Omar Al Raschid Bey
Das hohe Ziel der Erkenntnis
Omar Al Raschid Bey

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V. Der urteilende Verstand– manas

Urteil widerspricht sich im Raum; Urteil wechselt in der Zeit; Urteil hebt sich in sich selbst auf. Urteil ist nicht in sich. Urteil ist Willensausdruck. Es gibt kein Urteil – Urteil ist Ich.

Zu dem was ich dir nunmehr zu sagen gedenke, o Teurer, behalte vor Augen:

Geringes Verständnis spricht durch uns Menschen: Von Trugbildern unserer Sinne geblendet, taumeln wir, einer geängstigten Herde gleich, dahin und dorthin, von Torheit zu Torheit, wie Blinde von Blinden, wie Irre von Irren geführt. –

Sagt dir Jemand: zu verwerfen sei diese Lehre, sie hebe den Unterschied zwischen Recht und Unrecht auf, sie preise nicht das Gute und verabscheue nicht das Böse – so antworte ihm: diese Lehre lehrt, über Recht und Unrecht hinaus, der Menschheit höchstes Ziel – Selbstlosigkeit.

Und gewiß: festgefügt ist der Grundbau dieser Lehre, unerschütterlich, auf dem Grunde, der unsere Welt trägt. Ist das Eine so ist das Andere – untrennbar; untrennbar ist Erlösung von dieser Lehre vollem Erleben.

*

Durch ur-Sprung: ur-Teil-Ich-er-Scheinung; aus ur-Teil-Ich: ver-Langen: – Tat; aus Tat-widerstand: – Verständnis.

– MANAS –

*

Manas – Denktätigkeit dieser Welt, Namen des Bewußtseins: Unterscheidung, Überlegung, Erwägung, Einsicht, Verstand und Urteil.

Also ist die Unterweisung:

Ich komme auf Gesagtes zurück, o Teurer: widersprechend ist der Wille in den Beiden, die von getrenntem Standort aus – verständnislos – einander bekämpfen; widersprechend auch das Urteil.

Ich, siegend, will die Tat, und sein Urteil ist seinem Willen gemäß: »du bist meine Nahrung, ich töte dich, es ist mein Recht«.

Ich, unterliegend, enwill die Tat, und sein Urteil ist seinem Willen gemäß: »du darfst mich nicht töten, es ist Unrecht und böse.«

*

Du erwägst zunächst das Urteil im Raum erscheinend:

Der Gedanke in beiden ist Einer: Ich-Bestand, Ich-Verlangen, Ich-Tat; Bestand, Verlangen, Tat steht in Ich und Ich sich selbst gegenüber.

Im Einen wie im Andern derselbe Wille, dieselbe Tat – widersprechendes Urteil. Jeder der Beiden will die Tat tun, Keiner der Beiden will die Tat dulden. Wer angreift und siegt, lobt Wollen und Tun; wer abwehrt und erliegt, schilt Wollen und Tun. Hier Lob, dort Tadel; Recht dem Einen ist Schuld dem Andern.

Urteil widerspricht sich im Raum. –

*

Ferner: Urteil in der Zeit erscheinend:

Je nachdem Ich Angriff-Abwehr aufnimmt auf gibt, gestaltet sich das Urteil im Ich.

Ich, das angreifend die Tat tun will, Ich, das angegriffen die Tat nicht dulden will – wechselt seinen Stand zur Tat: will, was es dem Andern antun wollte, nicht mehr tun; will selbst erdulden, was der Andere von ihm erdulden sollte – will dulden, nicht tun. Mit gewechseltem Standort wechselt der Wille, mit gewechseltem Wollen wechselt das Urteil. Ich schilt, was es lobte, Ich lobt, was es schalt.

