesen Entschluß mir eingegeben. Ich führe ihn aus!«

Sie zog das dürftige Umschlagtuch fester um die Schultern und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Ich errathe nicht – was du willst,« sprach er, und blickte halb erstaunt, halb argwöhnisch zu ihr hinüber.

»Ich gehe zu – ihm!«…

»Gabriele du bist von Sinnen! Zu – ihm? Nein – nimmermehr! Ich lasse dich nicht fort. Diese Erniedrigung tödtet mich!«

»Er ist gut! Ich weiß es. Es ist lange her – seitdem er mich sah zum letzten Mal… Das Kind nehme ich mit mir. Wir beide wollen stehend seine Kniee umfassen. Komm Meta!«

Das Mädchen hatte sich erhoben und eilte zur Mutter.

»Da bin ich, lieb' Mütterchen. Wohin soll ich mit Dir gehen?«

Sie zog das Mädchen an sich und drückte einen heißen Kuß auf die weiße Stirn desselben, das mit so lieben, unschuldsvollen Augen zu ihr aufblickte. Dann öffnete sie ein kleines, einfaches Medaillon und zeigte es dem Kinde.

»Zu dem!« flüsterte sie und eine Thräne glänzte in den schwarzen, seidenen Wimpern, indem sie der Kleinen das Bild zeigte, das sich in der silbernen Kapsel befand.

»Ach endlich – endlich!« jubelte das Kind und streckte die Arme empor, die Mutter zu umarmen. Eine fast leidenschaftliche Gluth lag in den wenigen Worten des Kindes. »Ja komm, komm schnell, liebste Mama! O wie gern folge ich Dir, und bitten will ich so sehr ich nur kann, daß er wieder gut werden mag mit Dir und dem Vater.«

Der Advokat ermannte sich erst jetzt aus der finstern Erstarrung, die ihn, wie es schien, zeither umfangen.

»Unmöglich, Gabriele!« rief er mit lauter Stimme. »Du darfst nicht, ich befehle Dir zu bleiben.«…

»Ach laß uns doch gehen, Papa –ich bitte Dich!« flehte die Kleine.

»Kein Wort mehr davon: Ihr bleibt!«…

»Es ist ja das letzte Mittel« – wagte die Frau einzuwenden.

»Lieber sterben – als das!« rief der Mann.

Draußen verkündete eine nahe Thurmuhr die zweite Stunde des Nachmittags.

»Noch vier Stunden!« murmelte er mit gepreßter Stimme. Dicke Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn und er warf einen verzweifelten Blick auf die im Zimmer zerstreuten Reiseeffekten. »Bei allen Teufeln – er muß!«…

Hastig unruhvoll schritt er auf und ab. Sein Weib hatte sich seinem Befehle gefügt und ihren Entschluß aufgegeben, von dem sie eben noch so zuversichtlich Rettung hoffte in ihrer entsetzlich bedrängten Lage. Sie hatte das blonde Mädchen zu sich auf den Schooß gezogen und saß nun in dumpfer Apathie neben dem Ofen auf der Holzkiste.

Der Advokat hatte sich in ein noch dürftigeres Nebenzimmer begeben. Zerrissene Strohsäcke lagen dort auf elenden Bettstellen. Nur ein einziges Fensterchen erhellte den kleinen Raum. An den gelbgefärbten Wänden sickerte das Wasser herab. Er trat zu einem schwarzen Holzkästchen, welches unweit des Fensters stand. Die Thür hatte er hinter sich verschlossen.

»Es muß sein!« flüsterte er und sein Auge heftete sich mit einem fast irren Ausdruck auf das Kästchen. »Immer noch hielt ihr Auge – ihr Trosteswort mich zurück.… Es ist auf's Aeußerste! In wenig Stunden sind wir in Sicherheit. Wer wirft auf mich den nächsten Verdacht? Weiß doch die Stadt, wie gespannt und feindselig wir mitsammen stehen, weiß man doch, daß wir uns seit Jahr und Tag nicht mehr sahen, daß wir uns meiden wie Pestkranke! Er ist allein. Alle Dienstboten sind auf der Hochzeit. Die alte Köchin allein, die harthörige, halbblinde Person, hütet das Haus. Er selbst ist leidend.«…

Er hatte unter diesem Selbstgespräch das Kästchen geöffnet, welches allerlei Kuriositäten in sich barg. Seltsame Waffen aus tropischen Ländern, Trinkschaalen, Versteinerungen, Holzschnitzereien nahm er hervor. Es mochte der Rest einer Sammlung sein, die er vordem in bessern Zeiten aus Liebhaberei angelegt. Er flüsterte bei jedem Stück den Fundort, den Namen des Gebers oder Verkäufers. Aus China, Peru, Texas, ja aus Neuseeland und den Sandwichsinseln stammten dieses naturhistorischen, kleinen Museums wunderliche und interessante Einzelheiten.

»Dort ist's!« rief er endlich und langte einen kurzen Indianerpfeil hervor, dessen Spitze er vorsichtig abbrach. Dann schloß er hastig den Kasten, barg die Pfeilspitze, nachdem er sie in ein Papier mehrfach eingewickelt, in der Seitentasche und kehrte zu Frau und Kind zurück.

