Ludovico Ariosto
Rasender Roland, Band 1
Ludovico Ariosto

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Dritter Gesang.

Bradamante in der Grotte Merlins. Melissa zeigt ihr die künftigen Sprößlinge des Hauses Este (1–62). Von derselben erhält sie Anweisung, wie sie mittels eines Zauberrings den Reiter des Flügelpferdes besiegen und Roger befreien soll (63–77).

Wer giebt den Klang mir, die Beredtsamkeit,
Die zu so stolzem Gegenstande stimmen?
Wer ist's der meinem Vers die Flügel leiht,
Die Höhe meines Themas zu erklimmen?
Viel größres Feuer als zu andrer Zeit
Muß heute wohl in meiner Brust erglimmen;
Denn meinem Herrn gehört jetzt mein Gesang
Und singt die Ahnen, denen er entsprang.
In aller Zahl erlauchter Herscher, die
Der Himmel je der Erde hat beschieden,
Sahst du, o Phöbus, allesseh'nder, nie
Glorreicheres Geschlecht in Krieg und Frieden
Und keins, das länger seinen Glanz als sie
Bewahrt hat und bewahren wird hienieden,
(Wenn mich nicht irre führt mein Sehergeist)
So lang' um seinen Pol der Himmel kreist. 72
Will ich ihr Lob verkünden ganz und voll,
Muß ich zuvor das Saitenspiel besitzen,
Das einst nach der Gigantenschlacht erscholl,
Dem Herscher dankend in des Aethers Sitzen.
Hab' ich erst Werkzeug, bessres als Apoll,
Tauglich so köstliches Gestein zu schnitzen,
Dann will ich so erhabnen Schilderei'n
All meinen Geist, all meine Mühe weih'n.
Inzwischen wird mein grober Meißel bloß
Vom Stein die ersten rohen Splitter schlagen.
Vielleicht wird meine Arbeit fehlerlos,
Wann meine Übung wächst, in künft'gen Tagen.
Zurück zu ihm, den vor dem Todesstoß
Kein Schild beschirmen wird, kein Panzerkragen,
Zum Mainzer Pinabel, der in dem Schachte
Die tapfre Jungfrau umzubringen dachte.
Der Schurke glaubte sie im Schooß der Erde
Todt und begraben und verließ alsbald
Mit bleicher Stirn und ängstlicher Geberde
Den traurigen, entweihten Felsenspalt.
Schnell wandt' er sich zurück nach seinem Pferde,
Und als ein Mann, dem Ehre wenig galt,
Um Schuld zu Schuld zu häufen, Raub auf Mord,
Nahm er das Pferd des Fräuleins mit sich fort. 73
Wir lassen ihn, der, als er fremdem Leben
Nachstellte, sich den Tod bereitet hat,
Und wenden uns zu ihr, die ihr so eben
Getödtet fast und auch begraben saht.
Jetzt seht sie, ganz betäubt noch, sich erheben
Vom Falle, den sie in den Abgrund that,
Und durch die Thür dort unten in den zweiten
Viel größren Raum der innern Grotte schreiten.
Die Halle, die ein mächtig Viereck war,
Glich einem Dom, sich hehr und hoch erhebend;
Säulen von Alabaster, wunderbar,
Trugen das Dach, den schönen Bau umgebend.
Inmitten stand ein herrlicher Altar,
Und eine Lampe vor ihm brannte schwebend
Mit glänzender und klarer Flamme, die
Den beiden Räumen helles Licht verlieh.
Als Bradamante sich an solchem Orte
Erblickte, der geweiht und heilig schien,
Betete sie zu Gott demüt'ge Worte
Mit Herz und Mund und eilte hinzuknien.
Inzwischen knarrt' und rasselt' eine Pforte
Ihr gegenüber, und ein Weib erschien,
Entgürtet, losen Haars, mit nackten Füßen,
Die anfing sie bei Namen zu begrüßen, 74
Und sprach: »O edelmüt'ge Bradamante,
Nicht ohne göttlich Walten trittst du ein,
Denn schon vor Tagen weissagt' und erkannte
Der Sehergeist Merlins in seinem Schrein,
Daß du auf Wegen, die jetzt Gott dich sandte,
Nahn werdest seinem heiligen Gebein,
Und ich bin hier, dir alles zu enthüllen,
Was einst der Himmel wird an dir erfüllen.
10  Der große Zauberer Merlin, dessen Bild Tennyson neuerdings aufgefrischt hat, lebte der Sage zufolge zu König Arthurs Zeit. Die schöne Seefrau Viviane berückte den Greis, daß er sich in das von ihm selbst gebaute Grab legte, um ihr zu zeigen, daß es geräumig genug sei. Darauf bannte sie ihn im Sarge fest mittels einer geheimen Formel, die er selbst sie gelehrt hatte.  »Dies ist die alte wunderbare Halle,
Die einst Merlin gebaut, der Zaubergreis.
Hier fing die Frau vom See ihn in der Falle,
Wie du vielleicht gehört, und dieser Kreis
Umschließt sein Grab, wo modernd im Verfalle
Sein Körper liegt, wo er auf ihr Geheiß,
Die ihn mit Worten zu bethören wußte,
Lebendig einstieg, todt verbleiben mußte.
11  »Beim todten Leibe lebt sein Geist im Grabe,
Bis die Gerichtsposaun' ihm schallt ins Ohr,
Und, je nachdem er Taub' ist oder Rabe,
Ihn fortweist oder ruft ins Himmelsthor.
