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VII.
Meine Kämpfe in Stuttgart.

Am 1. Februar 1909 mußte ich mein Amt niederlegen, weil meine Gesundheit den dauernden Kämpfen nicht gewachsen war. Als eine Bahnbrecherin habe ich mich in meinem Amt betrachtet, aber wie alle Bahnbrecher mußte ich unendliche Schwierigkeiten überwinden, gegen Mißtrauen ankämpfen; meine guten Absichten wurden falsch verstanden, ein Heer von Feinden und Widersachern bildete sich im Lauf der sechs Jahre, in denen ich meine Tätigkeit ausübte, gegen mich, so daß ich mich schließlich gezwungen sah, mein Amt aufzugeben. Fahnenflüchtig bin ich aber deshalb nicht geworden, denn auch heute noch kenne ich kein anderes Ziel, als den »Menschen, die den Pfad verloren«, den Parias unserer Gesellschaft, vor allem aber den verlassenen und mißhandelten Kindern zu helfen. Da mir aber in der Verfolgung dieses Zieles häufig Schwierigkeiten gemacht werden, weil man annimmt, daß ich den Stuttgarter Posten durch eigenes Verschulden aufgeben mußte, will ich dieses Buch nicht in die Welt gehen lassen, ohne von meinen Erfahrungen mit Behörden und Vereinen aller Art zu berichten.

Den ersten Konflikt mit meinen vorgesetzten Behörden, dem Stadtpolizeiamt und dem Gemeindewaisenrat, hatte ich wegen eines 3 Monate alten unglücklichen Kindes.

Seine Mutter war eine Witwe, der Vater einer ihrer Logisherren. Der Gemeinde-Waisenrat stellte mich im Juni 1906 als ehrenamtliche Waisenpflegerin für das Kind auf, mit dem Bemerken, daß er vom Kgl. Vormundschaftsgericht Stuttgart die Mitteilung erhalten habe, daß die Witwe F. den ganzen Tag fort sei und das Kind ganz vernachlässige. Ueber denselben Fall war bereits durch das Stadtpfarramt der betreffenden Parochie beim Stadtpolizeiamt Anzeige erstattet worden, ohne daß dieses sich verpflichtet fühlte, einzuschreiten. Ich begab mich sofort in die Wohnung der Witwe F. Diese war nicht zu Hause. In der schmutzstarrenden Stube spielten einige ganz verwahrloste Kinder. Der Säugling befand sich in einem Korbe in unbeschreiblichem Zustand. Es hatte den Anschein, als ob er noch nie gereinigt worden wäre. Das Bettchen strömte einen furchtbaren Geruch aus, das Kind schien schwerkrank; es atmete mit großer Anstrengung, in den halb offenen eiternden Augen saßen eine Menge Fliegen, neben dem Kissen lag eine Flasche mit dicker saurer Milch. Ich ging sofort zu dem Gemeinde-Waisenrat und ersuchte ihn noch am gleichen Tage einen Arzt zu dem Kinde zu senden und dieses in das Olgaspital einzuweisen. Der Repräsentant des Gemeinde-Waisenrats forderte einen schriftlichen Bericht ein und erklärte mir sogleich, daß es fraglich sei, ob der Waisenarzt des betreffenden Distrikts Zeit haben werde, »in den nächsten Tagen« nach der Sache zu sehen. So eilig, meinte er, würde der Fall nicht sein. Hierauf begab ich mich zum Vorstand des Stadtpolizeiamts, schilderte ihm die Dringlichkeit der Angelegenheit und bat ihn, sofort den Stadtarzt zu beauftragen, nach dem Kinde zu sehen. Der Vorstand des Stadtpolizeiamts erwiderte, daß ihn dies Kind gar nichts anginge. Wenn der Gemeinde-Waisenrat den Fall in Behandlung habe, so sei das Stadtpolizeiamt nicht befugt, einzuschreiten.

Als ich am folgenden und nächstfolgenden Tage in das Haus der Witwe F. kam, fand ich das Kind in der gleichen Verfassung. Ein Arzt war nicht erschienen. Am drittfolgenden Tage, einem Sonntag, fand ich das Kind bedeutend kränker. Da die Kanzlei des Gemeinde-Waisenrats geschlossen war, wandte ich mich an den diensttuenden Kommissär des Stadtpolizeiamts, meldete ihm, daß von Seiten des Gemeinde-Waisenrats keine ärztliche Untersuchung des armen kleinen Kindes stattgefunden habe und bat um die Erlaubnis, den Herrn Stadtarzt zu dem Kinde zu rufen. Der Herr Polizeikommissär bedauerte, mich in der Angelegenheit nicht unterstützen zu können, er dürfe keine andere Anordnung treffen, als der Herr Amtsvorstand. Dagegen riet er mir, mich direkt an den Waisenarzt des betreffenden Distrikts zu wenden. Auf telephonische Anfrage wurde mir mitgeteilt, daß der Herr Doktor ausgegangen sei und erst gegen Abend wiederkomme. Um ½8 Uhr abends ging ich zu ihm. Er war sehr entrüstet über meine »Eigenmächtigkeit« und meinte, »da könnte ja schließlich jede ehrenamtliche Waisenpflegerin am Sonntag kommen, er sei keineswegs verpflichtet, ohne direkte schriftliche Aufforderung des Gemeinde-Waisenrates nach einem Kinde zu sehen. Erst als ich ihm in meinem Waisenpflegerin-Statut den Passus zeigte, wonach die Waisenpflegerin berechtigt ist, in dringenden Fällen sich direkt an den Waisenarzt zu wenden, erklärte er sich bereit, sofort mit mir zu dem Kinde zu gehen, wenn ich die Ueberzeugung habe, daß dieses dadurch gerettet werden könne. Ich erwiderte, daß ich diese Ueberzeugung nicht hegen könne, vielmehr der Ansicht sei, daß jede Fürsorge für das arme Geschöpf jetzt zu spät komme. Man könnte ihm aber vielleicht noch Linderung verschaffen. Wir einigten uns dann dahin, am folgenden Morgen 7 Uhr im Hause der Witwe F. zusammenzutreffen und zu beraten. Als wir uns am folgenden Morgen trafen, fanden wir nur noch die kleine Leiche. Ein gerechter Zorn erwachte in mir gegen diese Behörden, die in bürokratischer Engherzigkeit ihre Pflicht verabsäumt hatten. Ich sandte sofort einen Bericht an die Kgl. Staatsanwaltschaft, in dem ich den ganzen Fall schilderte und Anklage wegen fahrlässiger Kindstötung erhob. Wer in meinen Augen der Hauptschuldige war, die Rabenmutter, der Gemeindewaisenrat oder das Stadtpolizeiamt, stand nicht in meiner Anklage. Darüber zu urteilen, überließ ich dem Gericht. Die kleine Leiche wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und seziert. Ich durste der Sektion beiwohnen. Der kleine Körper war zum Skelett abgemagert, der Rücken nur eine große offene Wunde. Als eigentliche Todesursache wurde Lungenentzündung konstatiert, und die Mutter somit von der Anklage der Kindstötung freigesprochen.

Das Ende von der ganzen Sache war ein Schreiben des Stadtschultheißenamts, worin dieses das Stadtpolizeiamt ersuchte, der Polizeiassistentin Arendt seine Mißbilligung über die Art ihres Vorgehens auszudrücken.

Es ist längst Gras gewachsen über dem Hügel des kleinen Märtyrers und es wäre wohl auch Gras gewachsen über die »Mißbilligung« des Stadtschultheißenamts, wenn ich nicht damals an der kleinen Leiche den heiligen Schwur getan hätte, mich von nun an, soweit meine Zeit und meine Kräfte reichen, dieser unglückseligen Kinder anzunehmen, die von ihren eigenen Eltern langsam zu Tode gepeinigt werden. Auf meinen Wunsch erhielt ich vom Vorstand des Stadtpolizeiamts die Erlaubnis, offiziell nach den als verwahrlost und mißhandelt angezeigten Kindern sehen zu dürfen. Ueber das große Elend, das sich mir hier offenbart hat, habe ich, um Mittel zur Linderung aufzutreiben, am 1. Februar 1907 in der »Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« einen Vortrag gehalten, betitelt: Mehr staatliche Fürsorge für Gefallene und Gefährdete. Der beste Weg zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«. In diesem Vortrage habe ich, sowohl über den bürokratischen Schneckengang der Behörden, als über die Engherzigkeit und die Vogelstrauß-Politik der verschiedenen Kinderrettungsvereine eingehend referiert. Mit diesem Vortrag begann mein Martyrium in Stuttgart. Der Gemeinderat war empört über die »Unter-Beamtin«, die sich erlaubte, städtische Einrichtungen und althergebrachte Gebräuche einer Kritik zu unterziehen; die »Wohltätigikeitsvereine« und die Stadtmission aber waren empört, daß jemand, der ihrer Meinung nach nur Humanität und nicht das Christentum auf seine Fahne geschrieben, es wagte, Reformvorschläge zu machen. Schon mehrfach war mir vom Leiter der Stadtmission und andern Persönlichkeiten, die sich als »treue Arbeiter im Weinberge des Herrn« bezeichnen, bedeutet worden, daß ich einen anderen Weg einschlagen müßte, wenn ein ersprießliches Zusammenarbeiten erreicht werden sollte. Da hieß es: »eine Schwester, die nicht jeden Sonntag zur Kirche gehe, habe nicht das Recht diesen Ehrentitel zu führen« und »in unseren Kreisen ist es nicht üblich ins Theater zu gehen, das Theater ist eine Einrichtung des Teufels«, »ein Kind Gottes käme nie auf den Gedanken, ein Theater zu besuchen«, »Schwestern, die mit Herren Ausflüge machen, setzen sich der Mißbilligung aller guten Christen aus und gelten als übelbeleumundete Personen« u. s. w. Daß eine Schwester auch ein Mensch ist, der Ansprüche an das Leben stellt, zumal auf solchem schwierigen Posten, wo man nur mit der Hefe der Menschheit zu tun hat, wurde nicht berücksichtigt. Mein Hauptverbrechen lag aber in den Augen dieser Leute darin, daß ich in religiöser Beziehung keinerlei Zwang auf die meiner Fürsorge übergebenen Personen ausübe. Es liegt mir ganz fern zu fragen, ob die Leute auch zur Kirche gehen, ob sie kirchlich getraut, ob ihre Kinder getauft sind. Meine Fürsorge lasse ich jedem Bedürftigen angedeihen, ob Protestant, Katholik, ob Jude oder Heide. Nie wurde ein Bekehrungsversuch von mir gemacht. Meinen religiösen Standpunkt konnte und durfte ich ja auch niemand aufzwingen; das hätte sich nicht mit meinen amtlichen Befugnissen vereinigt. Diesem Umstande habe ich es zu verdanken, daß ich »in unseren Kreisen« als »Sozialdemokratin« und »Anarchistin« bezeichnet werde. Als ich mich einmal nach einer entlassenen Gefangenen, die ich in ein evangelisches Magdalenenasyl gebracht hatte, wo ich für sie den Unterhalt zahlte, öfters erkundigte, beschwerte sich der Vorstand dieser Anstalt, ein hoher Geistlicher, bei dem Vorstand des Stadtpolizeiamts darüber. An ein Mißverständnis glaubend, machte ich diesem Herrn einen Besuch und bat ihn um Aufklärung. Ich fragte ihn, ob er sich nicht auch nach der Führung eines Kindes erkundigen würde, das er zum Zweck der Erziehung in eine Anstalt gegeben hätte und für das er den Unterhalt zahlen müsse. Er entgegnete, das sei ganz etwas anderes: »Die Missionsarbeit sei eine so zarte Pflanze, daß sie nicht von rauhen Polizeihänden angegriffen werden dürfe.« Ein anderes Mal wurde mir bedeutet, daß eine Frau überhaupt keine Reformvorschläge machen dürfe. Der Apostel Paulus habe gesagt: »Das Weib schweige in der Gemeinde« und es sei ein altes Sprichwort: »Die Frau und der Ofen gehören ins Haus«. Saß ich als Weib es gewagt habe, einen Vortrag zu halten, wurde somit von vornherein verdammt, ganz abgesehen von seinem Inhalt.

Ehe ich diesen Vortrag hielt, teilte ich dem Herrn Amtsvorstand mit, daß ich entschlossen sei, an die Oeffentlichkeit zu appellieren, und daß es mir ganz Nebensache sei, ob dieser Schritt mir eine »Mißbilligung« des Stadtschultheißenamts zuziehe oder ein regelrechtes Disziplinarverfahren mit Geldstrafe oder Entlassung; selbst eine Gefängnisstrafe würde ich nicht scheuen um der guten Sache willen. Ich würde immer an das Wort des Herrn denken: »Fürchte Dich nicht, sondern rede und schweige nicht!« –

Einige Tage nach dem Vortrag teilte mir der Herr Polizeirat mit, daß gegen mich eine Untersuchung eingeleitet werden würde wegen schwerer Beleidigung der Behörden und Verletzung des Amtsgeheimnisses. Ich erklärte, daß eine Verletzung des Amtsgeheimnisses wohl kaum vorliegen könne, da er mir stets gestattet habe, Berichte mit Beispielen aus meiner amtlichen Tätigkeit herauszugeben, wenn ich keine Namen nenne, daß dieses Verfahren mich aber in keiner Weise in der Verfolgung meiner guten Sache hindern würde. Einer der Herren Gemeinderäte erklärte mir privatim, daß es eine unerhörte Beleidigung und Lüge sei, den Gemeinderat der Stadt Stuttgart als bürokratisch zu bezeichnen. Wollte ich so fortfahren, so würde im Gemeinderat beschlossen werden, die Stellung der Polizeiassistentin aufzuheben, mit der Begründung, daß der Versuch als verfehlt zu betrachten sei.