»Noch eine Stunde und wir sind gerettet!« rief er mit fester, zuversichtlicher Stimme, indem er eintrat.

Erstaunt blickte die bleiche Frau zu ihm auf.

»Fragt mich nicht!« fuhr er etwas hastiger fort. »Sobald der Schuft von Hauswirth auf's Neue drängen will, sagt ihm, ich kehre in einer guten Stunde zurück, und würde ihn dann zuversichtlich befriedigen.«

Das Weib hatte sich von ihrem Sitze erhoben und eilte zu ihm, der schon die Thüre öffnen wollte.

»Um aller Heiligen Willen, Adolar, was willst Du? Dein Auge blickt starr und wirr – Deine Züge sind entstellt! Du hast etwas Schreckliches vor! Woher auf einmal dieser Rettungsplan? O sprich, mein Freund!«

»Laß mich – blicke mich nicht so fragend an – fort von mir!« rief er fast wild und suchte die ihn Umklammernde zu entfernen.

»Ich lasse Dich nicht,« rief sie mit leidenschaftlicher Erregung. »Du vermagst meinen Blick nicht zu ertragen, denn eine finstere That brütet in Deiner Seele! Ich sehe es Dir an! Sprich offen – ich lasse Dich nicht!«

»Fort von mir, Weib!« schrie er noch einmal und schleuderte mit kräftiger Hand die Aermste von sich. Krachend flog die Thür hinter ihm zu.

Das Weib taumelte zurück und sank mit einem Schrei mitten im Gemach zu Boden. Erschrocken eilte das Kind aus seinem Winkel zu ihr.

»O der böse Papa!« rief das Mädchen, da es den Lockenkopf zu der Mutter niederbeugte. Die Aermste lag wie leblos. Umsonst rüttelte das Kind an ihren Armen und brach dann in lautes Weinen aus. Ungewiß, was zu thun und wie zu helfen, kniete es zu Häupten der Mutter und die hervorströmenden Thränen fielen hernieder auf die marmorbleiche, todtkalte Stirn der Mutter. Endlich schlug diese die Augen wieder auf. Ein Blick auf das Kind – und sie schien völlig sich zu erinnern, welche Scene sie in diesen Zustand versetzt. Sie erhob sich mühsam. Mit dem Aufgebot aller Kräfte rang sie nach äußerer Ruhe und Fassung und streichelte beruhigend dem noch immer laut weinenden Mädchen das weiche, seidenartige Lockenhaar, welches das allerliebste, fromme Gesichtchen umrahmte.

»Weine nicht, liebe Meta, weine nicht,« sagte sie, aber wider ihren Willen durchbebte die innere tiefe Erregung ihre Stimme und offenbarte, wie sehr die Trösterin selbst des Trostes bedürftig schien. »Der Papa hatte Recht – wie durfte ich ihm auch entgegentreten?« fuhr sie nach einer Weile leiser fort – »er ist ja der Herr des Hauses und sein Wille muß uns Allen Gesetz sein.«

»Doch wenn – er Böses will, der Papa? Auch dann?«

»Wie darfst du so etwas zu denken wagen, Meta?«

»Ach Mama – es ist wohl recht schlecht von mir und doch, doch kann ich oft nicht anders. Gar so seltsam ist der Papa. Und wenn er oftmals des Nachts nicht schlafen konnte, da sprach er so eigen, so wild und fluchte – mir überlief's eisig kalt den Rücken. Ich verstand nur wenig, aber das Wenige war hinreichend mich zu ängstigen.«

»Es waren Traumreden, mein Kind, vergiß sie! Der Vater hat ja so viele Sorgen – die kommen ihm auch im Schlaf durch das Herz und wälzen daraus düstere und wilde Gedanken hervor… hoffentlich hat ja das Alles bald ein Ende.«

»Fahren wir lange bis Amerika?« forschte Meta.

»Man kann's nicht genau sagen.«

»Ich ängstige mich recht. Ach das grosse, unendliche Wasser mit all' seinen haushohen Wellen – die Stürme, die von oben her darüber hinbrausen und – so ein zerbrechliches Schiff!«

»Gott wird uns gnädig sein. Laß uns zu ihm beten.«

Gehorsam gehorchte die Kleine dem Gebote der Mutter und flüsterte leise die Gebete, welche sie wußte. Die Angst und Aufregung der Mutter verhinderte diese an dieser Andacht teilzunehmen. Auch sie hatte die Hände gefaltet, doch der irre Blick, der in's Leere starrte, und die schmerzlich zusammengebissenen Lippen offenbarten, daß ihr Geist jetzt nicht gestimmt sei zum Beten und ganz andere Dinge sie in Anspruch nehmen mochten, als eine Zwiesprache mit dem allgütigen Vater dort oben, in dessen besonderen Schutz die armen Auswanderer sich stellten.… Buntverworrene Bilder aus alten Tagen stiegen auf vor den Augen der Aermsten. Sie träumte sich zurück in langvergangene Zeiten und herniederblickend auf das fromme Kind, dachte sie mit tiefer Wehmuth an ihre eigene, heitere, glückselige Kindheit, dachte der Eltern… der Geschwister… des Reichthums und dann wieder ihres jetzigen Elends. Traf es sie denn ganz unverschuldet? Nicht zum ersten Male richtete die Dulderin diese Frage an sich selbst! Tief und tiefer neigte sich das schöne, kummerbleiche Angesicht zu dem betenden Kinde hernieder und ein Thränenstrom entlastete die Aermste von dem Weh, das sie in Worten nicht aussprechen konnte!…

*

Dalwing hatte mit eiligen Schritten den dunklen Corridor des vierten Stockwerks, in welchem seine Mansarde sich befand, durchmessen und flog jetzt die Treppen hinab. Auf der Hausflur stieß er auf den kleinen und verwachsenen Besitzer des Hauses, der ihm mit einem heimtückischen grinsenden Lächeln in den Weg trat.