Die Stimme tönt, als ob sie Leben habe,
Noch deutlich aus der Marmorgruft hervor
Und wird von künft'gen und vergangnen Dingen
Noch immer, wenn du fragst, dir Kunde bringen. 75
12  »Ich bin schon längst bei diesem Sarkophage,
Aus fernstem Lande kommend, eingekehrt,
Damit Merlin mir ein Geheimniß sage,
Das meine Wissenschaft mich nicht gelehrt.
Dann bin ich über Absicht dreißig Tage
Geblieben, weil ich dich zu sehn begehrt;
Denn mir verhieß die Stimme des Propheten,
Du werdest heute diesen Raum betreten.«
13  Betroffen steht mit regungslosen Gliedern
Die Tochter Haimons, während jene spricht;
Gelähmt vor Staunen kann sie nichts erwidern,
Und ob sie schläft, ob wacht, sie weiß es nicht.
Verschämt dann, mit gesenkten Augenlidern
Antwortet die bescheidne leis' und schlicht:
»Wer bin ich denn und welch Verdienst ist mein,
Daß Seher meine Ankunft prophezein?«
14  Und froh des ungewohnten Abenteuers
Folgt sie der Magierin zu jenem Schrein,
Der innerhalb des marmornen Gemäuers
Merlin umschließt, die Seel' und das Gebein.
Der Sarg erglänzt wie Flammen roten Feuers,
Geformt aus blankem, glattem, hartem Stein,
Und dieser Glanz, der ihm entfloß, gewährte
Dem Raume Licht, der stets der Sonn' entbehrte. 76
15  Giebt es nun solchen Marmor von Natur,
Vor dem die Schatten wie vor Fackeln weichen,
War Räucherung im Spiel und Zauberschwur
Und nach dem Horoskop entworfene Zeichen,
(Wahrscheinlich find' ich dieses letztre nur),
Genug, der Glanz enthüllte rings den reichen
Schmuck von Sculptur und Farben, der das Grab
Und dies ehrwürdige Gemach umgab.
16  Kaum hat noch Bradamante mit dem Weibe
In den verborgnen Raum den Schritt gewagt,
Als der lebend'ge Geist im todten Leibe
Mit heller Stimm' ihr diese Worte sagt:
»In allem, was du thust, gesegnet bleibe,
O hocherlauchte, unbefleckte Magd,
Aus deren Schooß entstehn soll und sich mehren
Der Same, den die Völker einst verehren.
17  Nach den fabelhaften Genealogien des Mittelalters ist Francus, ein Enkel des Priamus, der Ahnherr des Kaisers Karl und auch des Hauses Claramont, mithin der Bradamante. Roger andererseits stammt, wie man später erfährt, von Astyanax, Hectors Sohne, ab.  »Vom alten Blute Troja's wird in dir
Der jetzt getheilte Strom zusammenfließen
Und das Juwel erzeugen und die Zier
Aller Geschlechter, die auf Erden sprießen,
Vom Indus bis zum westlichsten Revier
In allem Land, das Nord und Süd umschließen,
Aus deinem Stamme werden, stolze Reiser,
Markgrafen einst erblühn, Herzöge, Kaiser. 77
18  »Feldherrn und Ritter werden ihm entspringen,
Die, mit dem Schwert wie mit dem Rat bereit,
Für ihr Italien einst zurückerringen
Den alten Ruhm der Unbesiegbarkeit.
Gerechte Herrn seh' ich das Scepter schwingen,
Die Numa, die Trajane künft'ger Zeit,
Durch sanftes Regiment und weises Steuern
Die goldne Jugendzeit der Welt erneuern.
19  »Damit des Himmels Ratschluß denn geschehe
Durch dich, die er vom ersten Anbeginn
Erkoren hat zur Gattin Rogers, gehe
Getrosten Mutes deines Wegs dahin.
Denn wisse, nichts, was auch dazwischen stehe,
Darf dir beirren den entschlossnen Sinn,
Daß du versäumtest jenen Feind zu stürzen,
Der sich vermißt, dein Glück dir zu verkürzen.«
20  So sprach Merlin und sank zurück in Schweigen
Und überließ den Rest der weisen Frau,
Die sich bereit hielt ihr ein Bild zu zeigen
All ihrer Erben mittels Geisterschau.
Von Geistern hatte sie sich einen Reigen,
(Ob aus der Hölle, weiß ich nicht genau),
Versammelt und an einen Ort beschieden,
An Trachten und von Angesicht verschieden. 78
21  Pentakol ist ein anderer Ausdruck für Pentagon, was die deutschen Hexen einen Drudenfuß nannten.  Sie ruft das Mädchen in die Kirche dann
Wo schon ein Kreis gezogen war mit Kohle,
Der, wenn sie liegt, sie ganz umschließen kann,
Und eine Spanne mehr, von Kopf bis Sohle.
Und daß kein Geist ihr schade, wird der Bann
Verstärkt mit einem großen Pentakole.
Dann sagt die Frau: »Nun schweig und schaue du,«
Und nimmt ihr Buch und spricht den Geistern zu.
22  Da, aus der vordern Höhle drängt herein
Unzählig Volk nach dem geweihten Kreise.
Doch plötzlich scheint der Weg gesperrt zu sein,
Als ob den Cirkel Schanz' und Wall umkreise.
In das Gemach, wo im geschmückten Schrein
Bestattet liegt der zukunftkund'ge Weise,
Verschwanden die herauf beschwornen Schatten,
Wann sie den Kreis dreimal umwandelt hatten.