Statt der angekündigten Untersuchung begann meine vorgesetzte Behörde jetzt mich jeden Tag zu irgend einer »Aeußerung« zu veranlassen. Täglich wurde ich von einem Beamten des Stadtpolizeiamts wegen einer neuen Angelegenheit mehrere Stunden protokolliert, z. B. wann ich den Dienst morgens antrete, wie die Diensteinteilung zwischen mir und der mir von der Stadtverwaltung bewilligten Gehilfin sei, wieviele Berichte ich bereits über meine Tätigkeit herausgegeben habe, wieviele Unterstützungsgelder mir daraufhin zugegangen seien u. s. w.

Schließlich wurde ich von einem Gemeinderat im Auftrag des Herrn Oberbürgermeisters gefragt, »ob ich gedenke, Beamtin zu bleiben«. Ich erwiderte, daß ich eigentlich bis jetzt keine Veranlassung hätte, das Amt niederzulegen, obwohl mir verschiedene andere günstige Anerbietungen gemacht worden seien. Er hielt mit darauf einen längeren Vortrag: »Es sei durchaus im Interesse der Stadt, mich in ihrem Dienst zu behalten, die Stadt habe keine Veranlassung, mit meiner dienstlichen Führung unzufrieden zu sein, aber derartige Angriffe, wie ich sie mir in dem Vortrag am 1. Februar d. J. geleistet habe, würden sie sich zum zweiten Male nicht bieten lassen, ganz zu schweigen von meiner Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Er habe den Auftrag vom Herrn Oberbürgermeister mir zu eröffnen, daß eine Beamtin wie ich in den Annalen der städtischen und staatlichen Behörden von ganz Württemberg noch nicht dagewesen sei.« Ich erwiderte, daß das kein Vorwurf für mich, sondern nur ein sehr bedauerliches Faktum sei, denn, wenn es mehr Beamte gebe, die weder Disziplinarverfahren, noch Entlassung fürchteten, sondern treu für ihr Amt einträten, so würde nicht nur in Württemberg, sondern im ganzen deutschen Reiche mit dem engherzigen Bürokratismus aufgeräumt werden, und es würde nicht mehr soviel Jammer und Not unter den unglücklichen, mißhandelten Proletarierkindern geben. Darauf entgegnete er, der Gemeinderat habe ja gar nichts dagegen, wenn ich auf Mißstände aufmerksam mache, nur dürfe ich das nicht öffentlich tun, sondern auf dem vorgeschriebenen Instanzenwege. Auch meine literarische Tätigkeit wolle man mir nicht untersagen, nur müßte ich meine Rechenschaftsberichte vor der Veröffentlichung künftig dem Gemeinderat vorlegen, denn nicht einmal die sozialdemokratischen Gemeinderäte gingen in ihren Reformbestrebungen so schroff vor, wie ich!

Ich erklärte mich bereit, auf alle Forderungen meiner vorgesetzten Behörde einzugehen, doch:

»Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben,
wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.«

Mein Vortrag war im »Beobachter«, dem demokratischen Organ, und anderen Stuttgarter Zeitungen abgedruckt worden und hatte von Württemberg aus seinen Weg durch einen großen Teil der deutschen Presse gefunden. Nun erschien am 14. August 1907 in der »Schwäbischen Tagwacht«, dem sozialdemokratischen Organ, ein neuer Bericht über den alten Vortrag mit der Ueberschrift: »Kleine weiße Sklaven«, eine Bezeichnung, die ich in meinem Vortrag angewandt hatte für die unglücklichen, unehelichen, deutschen Kinder, mit denen von Deutschland nach Amerika ein direkter Handel getrieben werden soll. Gleichzeitig wurde in dem Artikel erwähnt, daß eine öffentliche Prostituierte mir erzählt habe, sie sei von einem Offizier verführt und ohne jede Hilfsmittel mit 2 Kindern verlassen worden. Der Verführer sei dann nach Südwestafrika verschwunden und sie sei Prostituierte geworden, um ihre beiden Kinder ernähren zu können. Der Verfasser des Artikels schloß mit den Worten: »Nebenbei auch ein Beitrag zu der Frage, warum geht man nach Südwestafrika? Nicht der einzige Fall.«

Der Herr Amtsvorstand eröffnete mir nun, daß das Reichskolonialamt den Namen des Offiziers und des Mädchens zu wissen wünsche, und daß ich mich eventl. wegen Beleidigung der deutschen Armee zu verantworten haben werde. Ich gab den Namen der betreffenden Prostituierten an, der Name des Offiziers ist mir unbekannt. Gleich darauf wurde mir folgendes Schreiben des Stadtschultheißenamtes eröffnet:

 

»An das Stadtpolizeiamt.

Es wäre dringend erwünscht, daß die Arendt mit laufenden Geschäften so bedacht würde, daß sie keine Zeit dazu findet, »lange Zeit hindurch den Annoncen in den Tageszeitungen nachzugehen«. Dafür hat sie der Gemeinderat nicht angestellt, ganz abgesehen davon, daß diese Adoptionsgeschichten eine altbekannte Misere sind. Das Mißliche bei der Sensationsschriftstellerei der Arendt ist das, daß sie regelmäßig dabei mit ihrer amtlichen Eigenschaft als »Polizeiassistentin in Stuttgart« krebsen geht und so die Stadt Stuttgart in den Verruf bringt, als ob alles, was sie findet, spezifisch stuttgarterisch ist. – Mir persönlich vollständig gleichgiltig, aber in weiten Kreisen mißfällig bemerkt ist auch das, daß sie, wie keine andere irgendwo und irgendwie beamtete Person fortgesetzt Material zur Schlechtmachung der bestehenden Gesellschaft liefert. Jeder andere Polizeibeamte u. s. w. könnte das ebenso gut, alle anderen sind aber zu taktvoll dazu und – zu gut dienstlich gezogen.

Stadtschultheißenamt

15. 8. 1907. gez. Gemeinderat Dr. Rettich.«

Auf diese Eröffnung habe ich folgendes erwidert:

»An das Stadtschultheißenamt, hier.

Stuttgart, Stadtpolizeiamt
28. August 1907.

Auf die mir am 21. d. M. durch das Stadtpolizeiamt eröffnete Beschwerde des Stadtschultheißenamts betr. meinen in der »Schwäb. Tagwacht« wiedergegebenen Artikel aus der »Monatschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform« habe ich folgendes zu erwidern:

  1. betr. den Passus: »Es wäre dringend erwünscht, daß die Arendt mit laufenden Geschäften so bedacht würde, daß sie keine Zeit dazu findet, lange Zeit hindurch den Annoncen in den Tageszeitungen nachzugehen.«

Es wird dem Stadtschultheißenamt wohl bekannt sein, daß ich kontraktlich nur zur Ueberwachung der auf dem Stadtpolizeiamt eingelieferten weiblichen Personen verpflichtet bin und daß ich – im Einverständnis mit dem Herrn Amtsvorstand – freiwillig auch die Ueberwachung und die Fürsorge der beim Stadtpolizeiamt als verwahrlost oder mißhandelt angezeigten Kinder übernommen habe, desgleichen den Transport von weiblichen Geisteskranken, wo weibliche Hilfe notwendig ist, und seit 1. Dezember 1906 auch die Fürsorge für die männlichen Gefangenen unter 18 Jahren, bezw. deren Ueberweisung an die Stadtmission und andere Fürsorge-Vereine. Mit wenigen Ausnahmen bin ich auch jeden Sonn- und Feiertag auf dem Stadtpolizeiamt anwesend. Hieraus geht wohl zur Genüge hervor, daß ich trotz einer Gehilfin, die nicht einmal täglich auf dem Stadtpolizeiamt anwesend ist, mit »laufenden Geschäften« fast über die Kraft versehen bin.

Wenn ich nun in meiner geringen freien Zeit mir die Mühe nehme, die Annoncen betr. Kinderadoption zu lesen und mit Hilfe wohltätiger Frauen für die Unterbringung unglücklicher, verlassener Kinder sorge, so ist das doch wohl meine Privatsache und erkläre ich hiermit ausdrücklich, daß ich mir die Fürsorge für solche Kinder unter keinen Umständen verbieten lassen werde. Meiner Meinung nach könnte eine Stadtverwaltung froh sein, wenn sie Beamte hat, die sich freiwillig in ihrer freien Zeit zum Wohle der Stadt solchen Aufgaben unterziehen.

Auf den Passus meine »Sensationsschriftstellerei« betreffend, erkläre ich:

Wie ich H. Gemeinderat Dr. Rettich bereits mündlich auseinandersetzte und wie auch aus meinen jährlichen Berichten an die Stadtverwaltung hervorgeht, bedarf ich zur Unterstützung der entlassenen Gefangenen ca. 2-3000 Mk. jährlich, ohne die mir bisher zur Last fallenden Unkosten für das Vorasyl, für welches die Stadtverwaltung ja die Güte hatte, mir Mk. 1000.– in den letzten 2 Jahren pro Jahr zu bewilligen. Um den an mich gestellten Anforderungen, d. h. der Fürsorge für die entlassenen weiblichen Gefangenen, gerecht zu werden, bin ich genötigt, immer wieder an die Privatwohltätigkeit zu appellieren. Nur durch kleine Zeitungsartikel und Broschüren gelingt es mir, die jährlich erforderlichen großen Summen aufzutreiben, ohne welche meine gesamte Tätigkeit zwecklos wäre.

Zu dem Passus, daß ich »fortgesetzt Material zur Schlechtmachung der bestehenden Gesellschaft liefere«, bemerke ich, daß dies keineswegs in meiner Absicht liegt. Wenn die Natur des Materials diese Wirkung hat, so liegt es nicht in meiner Macht, das zu ändern. Im Uebrigen kommt mir die Bemerkung »jeder andere Polizeibeamte u. s. w. könnte das ebenso gut« im Munde eines höheren Beamten sehr sonderbar vor.

Zu dem Schlußpassus, »daß andere Beamte zu taktvoll und zu gut dienstlich gezogen sind, um in gleicher Weise zu handeln«, erwidere ich, daß ich es unter meiner Würde als Frau erachte, auf derartige Beleidigungen einzugehen.

Schwester Henriette Arendt.
Polizei-Assistentin.«

 

Ungefähr zu gleicher Zeit hatte ich ein heftiges Rencontre mit dem Herrn Polizeirat wegen eines blinden französischen Musikers. Der Tatbestand war folgender: Als ich auf meiner Kanzlei im Stadtpolizeiamt damit beschäftigt war, diverse Akten über verwahrloste Kinder zu erledigen, brachte mir ein Schutzmann abends 11 Uhr diesen Musiker. Der junge Mann, der sehr anständig gekleidet war, gab an, er sei Violinspieler aus Paris, habe auf Veranlassung eines Impresarios in Wien und verschiedenen anderen österreichischen Städten konzertiert, sei jetzt auf der Heimreise nach Paris begriffen und unterwegs im Eisenbahnwagen seiner ganzen Barschaft beraubt worden. Ein kleiner Handkoffer, den er bei sich führte und der saubere Wäsche und Kleidung enthielt, seine Violine und überhaupt das ganze bescheidene Auftreten des Blinden, ließen seine Angaben als durchaus glaubwürdig erscheinen. Auch der Schutzmann empfand tiefes Mitleid mit dem armen Menschen und erklärte sich bereit, ihn für meine Rechnung für diese Nacht in einer Herberge unterzubringen. Am folgenden Morgen ließ ich den Blinden nach dem städtischen Armenamt begleiten. Dieses gab ihm eine Mark Unterstützung und erklärte, nichts weiter für ihn tun zu können. Darauf sandte ich ihn zum Französischen Konsulat. Dort erhielt er nichts, sondern nur die schriftliche Erklärung, daß in Württemberg für ihn nichts geschehen könne, und nur das Französische Konsulat in Straßburg ihn nach Frankreich zurückbefördern könne. Nach Rücksprache mit einem unserer Herren Polizei-Kommissäre setzte ich mich mit dem Katholischen Stadtpfarramt in Verbindung und wir kamen überein, auf gemeinsame Kosten den Unglücklichen bis Straßburg zu senden. Er erhielt das Billet, Verpflegung und etwas bares Geld und reiste recht dankbar ab.