Urteil wechselt in der Zeit. –

*

Und ferner: Urteil in sich:

Je nach dem vierfachen Standort des Ich im Verlangen, je nach zwiefachem Stand des Ich in sich, je nach zwiefachem Stand des Ich außer sich, ist die Beziehung des Ich zum gegenständlich aufgefaßten Gedanken, ist Willen und Urteil des Ich. Ein und das selbe Ding, das selbe Tun, der selbe Vorgang, Ein Geschehen, Ein Gedanke erscheint im Ich als verschieden, als in gegen-Teile zerfallen, als Zweierlei, je nach dem Willensstandort des Ich zum Gedanken – je nachdem der Gedanke dem Ich als Gegensatz zu sich, oder als Gegensatz in sich, als fremder Gegenstand oder als eigener Zustand erscheint. Der einheitliche Gedanke: ›Fraß‹ wird zweierlei: ›Fraß an dir – Fraß an mir, fressen und gefressen werden‹.

*

Das selbe Eine unveränderte Ich urteilt über den selben Einen unveränderten Gedanken vom selben Standort zur selben Zeit – zwiefach; zwiefach auf jedem Standort, zwiefach zu jeder Zeit; gut und zugleich böse, schön und zugleich häßlich, recht und zugleich schuld, je nachdem Ich den Gedanken aufnehmen oder abweisen will, je nachdem das Urteil dem eigenen oder dem gegenständlichen Ich gelten soll, je nachdem das Urteil mein Ich – m-Ich, oder dein Ich – d-Ich betrifft.

Angreifend hält Ich Angriff für Recht, doch selbst angegriffen für Schuld. Fressend hält Ich das Tun für löblich und gut, doch selbst gefressen für unrecht und böse – , dich fressen ist recht, mich fressen ist schuld‹. Lob und Tadel, gut und böse, schön und häßlich, Fraß und nicht Fraß in Einem Atem, Verlangen, urteilend, steht sich selbst gegenüber.

Alles Urteil trägt sein Gegenurteil in sich. Wie kein Teil ohne Gegenteil, so kein Urteil ohne Gegenurteil.

Urteil ist nicht nur zwiespältig vom zwiefachen Standort des Ich im Raum, nicht nur zwiespältig vom zwiefachen Standort des Ich in der Zeit, Urteil ist zwiespältig in sich.

*

Alles Urteil ruht in der Selbstherrlichkeit Ich; alles Urteil im Ich ist will-kür-lich wechselnd.

Urteil widerspricht sich im Raum; Urteil wechselt in der Zeit.

Alle Entscheidung im Urteil ruht auf Entscheidung im Willen. Willen liegt unmittelbar in jedem Urteil. Urteil und Willen deckt sich. Urteil ist Ausdruck des Willens. Immer ist Willen Lust; immer ist Unwille Leid. Willen hat immer Recht:

›ich habe Lust – ich will; ich leide es nicht – will nicht. Was ich will ist gut; ich will es, darum ist es gut; böse ist was ich nicht will, was nicht ich will, was mich will.‹

›ich habe recht‹ heißt: ›ich will‹; ›du hast Unrecht‹ heißt: ›ich will nicht‹; ›du sollst‹ ist dasselbe wie ›ich will‹; ›du darfst nicht‹ ist dasselbe wie ›ich will nicht‹. – Alles Gebot, alles Verbot – müßige Fragen dem Wissenden.

Was ich an mich ziehe, nenne ich anziehend; was wider mich ist, ist widerlich; was mir schadet, ist schädlich; was meinen Zwecken dient, ist zweckmäßig; was nicht mir nutzt – nichtsnutzig; was zu schonen ist, ist schön; was ich liebe, ist lieblich; was ich hasse – häßlich.

Lust hier ist Leid dort; Lust jetzt ist Leid dann; in Lust ist Leid, in Leid ist Lust; Lust ist Leid, Leid ist Lust.

Keine guten und keine bösen Dinge auf der Welt; keine guten, keine bösen Geschöpfe; keine guten, keine bösen Menschen. Böse ist, was zu mir böse ist; gut ist, was zu mir gut ist. Du willst Wirkung aus dir; ungewollte Wirkung auf dich nennst du böse. Gutes wie Böses ist nur in deinem Urteil – sonst nirgends. Du lobst und tadelst dich selbst, je nachdem du am gegen-Stand an-Teil nimmst, je nachdem du dich selbst im gegen-Stand bewußt oder unbewußt empfindest.