23  »Nennt' ich die Namen und die Thaten dir,«
So sprach die Zauberin zu Bradamante,
»Der ungebornen, deren Bilder wir
Vor Augen sehn durch Geister, die ich bannte,
So weiß ich nicht, wann du fortkäm'st von hier,
Die Nacht verging', eh ich die Hälfte nannte.
Drum wähl' ich ein'ge aus, wenn's dir genügt,
Je nach der Zeit und wie sich's eben fügt. 79
24  »Sieh jenen ersten, der dir ähnlich schaut,
Mit schönem Antlitz und mit blüh'nden Wangen,
Der in Italien einst dein Haus erbaut, –
Von Rogers Samen wirst du ihn empfangen.
Die Fluren Ponthieu's rot von Blut bethaut
Zu sehn durch seine Hand, ist mein Verlangen,
Wann er die Rotte straft an jenem Ort,
Die ihm den Vater raubt durch feigen Mord.
25  Diese und die folgenden zur Verherrlichung des Hauses Este geschriebenen Strophen stützen sich, wie kaum gesagt zu werden braucht, mehr auf gefällige Hofgenealogen als auf strenge Geschichte. Daß die Este's im elften und vielleicht schon im zehnten Jahrhundert Grafen von Mailand wurden, wie in der 26. Str. angedeutet wird, ist allerdings richtig, das »Schlangenpanier« jedoch ein Anachronismus, da erst das Haus Visconti dies Wappen nach Mailand gebracht hat.  »Durch seine Hilfe wird dereinst der Thron
Des Longobarden Desiderius fallen;
Zum Dank dafür wird Karl in Calaon
Und Este als Gebieter ihn bestallen.
Dort folgt ihm Hubert, deines Sohnes Sohn,
Hesperiens Zier, die Zier der Reichsvasallen,
Der mehr als einmal vor Barbarenwut
Die Kirche schirmen wird mit treuer Hut.
26  »Dort siehst du Albert, unbesiegt im Streit,
Dem einst die Tempel von Trophäen prangen,
Und Hugo giebt, sein Sohn, ihm das Geleit;
Der pflanzt in Mailand das Panier der Schlangen.
Dort Azzo, der nach seines Bruders Zeit
Die Herrschaft der Insubrer wird erlangen,
Und Albertazzo, dessen kluger Geist
Italien einst dem Berengar entreißt. 80
27  »Daß Kaiser Otto ihm die Hand verleihe
Der Tochter Alda, ist er wahrlich wert.
Ein andrer Hugo naht, – o schöne Reihe,
Die nie der Tugend ihres Ahns entbehrt!
Er duldet nicht, daß Hohn die Kirch' entweihe,
Und bricht den Trotz der Römer mit dem Schwert;
Er wird aus der Belagrung und aus Ketten
Den dritten Otto und den Papst erretten.
28  Ariost verwechselt hier die Namen. Nicht Folco, sondern Welf der vierte, Sohn des Markgrafen Azzo von Este und der Welfin Kunigunde, wurde im J. 1055 von seiner deutschen Großmutter Irmengard nach Baiern gerufen, um sich nach Erlöschen des Mannsstammes der welfischen Besitzungen anzunehmen, heiratete die Tochter des Sachsen Otto von Nordheim und wurde der Stammvater des mächtigsten deutschen Fürstengeschlechts, welches das sächsische mit dem bairischen Herzogtum zu vereinigen wußte. Von diesem Este stammen das Haus Hannover und das Haus Braunschweig-Lüneburg.  »Sieh Folco, der dem Bruder alles Land,
Das in Italien sein ist, übergeben
Und ferne von dem heimatlichen Strand
Als großer Herzog wird in Deutschland leben.
Dem Hause Sachsen leiht er seine Hand,
Das schon gesunkne wieder zu erheben,
Und hält es durch ein blühendes Geschlecht,
Das erben wird aus mütterlichem Recht.
29  Auch hier waltet einige Confusion ob. Die »berühmte Gräfin« Mathilde soll offenbar die große Toscanerin, die Freundin Gregors VII sein. Sie war aber mit keinem Albertazzo von Este verheiratet, und es reimt sich nicht recht, daß von zwei Brüdern der eine Kaiser Heinrich II geschlagen, der andere Mathilde, die Zeitgenossin Heinrichs IV, heimgeführt haben soll. Entweder verwechselte Ariost sie mit irgend einer gleichnamigen Frau oder den Albertazzo mit einem anderen Este, nämlich Welf V von Baiern, dem zweiten Gemal der »großen Gräfin«, deren weite Lande übrigens bekanntlich weniger ihm als dem Papste zu gute kamen.  »Der nun herankömmt, Azzo ist's, der zweite,
Freund edler Sitten, und die Söhne gehn,
Berthold und Albertazzo, ihm zur Seite.
Der eine wird Heinrich im Kampf bestehn,
Und Parma wird von deutschem Blut das weite
Sonnige Blachfeld überrieselt sehn;
Den andern wird man als Gemal der weisen
Matilde, der berühmten Gräfin preisen. 81
30  Der hier erwähnte Rinald soll der von Tasso gefeierte Kreuzfahrer sein. Die Gelehrten behaupten, daß der erste Este, welcher Rinald hieß, der in Str. 38 erwähnte sei, der im J. 1251 als Gefangner in Apulien starb.  »Und Tugend macht ihn würdig seiner Habe;
Denn für den Jüngling ist der Ruhm nicht klein,
Mit halb Italien als Morgengabe
Des ersten Heinrich Enkelin zu frei'n.