»Nun, mein Doktor?« rief er mit einer näselnden Stimme, indem er beide Arme wie ein Meilenzeiger starr und steif dem Eiligen entgegenstreckte. »Wird's nichts mit der Reise? Jeder Tag erhöht übrigens Ihre Rechnung! Hahaha! Bedenken Sie das und machen Sie Anstalten. Uebrigens sagten Sie mir gestern, daß Sie Ihre Passagebillets auf dem Dreimaster Arion bereits bezahlt haben. Um sechs Uhr lichtet das Schiff die Anker! Hahaha, es ist die höchste Zeit, lieber Doktor.«

»Der Teufel ist Ihr lieber Doktor,« fuhr der Winkeladvokat den Buckeligen an. »In einer Stunde haben Sie Ihr Geld und in zwei Stunden habe ich Ihre elende Wohnung im Rücken. Darauf verlassen Sie sich, Herr Rothkopf!«

»Elende Wohnung? Wie? Was? Das mir – mir dem humansten und liberalsten Hauswirth? O Undankbarkeit!«

Der Advokat aber achtete nicht auf diese Remonstrationen des Hauswirths, schob ihn bei Seite und stürzte eilig ins Freie hinaus. Wilde Verzweiflung und Entschlossenheit lag in den Zügen des Mannes. Im Portal des alterthümlichen Hauses stieß er auf einen schlanken und schwächlichen Menschen im grauen Sommeranzuge, den er fast umgerannt hätte.

»Alle Teufel, Dalwing,« stöhnte der Fremde und hielt sich mit seinen langen Armen an dem Klopfer der hohen Hausthüre fest. »Zu Euch wollte ich eben. Wichtige Nachrichten!«

»Mir ist nur Eins noch wichtig – haltet mich nicht auf« – schrie der Andere. Der Graue aber packte ihn am Rockschooß und hielt ihn zurück.

»Ihr müßt mich hören!« keuchte er und haschte nach dem schmutzigen Kalabreser, der ihm bei seiner schnellen Verfolgung des Freundes von dem auffallend spitzen und hohen Kopf gefallen war. »Es geht ja nur Euch an« – fuhr er noch immer nach Athem schnappend fort.

»So kommt mit mir und erzählt's unterwegs,« rief unwillig der Winkeladvokat. Der Graue faßte den Arm des Eiligen und Beide flogen die abschüssige und menschenleere Gasse hinab. Immer heftiger ward der Regen. Trotz der frühen Nachmittagsstunde herrschte bereits Zwielicht in der Strasse. Dichte Nebel hüllten die Kirchthurmspitzen und hohen gothischen Giebelhäuser in undurchdringliche Schleier. Der Graue schauerte in der leichten Sommerkleidung bei dem naßkalten Herbstwetter ein über das andere Mal zusammen.

»Ich habe so eben durch Zufall« – begann er mit flüsternder Stimme seine wichtige Entdeckung zu erzählen – »etwas Näheres vernommen von unserm guten Freund in der Königsstrasse. Es ist richtig. Der Verdacht ist nicht grundlos, der heimlich von Mund zu Mund geht. Ich habe Beweise! Wenn wir noch vierzehn Tage dableiben – wir machten ein gutes Geschäft. Ihr könntet ihn zwingen, uns ein artiges Kapital auszukehren.«

»Vierzehn Tage? Ströber, Ihr wißt, daß wir unsere Plätze auf dem Arion zahlten! Wißt, daß jede Stunde länger hier verweilt, uns Gefahr bringt! Welcher Satan gab es dem tolldreisten Müchler auch ein, schon hier die Früchte unsers Fleißes genießen zu wollen? Das Haus Lilienthal und Söhne hat Anzeige gemacht. Zum Glück ist der Müchler in Sicherheit, wie Ihr heute früh mir sagtet. Aber… wer weiß!«

»Ach Grillen! Wer kann denn uns etwas beweisen?«

»Und wenn man unser Gepäck revidirte?«

»Lächerliche Angst! Dem Muthigen gehört die Welt. Riskirt's doch! Bleibt noch vierzehn Tage. Wir fahren dann mit dem ›Delphin‹. Das verlorne Passagegeld zahlt uns zehnfach der Goldmann in der Königsstrasse.«

»Ich will nichts mehr zu schaffen haben mit ihm! Eilt an Bord, Ströber. In zwei Stunden bin ich mit Weib und Kind, mit Sack und Pack auch dort.«

»Und wohin denn so eilig?«

»Noch eine wichtige Visite!« rief er mit einem entsetzlichen Lachen.