Du erkennst: es gibt kein Urteil ansich. Urteil ist nur Rechtfertigung, nur Entschuldigung, nur Beschönigung deines Verlangens. Was als Urteil im Ich erscheint ist Willensausdruck. Wille ist Ich. Ich will, Ich urteilt. Es gibt kein Urteil

– Ich ist Urteil. –

Dies wunderbar Einfache erfaßt die Menschheit nicht.

*

Wie dein Stand im Raum bestimmt, was mit rechts oder mit links, was mit oben oder mit unten zu bezeichnen sei; wie dein Stand in der Zeit bestimmt, was du als Vergangenheit und was du als Zukunft unterscheidest, so bestimmt deine Beziehung zum Gedanken, dein zu-Stand zum gegen-Stand – das Wollen in dir – du selbst – was du gut oder böse, schön oder häßlich, Recht oder Schuld nennst, und wie jenen Bedeutungen, so kommt auch diesen keine Wahrheit zu. – Wie deine gegen-Wart in Raum und Zeit ein willkürlicher Scheidepunkt ist, der dir das Recht zu geben scheint, Verschiedenheit zu schaffen, ein rechts und ein links, ein oben und ein unten, ein vorher und nachher zu unterscheiden, so schafft deine gegen-Wart zum gegen-Stand, deine Beziehung zum gegenständlich aufgefaßten Gedanken, dein Stand im Verlangen, der Wille in dir – du selbst – Unterscheidung im Ungeschiedenen, macht dich als Gegensatz unterscheiden, was Eines ist: dein Verlangen – du selbst.

In deinem Herzen sind die Auseinandertretungen, in dir ist Unterscheidung und aller Wandel der Unterscheidung. Wie aus rechts links wird, wie aus oben unten wird, wie aus hier dort wird, wie aus Zeit Raum wird, aus Willen Kraft, aus Freiheit Notwendigkeit, aus Tat Duldung, aus Lust Leid, aus Liebe Haß – so wird aus gut böse, aus böse gut, sobald du – atmend – dich in Gedanken wendest. Du neigst dich dem einen zu und neigst dich dem anderen ab. Dein Standort bedingt deinen zu-Stand; dein Zustand bedingt Willen und Urteil; Wille und Urteil bist du selbst.

Du urteilst gerecht nach bestem Wissen und Gewissen. Wie du auch urteilst, du urteilst von dir aus; von deinem Standort aus beurteilst du deinen gegen-Stand; je nach deinem Ver-ständnis, je nach deinem Ab-stand oder deinem An-stand bildet sich dein Urteil.

Wie du auch urteilst, es bleibt dein Urteil. Du erwartest, hoffst, nimmst Anteil; deine Zuneigung entscheidet oder deine Abneigung, Nähe oder Ferne deines Standortes. Wechselt dein Standort, so wechselt deine ›An-sicht‹; wechselt deine Ansicht, so wechselt dein Urteil.

Du schaust und urteilst vom Standort des Täters oder schaust und urteilst vom Standort des Dulders; du versetzt dich in die Lage des Henkers oder in die Lage des Opfers; du nimmst, je nachdem du dich selbst fressend oder gefressen fühlst, bewußt oder unbewußt Partei.

*

Dein Urteil ist deine Anteil-nahme, deine Be-teil-igung am Gegen-stand. Was dem Beurteilten von dir zuteil wird, bist du selbst. Dein Urteil ist dein Eingehen in den Gegen-stand, dein ›inter-esse‹, dein Einssein mit dem Gegenstand. Du bist Richter in eigener Sache und urteilend triffst du dich selbst.

Wie du auch urteilst, dein Urteil bleibt einseitig; doppelseitiges Urteil wäre Widerspruch in sich; vollständiges Ur-teil wäre vollständiges Teil. Gerechtes Urteil urteilt nicht.