Dem Berthold folgt dort sein geliebter Knabe,
Rinald, dem Gott die Ehre wird verleihn,
Die heil'ge Kirch' aus der Gewalt des bösen
Friederich Barbarossa zu erlösen.
31  »Da läßt sich schon ein andrer Azzo sehn;
Der wird im schönen Gau Verona's schalten
Und als des Kaisers und des Papstes Lehn
Ancona's reiche Markgrafschaft erhalten.
Noch viele deines Stamms sind ausersehn
Das Banneramt der Kirche zu verwalten,
Doch fehlt die Zeit, daß ich dir alles melde,
Was Rom durch sie ersiegen wird im Felde.
32  »Mehr Azzo's noch, mehr Hugo's noch erscheinen,
Zween Heinriche, der Vater mit dem Sohn,
Zween Welfe, – Umbria gehorcht dem einen,
Ihm winkt Spoleto's Herzogsmantel schon;
Der andre stillt Italiens Blut, das Weinen
Verwandelt er in lauten Jubelton.
Der fünfte Azzo, den wir jetzt erblicken,
Wird Ezzelin zerbrechen und ersticken. 82
33  Der berühmte Ezzelin wurde nicht von einem fünften, sondern von einem siebenten Azzo, Feldherrn des Papstes Alexander's IV, besiegt (1259); der Vater dieses Azzo, der sechste seines Namens, wurde 1208 von den Ferraresen zum Herrn der Stadt erwählt, ein Ereigniß, welches die nächste Strophe, die Namen verwirrend, mit mythologischem Pomp feiert. Phaeton stürzte vom Sonnenwagen in den Fluß Eridanus, den modernen Po, an dessen Ufern seine trauernden Schwestern von den mitleidigen Göttern in harzweinende Bäume, König Cygnus in einen Schwan verwandelt ward.  »Der Ezzelin wird (aller Wüteriche
Furchtbarster, und man glaubt des Teufels Sohn)
Unter Ausoniens schönem Himmelsstriche
So greulich hausen, aller Welt zum Hohn,
Daß milde scheinen (wenn man sie vergliche)
Marius, Sulla, Nero und Anton.
Und auch dem Kaiser Friedrich noch, dem zweiten,
Wird dieser Azzo tiefen Fall bereiten.
34  »Dann wird sein sanftes Scepter segensvoll
Der schönen Stadt an jenem Strome walten,
Wo einst die goldnen Saiten des Apoll
Wehklagend um den Sturz des Sohns erschallten
Und sagenhafte Ambrathräne quoll
Und Schwanenfedern Cygnus' Leib umwallten.
Für tausend Dienste wird ihm diesen Lohn
Dankbar verleih'n der apostol'sche Thron.
35  Aldobrandin ist der Sohn Azzo's VI, ein Anhänger Innocenz III. Die Grafen von Celano waren ein Ghibellinengeschlecht in der Markgrafschaft Ancona, die hernach Aldobrandin vom Papste als Lehen empfing.  »Hab' ich Aldobrandin noch nicht genannt,
Den Bruder Azzo's, der, dem Papst zu dienen,
(Denn schon im Capitol wird er berannt
Vom vierten Otto und den Ghibellinen,
Und unterworfen ist umher das Land,
Picener, Umbrer sind gezäumt von ihnen),
Der, sag' ich, weil er Geld und Geldeswert
Zum Helfen braucht, dies von Florenz begehrt; 83
36  Pisaurum ist der römische Name von Pesaro.  »Und an Geschmeid' und bessern Pfändern arm,
Wird er des Bruders Haupt als Pfand bestellen.
Entfalten wird er sein Panier, der Schwarm
German'scher Krieger wird vor ihm zerschellen;
Den heil'gen Stuhl wird er mit starkem Arm
Aufrichten und Celano's Grafen fällen,
Bis er in seines Lebens Blütezeit
Hinscheiden wird im Dienst der Christenheit.
37  »Sein Bruder Azzo erbt sein irdisch Gut,
Ancona und Pisaurum und mit ihnen
Das Land vom Tronto bis Isaurus' Flut
Zwischen dem Meerstrand und den Apenninen.
Auch erbt er seine Tugend, seinen Mut,
Die besser sind als Perlen und Rubinen;
Denn alles giebt das Glück und nimmt's zurück,
Tugend allein wird nicht beherscht vom Glück.
38  »Sieh da Rinalden, der in seinen Tagen
Nicht mindern Ruhm der Trefflichkeit erwirbt,
Nur daß, bevor er volle Frucht getragen,
Neidisch der Tod den schönen Stamm verdirbt.
Fern von Neapel hör' ich hier das Klagen,
Wo er als Geisel seines Vaters stirbt.
Obizzo wird, da sie Rinald verloren,
Zum Fürsten an Großvaters Statt erkoren. 84
39  Obizzo war ein Bastard, aber folgte trotzdem in der Herrschaft. Dante hatte eine minder günstige Meinung von ihm; denn er versetzt ihn in die Hölle unter die Gewaltthätigen. Er war ein wütender Guelfe und nahm eifrigen Antheil an der Vernichtung Manfreds und Conradins. Sein Sohn Azzo wird in der nächsten Strophe irrig der sechste genannt; es war der achte.  »Lachendes Reggio, trotz'ges Modena,
Ihr werdet ihm sein schön Besitztum mehren;
So würdig ist er, daß mit einem Ja
Die Völker ihn zu ihrem Herrn begehren.