In den von mir geführten und dem Herrn Amtsvorstand zur Kontrolle über meine Tätigkeit alle 14 Tage vorgelegten Personalbogen fand er nun diese Begebenheit und war entrüstet. Wie kommen Sie dazu«, fuhr er mich an, »sich um Dinge anzunehmen, die Sie gar nichts angehen?« Ich antwortete, daß ein Schutzmann mir den Blinden nachts 11 Uhr zur Fürsorge amtlich übergeben hätte, und daß ich überhaupt der Meinung sei, daß jeder Hilfsbedürftige mich etwas angehe, vom rein menschlichen Standpunkt aus, ganz abgesehen von meiner Stellung als Polizeiassistentin. »Das ist doch Sache des Armenamts!« Ich erwiderte, der Meinung wäre ich auch gewesen; da das Armenamt ihm aber nur eine Mark bewilligt habe, könnte ich es mit meinem Gewissen nicht vereinen, einen blinden, verlassenen Menschen, zumal er der deutschen Sprache unkundig war, mit einer Mark auf der Straße stehen zu lassen. Mit einer an ihm ungewohnten Heftigkeit entgegnete mir darauf der Herr Amtsvorstand: »Warum konnten Sie das nicht? Weil es Ihnen eben nicht genügt, daß Sie der Magnet für alles deutsche Lumpengesindel sind. Sie müssen jetzt auch noch Ausländer anlocken. Dafür sind Sie nicht angestellt!«

Nach der Anfrage des Reichskolonialamts kam ein Schreiben des Polizeipräsidiums Berlin an das Stadtpolizeiamt Stuttgart mit der Anfrage, ob ich auch in dortigen Blättern Annoncen betreffend Kinderadoption gefunden habe. Diesem Schreiben war ein Schriftstück des Reichskolonialamts angeschlossen. Der Inhalt lautete, daß das Reichskanzleramt infolge eines Abdrucks meines Vortrags in der »Welt am Montag«, wonach ich den Handel mit deutschen Kindern im Staate Nebraska »ermittelt« habe, eine Anfrage bei dem Deutschen Konsulat in Chicago gemacht habe. Das Deutsche Konsulat daselbst habe nun geantwortet, daß sich für die »ungeheuerlichen Beschuldigungen der Stuttgarter Polizeiassistentin« keine Anhaltspunkte ergeben hätten. Ich konnte nun sofort nachweisen, daß dieser Kinderhandel von mir nicht »ermittelt« worden war, wie es fälschlich in der »Welt am Montag« gestanden hatte, sondern, daß er mir zur Kenntnis kam durch ein Telegramm der »Kölnischen Zeitung« vom 26. November 1906, worin mitgeteilt wurde, daß »Cora Garber, ein Angestellter im Büro des Landkommissars des Staates Nebraska, erklärt habe, er könne beweisen, daß im Staate Nebraska eine Privatgesellschaft ihren Sitz habe, die gewerbsmäßig Kinder aus Deutschland einführe und sie zum Preise von 25 Dollar das Stück verkaufe.«

Das Reichskolonialamt teilte ferner dem Stadtpolizeiamt mit, daß die z. Zt. in Frankfurt a. M. befindliche Prostituierte Sofie F. in Abrede stelle, daß ein Offizier der Schutztruppe in Südwestafrika der Vater ihrer beiden unehelichen Kinder sei; hingegen habe sie angegeben, der Vater des ersten Kindes sei Gutsbesitzer, der Vater des zweiten Metzger. Obwohl die F. nicht nur mir gegenüber, sondern auch unserem Polizeiarzt amtlich zu Protokoll gegeben hatte, was ich in meinem Vortrag angab, blieb mir auf diese Aussage von ihr nichts anders übrig, als dem Wunsche des Reichskolonialamts gemäß in den Zeitungen, die den Vortrag abgedruckt hatten, zu erklären, daß die F. ihre erste Angabe widerrufe, und daß ich bedauere, diese wiedergegeben zu haben. Daß mir eine Beleidigung der deutschen Armee ganz fern gelegen hat, ist doch eigentlich selbstverständlich. Merkwürdigerweise behandelte mich von da ab der Herr Polizeirat wie den schwersten Staatsverbrecher. Er, der mir bis zum 1. Februar 1907 durchaus wohlwollend gegenüberstand und mir mit Rat und Tat behilflich war, wurde jetzt kalt und abweisend und plagte mich dauernd durch endlose Protokollierung, immer über denselben Gegenstand. Bald übergab er meine »Akten« dem, bald jenem Kommissär und jeder stellte dieselben Fragen, »was ich im Dienst tue«, »wann ich schriftstellere«, »worüber ich schriftstellere«, u. s. w. Ich sagte darauf dem Herrn Polizeirat, wenn ich bei ihm und dem Gemeinderat so ganz in Ungnade gefallen sei, wäre es vielleicht das Zweckmäßigste für mich, das Amt aufzugeben, zumal es mir unmöglich sei, mich dauernd über meine dienstlichen Obliegenheiten etc. protokollieren zu lassen, womit man mich doch zweifellos nur »fortekeln« wolle. Dem widersprach er aber mit Entschiedenheit: »Das sei eine krankhafte Einbildung von mir. Abgesehen von meinem ungerechtfertigten Vorwurf gegen die Behörden läge nichts gegen mich vor. Er habe meine Tätigkeit stets anerkannt und würde auch stets auf meiner Seite bleiben. Von Seiten des Gemeinderats würde ihm aber der Vorwurf gemacht, daß er über meine dienstlichen Obliegenheiten keinerlei Kontrolle ausübe, daß ich zweifellos zu viel freie Zeit habe, und er als Chef mir das Handwerk legen müsse. Ich schlug vor, daß es dann am Zweckmäßigsten sei, wenn er für mich 24stündige Dienstzeit einführe, denn da ich in der Regel den ganzen Tag und sehr oft auch die halbe Nacht dienstlich in Anspruch genommen sei, so bliebe ja nur noch die halbe Nacht für meine Schriftstellerei übrig. Er setzte mir dann noch ganz höflich auseinander, daß ich die Tätigkeit der Behörden überhaupt nicht verstehe. Die Stuttgarter Behörden, insbesondere das Stadtpolizeiamt, leisteten sehr viel, aber sie arbeiteten ganz » im Verborgenen«. Ich entgegnete, daß das eben das Bedauerliche an der Tätigkeit der Behörden sei. Besonders an der Fürsorge des Stadtpolizeiamts gegenüber den unglücklichen Kindern erweise es sich, daß oft so sehr im Verborgenen gearbeitet würde, daß man wenig oder gar nichts davon merke. –

Auch die Stadtmission sah meine Tätigkeit als einen Eingriff in ihre Rechte an.

Als im Herbst 1907 meine Brochüre »Menschen, die den Pfad verloren« erschien und eine gute Aufnahme und große Verbreitung fand, flossen mir von nah und fern viele Gaben für meine Schützlinge zu. Da erhoben plötzlich die Stadtmission und die verschiedenen Kinderrettungsvereine Protest gegen meine Fürsorge-Tätigkeit. Obwohl der erste Stadtarzt Vorstand des von mir angeregten Vereins »Kinderschutz« war und sich unter anderen angesehenen Persönlichkeiten im Vorstand auch Schwester Marta Oesterlen, Oberin eines Schwesternheims, befand, welche als Waisenpflegerin die Not der unehelichen Kinder und die Unzulänglichkeit der Hilfeleistungen aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte, wurde gerade der Verein »Kinderschutz« als Vorwand gebraucht, um gegen mich vorzugehen. Sowohl die Stadtmission, als sämtliche Kinderrettungsvereine, waren aufgefordert worden, sich dem »Kinderschutz« anzuschließen, da dieser ja in erster Linie ein vermittelnder Verein sein wollte. Ein von dem ersten Stadtarzt verfaßter Aufruf, welcher auf die Notwendigkeit dieses Vereins hinwies, wurde vorerst nur privatim versandt und darin um Mitglieder geworben. Die Vorstände der verschiedenen Vereine, denen von einigen Damen des »Kinderschutz« ein Besuch abgestattet wurde, verhielten sich auch keineswegs ablehnend, sondern wollten es sich noch überlegen«. Diese »Ueberlegung« erfolgte aber in einer » Protestversammlung«, die von dem Vorstand der Stadtmission und der Vorsteherin des »Württembergischen Frauenvereins für hilfsbedürftige Kinder« einberufen wurde. In dieser Versammlung wurde beschlossen, mit dem »Kinderschutz« nicht zu arbeiten und vereint gegen die Urheberin dieses »Konkurrenzvereins«, die Polizeiassistentin Henriette Arendt, vorzugehen. Es erschien zunächst am 23. 10. 1907 ein Artikel im »Schwäbischen Merkur« von Pfarrer Wurm, Sekretär der Stadtmission, verfaßt. Er schrieb darin, daß die Stuttgarter Kinderrettungsvereine längst einen Zusammenschluß planen, daß wohl in keinem Lande eine solche Zersplitterung in der Wohlfahrtspflege herrsche, wie in Württemberg, und daß dem Aufruf für den Kinderschutz-Verein insofern ein Verdienst zuzusprechen wäre, als er wohl diesen Zusammenschluß erleichtere und beschleunige. Gleichzeitig wandte er sich aber voll Erbitterung gegen mich, weil ich es gewagt hatte, diesen Vorschlag zu machen. U. a. schrieb er: »Man vergleiche die zarte Melodie des vorliegenden Aufrufs mit den kräftigen Akkorden des Vortrags, der in diesen Wochen wieder in tausenden von Exemplaren in Stadt und Land, auch außerhalb Württembergs, verbreitet worden ist, um die wahre Meinung zu finden« und zitierte dann einen großen Teil meines Vortrags, für diesen eine unfreiwillige Reklame machend.

Gleichzeitig wurden aber energischere Schritte getan, um die lästige Kinderfreundin aus Stuttgart zu vertreiben. Ein Beweis dafür ist folgendes Schriftstück, welches mir vom Herrn Amtsvorstand persönlich »zur Aeußerung« übergeben wurde.

» An die hohe Zentralleitung des
Wohltätigkeitsvereins. Hier.

Die unterzeichneten Vereine erlauben sich, die folgende Angelegenheit der hohen Zentralleitung vorzutragen.

Durch eine Notiz im »Neuen Tagblatt« vom 27. September d. J. wurde öffentlich die bevorstehende Gründung eines neuen Vereins »Kinderschutz« für Stuttgart angekündigt. Außerdem ist an mehrere der unterzeichneten Vereinsvorstände die persönliche Aufforderung zur Unterzeichnung eines diesbezüglichen öffentlichen Aufrufs gerichtet worden.

Die beabsichtigte Vereinsgründung, für die uns gegenüber Frau Dr. Rosenfeld, Schwester Martha Oesterlen und Polizeiassistentin Henny Arendt eingetreten sind, ist auf die Tätigkeit der Letzteren zurückzuführen. Polizeiassistentin Arendt hat schon seither in öffentlicher Versammlung, in der Presse und durch Broschüren, die sie nicht nur in Stuttgart und Württemberg, sondern in ganz Deutschland verschickt, die gesammten Jugendfürsorgebestrebungen in Württemberg einer abfälligen Kritik unterworfen.

Durch die Gründung eines neuen Vereins »Kinderschutz«, für den uns weder ein Bedürfnis, noch eine Berechtigung (!) vorzuliegen scheint, wird eine weitere Zersplitterung herbeigeführt und das Vertrauen der hiesigen Einwohnerschaft zu unserer Arbeit erschüttert. Wir haben deshalb den Beitritt zu dem angekündigten Verein abgelehnt. Die Ausfüllung etwaiger Lücken in der Jugendfürsorge durch die bestehenden Vereine ist in unserem Kreise angeregt worden, und die Verhandlungen darüber sind eingeleitet.

Da aber die unruhige und reklamehafte Tätigkeit der Polizeiassistentin nicht blos auf dem speziellen Gebiet der Kinderfürsorge, sondern in der Wohlfahrtspflege überhaupt schließlich die gesamte Wohltätigkeit zu diskreditieren geeignet ist, so wären wir sehr dankbar, wenn die Aufmerksamkeit der Aufsichtsbehörde auf diese eigenartige Liebestätigkeit einer städtischen Beamtin gelenkt würde. Wir bitten die hohe Zentralleitung, ihr geeignet erscheinende Schritte in dieser Sache zu tun.

Verehrungsvoll

Für den Evang. Kinderrettungsverein: Stadtpfarrer
Gros.

Für den Katholischen Kinderrettungsverein: Frl.
Emilie v. Sonntag.

Für den Kleinkinderrettungsverein: Klaiber.

Für den Verein der Kinderfreunde: Steuerrat Hofer.

Für den Württb. Frauenverein für hilfsbedürftige
Kinder: Frau Geheimrat v. Göz.

Für die Evang. Stadtmission: Pfarrer Wurm.

Für das Kinderasyl Zoar: Marie Schmidt.

Daran schloß die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins 15. 10. 1907 folgende Eingabe an:

»Betr. die agitatorische Tätigkeit der Polizei-Assistentin Arendt in Stuttgart.

An das K. Ministerium des Innern.

Die hiesige Polizei-Assistentin Henny Arendt hat schon zu wiederholten Malen in Wort und Schrift öffentlich die in Stuttgart bestehenden Veranstaltungen der freiwilligen Liebestätigkeit im Gebiet der Kinderfürsorge einer abfälligen Kritik unterzogen, die weder in der Form, noch in der Sache berechtigt ist. Wir können auf Grund unserer Beobachtungen bezeugen, daß die Vereine, deren Vertreter die Angelegenheit in der angeschlossenen Eingabe zu unserer Kenntnis gebracht haben, seit langer Zeit eine umfassende und segensreiche Wirksamkeit im Gebiet der Kinderfürsorge entfalten und ohne Ausnahme dankbare Anerkennung verdienen. Daß auch einzelne Fälle vorkommen, in welchen diese Vereine versagen, das liegt in der Natur der Sache und wird auch bei den besten Organisationen nie ganz zu vermeiden sein. Das berechtigt aber nicht ihre Wirksamkeit in der Oeffentlichkeit herabzusetzen, als leisteten sie überhaupt nicht, was von ihnen erwartet werden müsse. Dadurch wird nur das Vertrauen des Publikums, von dem sie bisher getragen wurden und auf das sie angewiesen sind, erschüttert. Wo aber das Vertrauen zu einer Sache fehlt, da wird auch die Geneigtheit, sie mit Gaben zu unterstützen und sonst tätig zu fördern, schwinden, und daraus ergibt sich eine höchst beklagenswerte Schädigung dieser Vereine, gegen die sie sich mit vollem Recht wehren. Auch die von der Polizeiassistentin betriebene Gründung eines neuen Vereins. »Kinderschutz«, für die wir irgend ein Bedürfnis nicht anzuerkennen vermögen, würde die bestehenden Vereine in ihren Interessen (?) schädigen und eine weitere, den Intentionen der Zentralleitung durchaus widersprechende Zersplitterung der Gaben und Kräfte auf einem Gebiet zur Folge haben, auf dem eher eine engere, einheitlichere Zusammenfassung des schon Bestehenden zu wünschen wäre, wie denn auch eine solche nach dem Inhalt der genannten Eingabe bereits eingeleitet ist.

Wir halten uns für verpflichtet, dem K. Ministerium des Innern von der in den nächst beteiligten Kreisen herrschenden Stimmung gegenüber der Arendt Kenntnis zu geben und dabei die Frage in Anregung zu bringen, ob dieser Beamtin, welche ihren Mißtrauen erweckenden Auslassungen über unsere bewährten Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderfürsorge durch nachdrückliche Betonung ihrer amtlichen Stellung besonderes Gewicht zu verleihen sucht, nicht größere Zurückhaltung zur Pflicht gemacht werden könnte.

Moser.«

Das Ministerium übergab dieses Aktenstück:

»Der K. Stadtdirektion. Stuttgart.
zum Bericht nach Vernehmung des Stadtpolizeiamts Stuttgart.