Bedeutungslos ob Jemand deinem Urteil widerspricht, denn er urteilt von eigenem Standort; bedeutungslos ob Jemand deinem Urteil zustimmt; bedeutungslos wenn die Besten deines Volkes und aller Völker deines Urteils sind. Alle die, welche deinem Urteil beistimmen, stehen bei dir, sind dir Beistand, vertreten deinen Standpunkt, sind mit dir ein-ver-standen, deine Standesgenossen, deine Partner – nichts mehr. Alles Urteil ist Partei.

Alle Urteils-Wertung liegt in dir; was du am gegen-Stand beurteilst, bist du selbst – am Wesen des Beurteilten haftet kein Hauch deines Urteils, in keiner Form, in keinem Sinne, weder offen noch verborgen, weder hier noch sonstwo, weder heute noch je – Urteil ist Ausdruck deines Verlangens.

*

Alle Wahrnehmung schafft sich in dir: gleichviel ob du solche als unbestreitbare Beschaffenheit des Gegenstandes erachtest, oder als eigengeschaffenes Willens Urteil durchschaust.

Eigenschaft außer dir und Urteil in dir ist Eines; je nach sinnlicher oder seelischer Auffassung erscheint dir das Geschaute fremd oder eigen, sachlich in sich oder willkürlich aus dir. Was dir Eigenschaft der Dinge scheint, ist Auslegung deiner Empfindung, ist dein eigener Zustand in den Gegen-stand verlegt; ist schaffendes Verlangen aus dir in deinen Gegenstand übertragen.

Seelisches Verlangen in dir gewinnt sinnliches Leben außer dir; Verlangen ausgelegt, im Raum selb-ständig geworden, wird leibhaftig, tritt dir als Ding verkörpert gegenüber. Deiner eigenen Seele Schöpfung, in räumliche Wirklichkeit hinausverlegt, ist außer dem Bereich deiner Seele dir entfremdet, darum von dir nicht mehr als Eigenschaffung erkannt, darum als Ding und Eigenschaft des Dinges sinnlich geschaut.

Je unmittelbarer die schaffende Vorstellung aus dir quillt, je unbewußter du selbst deine Vorstellung bist, desto fremder und ferner, desto unbedingter erscheint dir das zur Vorstellung Gewordene, erscheint sachlich an sich.

Erscheint dir aber Ding und Eigenschaft sachlich und unbedingt an sich, so erscheint auch alle Wahrnehmung am Dinge: Vielheit, Maß und Lage, Bewegung, Verhalten und Verhältnis der Dinge untereinander unbedingt, so erscheint die ganze dingliche Außenwelt, alle Wirklichkeit unabhängig von dir, unabhängig von deiner Wahrnehmung und Empfindung.

Was unbedingt scheint, bedingst du selbst; die Be-ding-ung ist in dir, daher die scheinbare Unbedingtheit. Dein Anteil an den Dingen schafft Ding und Eigenschaft der Dinge; der Dinge Anteil an dir ist dein Urteil und bist du selbst.

Eigen Geschaffenes legen wir den Dingen bei und nennen es der Dinge Eigenschaften – eigen Gewirktes Wirklichkeit dieser Welt.

*

Urteilendes Urteil ist nur wo eine Beur-teilung von Ding und Eigenschaft, wo eine Teilung im Urteil möglich ist. Ist eine Wahlentscheidung zwischen Möglichkeiten – eine Will-kür im Urteil nicht denkbar, das heißt: sind Zwei-fel, das heißt zwei Fälle im Urteil ausgeschlossen, so ist kein ›Urteil‹, so ist bloße Benennung oder erweiterte Einsicht – Ent-deckung – nicht Urteil – wie:

Die drei Seiten eines Dreiecks, einer drei-geteilten Geraden entnommen, ergeben zusammengetan wieder die Gerade; die drei Winkel eines Dreiecks, dem drei geteilten Winkel einer Geraden entnommen, ergeben zusammengetan wieder den Winkel einer Geraden – nicht Urteil, sondern bloßes Ergebnis einer Drei Teilung und Wiederzusammenfügung der Drei Teilung; selbstverständlich – daher unwiderleglich, nichtssagend – daher widerspruchslos, gleichgültig – daher allgemeingültig, daher unbedingt, sachlich an sich erscheinend; – bloße Wiederholung des Selben, wie: ›zwei mal zwei gleich vier‹, das heißt: ›vier ist das Gleiche wie zwei mal zwei‹, bloße Umstellung oder Umbenennung, dieselbe Aussage mit andern Worten – fälschlich ›Urteil‹ genannt.