Den Sohn, den sechsten Azzo, siehst du da;
Man zählt auch ihn zu Roms Gonfalioneren;
Karl von Sicilien wird sein Schwäher sein
Und Andria ihm, das Herzogtum, verleihn.
40  »Sieh da vier Fürsten mit erlauchten Namen
Im schönen Bunde treuer Einigkeit,
Obizzo, Aldobrand, Nicol den Lahmen
Und Albert, gnadenreich und hilfbereit.
Zur schönen Herrschaft, die sie überkamen,
Erwerben sie Favenza, nur auf Zeit,
Und dauernd Adria, das weltbekannte,
Nach dem die unbezwungne See sich nannte,
41  Rovigo hieß im Altertum Rhodigium, von dem griechischen Worte Rhodon, Rose. Die von den beiden Mündungen des Po bedrohte Stadt ist Comacchio, dessen Fischer den Sturm lieben, weil er die Fische in ihr Revier treibt (oder um des »gesegneten Strandes« willen?).  »Und jene Stadt, die ihrem Rosensegen
Anmut'gen Namen griechischen Klangs verdankt,
Und sie, die in fischreichem Sumpf gelegen,
Vor beiden Mündungen des Po erbangt,
Woselbst ein Volk wohnt, das dem Brauch entgegen
Nach rauher See und wildem Sturm verlangt.
Ich lass' Argenta, Lugo und noch viele
Schlösser und reiche Flecken aus dem Spiele. 85
42  »Schau' Nicolo, den schon als zartes Kind
Das Volk beruft im Herscherstuhl zu sitzen,
Die Ränke störend, die Tideo spinnt,
Um Bürgerwaffen wider ihn zu spitzen.
Die Knabenspiele dieses Kindes sind
Kriegslast zu tragen und im Stahl zu schwitzen,
Und aus so früher Schul' und hartem Mühn
Wird eine Heldenblume dann erblühn.
43  »Er kreuzt die Pläne der Rebellenscharen
Und kehrt sie wider den, der sie ersann.
In aller Kriegslist ist er so erfahren,
Daß ihn so leicht kein Gegner täuschen kann.
Zu spät wird Oto Terzo das gewahren,
Reggio's und Parma's trotziger Tyrann:
Er wird, in dieses Siegers Hand gegeben,
Sein Land verlieren und sein böses Leben.
44  »Nun wächst das schöne Reich nur und gedeiht
Und weicht nicht mehr zurück vom rechten Pfade,
Und keinem andern thut es je ein Leid,
Es sei denn, daß ihm erst der andre schade;
Daher der große Lenker keine Zeit
Ihm hat gesetzt, kein Ende seiner Gnade:
Wohlfahrt und Wachstum soll ihm niemals mangeln,
So lang die Welt sich dreht in ihren Angeln. 86
45  Mit Leonell kömmt Borso nun daher,
Der erste Herzog, Ruhm den künft'gen Tagen;
In Frieden thronend, triumphirt er mehr
Als alle, die nach Raub die Welt durchjagen.
Er sperrt den Mars ein, nimmt ihm seine Wehr
Und wird die blinde Wut in Ketten schlagen.
Des prächt'gen Fürsten Sorge wird allein
Zufriedenheit und Glück des Volkes sein.
46  Mit Hercules I beginnt das Zeitalter des Dichters. Hercules war der älteste legitime Sohn des Str. 42 erwähnten Nicolo, da er aber bei seines Vaters Tode erst zehn Jahr alt war, folgten vor ihm seine älteren natürlichen Brüder Leonello und Borso im Regiment. Letzterer, der erste Herzog von Ferrara, starb unvermählt 1471, und mithin gelangte Hercules erst dreißig Jahre nach dem Ableben des Vaters in den Besitz seines Erbes. Der Inhalt der Strophe bezieht sich darauf, daß Hercules in der Schlacht bei Budrio die Venezianer, seine Nachbarn, vor der Niederlage rettete, obwohl er selbst am Fuße verwundet war, und daß später die Venezianer ihn bekriegten und bis unter die Mauern von Ferrara, bis zum sog. Barco, zurückdrängten.  »Hercules kömmt mit seinem Nachbar zankend;
Den Tag von Budrio rückt er ihm vor,
Wo er, mit halb verbranntem Fuße wankend,
Die Schlacht herstellt, die jener schon verlor;
Der Nachbar aber, ihm mit Feindschaft dankend,
Verdrängt und treibt ihn bis an Barco's Thor.
Dies ist der Herr, von dem ich kaum entschiede,
Ob Krieg ihm mehr Ruhm bringen wird, ob Friede.
47  »Apuliern, Lucanern, Calabresen
Wird unvergeßlich bleiben, wie der Held
Den Preis Alfonsens des Aragonesen,
Des Einzelkampfes ersten Kranz erhält,
Und zu den größten Feldherrn, die gewesen,
Wird dieses Siegers Name dann gesellt.