6. 11. 1907.

K. Ministerium des Innern.
Für den Staatsminister
Haag.«

Zuletzt wanderte es mit folgendem Vermerk an das Stadtpolizeiamt:

»K. Stadtdirektion, Stuttgart.
Betr. Polizeiassistentin Arendt.

Die Anlagen gehen dem Stadtpolizeiamt zur baldigen Berichterstattung zu.

9. 11. 1907.

Nickel.«

An das Stadtpolizeiamt, Hier.«

 

Zu gleicher Zeit liefen an das Stadtpolizeiamt und an die K. Staatsanwaltschaft diverse anonyme Schreiben ein, in denen ich beschuldigt wurde, die mir zur Fürsorge für meine Schützlinge übergebenen Gelder unterschlagen zu haben. In diesen Schriftstücken wurde ich als »hergelaufene Person« bezeichnet, die als »bettelarme Jüdin« von Königsberg nach Stuttgart kam und sich durch »Schwindel und Hochstapelei« ein großes Vermögen erworben hätte. Dann wieder sollte ich dieses große Vermögen durch – – – » Kuppelei« erworben haben. –

In allen diesen Briefen wurde aber die Tätigkeit der Stadtmission und der anderen » christlichen« Vereine im Gegensatz zu der »Jüdin, die nur froh ist, wenn sie ihren Judenbeutel voll hat,« rühmend anerkannt. – Diese Briefe, deren Herkunft ja gar zu leicht ersichtlich war, hätten mich nicht weiter berührt, wenn der Herr Amtsvorstand mich nicht auf jeden derartigen Wisch zu einer »Aeußerung« veranlaßt hätte. Vor lauter »Aeußerungen« kam ich überhaupt zu keiner anderen Arbeit mehr und erhielt mein monatliches Salair eigentlich nur noch für meine »Aeußerungen«. Wie sehr litt das Amt darunter!

Aus meiner ausführlichen »Aeußerung« auf den Protest der gegen mich verbündeten Vereine möchte ich nur einiges hervorheben:

»Der Verein »Kinderschutz« sollte den bestehenden Vereinen in keiner Weise entgegenarbeiten, sondern im Gegenteil ihnen eine Hilfe sein. Erst nachdem durch eine Notiz im »Neuen Tagblatt« auf den zu gründenden Verein aufmerksam gemacht worden war, hörte ich durch Ihre Exzellenz Frau Gräfin Uexkull, Palastdame I. M. der Königin, daß die Vereine das, was ich anstrebe, » seit 10 Jahren bereits planten und diesen Winter ausführen wollten.« Vorher hatte ich hiervon nichts vernommen. Daß ich durch Anregung einer rascheren Hilfeleistung für unglückliche Kinder mich bemüht habe, die Wirksamkeit der Vereine »in der Oeffentlichkeit herabzusetzen, als leisteten sie überhaupt nicht, was von Ihnen erwartet werden müsse«, stelle ich entschieden in Abrede. Ich möchte jedoch betonen, daß ich es für das Recht eines jeden Menschen ansehe, von sich aus Anregung zu Hilfeleistungen jeder Art zu geben, und daß die fraglichen Vereine nicht allein das Recht für sich in Anspruch nehmen dürfen, die Kinderfürsorge in Stuttgart auszuüben, zumal sonst die von ihnen abgewiesenen Kinder der Gefahr ausgesetzt sind, zu Grunde zu gehen. –

Was meine »eigenartige Liebestätigkeit« betrifft, so erlaube ich mir, darauf aufmerksam zu machen, daß auf meine Anregung hin während meiner 4¾jährigen Amtstätigkeit verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen in Stuttgart, wie die »Zufluchtsstätte« für schutzbedürftige Mädchen und Frauen, das »Katholische Notasyl« für Frauen, das »Evangelische« und das »Katholische Fürsorgeheim« für entlassene männliche Gefangene und ebenso in Tübingen die »Säuglingsfürsorge« entstanden sind. – Ferner möchte ich noch besonders hervorheben, daß mir für die Ausübung meiner praktischen Fürsorge nicht, wie den Vereinen, bestimmte feste Einnahmen durch Jahresbeiträge oder Unterstützungen durch Staat oder Gemeinde zur Verfügung stehen, abgesehen von den für die »Zufluchtsstätte« aus städtischen Mitteln jetzt bewilligten Mk. 1300.– pro Jahr, sondern, daß ich im Anfang meiner Tätigkeit alles von meinem Gehalt bestreiten mußte, ja sogar die Vertretung im Amt während dienstlicher Abwesenheit zur Begleitung der Mädchen nach der Rettungsanstalt Neresheim und anderen Orten bezahlen mußte, obwohl ich laut meinem Anstellungsvertrag zur Ausübung der »Fürsorge für entlassene weibliche Gefangene« verpflichtet war. Auch jetzt ist es mir nur möglich, durch immerwährenden Appell an die Privatwohltätigkeit die Mittel zur Unterstützung von Männern, Frauen und Kindern aufzubringen. Es ist mir deshalb auch auf meine Eingabe an den Gemeinderat in einem Schreiben vom 1. August ausdrücklich gestattet worden, eine literarische Tätigkeit zum Besten meiner Schützlinge zu entfalten. Damit erledigt sich nach meinem Dafürhalten der Vorwurf »reklamehafter« Tätigkeit, denn ohne den wiederholten Appell an die Oeffentlichkeit wäre es mir eben nicht möglich gewesen, allen an mich herangetretenen Ansprüchen zu genügen.

Viel Geduld und eine große Liebe zu der Menschheit gehörte dazu, um unter diesen schwierigen Verhältnissen auf dem Posten auszuharren, und mit neuem Mut den Kampf fortsetzen zu können gegen Engherzigkeit, Neid und Bürokratismus.

Oft dachte ich zurück an den Beginn meiner Tätigkeit in Stuttgart, an mein ärmliches kleines Zimmer in der Hohenstraße und an den anstrengenden Dienst auf der Polizei von 7 Uhr früh, oft bis 2 und auch 3 Uhr nachts, an die große Not, die so viele meiner Schützlinge leiden mußten und an den Schmerz, den ich empfand, so wenig helfen zu können, weil mir die Mittel dazu fehlten! Da konnte ich noch kein Vorasyl gründen, sondern mußte die Leute in meinem engen Zimmer aufnehmen und ihnen von meiner eigenen Wäsche und Kleidung geben. Erwies sich dann mein monatliches Gehalt von Mk. 250.– schon als kaum ausreichend, so gestaltete sich der Fall noch viel schwieriger, wenn eines der Mädchen sich bereit erklärte, in eine Rettungsanstalt zu gehen, oder gerne zu ihren Angehörigen heimbefördert werden wollte. »Zur Fürsorge für die Gefangenen nach ihrer Entlassung« war ich ja vom Stadtschultheißenamt angestellt worden, aber die Hauptsache, die Mittel dazu, gab man mir nicht. Ich mußte alles von meinem Gehalt bestreiten, Reisekosten für mich und meine jeweiligen Schützlinge, Verpflegungskosten und anständige Kleidung für diese und außerdem für jeden Tag, den ich auswärts war, noch Mk. 3.– für meine Stellvertreterin im Amt. Da geriet ich denn schließlich in eine unangenehme Situation und nachdem ich alles, was ich an Schmuck und sonstigem überflüssigem Kram besaß, so ziemlich verkauft und nebenbei noch ganz hübsche Schulden angehäuft hatte, legte ich dem Herrn Polizeirat eine Beichte ab. Nie werde ich es vergessen, wie väterlich und freundlich er damals mit mir sprach. Mit ihm und der Vorsteherin des Pflegeschwesternverbandes, dem ich angehörte, wurde dann beschlossen, an die Privatwohltätigkeit zu appellieren. Fräulein Steinthal nahm sich auch sehr eifrig der Sache an. So erschien denn zunächst im »Frauenberuf« mein erster Jahresbericht, dann schrieb ich in der Stille des Klosters Neresheim, wohin ich freundlichst auf einige Wochen mit meiner kleinen Adoptivtochter eingeladen worden war, meine »Bilder aus der Gefängniswelt«, die vom Herrn Polizeirat durchgesehen und korrigiert wurden. Und jetzt, nachdem ich erreicht hatte, was mir in meinen kühnsten Hoffnungen vorschwebte, nachdem das Schwerste überwunden war, ich eine eigene »Zufluchtstätte« und reichlich Mittel an der Hand hatte, um allen »Mühseligen und Beladenen« helfen zu können, nachdem ich den ganzen Ueberschuß meiner kleinen Broschüre »Bilder aus der Gefängniswelt« von Mk. 4000.– in einem Jahr der Unterstützungskasse, die monatlich vom Herrn Polizeirat selbst kontrolliert wurde, zur Verfügung stellen konnte, jetzt wurde ich der Unterschlagung bezichtigt und derselbe Herr Amtsvorstand, der am besten wußte, wie schwer ich um das ersehnte Ziel kämpfen mußte, der mir wiederholt seine Anerkennung und Sympathie ausgesprochen hat, sandte mir die anonymen Schriftstücke, in denen ich als »hergelaufene, bettelarme Schwindlerin« bezeichnet wurde, die in Stuttgart nur »ihren Judenbeutel« füllen wolle – »zur Aeußerung!« Bei Beginn meiner Tätigkeit in Stuttgart wohnte ich einem Vortrag des Generals Booth von der Heilsarmee bei. Er sprach über das Memento mori, wie wir täglich an unseren Tod denken und so wirken sollen, daß wir dereinst nicht mit leeren Händen in das Jenseits kommen. Diese Worte haben mich tief ergriffen. Wenn ich meine vielen Fehler und Schwächen auch klar erkenne und auch in dem von mir so geliebten Amt vielleicht mit zu großer Leidenschaftlichkeit, mit zu ungestümem Eifer vorgegangen bin und dem schwäbischen Volkscharakter zu wenig Rechnung getragen habe, ich darf doch das unerschütterliche Bewußtsein haben, daß ich vielen Hunderten von unglücklichen Menschen geholfen habe und dereinst nicht mit leeren Händen vor dem höchsten Richter stehen werde.

Sehr interessant war für mich die Erfahrung, daß für meine Broschüre: »Menschen, die den Pfad verloren«, gerade die Menschen, für die ich darin plaidiere, eifrig Propaganda machten und das Buch selbst mit ihrem erbettelten oder gestohlenen Gelde kauften. So erzählte mir ein Bekannter, er sei auf der Straße von einem zerlumpten Bettler um ein altes Kleidungsstück angebettelt worden. Er bestellte den Bettler in seine Wohnung und gab ihm das Gewünschte. Dieser bedankte sich sehr dafür und »empfahl« dem Herrn mein Buch, mit der Bemerkung, daß er es gelesen, und daß es ihm gefallen habe. »Kennen Sie die Schwester Henny?« fragte ihn der Herr. »Aber natürlich«, war die Antwort, »die ist doch bei der Polizei, die kennt man schon.«

Bei einer großen Razzia der Schutzleute und Fahnder wurde viel Freiwild zur Strecke gebracht. Zwei Strolche hatten bei ihren Effekten mein Buch. »Wir beide«, sagten sie stolz, »haben zusammengelegt und es uns aus einer Buchhandlung geholt.« Ihre Effekten bestanden außer dem Buch nur aus 24 Reichspfennigen, einem Messer, einer alten Schnupftabakdose, einer Rolle Zwirn und einigen messingenen Hosenknöpfen.

Ein Gefangener, dem ich bei seiner Entlassung meine Fürsorge angedeihen lassen wollte, lehnte diese dankend ab, dagegen bat er mich um mein Buch, er habe in der Herberge davon sprechen hören und möchte es gerne lesen.

Ein wegen Gewerbsunzucht eingeliefertes Mädchen hatte es sich von ihrem »Verhältnis« schenken lassen. Sie fand die Schilderungen sehr anschaulich und wahr und wollte es in »ihren Kreisen« empfehlen, »da die doch das meiste Verständnis« dafür hätten.

Die unter Kontrolle stehenden Prostituierten haben es alle gleich nach dem Erscheinen gekauft. Das Gedicht »Prächtiger Schnee« hat einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. »Ich glaube«, sagte mir die Eine, eine alte Bordellinsassin, »daß das Buch und gerade dieses schöne Gedicht manche Anfängerin tief ergreifen und sie vielleicht veranlassen wird, das Geschäft aufzugeben und in das bürgerliche Leben zurückzukehren. Wenn man das Buch liest, wird man mit Gewalt an so vieles erinnert, was lange hinter einem liegt und fast ganz vergessen war: Heimat, Elternhaus, Unschuld und der erste Fall. Man empfindet plötzlich, was man verloren hat ... Wir Alten können nicht mehr zurück, aber so manches junge Ding, das aus Trotz oder Vergnügungssucht auf Abwege und dann schließlich in unseren Sumpf geriet, sie rafft sich vielleicht bei dieser Lektüre auf und kehrt um, solange es noch Zeit ist.« Es war mir eine ganz besondere Freude, diese Erfahrung zu machen, denn in diesen Kreisen Eindruck zu machen, hatte ich kaum erwartet und mein Verleger wohl auch nicht. Ja, wenn ich nicht in meinem Beruf ab und zu solche Lichtblicke gehabt hätte, wie bald hätte ich kampfesmatt meine Flügel sinken lassen müssen! –

Unter den vielen mir zugegangenen Anerkennungsschreiben sind auch verschiedene von evangelischen und katholischen Geistlichen, die mir mitteilen, daß das Buch eine Gewissenserweckung und Glaubensstärkung für sie gewesen sei. Ganz besonders erfreut wurde ich durch folgendes Schreiben vom hochwürdigsten Bischof Dr. von Keppler in Rottenburg, dem ich meine Broschüre mit dem Ausdruck tiefer Verehrung und Dankbarkeit für das mir stets bewiesene Entgegenkommen übersandt hatte:

»Rottenburg, 9. November 1910.