Willenloses Urteil, ›Urteil in sich‹ ist undenkbar, schüfe ewig Unlösliches, schüfe sich selbst Aufhebendes – wäre sinnliche Gottheit – undenkbar.

*

Dein Urteil wertet den Gegenstand.

Was von Geschehen oder Dingen dir gleichgültig oder wertvoll erscheint, was zweckmäßig oder ziellos, unwiderleglich oder fraglich, vergänglich oder ewig, Zufall oder sogenanntes Gesetz – alle Wahrnehmung und Eigenschaft, unmittelbare Gewißheit oder bloße Benennung – alles außer dir Erscheinende ist aus dir hinausverlegte Vorstellung – sinnlich gewordene Ent-gegnung seelischer Bewegung in dir, Ausdruck deiner Anteilnahme, deiner Wertung, Abschätzung, Maß deines Verlangens – Widerschein deiner selbst.

Die ganze Welt außer dir ruht auf Verlangen in dir – einheitliches Verlangen vom ur-teilenden Ich als eigener Zustand oder als fremder Gegen-stand auf gefaßt. Verlangendes Urteil – urteilendes Verlangen in dir ist weltzeugende Kraft – aus dir gezeugte Überzeugung – du selbst.

In dir ist Ur-sprung – du selbst bist die in Raum und Zeit erscheinende, die wirkliche Welt; wie gäbe es in der eigenen Erscheinungswelt eine Erscheinung unabhängig von dir? Wie wolltest du die selbstgeschaffene Welt anders als in dir selbst erfassen? Du bist Herr und Maß, Gesetz und Schöpfer aller Dinge und deiner selbst. Was unergründbar bleibt ist unergründbarer Ursprung – Unauflöslichkeit ewiger Wahrheit bist du selbst.

*

Ein Heer von Zweifeln stürmt auf dich ein – hoffe auf Erleuchtung – sei der Erleuchtung gewiß.

*

Noch einmal:

Alles Urteil ist nur in dir.

Alles Urteil trägt sein gegen-Urteil unmittelbar und unablöslich in sich.

Alles Urteil hebt sich mit gewechseltem Willen zu nichts auf.

Urteil hat in sich, Urteil hat in dir keine Geltung, ist gleichgültig, gleich ungültig, bedeutungslos, sinnlos, leer, nichtig in dir, nichtig in sich.

Du erkennst:

Was du urteilend mit widersprechenden Namen belegst, ist willkürliche, in ›Gegen‹teile auseinanderspaltende, an sich nichtige Unterscheidung in dir.

Was von solcher Unterscheidung – in dir als Urteil – außer dir als Eigenschaft der Dinge erscheint, ist Kennzeichnung deiner Gegen-wart im Verlangen, Kennzeichnung deiner Beziehung zum gegen-Stand, – dein Standort, dein zu-Stand, dein ver-Stand.

Urteil und Eigenschaft ist deine Empfindung und nach-außen-Verlegung – Auslegung deines innen-Befindens; deine Einbildung und Widerspiegelung deiner Einbildung, das ist Vorstellung; unbewußt-be-wußte Einbildung, bewußt-unbewußte Vorstellung – je nach deinem Wachsen oder Welken im Atem dieser Welt; Atem des Verlangens: Lust oder Unlust, Liebe oder Haß; je nach deiner Stimmung ist deine Bestimmung des gegen-Standes; je nachdem dir zu Mute ist, deine Zumutung an den Gegenstand; je nach deinem Verhalten dein Dafürhalten; je nach deinem Befinden ist deine Empfindung; je nach deiner Einstellung – deine Vorstellung. – Deine Auffassung, Beziehung, Gesinnung, Neigung, dein Werden-ver-werden schafft Urteil, Namen und Dinge.