Jahrzehnte schon würd' ihm das Reich gebüren,
Dann wird die Tugend ihn zur Herrschaft führen. 87
48  Und allen Dank, den Völker Fürsten weihn,
Bringt diesem Fürsten seine Stadt entgegen,
Nicht weil er sie aus sumpf'gen Wüstenei'n
In lachende Gefilde wird verlegen,
Nicht weil er sie mit Mauern und Bastei'n
Für ihre Bürger wohnlicher umhegen
Und schmücken wird mit Tempeln und Palästen,
Mit Plätzen, mit Theatern, allem Besten;
49  Die »Fackeln Galliens« bedeuten den Kriegszug Karls VIII (1494), während dessen Ferrara sich mit Erfolg neutral zu halten wußte.  »Nicht weil er sie vor den verwegnen Krallen
Des Flügellöwen schirmt mit tapfrem Schwert;
Nicht weil – wann rings die Fackeln Galliens wallen
Und Krieg Italiens schöne Au'n verhert –
Sie friedlich bleiben wird, allein von allen,
Von Furcht und von Tributen unversehrt;
Nein, nicht sowohl für die und andre Gaben
Wird er zur Schuldnerin Ferrara haben,
50  Alfons I, Ariost's Zeitgenosse, geb. 1476, regierte 1505 – 1534. Hippolyt, sein Bruder, war 1479 geboren, wurde schon 1493 Cardinal, starb 1520. Beide Brüder nahmen an den kriegerischen und politischen Händeln ihrer Zeit lebhaft Antheil, bald auf dieser, bald auf jener Seite, wie die wechselnden Conjuncturen dem kleinen Staate es ratsam erscheinen ließen, bald mit den Venezianern und dem Papste in Fehde (Str. 52), bald wieder auf gutem Fuße mit ihnen, vorwiegend jedoch auf Frankreich sich stützend, mit dessen Heeren Alfons an dem großen Siege bei Ravenna (1512) über Spanien und den Papst Theil nahm.  »Als weil er ihr das hohe Paar beschert,
Alfons den weisen, Hippolyt voll Güte
Zwei Brüder, nicht geringren Ruhmes wert
Als jene aus Tyndarischem Geblüte,
Die wechselnd gern des Sonnenlichts entbehrt,
Damit der Bruder nicht im Dunkeln brüte.
Bereit und stark wird jeder sein der beiden,
Fürs Heil des andern ew'gen Tod zu leiden. 88
51  »Die große Liebe dieses schönen Paares
Giebt ihrer Stadt viel größre Sicherheit,
Als wenn Vulcan um sie ein wunderbares
Bollwerk von Eisen zieht und doppelt feit.
Der ist Alfons, der so viel Güt' und klares
Erkennen paart, daß man in seiner Zeit
Wohl glaubt, Asträa sei vom Himmelszelte
Jetzt wieder hier, wo Hitze herscht und Kälte.
52  bezieht sich auf Ereignisse der Jahre 1509 und 1510. Alfons war in die Liga von Cambrai eingetreten und hatte 1509 die Venezianer bei Polesella besiegt. Als dann Julius II von der Liga zurücktrat, wollte er, daß Ferrara ein gleiches thue, und bedrängte es, da Alfons sich weigerte, mit Krieg und Excommunication, wiegelte auch die Romagnolen auf, welche indeß unweit des Kanals Zanniolo, zwischen dem Po und dem Santerno geschlagen wurden. Bald darauf nahmen spanische Söldner des Papstes dem Herzog die sog. Bastia und tödteten den Commandanten, der sich kriegsgefangen ergeben hatte. Als die Ferraresen das Schloß wiedereroberten, ließen sie die ganze Besatzung über die Klinge springen.  »Wohl thut es Not, daß sich in ihm die kluge
Und tapfre Art des Vaters stark erweist,
Wann er mit wenig Volks in einem Zuge
Der Macht Venedigs hier die Zähne weist,
Und dortseits jener, die mit besserm Fuge
Stiefmutter, wie mich dünkt, als Mutter heißt,
Wenn aber Mutter, nun, dann waren sicher
Medea einst und Progne mütterlicher.
53  »Und jedesmal wann er mit den Getreuen
Hervorbricht aus der Stadt, bei Tag und Nacht,
Versetzt er seinen Feinden einen neuen
Denkwürd'gen Schlag in Land- und Wasserschlacht.
Das Volk Romagna's wird es dann bereuen,
Das alte Freund' und Nachbarn unbedacht
Befehdet, wann von Blut die Felder fließen,
Die Po, Santern und Zaniol umschließen. 89
54  »Erfahren wird es an demselben Ort
Der Spanier, der, um römisch Gold gedungen,
Die Burg dem Herzog nimmt am Flussesbord
Und dann den Schloßvogt, den er schon bezwungen
In Händen hat, erschlägt. Für diesen Mord
Bleibt dann vom Hauptmann bis zum letzten Jungen
Kein Mann am Leben, um in Rom zu sagen,
Die Burg ist hin, die Mannschaft ist erschlagen.
55  Die »Griechen« in der letzten Zeile werden Albanesen sein, welche unter Venedig dienten.  Er ist es, dessen Klugheit, dessen Speer
Den Ruhm gewinnt, daß ihm dereinst die Franken
Im Feld Ravenna's über Spaniens Heer
Und Julius' Macht den großen Sieg verdanken.
Im Blut der Menschen werden wie im Meer
Die Hengste schwimmen, rot bis an die Flanken,
Und Raum wird fehlen alle zu begraben,
Italier, Franken, Griechen, Spanier, Schwaben.