»Visite? Etwa bei – – –?« Er flüsterte dem Kameraden einige Worte in's Ohr. Sein grinsendes Gesicht verkündete, wie viel er sich auf seinen Scharfsinn einbilde, der ihm diese geheimnißvolle Visite sofort entdeckte.

»Ihr irrt Euch. Was sollte ich dort?« entgegnete der Advokat mit eisiger Kälte. »Auch mein Weib machte den Vorschlag! Lieber direkt heraus zum Galgen als zu dem! Doch jetzt eilt zum Hafen. Dort sehen wir uns wieder!«

»Seltsam! Diese Hast! Diese Heimlichkeit! Ihr spielt doch kein falsches Spiel mit mir, Dalwing? Hütet Euch! Ich habe Euch eben so gut in Händen als Ihr mich! Halbpart hieß es bei unserm Geschäft – vergeßt es nicht!«

»Ohne Sorge, Kamerad. Es bleibt bei der Abrede.«

»Und ist euer Weib noch daheim? fragte er nach einer Pause. Die Frage klang argwöhnisch. Das lauernde Auge blickte starr dem Begleiter in's Gesicht.

»Wollt Ihr ihr das Geleite zum Hafen geben, so geht hin!« lautete die kurze Antwort.

»Es ist in Eurem Gesicht etwas, was mir nicht gefällt. Ich möchte nicht der sein, dem Ihr diese hastige Abschiedsvisite abstattet, Freund Dalwing. Just so saht Ihr aus, als ich Euch zum ersten Mal im ›rothen Hahn‹ sah, da Freund Müchler Euch zu uns brachte. Wißt Ihr noch?«…

Der Advokat nickte und wischte sich dann hastig die Stirn. Waren es nur die Regentropfen, die er dort entfernen wollte?…

»Wer sollt' so etwas vergessen,« sagte er mit dumpfer, fast unhörbarer Stimme. »Mir ist's, als dauere auch jetzt noch jene Nacht fort.… Eine entsetzlich lange Nacht!… Ich sah seitdem – nie mehr den Tag!«…

Er hatte die letzten Worte in den Bart gemurmelt. Sein Auge stierte wie das eines Wahnsinnigen auf die Steine. Unwillkürlich war er mitten im strömenden Regen stehen geblieben.

»Laßt mich!« rief er endlich, sich gewaltsam ermannend. »Zu dem, was ich jetzt vorhabe, brauche ich keines Menschen Hilfe! Die ganze Hölle steht mir bei! Haha – 's ist nur 'ne kleine Abrechnung von ehedem.«

»Jetzt begreife ich. Und weiß die schöne Gabriele?«

»Kein Wort und sie darf auch nichts erfahren. Ihr kennt sie ja, Ströber. So ein butterweiches Herz erträgt derlei nicht! Geht an Bord! Geht!«

»Und meinen Vorschlag weiset Ihr ab?«

»Es ist thörichte Tollkühnheit! Auf Widersehen auf dem Arion.«

»Wie Ihr wollt! Gute Verrichtung. Ich gehe zum Hafen.«

Sie trennten sich ohne weiteren Gruß. Der Advokat setzte noch eiliger als zuvor seinen heimlichen Weg fort. Die Strasse führte unmittelbar in's Freie. Ein altes, hohes Thor sperrte den Ausgang. Die Wache hatte sich in ihr Schilderhaus zurückgezogen. Hastig mit aufgeschlagenem Rockkragen schlich er vorüber. Auch die Brücke, unter der ein tiefer und reißender Fluß hinrauschte, war bald passirt.

Ein freies Feld dehnte sich jetzt nach allen Himmelsrichtungen vor ihm aus. Aus dem immer zunehmenden Nebel sah er gen Osten einige Giebelhäuser aussteigen. Die Mühlen, deren hohe Schwungräder in voller Arbeit waren, zur Rechten des Flusses umschlich er auf einem kleinen Fußsteig, der durch hohe und noch blätterreiche Dornbüsche sich in vielen Windungen zu jenen Häusern hinzog, welche das Endziel seiner Wanderung schienen. Jedes einzelne dieser Vorstadtgebäude war von einem Gärtchen umgeben. Eine hohe, uralte Lindenallee führte durch diesen Häusercomplex hindurch. Der Regen hatte durch das fast undurchdringlich zusammengewachsene Laubdach derselben noch keinen Durchzug. Hier schien er sich ein wenig zu erholen. Er ging langsamer und fächelte sich mit dem Filzhute Kühlung zu. Der scharfe Luftzug schien dem Erhitzten wohl zu thun. Endlich hatte er das Ende der Allee erreicht. Die meisten der Häuser schienen unbewohnt. Grüne Holzgardinen verhüllten von Außen die Fenster. Die Einwohner hatten bei dem nahen Herbst diese Wohnsitze der Sommersaison bereits verlassen. Etwas abgelegen von den übrigen Gebäuden und nach dem ganzen Styl und Aussehen, das älteste und zugleich auch das massivste derselben, stand ein altmodisches Haus, das mit dem ungleich grösseren Garten, den uralten Linden vor der Thür, der breiten Freitreppe und dem sandsteinernen Portal fast das Ansehen eines herrschaftlichen kleinen Hofes hatte. Auch an Scheuern und Stallungen fehlte es nicht. Der Blumengarten prangte noch im reichen Flor. Nach Osten zu schlossen sich unabsehbare Stoppelfelder und Wiesen an das Gehöfte.