Eines ist, was du urteilend willkürlich scheidest; Eines, was du durch Willensgegensatz in dir zu Gegensätzen außer dir prägst – Willensgestaltung, dein Wille und was wider deinen Willen wieder dein Wille ist: Aus dir gewirkt, auf dich wirkend – Wirkung und Wirklichkeit dieser Welt – deine eigene Schöpfung – du selbst.

Solches hast du klar erkannt.

*

Es gibt kein Urteil an sich. – Aufgegangen in dir ist diese Erkenntnis; von solcher Erkenntnis vermagst du ferner nicht mehr abzuweichen. Bedeutungslos, wenn die verworren denkende Menge solcher Erkenntnis fern bleibt; bedeutungslos, wenn einsichtige und wohlwollende Männer vor solcher Erkenntnis zurückschrecken, wenn solche, die sich für Wissende halten, bisher nicht gleich dir erkannten; bedeutungslos, wenn solche Erkenntnis in keinem der zahllosen Geschöpfe dieser atmenden Welt aufgeleuchtet wäre – von Menschen keinem, von Göttern keinem – wenn du allein stündest mit solcher Erkenntnis – bedeutunglos; unerschüttert bleibt: es gibt kein Urteil. Urteil ist Wille, Wille ist Ich, Ich ist Urteil.

Wie im ersten Samenerguß die ganze Menschheit ruht, so ruht alles Urteil im ur-Teil-Ich. Ich-Ur-Teil ist Ich-Urteil.

Darum lehrt De-schin-scheg-pa, der Feindbesieger und heilig vollendete Buddha, daß alles Auffassen in der Ichheit ein Nicht-auffassen sei.

*

Ausgelöscht sind die in Rede stehenden Begriffe, ausgelöscht alle dazwischen liegenden, alle verwandten Bezeichnungen, Beilegungen, Eigenschaften – ausgelöscht alles Urteil, alles An-sich sein dieser Welt.

Alle Unterscheidung durch Urteil – Recht und Schuld, gut und böse, Lob und Tadel, schön und häßlich – Gebot, Verbot – bloße Namen, nur Worte die sogenannten ewigen Gesetze – müßige Fragen dem Wissenden.

Ausgelöscht – vernichtet, worauf die Welt gebaut schien – Spiel deiner Seele, ein bloßes Bild, ein Traum – nicht ist Urteil, nicht sind diese Begriffe in Wahrheit.

Solches hast du klar erkannt; von solcher Erkenntnis vermagst du ferner nicht mehr abzuweichen... es sei denn, daß du – über dieses hinaus – zu tieferer Einsicht zu gelangen vermöchtest.

*

In deinem Herzen sind die Auseinandertretungen, in deinem Herzen ist Unterscheidung und Wandel der Unterscheidung, in deinem Herzen die Schöpfung dieser Welt. Du selbst schaffst Zeit und Raum, du selbst bist Willen und Kraft, in dir ist Tat und Duldung, Ursache und Folge, Freiheit und Notwendigkeit; durch dich ist Verstand und Urteil, Recht und Schuld, gut und böse, schön und häßlich, durch dich ist diese Welt. Du bist Verlangen und Tat, Gesetz und Richter, Herr und Knecht, Schöpfer und Vernichter deiner Welt, deiner Welt Leben und Atmen – Atma –

Ausgelöscht, vernichtet, was unantastbar, was ewig schien – und nur Eines besteht: Ich! Ich und die Welt, die das Ich sich schafft – die Welt mit allem Heil und Unheil, mit aller Herrlichkeit und aller Qual, aller Hoffnung und Enttäuschung, aller Hoheit und aller Nichtigkeit – die Welt des Guten und Bösen.

Keine Welt ohne Ich und Verlangen, keine Welt ohne Tat und Tat Widerstand, keine Welt ohne Lust und Leid, keine Welt ohne gut und böse. Untrennbar ist Böses von Gutem, untrennbar Gutes und Böses von Ich und Welt. Ursprung des Bösen ist Ursprung des Ich. Das Böse zu treffen, triff dich selbst. Darum sagt Omar, der Zeltweber: »Ich selbst bin Himmel und Hölle«.