Verehrte Schwester!

Ich habe nun Ihr Buch gelesen und sein ergreifender, oft so dramatischer Inhalt hat auch auf mich tiefen Eindruck gemacht. Ihr Buch wird mit Gottes Hilfe die gute Wirkung haben, daß sich das Mitleid, die Liebe und die Opferwilligkeit mehr als bisher nach diesem schwerkranken und wunden Gebiet des gesellschaftlichen Organismus wendet, sowie nach der Wunde des Körpers, wenn man sie aufdeckt und berührt, das Blut in eiligem Strom sich wendet. Mögen auch Ihre Lehren, Warnungen und Anträge zuständigen Ortes Beachtung und Befolgung finden.

Mit bestem Dank für Ihre gütige Zusendung verbleibe ich

in warmer Verehrung

Ihr ergebenster
Dr. Keppler, Bischof.«

 

Pfarrer von Bodelschwingh schrieb mir:

»Bethel, 2. November 1907.

Liebe Schwester!

Innigen Dank für Ihre Schrift, die einen tiefen Einblick in die segensreiche Tätigkeit einer Polizeiassistentin gibt.

Mit freundlichem Gruß

Ihr
F. Bodelschwingh.«

 

Von Generalleutnant von Viebahn erhielt ich folgenden Brief:

»Stettin, 1. 11. 1907.

Sehr geehrtes Fräulein Arendt!

Vor einigen Tagen lernte ich Ihr schönes Buch kennen: »Menschen, die den Pfad verloren«. Hierdurch erbitte ich von Ihnen die Erlaubnis, das Gedicht in der Vierteljahrsschrift »Schwert und Schild«, welche den deutschen Offizieren zur Förderung persönlichen Christentums dienen will, abdrucken zu dürfen. Ich würde dabei Ihr Buch empfehlen. In Erwartung Ihrer zustimmenden Antwort zeichne ich hochachtend

von Viebahn
Generalleutnant z. D.«

 

Eine Dame, die das Buch gelesen hat, verpflichtete sich monatlich M. 20.– für meine Schützlinge zu senden; verschiedene Studenten des Stuttgarter Polytechnikum spendeten M. 10.– monatlich für meine Kinder, ein Postmeister sandte mir den ganzen Inhalt des Sparkäßchens seines verstorbenen Kindes.

Aber auch meine Gegner waren eifrig am Werk. Herr Pfarrer Wurm, Leiter der Stadtmission, hatte zuerst in der Zeitschrift: »Die innere Mission im evangelischen Deutschland« meine Tätigkeit einer abfälligen Kritik unterworfen. Er erkannte ausdrücklich an, daß ich für Katholiken zu sorgen bestrebt sei, dagegen würdige ich die Fürsorge der evangelischen Mission nicht genügend, welche nach wie vor die Fürsorge an evangelischen Mädchen und Frauen allein ausübe. Außerdem machte er seinem Herzen in der konservativen »Deutschen Reichspost« Luft, was verschiedene Stuttgarter Zeitungen veranlaßte, für mich einzutreten. Pfarrer Wurm schrieb in der »Deutschen Reichspost«:

»In den »Literarischen Plaudereien« hat das Buch der Polizeiassistentin Schw. Henny Arendt »Menschen, die den Pfad verloren« eine außerordentlich günstige Besprechung gefunden. Ich glaube es den Lesern der »Reichspost« schuldig zu sein, darauf hinzuweisen, daß sowohl die Schilderungen wie die Forderungen dieses Buches mit großer Vorsicht aufzunehmen sind. Gewiß findet sich vieles Richtige darin, leider in sensationell zugespitzter Form, daneben aber auch nicht wenige schiefe Urteile und tendenziöse Behauptungen. Vor allem fehlt es der Verfasserin trotz aller Bibelsprüche, die sie anzuwenden liebt, an dem sittlichen Ernst, mit dem solche Dinge behandelt sein wollen. Wie in ihrer Praxis, so auch in ihrer Schriftstellerei versteht es die Verfasserin, bald die » Frommen«, bald die » Roten« vor ihren Wagen zu spannen. Leider wird die auf diesem Gebiete längst erprobte Arbeit der inneren Mission, die sich allerdings nicht in den Vordergrund zu drängen pflegt, in der Oeffentlichkeit sehr wenig gewürdigt; ihre Jahresberichte und Konferenzverhandlungen werden nicht gelesen, ihre an die Behörden ergehenden Anregungen werden in weiteren Kreisen nicht beachtet. Putzt man aber dieselben Dinge feuilletonistisch auf, so daß auch die Sucht nach Pikanterie zu ihrem Recht kommt, dann ist helles Entzücken über solch unerhörte Aufopferung. Natürlich – alle Bemühungen der inneren Mission sind ja »kirchlich« und deshalb nicht interessant; erst wenn die moderne Frauenwelt sich auf diesem Gebiet betätigt, hat der moderne Mensch Anlaß, sich dafür zu interessieren. Aber ist es jemals anders gewesen? Die Welt will betrogen sein, also – lasse man ihr das Vergnügen.

Th. W.«

Der »Beobachter«, das demokratische Organ Württembergs, berichtete über diesen Artikel unter der wohl nicht ganz unberechtigten Aufschrift »Christlicher Futterneid«:

»Wenn nicht alles trügt, ist dieser tieferboste Christ derselbe Mann, der auch mit den evangelischen Arbeitervereinen Württembergs und ihrer Leitung so sehr unzufrieden ist, weil sie sich erlauben, teilweise andere Wege zu gehen, als ihm wohlgefallen. Schon das wäre bezeichnend für die Selbstgerechtigkeit des Kritikers, der durch sein Aburteilen über den »sittlichen Ernst«, über das »An-den-Wagen-Spannen bald der Schwarzen, bald der Roten«, über die »Sucht nach Pikanterie«, über die »betrogene Welt« uns als ein Typus jenes lieblosen Splitterrichtens erscheint, das sein Herr und Meister als die Hauptbeschäftigung der »kirchlichen« Pharisäer bezeichnet hat. Weil Schwester Arendt aus eigener Kraft die eigenen Wege geht und pastorale Gängelbande ablehnt: daher der wenig christliche Wutanfall Th. W's! Er muß sich daher aus den konservativen Kreisen heraus sagen lassen:

»Ich habe durchaus nicht den Eindruck von sensationeller Zuspitzung oder sittlicher Leichtfertigkeit bekommen. Die ruhige und nüchterne Darlegung berührte mich wohltuend, aufrichtige Achtung konnte ich dieser Frau nicht versagen und die meisten ihrer Folgerungen durfte ich mir unbedenklich aneignen. Ich kann nur nochmals sagen, daß ich die Herausgabe dieser Schrift als eine Tat ansehe, weil sie die Augen öffnet und wertvolle Anregungen gibt. Und kann denn das nicht auch wieder der dankbaren Schätzung und teilnehmenden Förderung der Arbeit der Inneren Mission zu gute kommen?«

Wenn aber Th. W. der Sprecher der Inneren Mission ist, hat er ihr sicherlich einen sehr schlechten Dienst vor der Oeffentlichkeit erwiesen, die nach diesem Repräsentanten die ganze Institution nicht gerade vorteilhaft einschätzen müßte.«

Aus dem Pflegeschwesternverband, dem ich vier Jahre angehört hatte, wurde ich »entlassen«. Die Vorsteherin, welche sich eine Frauenrechtlerin nennt und eine Frauen-Zeitschrift redigiert, äußerte mir mehrmals ihre Mißbilligung über meine Vorträge und besonders darüber, daß ich in meinen »Angriffen« sogar sehr hochgestellte Persönlichkeiten nicht schone. Sie stand ganz auf dem Standpunkt, daß das Kinderelend mich doch gar nichts angehe, denn dafür sei ich nicht angestellt worden! – Es gab jedoch eine Zeit, wo sie sehr zufrieden mit mir war. Das war im Beginn meiner Tätigkeit, als sie von ihren königlichen Majestäten ein Anerkennungsschreiben über meine Tätigkeit, d. h. die Tätigkeit »einer ihrer Verbandsschwestern« und auch Mk. 500.– für die Zufluchtsstätte erhielt. Als ich schließlich eine Volontärin als Gehilfin zu mir nahm, die einem anderen Schwesternverband angehörte, machte mir Frl. Steinthal so viele Schwierigkeiten, daß ich ihr und einer anderen Vorstandsdame gegenüber die Absicht aussprach, aus einem Verbande auszutreten, dessen Vorstand so wenig Verständnis für meine Bestrebungen besäße. Als Antwort erhielt ich folgendes Schreiben:

»Stuttgart, 9. Dezember 1907.

Geehrte Schwester Henny!

Sie haben so deutlich zu verstehen gegeben, daß Ihnen an der Mitgliedschaft unseres Verbandes nichts gelegen ist, Sie sich ihm gegenüber zu keinerlei Rücksichtnahme verpflichtet fühlen, sodaß wir nach Besprechung in unserer Sitzung zu der Ansicht gelangt sind, daß, um weiteren Unannehmlichkeiten vorzubeugen, Ihr Ausscheiden aus dem Verband das Richtige sein dürfte. Wir bitten Sie diese Zeilen als Kündigung zu betrachten und werden wir Ihre amtlich Vorgesetzten hiervon in Kenntnis setzen.

Achtungsvoll

I. A. des Vorstandes.
P. Steinthal, Vorsitzende.«

 

Es wurde selbst darüber verhandelt, ob man mir das Tragen der Schwesterntracht fernerhin gestatten solle, obwohl ich sie bei meinem Dienstantritt auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Polizeirats beibehielt, da er der Meinung war, daß die Gefangenen der »Schwester« mehr Vertrauen entgegenbringen würden. Da ich als Mitglied der »Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands« zum Tragen der Schwesterntracht berechtigt bin, meinen Ausweis als staatlich anerkannte Krankenpflegeperson besitze und diese Kleidung seit 12 Jahren in Ehren getragen habe, so behielt ich sie auch fernerhin bei. –

Endlich wurde mir dienstlich eröffnet, daß ich alle meine Tätigkeit irgendwie betreffenden, ein- und auslaufenden Briefe täglich einem bestimmten Polizei-Kommissär vorzulegen habe, welcher sie dann nach Durchsicht und Einverständnis dem Herrn Amtsvorstand in den »Einlauf« bringen werde, und zwar nicht nur, wie bisher, die Briefe, welche die Gefangenen und verwahrlosten Kinder, sondern auch die, welche meine Broschüren betrafen, die mir Sympathie mit meinen Bestrebungen ausdrücken u. s. w. Ich protestierte gegen diese Eröffnung nicht, weil ich endlich einmal Ruhe haben wollte. Es berührte mich zwar sehr unangenehm, plötzlich einen jungen Kommissär als Vorgesetzten zu erhalten, nachdem der Herr Polizeirat bisher immer betont hatte, daß ich einen ganz selbständigen Posten bekleide und außer ihm keinen Beamten als Vorgesetzten hätte.

Gleich am ersten Tage, als ich die ein- und auslaufende Korrespondenz ablieferte, an der der Beamte allerdings nichts zu »beanstanden« fand, erklärte der Herr Amtsvorstand, daß die von mir geschriebenen Briefe genauer durchzusehen und zu »beanstanden« seien. Da war z. B. ein von mir an die Vorsteherin einer Zufluchtstätte in Mitteldeutschland gerichteter Brief. Die Dame hatte mein Buch gelesen und mir mitgeteilt, daß meine humanitären Bestrebungen in dortiger Stadt rege Teilnahme gefunden hätten. Ich dankte ihr für das Schreiben und schloß mit den Worten:

»Da gerade meiner Rettungsarbeit in verschiedenen Kreisen ein Vorurteil entgegen gebracht wird, bin ich doppelt froh, wieder einmal die Erfahrung zu machen, daß die von mir gegebene Anregung bei teilnehmenden, in derselben Arbeit stehenden Menschen Anklang findet.«

Der Herr Amtsvorstand machte nun Herrn Polizei-Kommissär Sch. darauf aufmerksam, daß das Wort »Vorurteil« von einer bei der Polizei angestellten Person unter keinen Umständen gebraucht werden dürfe. Für einen Polizeibeamten gäbe es kein Vorurteil, den Brief müsse er beschlagnahmen, er dürfe mit diesem ominösen Wort nicht abgesandt werden. Polizei-Kommissär Sch. machte mir diese »Eröffnung«. Ich nahm ihm aber den Brief ab, sagte, daß das in meinen Augen ein Privatbrief sei, den die Polizei nicht zu beschlagnahmen hätte und eröffnete ihm, daß der Brief mit der nächsten Post von mir abgesandt werden würde. Darauf »beanstandete« der Herr Amtsvorstand sogar die Danksagungsbriefe, welche meine Volontärin, Fräulein Gertrud Lutz, in meinem Auftrage an die vielen Wohltäter geschrieben hatte, die mir für meine Schützlinge in letzter Zeit Geld und Kleidungsstücke gesandt hatten. Dieser Volontärin wurde verboten, auf dem Stadtpolizeiamt zu arbeiten, weil – Frl. Steinthal an ihrer Konkurrenz-Schwesterntracht Anstoß nahm. Der Herr Amtsvorstand ließ mir mitteilen, daß ich nicht das Recht hätte, mich zu meiner amtlichen Korrespondenz einer Privatsekretärin zu bedienen. Ich müßte diese Briefe alle selbst schreiben und falls ich versuchen wollte, gegen diese Eröffnung Widerstand zu leisten, würde ich vom Amt suspendiert werden. Die Gelder, welche ich zur Unterstützung für meine Schützlinge erhalten und freiwillig in Sparkassenbüchern dem Polizeirat zur Aufbewahrung gegeben hätte, würden dann vom Stadtschultheißenamt eingezogen und nach seinem Gutdünken verteilt werden. Hierauf nahm ich die insgesamt auf über Mk. 3600.– lautenden Sparkassenbücher sofort an mich. Dann teilte ich dem Herrn Amtsvorstand mit, daß die von ihm beanstandeten Briefe meiner Meinung nach nicht als »amtlich«, sondern als Privatbriefe anzusehen seien, und daß ich ihm derartige Briefe jetzt nicht mehr in den »Einkauf« bringen würde. Auch die Gelder, welche mir infolge meiner literarischen und sonstigen privaten Tätigkeit zur beliebigen Verwendung zufließen, und welche ich bis jetzt freiwillig dem Herrn Amtsvorstand zur Kontrolle übergeben hätte, würden von jetzt an von mir in eigene Verwahrung genommen werden.