Dalwing öffnete die niedrige Pforte in dem vorderen Gartenzaun und schritt durch die mit Buchsbaum eingehegten Blumenbeete auf das düstere Gebäude zu. Im oberen Stockwerk waren sämmtliche Fenster durch weiße Jalousien verhängt, wodurch der tiefe Eindruck, den das abgelegene Wohnhaus ohnedieß machte, noch erhöht wurde. Er klopfte mit dem schweren Messingklöpfel an die grünbemalte Thür, über der sich ein von zwei dorischen Säulen getragenes Portal erhob. Ein verwittertes Wappen war in den Sandstein eingehauen. Im Gegensatz zu dieser alterthümlichen, fast mittelalterlichen Ornamentik befand sich an der Hausthüre selbst ein sehr modernes Messingschild, auf dem der Name des Hauseigenthümers eingravirt stand.

Der einsame Wanderer mußte lange harren, ehe man im Innern sein Pochen bemerkte. Gegen den Regen schützte ihn der über das Portal weit vorspringende, rohgearbeitete Sandsteinbalken, aber durch die beiden Säulen schnob mit wachsender Gewalt der Wind, welcher selbst die hohen Lindengipfel hin und her schwenkte. Dalwing hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt, und auch der Rockkragen war aufgeschlagen. Das Gesicht hielt er unausgesetzt der Thüre zugewendet und spähte nur selten mit schnellem Blicke nach allen Seiten umher.

Endlich näherten sich von Innen schlürfende, langsame Schritte der Thüre. Knarrend öffnete sich dieselbe und eine helle lang nachhallende Glocke ward in diesem Augenblick hörbar.

Eine alte Frau mit verbundenem Gesicht wurde in der Thüröffnung sichtbar. Eigentlich sah man von derselben nicht viel mehr als eine gewaltig dicke rothe Nase, die aus ihren Kopfbandagen weit hervorlugte und ein braunwollenes altmodisches Gewand, welches die jedenfalls ziemlich corpulente Person einhüllte.

»Ah Ihr – und schon wieder?« rief die Alte, da sie des Besuches unter dem Portal ansichtig wurde. »Ich darf Euch nicht mehr vorlassen.«

»Ich komme nur, dem Herrn etwas zurückzubringen, was ich erst bei ihm in Gedanken mitgenommen.«

»Was für Kranken?« fragte die Harthörige. »Ja leider ist der gute Herr auch noch sehr leidend.«

Dalwing stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Er fühlte wohl, daß er, um bei diesem Cerberus durchzukommen, noch eines anderen, gewichtigeren Vorwandes als den eben ersonnenen bedürfe. Nach kurzem Besinnen zog er ein zerknittertes Papier hervor, und deutete der fast tauben Haushälterin an, daß dasselbe für ihren Herrn von größter Wichtigkeit sei. Zum Glück für ihn, meinte die Alte, daß das Papier eine Arznei enthalte.

»Ja wenn's vom Doktor ist, – dann mag's d'rum sein,« sagte sie langsam und ließ den Advokaten endlich eintreten.

Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als er mit schnellem Griff ein Taschentuch hervorzog, dieses der Alten in den Mund drückte und die Erschrockene eiligst in ein abgelegenes Hinterstübchen schleppte. Dort führte eine Treppe in die Vorratskammer, welche im Souterrain lag. Mit Blitzesschnelle war die Alte in diesen Raum spedirt. Nachdem er ihr den Hausschlüssel entrissen, verriegelte er die Speisekammer, schloß auch die Thür des vorderen Gemaches, dessen Schlüssel er in einen auf der Diele befindlichen Wassereimer warf, und stieg sodann die breite und bequeme Stiege empor. Auf dem ersten Absatz angekommen, lauschte er. Von unten hörte man auch nicht das geringste Geräusch. Ein widriges Lachen trat jetzt in die entstellten, finsteren Züge des Mannes und eilig stieg er die noch fehlenden Stufen empor. Er schien des Terrains kundig wie ein langjähriger Hausgenosse.

Auf dem Corridor des ersten Stockwerks machte er auf's Neue Halt. Unheimliches Dunkel herrschte hier. Aus den hinteren Gemächern und speziell durch die den dorthin führenden Thüren eingefügten Glastafeln erhielt dieser weite Raum sein spärliches Licht. Hohe Postamente trugen Gypsfiguren, welche die Hauptgottheiten der hellenischen Mythologie nach berühmten klassischen Mustern darstellten. Von ferne gesehen, nahmen sie sich aus wie Geister, die an den dunklen Wänden hinhuschten, zumal auch die dunkelfarbigen Postamente nicht sichtbar gegen die Wandfarbe abstachen.