Dies ist Lösung der Frage, um die du mich angingst – Ursprung des Bösen – Quell alles Guten – restlose Lösung!

*

Es gibt nur Ein Böses in der Welt: die Ich-bin-heit – Selbstsucht, und alles was du Sünde, Knechtschaft, Leiden nennst, fließt aus ihr – Samsara. Es gibt nur Ein Gut in der Welt: Selbstlosigkeit – und Erlösung fließt aus ihr – Nirvana.

Erlösung vom Bösen ist Erlösung vom Ich. Selbstsucht zu Ende gedacht ist Selbstlosigkeit. Sei selbstlos aus Selbstsucht. Gib alles auf um alles zu gewinnen; du bereicherst dich gebend, nehmend beraubst du dich. Es ist kein anderer Weg zum Gehen – der heilige Weg aus Schein zu Wahrheit, aus Nacht zu Licht, aus Tod zu Unsterblichkeit.

*

Noch einmal durchdenke ich mit dir das Geschehen dieser Welt, die zwiefache in gegen-Teile zerfallende Beziehung des Ich zum eigenen gegen-ständlich auf gefaßten Gedanken – : ab-Stand der gegen-Teile von einander und ver-Stand der gegen-Teile zu einander; den Weg aus Standhaftigkeit zu ver-Ständnis, den Weg aus Blindheit zu Erkenntnis, den Weg aus dem Ich zum nicht-Ich.

Zwischen Ich im eigen-Stand und Ich im gegen-Stand liegt die trennende Vorstellung – : nicht-Ich. Ich, vom Trugbild der Sinne geblendet, ver-kennt sich im gegenüberstehenden Ich – wie der Hund sich selbst im Spiegel anknurrt. Zwischen Ich und Ich klafft Spaltung, Zwietracht, Zwist, Kampf.

 

Ich hier: »ja, ich will dich!«

 

Ich dort: »nein, ich will dich!«

 

Verlangen lebt, wächst, übersteigt sich – fällt. Henker und Opfer kommen sich entgegen. Ich hier, wie Ich dort, wechselt in seinem Zustand, läßt von seiner Stand-haftigkeit, gibt wider-Stand auf, nimmt ab-Stand vom eigen-Stand, nähert sich seinem gegen-Stand, ver-stellt sich auf den Stand des Gegners, ver-ständigt sich mit ihm, ver-steht ihn – Ich hat Selb-ständ-igkeit aufgegeben, Ich hat ver-Stand gewonnen.

Ich hier wie ich dort ändert mit geändertem Stand Ansicht und Willen; Ich ändert sich, Ich wird ein anderes. Ich wandelt in Zeit und Raum; Ich-Standort-Wandel wandelt das Ich. Fremder gegen-Stand wird durch ver-Stand zu eigenem zu-Stand.

Ich hier wie Ich dort ist aus Raum in Zeit getreten, Eins mit seinem Gegner: kein Gegner mehr, keine Gegnerschaft, kein Widerwille, kein Widerstand, keine Tat. Ich hat sich durch ver-Ständnis im wider-Ich wieder erkannt – Ich hat Erkenntnis gewonnen, Ich hat im du sich selbst wieder gefunden.

Raum entzweit, Zeit eint. Was im Raum geschieden ist, fällt in der Zeit zusammen. Was sinnliche Anschauung trennt, eint seelische Erkenntnis. Ich und Ich, von blinder Anschauung aus-ein-ander gehalten, fallen, sehend geworden in-ein-ander.

*

Und noch einmal: Sittlichkeit ist Durchschauen der Erscheinung. Ich ur-Teil, in sich gespalten, von sinnlicher Vorstellung »nicht-Ich« geblendet, in zwei Ich gegen-ein-ander entzweit:

 

Ich hier: »Ich will Tat-Angriff gegen dich.«

 

Ich dort: »Ich will Tat-Abwehr gegen dich«.