Nun erfolgte eine lange »Eröffnung« des Stadtschultheißenamts, in der zuerst alle meine Missetaten – Vortrag vom 1. 2. 1907, Angriff auf einen Offizier der Schutztruppe in Südwestafrika u.s.w. u.s.w. – aufgezählt wurden. Dann wurde mir aber mein schwerstes Verbrechen vorgehalten, nämlich, daß aktenmäßig festgestellt sei, daß ich 423 Kinder unter 12 Jahren während meiner Tätigkeit als Polizeiassistentin in Stuttgart in Fürsorge genommen habe. Zu diesem Verbrechen bemerkt das Stadtschultheißenamt:

»Die Akten ergeben, daß die private Fürsorgetätigkeit die Zeit der Polizei-Assistentin immer mehr in Anspruch nimmt und daß ihre eigene amtliche Tätigkeit immer mehr zurücktritt. Solange Schwester Arendt Polizeiassistentin ist, muß verlangt werden, daß sie in erster Linie ihren dienstlichen Obliegenheiten nachzukommen und sich der privaten Fürsorgetätigkeit nur in beschränktem Umfange zu widmen habe, zumal für letztere zahlreiche Wohlfahrtseinrichtungen bestehen. Auf jeden Fall erwartet das Stadtschultheißenamt, daß die Polizei-Assistentin Arendt von jetzt an ihre private Fürsorgetätigkeit erheblich einschränkt

Darauf gab ich zu Protokoll:

Meine »private Fürsorgetätigkeit« – wie sie vom Stadtschultheißenamt aufgefaßt wird – ist mit meiner amtlichen Stellung derart verbunden, daß sie von letzterer unmöglich getrennt werden kann. Solange ich das Amt einer Polizeiassistentin bekleide, kann von einer Einschränkung meiner Fürsorgetätigkeit keine Rede sein. Ich werde die mir vom Stadtschultheißenamt gegebene Weisung, daß ich meine private Fürsorge in dem oben von mir geschilderten Sinne erheblich einschränken soll, nicht befolgen, da ich meine diesbezügliche Tätigkeit nicht, wie das Stadtschultheißenamt, als private, sondern als meine amtliche, mit meiner Stellung als Polizeiassistentin untrennbare Tätigkeit ansehe. Ich möchte noch darauf Hinweisen, daß meine ganze Tätigkeit, abgesehen davon, ob solche vom Stadtschultheißenamt als amtliche oder private Tätigkeit angesehen wird, in jedem Falle den Armen und Verwahrlosten der Stadt Stuttgart zu Gute kommt, und daß viele Leute, denen ich mit Rat und Unterstützung an die Hand gehe, sonst der öffentlichen Armenfürsorge anheimfallen würden

Während zuerst Polizei-Kommissär M., dann Polizei-Kommissär Sch,. beide durchaus höfliche und einsichtsvolle Beamte, mir die »Eröffnungen« machten und mich zu den »Aeußerungen« veranlaßten, wurden in allerletzter Zeit vom Herrn Amtsvorstand die Akten »Polizei-Assistentin Arendt«, welche es an Umfang mit den Aktenbündeln der schwersten Gelegenheits- und Staatsverbrecher aufnehmen können, dem Polizei-Kommissär B. übergeben. Dieser, der sehr kleinlich beanlagt und erst vor ganz kurzer Zeit von einer niederen Rangstufe zum Polizei-Kommissär befördert worden war, schien von dem Herrn Amtsvorstand, bezw. dem Stadtschultheißenamt, für das geeignetste Organ zur Behandlung dieses »Falles« erachtet zu werden. Tatsächlich kehrte er ganz den »Vorgesetzten« heraus und gab sich eine unendliche Mühe mit meinem »Fall«. Zeitweise hat er seine anderen dringenden Arbeiten im Stich gelassen und mich morgens von 11-2 Uhr und nachmittags von 4-7 Uhr protokolliert. Zu seinem Bedauern konnte er diese wichtige Beschäftigung aber nicht lange so intensiv fortsetzen, da ich mehrmals infolge der fortgesetzten Aufregungen einen Herzkrampf bekam und geschont werden mußte.

Die letzte stadtschultheißenamtliche Eröffnung, welche das Faß zum Ueberlaufen brachte und mich dann veranlaßte, sofort in Urlaub zu gehen, war so lang, daß ich sie nicht im Gedächtnis behalten habe, zumal Polizei-Kommissär B. sie mir so schnell vorlas, daß ich nicht folgen konnte. Ich bat ihn, etwas langsamer zu lesen. Da ging er zu Herrn Polizeirat hinein und fragte, ob er so langsam lesen dürfe, daß ich mir die wesentlichsten Punkte notieren könne. »Nein«, sagte der Herr Polizeirat, »das dürfe nicht sein.« Erst, nachdem ich mich geweigert hatte, unter diesen Umständen die Eröffnung überhaupt anzuhören, las er etwas langsamer. Trotzdem habe ich fast nichts davon im Gedächtnis behalten, woran meine s. Zt. sehr angegriffene Gesundheit wohl mit die Schuld trug. Nur Punkt 3 und 4 habe ich mir notiert.

Punkt 3. Es wird mir verboten, Unterstützungsgelder anzunehmen, wenn ich nicht nach wie vor die Kontrolle darüber dem Herrn Amtsvorstand übergebe.

Punkt 4. Das Stadtschultheißenamt ordnet an, daß ich alle ein- und auslaufenden Briefe vorlegen müßte und daß überhaupt sämtliche Briefe, welche an die Polizeiassistentin Arendt Stadtpolizeiamt Stuttgart eintreffen, als amtlich anzusehen, auf dem Polizeisekretariat abzugeben und von hier in Einlauf zu bringen seien.

Auf meine Frage, ob das Stadtpolizeiamt berechtigt sei, an mich persönlich adressierte Briefe zu öffnen, erklärte Polizei-Kommissär B. mir ausdrücklich, daß es bei Beamten dazu berechtigt sei und er sich gegen eine solche Maßnahme als guter Beamter niemals sträuben würde. Ich war offenbar kein »guter Beamter«.

Ich ging sofort zu Herrn Polizeirat und fragte ihn, ob er auch der Meinung des Polizei-Kommissärs B. sei, daß das Stadtpolizeiamt meine Briefe öffnen dürfe. Er erwiderte: » Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß den Anordnungen des Stadtschultheißenamts Folge gegeben wird.« Ich: » Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich sofort bei der Staatsanwaltschaft Beschwerde erheben werde, wenn Sie es tatsächlich wagen sollten, auch nur einen einzigen Brief von mir zu öffnen. Ich stehe als Beamtin nicht außerhalb des Gesetzes und werde mein Recht stets zu wahren wissen.« Er: » Sie wagen es, mir mit dem Staatsanwalt zu drohen?« Ich: » Das soll keine Drohung sein. Sie haben mich auf etwas aufmerksam gemacht und ich erlaube mir, Sie auch auf etwas aufmerksam zu machen.« Das war unsere letzte Unterredung vor meinem längeren Urlaub. Ich ging danach zu meinem Arzt, welcher eine starke Herzschwäche konstatierte und einen sofortigen Urlaub für dringend notwendig erachtete. Mit diesem Attest wurde ich sofort beurlaubt. Polizei-Kommissär B. bedauerte sehr, daß ich mich unnützerweise so erregt habe. »Das Stadtschultheißenamt«, meinte er, »hätte die Briefe wohl gar nicht öffnen lassen, es hat sich nur so ungeschickt ausgedrückt.« Ich schrieb sofort direkt an das Stadtschultheißenamt und ersuchte es um eine abschriftliche Mitteilung dieser Eröffnung, »welche in mein Recht auf Wahrung meines privaten Briefgeheimnisses einzugreifen scheint,« habe aber nie eine Antwort darauf erhalten.

Meine Statistik vom Jahre 1907 ergab:

 

Eingelieferte weibliche Personen 1217  
Freiwillig mit der Bitte um Fürsorge
meldeten sich weibliche Personen
86  

Behandelt insgesamt 1303 weibl. Personen.

Von diesen konnte ich unterbringen:

In Stellung 17  
In die Heimat senden 31  
In Rettungsanstalten 142  

Insgesamt untergebracht 191 weibl. Personen.

 

Was die »private Fürsorgetätigkeit« betrifft, welche laut Eröffnung des Stadtschultheißenamts vom Dezbr. 1907 »die Zeit der Polizeiassistentin Arendt immer mehr in Anspruch nimmt«, so sind mir laut Statistik vom Stadtpolizeiamt zur Fürsorge »im Nebenamt« übergeben vom 1. Januar – 31. Dezbr. 1907 161 Kinder und 194 Männer, von privater Seite dagegen in der gleichen Zeit nur 73 Kinder und 110 Männer. »Nebenamtlich« behandelt im Jahre 1907 somit 234 Kinder und 304 Männer.

Meine Fürsorge an Frauen, Männern und Kindern erforderte an Kosten vom 1. Januar – 31. Dezbr. 1907

 

An Reisegeldern Mk. 296.60
An Verpflegungskosten Mk. 164.06
An Wäsche und Kleidung Mk. 151.97
An Anstaltsbeiträgen für Erwachsene Mk. 1736.06
An Anstaltsbeiträgen für Kinder Mk. 448.26
An baren Unterstützungen Mk. 188.–
An diversen Ausgaben Mk. 417.84
 
Summa Mk. 3402.79

 

Die von Freunden meiner Rettungsarbeit
eingegangenen Unterstützungsgelder betrugen
Mk. 4764.26
Ausgaben Mk. 3402.79
 
Kassenbestand Mk. 1361.47

 

Inzwischen ging man endlich an die Gründung eines »Landesverbandes für Jugendfürsorge in Württemberg«, der das darstellen sollte, was ich so sehr erstrebt habe: einen Zusammenschluß der zersplitterten Kinderrettungsvereine. Damit sollte der Verein »Kinderschutz« überflüssig werden. Der neue Verein zählte die stolzesten Namen zu seinen Mitgliedern. Das Ministerium des Innern, das Ministerium der Justiz, die vier Landarmenverbände und die Stadtgemeinde Stuttgart waren vertreten. Der ersten Sitzung wohnte sogar die Frau Fürstin zu Wied bei. Es wurde die Schaffung einer Auskunftsstelle beschlossen, aber sofort durch die Presse bekannt gemacht, daß hier keine Unterstützungen gegeben werden. Dazu sei der Verein nicht da! –

O, meine armen Kinder, von diesem Glanz und Schimmer werdet Ihr wohl nicht satt werden!

Zu gleicher Zeit entschloß sich der Stuttgarter Gemeinderat endlich, eine amtliche Waisenpflegerin anzustellen, obwohl der Vorsitzende des Gemeinde-Waisenrates, Herr Dr. Rettich, diese Einrichtung in einer Waisenpflegerinnen-Sitzung für ganz überflüssig erklärt hat, »da die Damen, die als ehrenamtliche Waisenpflegerinnen in Stuttgart funktionieren, so eifrig ihre Pflicht täten«. Wie nun amtlich festgestellt ist, handelt es sich um zirka 3000 Kinder, die in Stuttgart unter der Obhut des Gemeinde-Waisenrats stehen, von denen 300 ohne jede Aufsicht sind. Eine amtliche Waisenpflegerin ist natürlich viel zu wenig, aber es ist doch durch Schaffung dieses Postens wenigstens der Anfang gemacht worden.

Als ich von einem längeren Urlaub zurückkehrte, fragten zwei Damen aus Brasilien und New-Yersey bei mir an, ob sie als Volontärinnen zu mir kommen könnten. Ich erwiderte, daß sie sich mit dieser Frage direkt an das Stadtpolizeiamt wenden möchten, da ich darüber nicht verfügen könnte; andere an mich gerichtete Briefe betrafen Kostkinder, ein Brief war von einem stellenlosen Kellner, der um Wäsche und Kleidung bat, um eine neue Stellung annehmen zu können; ein Brief von der Mutter einer Gefangenen ersuchte mich, die Kosten für die Unterbringung ihrer Tochter in eine Irrenanstalt zu übernehmen. Drei Tage, nachdem ich alle diese Briefe in den Einlauf gebracht hatte, teilte mir der Herr Kommissär B. im Auftrage des Herrn Polizeirates mit, » er begreife nicht, warum ich ihm jetzt auf einmal alle meine Privatbriefe vorlege.« Als ich mit dem Herrn Polizeirat betreffs Ueberführung der erwähnten Gefangenen in eine Irrenanstalt sprechen wollte, wies er mich kurz ab mit den Worten: »Wenn einer der Herren einen Anstand hat, so muß er direkt zu mir kommen, ohne Mittelsperson.« Dieselbe Antwort gab er mir, wenn ich ihm auch sonst irgend etwas, meine dienstlichen Funktionen betreffend, vortragen wollte, wozu ich, laut Dienstanweisung, verpflichtet war. Herr Polizei-Kommissär B. machte mir nun den Vorschlag, daß ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, ihm (Kommissär B.) von jetzt an sämtliche an mich adressierten Briefe vorlegen möchte, er würde dann die privaten von den amtlichen Briefen scheiden, die ersteren an mich zurückgeben und die letzteren dem Herrn Amtsvorstand vorlegen. Daß ich diesen Vorschlag zurückwies, braucht wohl nicht erst erwähnt zu werden. Es ist aber merkwürdig, was die Herren Beamten einer Frau alles zu bieten wagen. Ich wollte daraufhin kündigen. Von meinen Freunden wurde mir aber sehr zugeredet, den Kampf durchzufechten, um der guten Sache willen.