Aus einem Zimmer des Hinterflügels tönte ein leises Hüsteln. Sonst war Alles still. Auch von dem Geheul des Windes und dem noch immer stromweise herabgießenden Regen vernahm man hier nicht das geringste Geräusch. Der Advokat schlug mit der flachen Hand auf die durchnäßten Kleider. Dabei traf seine Hand die Seitentasche, in welcher die abgebrochene Pfeilspitze gesteckt. Erschrocken fuhr er zusammen, daß sich dieselbe bei dem Schlag der Hand fest an seine Brust drückte. Er zog das Papier hervor, welches er zur Envelope benutzt. Die Spitze war nicht durchgedrungen. Er athmete auf.

»Verwünscht genug, wenn ich mir selbst diese Spitze in's Fleisch gedrückt hätte,« murmelte er, mit der Hand sorgsam und ängstlich sein Hemd übertastend. »Das wär so recht die Sage vom Pfeil, der auf des Schützen eigene Brust zurückprallt. Ich denke, dem Herrn Protonotar soll's besser bekommen! – Ist er doch nicht der Erste, den ich auf diese Weise in's Jenseits spedire und doch… meine Hand zittert und mein Athem stockt. Das Bild Gabrielens, das meinen Entschluß doch eigentlich befestigen sollte, macht mich unschlüssig – und ich kann's nicht bannen. Allüberall seh ich's vor mir – abwehrend, warnend, weinend!… Lächerliches Spiel der erregten Phantasie! Vorwärts! Es drängt die Zeit!«

Und mit festem Schritt ging er jetzt auf das Zimmer zu, aus welchem stärker denn zuvor in kurzen Zwischenpausen das Hüsteln eines offenbar alten und kränklichen Mannes hervordrang. Mit raschem Griff öffnete er die Thür. Sein Opfer befand sich ausgestreckt auf einem mit Kissen ausgelegten Rollstuhl in der Tiefe des Zimmers und hatte den Kopf zur andern Seite und dem Fenster zugekehrt.

»Ah kommst Du endlich, Bruder?« – stöhnte der Alte, ohne sich umzuwenden. »Ich habe schon vier Mal nach Dir geschickt. Ich erwartete Dich schon gestern – aber – – vergeblich! O dieser erstickende Husten!«

Der Winkeladvokat schritt langsam vorwärts grad auf sein Opfer zu. Der weiche, dunkelfarbige Teppich dämpfte seinen Schritt. Als er die Rücklehne des hohen Rollstuhls erreicht hatte, legte er die magere Hand auf die Schulter des Kranken und beugte sich mit seiner langen und hageren Gestalt herab zu dem in den Kissen Vergrabenen. Wie in Erz gegossen waren die Züge des grossen starkmarkirten Kopfes, wie Schlangen ringelten sich um denselben die regellosen, verworrenen Locken. Das Auge blitzte voll Wuth, Schadenfreude und Bosheit. Es lag etwas Bestrickendes, Versteinerndes in diesem starren Glanze, just wie in dem, mit welchen die Schlangen ihre Beute festbannen sollen. Wahrhaft teuflisch war der ganze Eindruck dieser wie durch einen Zauberschlag aus der Erde aufgestiegenen hagern Gestalt und der Kranke schauderte, da er unbeholfen den aufgedunsenen Kopf umwandte, in der That vor der abschreckenden Figur zusammen. Ein neuer Hustenanfall brachte erst wieder Leben und Bewegung in den dicken, regungslosen Klumpen, der wie erstarrt zusammengesunken war in die bauschigen Kissen.

»Ihr seid's?« flüsterte er endlich, da das Husten etwas nachließ. Abscheu, Furcht, Verachtung und Ueberraschung prägten sich aus in diesem einen Wort.

»Ja, ich bin's!« rief mit scharfem Accent und jedes Wort höhnisch betonend, der Winkeladvokat. »Komme Euch wohl recht unwillkommen, hochverehrtester und vielvermögender Herr Protonotar? Glaub's schon und kann's doch nicht ändern. Wie's mit mir steht, habe ich bereits gestern und heut' Ihnen mitgetheilt. Meine Noth hat den äußersten Gipfelpunkt erreicht. Ich stehe am Abgrunde! Ihr könnt retten! Ihr seid reich und was ich begehre, ist für Euch eine Kleinigkeit. Ihr habt das Zehnfache oft bei'm Spieltisch in einer Nacht verloren! Ihr seid verpflichtet, mir zu helfen um Gabrielens Willen! Ich weiß keine Rettung als bei Euch!«

»Und der Bruder?« – warf der Alte ein, der sich allmählig von seinem Schrecken zu erholen begann.