56  Der Schlußvers ist ein Compliment für den Poeten Andreas Marone, der am Hofe des Cardinals lebte, übrigens längst verschollen ist. Uns steht es frei, in dem Virgil Hippolyts den Dichter des rasenden Roland selbst zu erblicken.  »Der dort, geschmückt wie man Prälaten sieht,
Den Purpurhut auf den geweihten Locken,
Der große Cardinal ist's, Hippolit,
Freigebig, hochgesinnt und unerschrocken,
Der unerschöpflich Stoff für Red' und Lied
Darbieten wird, wenn andre Quellen stocken,
Und Gott wird wollen, daß auch ihm zur Seite,
Wie dem Augustus einst, sein Maro schreite. 90
57  Bei Volano schlug Hippolyt mit einer kleinen Truppe die Venezianer. Im Jahre 1508 besiegte er auf dem Po selbst eine Flotte der Venezianer und erbeutete viele Schiffe.  »Er wird die Zier des schönen Stammes werden,
Wie Sonnenlicht die Zier des Weltenbau's;
Verdunkeln wird er jedes Licht auf Erden:
So löscht die Sonne Mond und Sterne aus.
Er wird mit wenig Volks und wen'ger Pferden
Ausziehn betrübt und kehrt vergnügt nach Haus;
Funfzehn Galeren, tausend andre Barken
Führt er als Beute heim zu seinen Marken.
58  Von den beiden Sigismunden war der eine ein Bruder Hercules I, der andere ein Bruder Alfons I. Unter den fünf Söhnen des letzteren ist Hercules II, welcher Renata, Ludwigs XII Tochter, heiratete, der dritte Herzog von Ferrara. Die beiden Alfonse waren Bastarde.  »Zwei Sigismunde wandeln ihm zur Seite,
Fünf liebe Söhn' Alfonso's ziehn heran,
Für deren Ruhm nicht Berg noch Meeresbreite
Den Weg durch alle Welt versperren kann.
Der erste dort ist Hercules der zweite,
Der Eidam Frankreichs, und der andre dann
Ist Hippolyt, nicht minder wert zu strahlen
Als jener Oheim in des Ruhms Annalen;
59  »Der dritte Franz, Alfonse jene beiden,
Mit gleichem Namen. Aber, wie gesagt,
Wollt' ich von jedem Zweige dich bescheiden,
Der herrlich einst an deinem Stamme ragt,
So glaub' ich, daß es mehrmals, eh wir scheiden,
Im Westen dämmert und im Osten tagt.
Drum wär' es Zeit, wenn es dich nicht verdrösse,
Daß ich den Geistern Urlaub gäb' und schlösse.« 91
60  Der Schluß dieser und die beiden nächsten Strophen beziehen sich auf ein schauerliches Familiendrama des glänzenden Hauses. Ein ehelicher und ein natürlicher Sohn Hercules I, Giulio und Fernando, wurden von Hippolyt der Verschwörung gegen Alfons bezichtigt, zum Tode verurteilt und auf dem Schaffott zu lebenslänglichem Gefängniß begnadigt. Es heißt, daß Eifersucht des Cardinals gegen einen der Brüder im Spiel gewesen sei. Ariosts Fürwort für die Unglücklichen blieb fruchtlos; erst Herzog Alfons II entließ den überlebenden Giulio aus dem Kerker.  Weil Bradamant' es gut hieß, schloß sie hier
Das Zauberbuch, und sieh, die luft'ge Sippe
Der Geister flog voll hastiger Begier
In jene Kammer mit Merlins Gerippe.
Die Tochter Haimons, nun das Reden ihr
Nicht mehr verwehrt war, öffnete die Lippe
Und frug: »Wer war denn jenes Paar voll Gram,
Das mit Alfons und seinem Bruder kam?
61  »Sie kamen seufzend, und die Augen schienen
Gesenkt zu Boden, ohne jeden Mut.
Ich sah's, die Brüder hielten sich von ihnen
Entfernt, als wären sie auf ihrer Hut.«
Bei dieser Frage wechselte die Mienen
Die Magierin, dem Aug' entstürzte Flut.
»Unsel'ge!« rief sie aus, »mit welchen Qualen
Müßt ihr für Anstiftung der Bösen zahlen!
62  »O Sohn des besten Fürsten, selbst so gut,
Laß ihr Vergehn nicht deine Huld besiegen;
Die Aermsten sind doch auch von deinem Blut,
Und mehr als Recht mag wohl die Gnade wiegen.«
Und leiser fuhr sie fort: »das weitre ruht
Im Schooß der Zukunft; bleib' es denn verschwiegen;
Bewahr' den süßen Schmack, und schilt nicht, Theure,
Daß ich ihn nicht zum Schlusse dir versäure. 92
63  »Wann sich am Himmel zeigt die erste Helle,
Sollst du mit mir gerades Wegs alsbald
Hineilen nach dem stählernen Castelle,
Wo Roger lebt in feindlicher Gewalt.
Ich will dein Führer sein und dein Geselle,
Bis du im Rücken hast den dunklen Wald;
Hernach, wann du das Meer erreichen wirst,
Lehr' ich den Weg dir, daß du nimmer irrst.«
64  Noch manche Stunde dieser Nacht verbrachte
Die kühne Jungfrau an des Sehers Schrein,
Der zu ihr sprach, sie mahnend, daß sie trachte,
Bald ihrem Roger Herz und Hand zu weih'n.
Als sich von neuem Glanz die Luft entfachte,
Verließ sie das Gemach im Felsgestein
Durch finstre Gänge, unterirdisch-weite,
Die zauberkund'ge Frau an ihrer Seite.
65  Sie tauchten auf in einem Kesselgrunde,
An bergumschlossnem unnahbarem Ort,
Und schritten ohne Rast an manchem Schlunde
Ueber Geklipp und wilde Bäche fort,
Und wann zu lang erschien die heiße Stunde,
Verstanden sie's mit klugem muntrem Wort
Von Dingen, die es hold schien zu besprechen,
Des rauhen Weges Mühsal abzuschwächen. 93
66  Der Hauptzweck aber jener Weisen war's,
Das Mädchen in die Mittel einzuweihen,
Davon sie nicht die Breite eines Haars
Abweichen dürf', um Roger zu befreien.