Am 7. Mai 1908 war ich auswärts, um nach einem mir von der Polizei zur Fürsorge übergebenen und von mir auf dem Lande in einem Kosthaus untergebrachten Kinde zu sehen. Ich blieb, wie das bei meinem Dienst häufig vorkam, am Nachmittag mehrere Stunden fort, während welcher Zeit meine Gehilfin, Schwester Karoline, mich vertrat, wollte am Abend dann auf das Stadtpolizeiamt kommen, unterließ es jedoch, nachdem mir Schwester Karoline auf telephonische Anfrage mitgeteilt hatte, daß nichts besonderes während meiner Abwesenheit vorgefallen sei. Darauf erhielt ich vom Polizei-Kommissär B. folgendes Schreiben »zur Aeußerung«:

»Stadtpolizeiamt Stuttgart,
den 9. Mai 1908.

Am 7. d. M. teilte die Polizei-Asststentin Henriette Arendt kurz vor 12 Uhr vormittags dem Unterzeichneten mündlich mit, daß sie heute Nachmittag auswärts beschäftigt sei und daher nicht komme. Die Schwester Karoline übernehme somit heute Nachmittag den Dienst. Den ganzen Nachmittag und Abend kam die Assistentin nicht mehr auf das Stadtpolizeiamt.

Polizeiwachtmeister B.«

Da es während meiner damals 5½jährigen Amtstätigkeit noch nie vorgekommen war, daß ein Wachtmeister eine Meldung vorlegte, wenn ich abwesend war, so fragte ich Polizeiwachtmeister B., wer ihn zu dieser Meldung veranlaßt habe. Er erwiderte, daß es ihn ja gar nichts anginge, wenn ich auf einige Stunden abwesend wäre, und er ja auch gar nicht unterscheiden könne, ob es dienstliche oder private Gänge seien, Polizeikommissär B. habe ihn zu diesem Schreiben veranlaßt.

Wegen meines »eigenmächtigen Vorgehens und Fernbleibens vom Dienst« während einiger Stunden ohne Genehmigung des Urlaubsgesuches wurde Kommissär B. beauftragt, mir jetzt Vorstellungen zu machen, trotzdem ich vorher von dem Herrn Amtsvorstand unumschränkten Urlaub erhalten hatte, in Fürsorgeangelegenheiten nach Hamburg, Guben, Antwerpen, Zürich, Berlin, Köln und anderen Städten zu reisen.

Im Juni 1908 erhielt ich vom Stadtschultheißenamt die Aufforderung, mich zwecks ärztlicher Untersuchung zum ersten Stadtarzt zu begeben, damit dieser ein Gutachten darüber ausspreche, ob man die wegen meiner Erkrankung ausgesetzten Vernehmungen jetzt fortsetzen könne. Der Arzt der Versicherungsanstalt hatte in seinem ärztlichen Zeugnis an die Stadtverwaltung ausgesprochen, daß dauernde Aufregungen eine schwere Schädigung meiner Gesundheit bedeuten würden. Der erste Stadtarzt fand nach gründlicher Untersuchung meinen Gesundheitszustand keineswegs befriedigend und sprach sich dahin aus, daß er infolge seines Diensteides gezwungen sei, dem Stadtschultheißenamt die volle Wahrheit zu sagen. Es bestehe eine starke Vergrößerung des Herzens und vor allem Herzschwäche. Als Mensch sei ich, um mit Versicherungszahlen zu reden, 50% erwerbsunfähig und als Polizeiassistentin 80-90%. Es sei wahrscheinlich, daß die Stadt in berechtigtem Interesse mir jetzt kündige, denn, wenn sie abwarte, bis ich »auf der Nase liege«, so müsse sie mir Pension zahlen. Er sei verpflichtet, das Interesse der Stadt wahrzunehmen und sie zu warnen. Ein gewisses Anrecht auf Pension hätte ich allerdings auch jetzt schon, aber das sei immerhin noch anfechtbar. Eine Fortsetzung des Disziplinarverfahrens mit dauernden Vernehmungen halte er bei meinem jetzigen Zustande für lebensgefährlich.

Also hatte ich bei 10% Arbeitsfähigkeit auf keine Rente zu rechnen! Das Stadtschultheißenamt kann seinen Beamten, die jahrelang Beiträge in die Pensionskasse eingezahlt haben, ruhig kündigen, wenn sie sich im Dienste der Stadt aufgerieben haben und nur noch ganze 10% von ihrer Arbeitskraft besitzen.

Trotz meines leidenden Zustandes brachte ich aber im Monat Mai 1908 von 150 eingelieferten Frauen 26 unter und hatte außerdem 19 junge Leute und 12 Kinder in Fürsorge genommen.

In Dresden wurde zur gleichen Zeit auch eine Polizei-Assistentin angestellt. Diese Dame, welche mir mitteilte, daß sie durch einen Artikel von mir auf diese Tätigkeit aufmerksam geworden sei, aber gar keine Erfahrung darin besitze, bat mich um sofortige Uebersendung meiner Jahresberichte, damit sie sich vor Antritt ihrer neuen Stellung noch etwas informieren könne. Da die Jahresberichte auf meine Kosten gedruckt wurden und ihre Versendung bisher nie Veranlassung zur Beanstandung gab, da außerdem der Polizeipräsident und ein Polizeirat von Dresden vor einiger Zeit auf dem Stadtpolizeiamt gewesen waren und sich bei dieser Gelegenheit eingehend nach meiner Tätigkeit erkundigt hatten, brachte ich den Brief dieser Kollegin und meine Antwort darauf in den »Einlauf«, in der Annahme, daß beim besten Willen hierin kein Grund zur Beanstandung gefunden werden könnte. Aber – – Polizei-Kommissär B. meinte, da in Dresden ganz andere Verhältnisse herrschten, wie in Stuttgart, habe es keinen Wert, den Brief zu beantworten. Ich erklärte ihm darauf, daß meine Antwort sowohl, wie die Berichte trotz seines Vetos im Interesse der Sache mit der nächsten Post abgesandt würden.

Leider wurde die Untersuchung gegen mich auch mit einer Reihe von Verdächtigungen beschwert, die auf einem unsäglich tiefen Niveau standen und nur durch die Zähigkeit des Hasses erklärlich wurden, mit dem mich einige meiner Gegner verfolgten. Daß sich zu ihnen auch einige Personen gesellten, denen ich jahrelang rückhaltloses Vertrauen geschenkt hatte, war für mich doppelt schmerzlich. Einer der schwersten Vorwürfe in dieser Beziehung war der wegen freundschaftlicher Beziehungen, die – nicht mehr zur Zeit dieser Untersuchung, sondern geraume Zeit zurück – zwischen mir und einem Polizeiassessor bestanden hatten. Daß so etwas überhaupt zum Gegenstand einer amtlichen Untersuchung gemacht werden konnte, ist für die Motive des ganzen Vorgehens gegen mich überaus charakteristisch.

Einige Tage half mir bei der Kinderfürsorge, die ich ja freiwillig übernommen hatte und dauernd unmöglich allein bewältigen konnte, eine Schwester vom Gisela-Kinderhospital in München, die in Stuttgart zum Besuch war. Das soll Frl. Steinthal erfahren und sofort dem Stadtpolizeiamt mitgeteilt haben. Darauf erhielt ich folgendes mit »Eile« bezeichnetes Schreiben.

»An die Polizeiassistentin Schwester H. Arendt.

Es ist zur Kenntnis des Stadtpolizeiamts gekommen, daß Sie eine Dame aus Berlin in Ihrem Amtszimmer beschäftigen und mit Ihren Amtsgeschäften vertraut machen. Ich ersuche Sie um umgehende Aeußerung hierüber und mache Sie jetzt schon darauf aufmerksam, daß die Verwendung von Hilfspersonen im Amt ohne Genehmigung des Stadtpolizeiamts nicht zulässig ist.

Wurster.
Stadtpolizeirat.«

Ich habe auf dieses Schreiben folgendes erwidert:

Stuttgart, 26. Juni 1908.

Die obige Annahme, daß ich eine Dame aus Berlin in meinem Amtszimmer mit amtlichen Geschäften vertraut gemacht habe, ist unrichtig. Zur Erledigung privater Arbeiten habe ich – mit Erlaubnis des Herrn Amtsvorstandes – Schreib- und andere Hilfskräfte schon vielfach beschäftigt und weiteres ist auch jetzt nicht erfolgt.«

Das Aktenstück kam umgehend an mich zurück mit folgenden Worten:

»Polizeiassistentin Arendt, hier.

Sie wollen sich noch darüber äußern, ob Sie in letzter Zeit überhaupt keine Dame beschäftigt haben? Bejahendenfalls wolle angegeben werden, wer die betreffende Dame war. Soviel Sie dem Herrn Polizei-Kommissär B. gegenüber erklärt haben, sollen Sie eine mit Herrn Oberregierungsrat Nickel bekannte Dame mit Besorgung von Privatgeschäften betraut haben. Ist das richtig?« In meiner Antwort berief ich mich darauf, daß die Besorgung meiner Privatgeschäfte lediglich meine Sache sei. – Am 15. Juli 1908 kam folgendes Schreiben:

»Die innere und ökonomische Abteilung des Gemeinderats hat in der Sitzung vom 7. d. M. beschlossen, die Polizeiassistentin Arendt aufzufordern, sich über die ihr zur Last gelegten Verfehlungen bis spätestens 1. August d. J. verantwortlich vernehmen zu lassen. Sie soll sich bei Gerichtsassessor Dr. A., Rathaus, zu einer von ihr zu bestimmenden Zeit zur Vernehmung einfinden. Auf ihren Gesundheitszustand würde möglichst dabei Rücksicht genommen werden. Will sie auch von dieser letzten Gelegenheit durch angebliche Vernehmungsunfähigkeit (!) keinen Gebrauch machen, so wird die innere Abteilung beim Gemeinderat Antrag auf Kündigung stellen, da es nicht mit dem Interesse der Stadt vereinbar ist, Angestellte in ihrem Dienst zu haben, die derart leidend sind, daß sie notwendigen amtlichen Vernehmungen andauernd nicht unterzogen werden können.

Stadtschultheißenamt.
Rettich.«

Ich ersuchte nun den Herrn Gerichtsassessor Dr. A. um genaue Informationen über die »mir zur Last gelegten Verfehlungen«. Da erfuhr ich denn wieder die alte Leier, die mir nun bereits durch fünf Polizei-Kommissäre und den Herrn Polizeirat auf dem Stadtpolizeiamt seit 1. Februar 1907 in allen Tonarten unaufhörlich vorgedudelt wurde.

Nr. I Verletzung des Amtsgeheimnisses in Wort und Schrift.

Nr. II Die Beleidigung der Schutztruppe in Südwestafrika.

Nr. III Das Hauptverbrechen, daß die private Fürsorgetätigkeit meine Zeit zu sehr in Anspruch nimmt und meine fortgesetzte Weigerung meine Fürsorgetätigkeit einzuschränken.

Da mir bisher in keiner Weise nachgewiesen werden konnte, daß meine amtliche Tätigkeit darunter irgendwie gelitten, hatte man versucht, beide Wachtmeister zu einer Erklärung gegen mich zu bringen. Sie sagten aus, daß meine Gehilfin, Schwester Karoline, in der Regel die zum ersten Male eingelieferten Frauenspersonen aufschriebe. Ich erwiderte, das nie geleugnet zu haben und verwies auf meine und Schwester Karoline's dem Herrn Kommissär zu Protokoll gegebene Aeußerung.