»Ihr kennt den heuchlerischen Schurken besser als ich! Ein Stein könnte sich eher erbarmen als der! Also noch einmal an Euch mich wendend, bitte ich, seid barmherzig, helft mir! Ich falle Euch nie wieder zur Last. Noch heute schiffe ich mich ein nach Amerika und dieser Erdtheil – ich schwöre es Euch – sieht mich niemals wieder. Sprecht, wollt Ihr retten, wollt Ihr? Bei allen Teufeln treibt mich nicht auf's Aeußerste – ich kann nicht länger bitten und betteln – meine Geduld ist zu Ende.«

»Und auch die meine. Geht, Elender, geht, oder ich rufe meine Bedienten!«

»Hinauswerfen lassen wie einen Vagabunden? Trefflich! Herrlich! Und das ist wirklich Euer letztes Wort?… Ich muß das Geld haben! In drei Stunden fährt das Schiff. Weib und Kind harren meiner Rückkehr mit Thränen. Hört Ihr das?«…

»Genug des Geschwätzes. Packt Euch, oder ich thue, was ich gesagt!« Das Gesicht des Advokaten hatte sich im Laufe des Gesprächs immer tiefer und tiefer herabgebeugt auf den Kranken. Jetzt blitzte sein aus der tiefen Höhlung weit hervortretendes Auge unmittelbar vor den matten Wimpern seines Opfers, das unwillig die Hand erhob und den Zudringlichen mit einem Faustschlag wider die Kinnlade zurücktrieb. Unwillkürlich knirschten die Zähne des Advokaten zusammen, die wie zum Tigersprung zusammen gezogene Gestalt taumelte zurück – die Hand fuhr in die Brusttasche und ehe der Notar zum Klingelzug greifen konnte, hatte sich sein Mörder mit dem Pfeil bewaffnet und auf ihn gestürzt. Nur leicht ritzte die feine Spitze des seltsamen Mordinstrumentes den halbentblößten Arm des Kranken. Er achtete kaum der wenigen Blutstropfen, die aus der kleinen Wunde perlend hervortraten. Hoch auf richtete er sich in dem Rollstuhl, gewaltsam den erstickenden Husten zurückzwingend, der ihn eben jetzt wieder mit erneuter Gewalt zu überfallen drohte. Er tastete zunächst nach dem Tisch, der neben ihm stand, vielleicht nach einer Waffe suchend. Sein Auge fiel auf die Wandfläche zwischen den Fenstern, wo einige Pistolen hingen. Dalwing folgte diesem drohenden Blicke und eilte zu der Stelle, die Waffen an sich nehmend. Den Pfeil hatte er auf das Fenstergesimse gelegt und zielte jetzt, in jeder Hand eine Pistole, auf sein Opfer. Der Notar fiel bei diesem Anblick knirschend zurück. Bald aber richtete er sich wieder auf, und griff nach dem Glockenzuge. Schrill und hell tönte durch das öde Haus die angezogene Klingelschnur. Sonst kein Laut. Schweigend standen sich Beide gegenüber, mit giftigem Blick sich durchbohrend. Auf's Neue zog der Verwundete die Glocke. Der Arm versagte ihm den Dienst. Ein schmerzhaftes Zucken in den welken und aufgedunsenen Zügen verkündete, daß er erst die Wirkungen der leichten Verwundung spürte. Er stieß einen markdurchdringenden Schrei aus, als er die Blutstropfen auf dem Arm sich vermehren sah und versuchte, da dieser ohnmächtig und schlaff am Leibe herabsank, mit dem andern Arm den Glockenzug zu erreichen. Umsonst! Auch dieser Arm fiel kraftlos und starr auf die Kissen. Sein Oberkörper wälzte sich empor… auch dieser sank wie plötzlich versteinert zurück. Das rollende Auge allein schien noch Leben und Bewegung zu haben. Kalt, starr wie ein Marmorbild lag die regungslose Masse da. Laute Flüche wider den Mörder tönten von den bleichen Lippen des Mannes, der allmählich der entsetzlichen Hoffnungslosigkeit seines Zustandes sich bewußt zu werden schien.… Schweigend, hohnlächelnd starrte der Winkeladvokat auf den Sterbenden. Nur zu wohl kannte er die schreckliche Wirkung des vegetabilen Giftes, durch das der Indianerpfeil den Verwundeten dem grausamsten Tode aufopfert. Schritt für Schritt trat der Tod in den Körper! Der Dienst der Glieder ward zunächst dem seelischen Willen entzogen. Sodann die Stimme. Immer leiser wurden die Flüche und endeten endlich in ein unartikulirtes Murmeln und angstvolles Röcheln. Die Bewegung aller Muskeln, selbst der zartesten, war plötzlich gebannt wie durch Starrkrampf. Nur die blauen Lippen zuckten noch hin und wieder – das einzige Lebenszeichen an der todten, steinkalten Masse. Endlich sank auch das drohend rollende Auge zurück in seine Höhle und wie ein Schleier zog es sich über die eben noch zornig funkelnde Pupille. Aber hinter diesen trüben und gebrochenen Augen bestand ein Sinnenleben, Gefühl, Verständniß! des Innern dieses Leichnams, das der Mörder wie ein naturhistorisches Curiosum fühllos betrachtete, hörte und verstand noch, was um ihn vorging. Mit kalter unmenschlicher Grausamkeit fühlte der Winkeladvokat mit den abgemagerten Fingern nach dem leisen Pulsschlag des Herzens. Es zuckte noch. Langsam aber hörbar pulsirte das vergiftete Blut durch die erstarrten Herzkammern, der einzige aber sichere Bürge für die im Innern noch fortbestehende Lebensthätigkeit! Er neigte sich zu dem Ohr dieses lebenden Leichnams und flüsterte Worte des Hohnes und Spottes der noch wachen Seele des äußerlich Todten zu! Mußten sie doch noch verstanden werden und um so grössere Folter bereiten, als diesem Fühlen, Wollen und Verstehen des psychischen Menschen alle Mittel und Werkzeuge fehlten, sich dagegen auszusprechen! Nicht ein Fluch zur Entgegnung – nicht ein Giftblick – nicht eine drohend geballte Faust! Wie versteinert lag der regungslose Fleischklumpen da! Kann man sich etwas Furchtbareres denken als ein Wesen, das weiß, daß es lebt und doch nicht das mindeste Lebenszeichen äußern kann?? Und dieser Vorgeschmack aller Höllenqual, dieses geistige Fortleben in dem Körpersarge mit all' der unendlichen Qual einer von Minute zu Minute sich steigernden Ueberzeugung des physischen Todes, diese entsetzliche Ohnmacht alles Wollens, bewirkt durch einen völligen Brückenbruch zwischen Physis und Psyche – scheint äußerlich die sanfteste Art des Todes! Ruhig wie im Schlaf lag der Ermordete da, als sei der Todesengel mit sanftem Fittig zu ihm herniedergeflogen, habe ihn leise und sanft mit sich emporgeführt aus dem lieblichsten letzten Erdentraum!