 

Ich, durch seelisches ver-Ständnis sehend geworden, erkennt im nicht-Ich sich selbst, – das trennende ›hier und dort‹ ist fortgefallen – ver-ein-igt, ein-mütig, Ein Ich, ein-ig, eines Willens:

»Keine Tat gegen mich selbst.«

Sich selbst im Anderen erkennend vermagst du nicht böse zu wollen.

*

Wie ein Ich auf zwei Standorten im Raum in zwei Ich gegen einander entzweit ist, so sind zwei Ich in der Zeit auf Einem Standort zu einander vereint: Eines.

Aller Zwiespalt durch Ich-da-Sein, durch Ich-bin-heit, asmita, – durch Selbstsucht; alle Eintracht durch ver-Ständnis, durch Erkenntnis – durch Selbstlosigkeit – das Geheimnis alles Geschehens, alles Werdens und Vergehens alles Lebens, alles Streites, alles Friedens, aller Sittlichkeit auf Erden – der Weg aus dem Ich zum nicht-Ich, der Weg zu Erlösung, der heilige Weg.

*

Durch Ur-sprung in Ich und Ich: ist Ent-zwei-ung, Verlangen hier und Widerstand dort, Ein-tracht durch Erkenntnis.

Geschlossen hat sich der Zwiespalt, ausgefüllt die Kluft, verraucht das Verlangen; der Streit ist begraben, aufgegeben Tat, Frieden gewonnen; erreicht aller Sittlichkeit höchst gepriesenes Gut, erstanden das Wunder: Selbstlosigkeit – Nirvana in Samsara.

*

Durch ur-Sprung ur-Teil, sich abscheidend, unter-scheidet: Ich und Welt; unterscheidet da seiend: Zeit und Raum; unterscheidet verlangend: Wille und Kraft; unterscheidet wirkend: Tat und Duldung, Freiheit und Notwendigkeit, Lust und Leid; unterscheidet urteilend: gut und böse, Recht und Schuld, schön und häßlich; also in allen Dingen dieser Welt ur-Teil-gegen-Teil atmend wirkt s-Ich die Wirklichkeit, wirkt s-Ich das Verständnis dieser Welt.

Alle unter-Scheidung durch ab-Scheidung im ur-Sprung; durch ur-Teil-ent-Scheidung alle ver-Schied-enheit; alles er-Schein-ende durch ur-Teils Urteil. Auf bloßen Worten beruhend die Vielheit, nur Namen – Eines ist es in Wahrheit.

Sehend geworden erkennst du:

Es ist der Welt, die dich lebt, Atmen.

– atma –

*

Geringes Verständnis lebt in uns Menschen. Vom Trugbild dieser Welt geblendet, irren wir, einer dürstenden Herde gleich, dahin und dorthin, blind gegen den Quell alles Lebens.

Wo ist Erlösung? – Da, wo Erkenntnis ist.

Sagt dir jemand: zu verwerfen sei diese Lehre, sie hebe den Unterschied zwischen Recht und Unrecht auf, sie preise nicht das Gute und verabscheue nicht das Böse, so antworte ihm:

Diese Lehre lehrt über sinnliche Erscheinung hinaus – Seelen-Einheit – über menschliches Urteil hinaus – der Menschheit höchstes Ziel: Selbstlosigkeit. Selbstlosigkeit löst aus den Fesseln des Ich, aus den Fesseln nimmer gestillten Verlangens, aus nimmer gestillter Hoffnung, aus dem Kerker dieser Welt zur urewigen Heimat.

Und gewiß! Fest gefügt ist der Grundbau dieser Lehre, unerschütterlich, auf dem Grunde, der unsre Welt trägt. Ist das Eine, so ist das Andere – untrennbar; untrennbar Erlösung von dieser Lehre vollem Erleben.

Nicht an vergänglichem Werke wirke ich, in der Gottheit Tiefen ruht die Lehre, Menschen im Körper schier unergründlich – unergründlich.

Ehernes Tor der Erkenntnis – erlösende Wahrheit.

*

So lautet in âranâda-upanishad der fünfte adhyâya: manas, Verstand und Urteil; nunmehr: buddhi, Erwachen.


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