»Wärest du,« sprach sie, »Pallas oder Mars
Und sähest mehr Kriegsvolk um dich sich reihen
Als König Karl und König Agramant,
Doch widerstünde dir der Necromant.
67  »Denn nicht nur, daß auf unnahbarer Spitze
Sein hohes Schloß liegt, ganz von Stahl umringt,
Und nicht nur, daß sein Roß vom Felsensitze
Stracks durch die Luft geht, wo es trabt und springt:
Er hat den Schild auch mit dem Todesblitze,
Der so ins Auge fährt, wann er ihn schwingt,
So das Gesicht benimmt, den Sinn verwirrt,
Daß man so wehrlos wie ein Todter wird.
68  »Und meinst du etwa, daß es helfen werde,
So im Gefecht man nur die Augen schließt?
Wie willst du merken, wann er mit dem Pferde
Ausweicht und wann zum Stoße niederschießt?
Damit jedoch der Schild dich nicht gefährde
Und andern Zaubern du die Kraft entziehst,
Will ich ein Mittel, einen Weg dich lehren;
Kein andrer hilft, dich seiner zu erwehren. 94
69  »Der König Agramant hat einen Ring,
Den man der Tochter Galafrons entwandt hat,
Brunel gegeben, seinem Kämmerling,
Den er des Wegs in dies Gebirg gesandt hat.
So hohe Kraft steckt in dem kleinen Ding,
Daß Zauber den nicht trifft, wer es zur Hand hat.
Brunel versteht Betrug und Stehlen, wie
Der Mann, der Roger dir entführt, Magie.
70  »Und ihm, dem Dieb von solcher Meisterschaft,
Hat, wie gesagt, der König aufgetragen,
Durch seine Klugheit und des Ringes Kraft,
Die oft sich hat erprobt in solchen Lagen,
Den Roger zu erlösen aus der Haft
Der Zauberburg; und jener will es wagen.
Er hat es kühnlich seinem Herrn geschworen,
Der Roger höher schätzt als alle Mohren.
71  »Damit nun dir allein der Dank gebüre
Und keineswegs dem König Agramant,
Wenn Roger von sich streift die Zauberschnüre,
Geb' ich das Mittel jetzt in deine Hand.
Das Meer entlang, wohin ich bald dich führe,
Mußt du drei Tage wandern auf dem Sand;
Am dritten kehr' in eine Herberg' ein,
Da wird der Gauner mit dem Ringe sein. 95
72  »Damit du ihn erkennst: sein Wuchs ist nicht
Sechs Spannen hoch, das Haar ist schwarz und wollen,
Die Haut ist braun, und bleich ist das Gesicht
Und bärt'ger als es hätte werden sollen;
Die Nase stumpf, die Brauen buschig dicht,
Glanzlos der Blick, die Augen aufgequollen;
Der Anzug – daß ich völlig ihn beschreibe –
Wie eines Boten, kurz und knapp am Leibe.
73  »Leicht wird es sein, mit ihm in kurzer Frist
Die Red' auf jenen Zauberspuk zu bringen.
Zeig' dich begierig, wie du wirklich bist,
Mit jenem Magier um den Sieg zu ringen,
Zeig' aber nicht, daß dir verraten ist,
Daß Zauber gegen diesen Ring mislingen.
Dann wird er sich erbieten, bis zum Schloß
Mit dir zu gehn als Führer und Genoß.
74  »Du gehe hinter ihm, und auf dem Wege,
Sobald du jene Burg von fern entdeckst,
Gieb ihm den Tod. Kein Mitleid werde rege,
Damit du alles, wie sich's ziemt, vollstreckst.
Doch hüte dich, daß er nicht Argwohn hege;
Sei rasch, eh Hilf' ihm durch den Ring erwächst;
Denn er verschwände dir in der Secunde,
Wo er den heil'gen Ring versteckt' im Munde.« 96
75  So sprachen sie, bis sie zum Meere kamen,
Wo bei Bordeaux sich die Garonn' ergoß,
Und von einander endlich Abschied nahmen,
Nicht ohne daß an Thränen ein'ges floß.
Die Tochter Haimons, ohne zu erlahmen,
Schritt, um den Freund zu lösen aus dem Schloß,
Bis eines Abends sie das Haus erblickte,
Das Gasthaus, wo Brunel sich schon erquickte.
76  Sie kannt' ihn gleich; sie trug in ihrem Sinn
Wie eingeprägt sein Bild mit allen Zügen.
Sie fragt' ihn erst woher und dann wohin,
Und er antwortet' ihr, mit eitel Lügen.
Das Mädchen, schon gewarnt, gab ihm darin
Nur wenig nach und log ihm mit Vergnügen
Abkunft, Geschlecht, Land, Namen und Partei
Und blickt' ihm auf die Hände scharf dabei.
77  Sie blickte scharf dabei ihm auf die Hände,
Aus Furcht vor seiner List und Dieberei,
Und hielt ihn fern von sich ein gutes Ende,
Wohl wissend, welches Geistes Kind er sei.
So stand die Sach', als plötzlich die vier Wände
Erdröhnten von entsetzlichem Geschrei.
Woher der Lärm entstanden war im Hause,
Werd' ich euch sagen, Herr, nach kurzer Pause. 97

 


 


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