Der Mörder hatte sich, sobald der Starrkrampf den ganzen Körper seines Opfers gelähmt, zu dem Schreibtisch begeben, und dort die einzelnen Schubladen geöffnet. Mehrere Säckchen mit Gold und Silbergeld waren bald aufgefunden. Das Papier ließ er bei Seite. Während er seinen Raub ausführte, verröchelten die letzten Laute des Sterbenden. Das Ungeheuer höhnte selbst jetzt noch sein Opfer.

»Klingle doch!« rief er, die Goldrollen und Silberstücke einsackend. »Rufe doch Deine Diener – greife doch zu den Pistolen! Sieh doch her, wie hurtig Dein Mammon in meine Taschen fliegt, den Du zusammengescharrt durch Lug und Trug!«

Als er seinen Raub geborgen, begab er sich zu dem Tisch neben dem Rollstuhle. Mit einer unmenschlichen Grausamkeit und teuflischer Kaltblütigkeit öffnete er sodann dem noch immer Lebenden an beiden Armen die Pulsadern. Das kleine Federmesser, das ihm dabei diente, hatte er auf dem Sekretär gefunden. Er ließ es, nachdem sein Werk vollendet war, zu Boden fallen. Nur langsam und tropfenweise strömte das Blut aus den Adern. Eine wässerige, helle Flüssigkeit schien demselben beigemischt und ergoß sich reichlicher als das Blut aus den weitgeöffneten Kanälen. Nochmals fühlte er nach dem Herzen. Noch immer zuckte es. Da – als er langsam die mageren Finger zurückzog, – da war's, als öffneten sich plötzlich die trüben gebrochenen Augen und weit hervor aus den Höhlungen trat die dunkelglänzende Pupille. Er schauderte zurück.… War's ein Blendwerk seiner Phantasie… war's Wirklichkeit? Auch die Lippen schienen sich zu bewegen, die bleichen, starren Lippen redeten flüsternde Worte.… »Es kommt doch an's Licht!« rief es zu ihm auf!…

Er floh voll Entsetzen von dem Schauplatz seiner Greuelthat. Eilig verließ er das öde Haus, dessen Thür er sorgsam verschloß. Den Schlüssel nahm er mit sich. Bei einem Gartenbeet im abgelegensten Winkel hielt er an und wühlte dort ein Loch, in welches er die vergiftete Pfeilspitze warf. Hastig stampfte er sodann mit dem Fuße die Grube zu und wälzte die rothen und gelben Herbstblätter, welche handhoch die Wege bedeckten, über die Stelle. Dann triebs ihn fort in ungestümem Lauf durch die dichte Lindenallee der Stadt zu. Ueber ihm durch die Nebel zogen krächzende Schaaren von Zugvögeln. Auch von dorther schien sich ihm der verhängnißvolle Ruf zu wiederholen: »Es kommt doch an's Licht!« Umsonst, daß die Vernunft solcher Thorheit der einmal erhitzten Phantasie spottete… er hörte den Ruf allüberall. Und als er zu dem Fluß kam, der die Mühlen trieb und dort den Hausschlüssel in die Tiefe fallen ließ, da war's, als töne es auch dort aus dem wilden Rauschen der schäumenden Wogen zu ihm empor: »Es kommt doch an's Licht!« – Und weiter und weiter trug ihn der eilende Fuß. Schon steigen aus dem Nebel die Umrisse des alten Stadtthores vor ihm auf. Er stürzt vorüber. Schweiß bedeckt, schwer athmend, glühend bald und bald frierend eilt er dahin. Jetzt schon ziehen sich die bekannten Häuserreihen zu seiner Rechten und Linken hin. Der Regen strömt wie zuvor, immer tiefer lenken sich die Nebel und der Wind peitscht durch die Gassen. Weiter – weiter! Durch Gäßchen, über Plätze, vorüber an Kirchhöfen und Palästen geht der Lauf – aber da und dort und überall schwirrt's neben dem Mörder und höhnt hinter ihm und ruft ihm zu von oben aus dem Nebel und von Unten aus dem Schooß der Erde: »Es kommt doch an das Licht!«

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