Nun eröffnete man mir: »Es sind mündlich und schriftlich viele Klagen über Sie an das Stadtschultheißenamt gekommen. Da ist z. B. ein Brief, in dem es heißt: ›Es bestehen Zweifel darüber, ob das Geld, das die Polizei-Assistentin Schwester Henny Arendt zur Unterstützung der entlassenen Gefangenen erhält, auch richtig gebucht wird.‹ Ich erkannte sofort, daß dieser Brief von Pfarrer Wurm von der Stadtmission wäre und fragte, welches Recht dieser Herr hätte, mich der Unterschlagung zu bezichtigen. »Hat er auch nur irgend einen Beweis dafür?« Dr. A. meinte: »Sie stehen jedenfalls sehr schlecht mit dem Herrn. Das Wort Unterschlagung hat er nicht gebraucht, er hat nur Zweifel geäußert.« Dann fuhr er fort: »Ferner sind Briefe da, in denen Fräulein Steinthal über Sie Beschwerde führt. Sie schreibt am 13. Juli d. J., sie fühle sich jetzt verpflichtet, dem Stadtschultheißenamt den wahren Grund Ihrer Entlassung aus dem Schwesternverband mitzuteilen, über den sie bis jetzt geschwiegen habe. Sie seien entlassen worden, weil dem Fräulein Steinthal Klagen über Ihr unsittliches Benehmen zu Ohren gekommen seien. Ich ersuche Sie um Auskunft über diesen Punkt.« Ich erklärte diese Angabe als eine bodenlose Verleumdung und tat kund, daß ich fest entschlossen sei, mir sowohl die Verleumdung des Herrn Pfarrer Wurm, wie die des Fräulein Steinthal nicht bieten zu lassen. Ich erwarte, daß das Stadtschultheißenamt seine Beamten gegen derartige Infamien schütze, andernfalls würde ich Privatklage gegen diese beiden Personen erheben. Dr. A.: »Das Stadtschultheißenamt wird ohne Ansehen der Person Untersuchung in dieser Angelegenheit führen und Sie selbstverständlich gegen Beleidigungen schützen. Unter keinen Umständen dürfen Sie aber Privatklage erheben. Es ist von den betreffenden Personen keine Anklage gegen Sie erhoben, sondern es sind dem Stadtschultheißenamt, als Ihrer vorgesetzten Behörde, nur vertrauliche Mitteilungen gemacht worden, über die das Amtsgeheimnis Ihnen zu schweigen gebietet. Es war unvorsichtig von mir, Ihnen davon Mitteilung zu machen, aber Sie können versichert sein, daß die Stadt für Sie eintreten wird. Uebrigens hat Fräulein Steinthal wohl nur in Ausübung berechtigter Verbandsinteressen so gehandelt. Es ist ihr, wie ich weiß, sehr unangenehm, daß sie, seit Ihrem Austritt aus ihrem Schwesternverein, keine fest angestellte (Verbands-)Schwester mehr auf der Polizei hat, da Schwester Karoline ja nur gegen Taggeld und nur, falls Sie gerade eine Gehilfin brauchen, engagiert ist. Fräulein Steinthal wünscht aber im Interesse ihres Verbandes wieder eine Schwester für dauernd als Polizeiassistentin angestellt zu sehen.« Ich: »Gibt denn das Verbands-Interesse ihr das Recht, mich in dieser Weise zu verleumden?« Dr. A.: »Das wird wohl die Untersuchung ergeben. Dann ist eine Beschwerde von den Kinderrettungsvereinen da, speziell von der Vorsitzenden des Württembergischen Frauenvereins für hilfsbedürftige Kinder, Frau Geheimrat von Göz. Es wäre durchaus im Interesse Ihres Amtes, wenn Sie sich mit den Vorständen von Fürsorge-Vereinen besser stellen würden!« Dann sollte ich mich noch wegen verschiedener anderer Missetaten verantworten. Der Herr Polizeirat und der Herr Polizei-Kommissär B. hätten mich wegen »schwerer Beleidigung« angezeigt. Ich erwiderte, daß ich die betreffenden Aeußerungen nicht zurücknehmen könne, da ich für beide Beweise habe. Er: »Es handelt sich dann noch um Ihren Gesundheitszustand. Der Erste Stadtarzt hat Sie in seinem Attest nicht nur als schwer leidend, sondern überhaupt als dienstunfähig erklärt infolge Erkrankung. Es ist dem Stadtschultheißenamt unbegreiflich, daß Sie trotzdem den ganzen Dienst ohne jede Hilfe versehen können.« Ich setzte ihm auseinander, daß ich wohl imstande sei, etwas zu leisten, wenn ich durch chronische Protokollierung nicht dauernd aufgehalten und aufgeregt würde; daß ich allerdings infolge Ueberarbeitung mehrere Male auf der Polizei ohnmächtig zusammengebrochen sei, mich aber durchaus nicht als ganz dienstunfähig fühle.« Er teilte mir dann mit, daß er mich über jeden dieser Anklagepunkte in verschiedenen Sitzungen verantwortlich zu vernehmen haben werde, daß er diverse Zeugen in dieser Sache vernehmen müßte und es zirka 14 Tage dauern könnte, bis er das gesamte Anklagematerial gegen mich durchstudiert hätte. Er sei auch bereit, bis Mitte August zu warten, da ich dann wohl mehr Zeit haben werde. Damit war ich einverstanden, ersuchte ihn dann um die Erlaubnis zu diesem Verfahren einen Rechtsanwalt zuziehen zu dürfen, nicht etwa aus dem Grunde, weil ich mich nicht allein verteidigen könne, sondern weil ich tatsächlich momentan zu angegriffen sei, um mein Recht mit der nötigen Energie wahren zu können. Er erwiderte, daß es durchaus nicht angängig sei, einen Anwalt zuzuziehen.

Obwohl alle meine Feinde darauf hinarbeiteten, die Ausübung meiner Liebestätigkeit zu verhindern und ich bereits anfing, mir Sorge zu machen, wie ich zum Herbst die fälligen Kostgelder für alle meine Pflegekinder auftreiben sollte, wurde mir zu meiner großen Freude das folgende Schreiben überreicht:

Wohlgeboren Schwester Henny Arendt,
Polizei-Assistentin, hier.

Stuttgart, 28. 7. 1908.

»In der Einlage behändige ich Ihnen eine Württ. Staatsobligation von Mk. 2000.– nebst Zins vom 1. 9. 1908 als Legat des verstorbenen Theodor Beck in Obertürkheim für Ihre gemeinnützigen Bestrebungen.

Ueber Kapital und Zins haben Sie niemanden als sich selbst Rechenschaft abzulegen, und ich bin ermächtigt, dies ausdrücklich zu bestätigen.

Genehmigen Sie noch, verehrte Schwester Henny, die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung und Ergebenheit

L... D...,
Testamentsvollstrecker des Herrn Theodor Beck.

 

Den 10. August 1908.«

Obwohl ich noch keine andere Gehilfin hatte, schritt die Untersuchung gegen mich fort. Nachdem Gerichtsassessor Dr. A. mir direkt erklärt hatte, daß von allen Anklagen gegen mich »nichts an mir hängen geblieben sei«, schlug er plötzlich einen anderen Ton mir gegenüber an. In ganz spöttischer Weise fragte er eines Tages, »was aus all dem Gelde geworden sei, das ich für die Gefangenen gesammelt habe« und auf meine Antwort, daß er das ja aus dem Kassenbuch ersehen könne, fragte er weiter, womit ich denn meine Erholungsreisen bestreite.« Ich verbat mir aufs Entschiedenste als Betrügerin hingestellt zu werden, war aber doch töricht genug, auf diese Anschuldigung hin seine Kanzlei nicht sofort zu verlassen. Da setzte er seinen Beleidigungen die Krone auf mit den Worten: »Ich glaube, Sie sollten sich doch scheuen, an die Oeffentlichkeit zu gehen. Es könnten da wohl Dinge zur Sprache kommen, die Ihnen nicht lieb sind. Sie scheinen keine so saubere Vergangenheit zu haben, daß Sie vor Gericht gehen könnten.« Das war mir denn doch zu stark. Ich sprang entrüstet von meinem Sitz auf und fragte, ob das Stadtschultheißenamt oder sonst irgend eine Behörde ihn autorisieren dürfe, mir in dieser Weise die Ehre abzuschneiden.

Endlich kam er auf die Hauptpunkte der gegen mich gerichteten Anklage zu sprechen.

Die Anschuldigung, betreffend Verletzung des Amtsgeheimnisses betrachte das Stadtschultheißenamt als hinfällig. Ich hätte offenbar in gutem Glauben gehandelt, da mir am 1. August 1907 vom Stadtschultheißenamt die Genehmigung zur Ausübung literarischer Tätigkeit erteilt worden sei, und das Stadtschultheißenamt meine Art zu schreiben ja kenne.

Der Hauptpunkt sei jetzt meine Stellungnahme den verschiedenen Vereinen gegenüber. Die beabsichtigte Gründung eines Kinderschutzvereins sei wohl nur geschehen, um die verschiedenen Kinderrettungsvereine zu ärgern. Welche Stimmung in diesen Kreisen gegen mich herrsche, beweise die durch Ihre Exzellenz Frau Geheimrat von Göz gegen mich einberufene Protestversammlung. An der Spitze dieser Vereine stünden überall maßgebende, angesehene Persönlichkeiten, mit denen das Stadtschultheißenamt es nicht verderben wolle. »Der jetzige Zustand ist unhaltbar«, schloß er seine lange Rede, » mit den Vereinen stehen Sie schlecht, die Gehilfin von Frl. Steinthal wollen Sie auch nicht mehr behalten, da ist doch entschieden genügender Grund vorhanden zur – – Kündigung.« Zuerst war ich sprachlos, dann ließ ich mich aber von meiner Empörung fortreißen und rief aus: »Das ist doch wirklich eine Gemeinheit vom Stadtschultheißenamt. Zuerst wird mir eröffnet, ich dürfe mir keinen Rechtsbeistand nehmen, weil es kein förmliches Disziplinarverfahren sei, das auf Kündigung ausgehe, dann werden meine Entlastungszeugen gar nicht vernommen, meine Verteidigung nicht angehört, und zuletzt, obwohl mir nicht die geringste Schuld nachgewiesen ist, heißt es: Kündigung! Ich werde diese Kündigung nicht annehmen. Ich habe mich im Dienst der Stadt aufgerieben, bin durch die unendlichen Widerwärtigkeiten dieser zweijährigen Untersuchung gegen mich so nervös geworden, daß ich einen ähnlichen Posten gar nicht mehr übernehmen kann und wenn mir offiziell gekündigt wird, so beanspruche ich Pension.« Er wollte mich dann noch über verschiedenes vernehmen. Ich fühlte mich aber durch die Aufregung derart angegriffen, daß ich einfach fortging und mir auf der Straße einen Wagen nehmen mußte, da ich nicht mehr imstande war, mich zu Fuß in meine Wohnung zu begeben.

Zwei Tage später telefonierte Dr. A. bei mir an, ob ich mich »wohler« fühle und geneigt sei, ihn zu einer »privaten Rücksprache« auf meiner Kanzlei zu empfangen. Das konnte ich natürlich nicht gut abschlagen. Sofort bei seiner Ankunft bat er mich, diesen Besuch als »rein privaten« zu betrachten. » Meine Angelegenheit verfolge ihn Tag und Nacht. Er habe vom Stadtschultheißenamt den Auftrag erhalten »Grund zu machen« und müsse als gewissenhafter Beamter diesem Auftrag nachkommen. Jetzt handele es sich hauptsächlich darum, daß von einwandfreier Seite behauptet werde, vor drei Jahren seien zwischen mir und Regierungsassessor B., der damals Polizei-Kommissär war, sehr bedenkliche Dinge passiert. Wenn ich der ganzen Angelegenheit nun nicht ein Ende mache, indem ich freiwillig kündige, so bliebe ihm nichts anderes übrig, als Assessor B. vorzuladen und zu befragen. Stelle es sich heraus, daß B. ein Liebhaber von mir gewesen sei, so würde das Stadtschultheißenamt zweifellos noch andere Liebhaber ermitteln (!). In meinem eigensten Interesse rate er mir daher dringend, es nicht zu diesen Enthüllungen kommen zu lassen.

Als ich erwiderte, daß ich ein gutes Gewissen hätte und wollte es getrost auf diese »Enthüllungen« ankommen lassen, meinte dieser junge Assessor: »Frl. Arendt, überlegen Sie es sich. Ich will Ihnen sogar Bedenkzeit geben. Ich bin zwar kein Pfarrer, aber ich rate Ihnen: Gehen Sie in sich, solange es noch Zeit ist!«

Ich antwortete: »Gehen Sie in sich, indem Sie kündigen, nicht wahr?«

» Ja, eine andere Möglichkeit sehe ich wirklich nicht, um dieser Sache ein Ende zu machen. Es sollte mich ja nur freuen, wenn Sie unschuldig sind, aber erwiesen ist das doch nicht. Gehen Sie in sich!«

»Herr Doktor, gehen Sie lieber in sich! Mir scheint, Sie haben viel mehr Veranlassung dazu. Wenn man mal bei Ihnen und den anderen Herren Beamten Grund machen wollte darüber, wieviele Liebschaften Sie haben, bezw. gehabt haben und für wieviele Kinder Sie etwa Alimente zahlen müssen! Ich glaube, wenn das bei den Herren Beamten ein Kündigungsgrund wäre, so würden nicht viele im Dienst bleiben.«

Er: »Das ist bei einem Manne eben ganz etwas anderes. Im Uebrigen weiß ich ja gar nicht einmal, ob es sich um sexuelle Dinge handelt. Privatim gesagt – natürlich ganz im Vertrauen – weiß ich ja vorerst überhaupt nicht, um was es sich handelt, darüber soll ich ja erst Grund machen.«

Nachdem er mich volle zwei Stunden in dieser Weise bedroht hatte, sagte er, das Stadtschultheißenamt und er selbst hätten wegen »schwerer Beleidigungen«, die ich in der letzten Sitzung gegen sie ausgesprochen habe, gegen mich vorgehen wollen. Sie wollten jetzt aber Abstand davon nehmen, da sie diese Beleidigungen meiner »krankhaften Erregung« zuschrieben. Assessor B. wurde wirklich darüber interpelliert und gab eidlich zu Protokoll, seine Beziehungen zu mir seien nur freundschaftlicher Natur gewesen. Er hätte sie nur aus Furcht so lange fortgesetzt, denn ich wäre eine ganz gefährliche Person, die immer Waffen und Gift bei sich trüge und schon ihren bissigen Hund auf ihn gehetzt hätte.

Da ich mich tatsächlich außer Stande fühlte, das endlose Verfahren in dieser Art weiter durchzumachen, sandte mein Rechtsanwalt, Dr. Lutz, folgendes Schreiben an den Gemeinderat:

»An den Gemeinderat. Stuttgart.

Stuttgart, 3. September 1908.

Im Auftrage der Schwester Henriette Arendt, Polizeiassistentin, hier

– Vollmacht Anlage 1 –

stelle ich das Ersuchen, der Gemeinderat wolle gem. Art. 212 Abs. 2 Gem.-O. bei der K. Kreisregierung die Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens gegen meine Mandantin beantragen.

Begründung.

Gegen meine Mandantin schwebt seit Herbst 1907 ein nicht-förmliches Disziplinarverfahren, das aber bis jetzt trotz einer langen Reihe von Vernehmungen zu einem Ergebnis gegen meine Mandantin nicht geführt hat. Im Hinblick auf die bisherige Art der Behandlung der Sache besteht eine Aussicht, daß das Verfahren in Bälde zum Abschluß gebracht würde, nicht. Da die Arbeitskraft und die Gesundheit meiner Mandantin durch die langwierigen Vernehmungen erheblich erschüttert worden sind, und da sie ein berechtigtes Interesse an alsbaldiger völliger Widerlegung der gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen hat, sieht sie sich zu dem obigen Ersuchen veranlaßt.

Die Verfehlungen, welche meiner Mandantin zur Last gelegt werden, gehen in der Hauptsache dahin, sie habe Gelder, welche ihr zur Unterstützung Hilfsbedürftiger zugewendet wurden, unterschlagen und ferner, sie habe in sittlicher Beziehung einen anstößigen Lebenswandel geführt.

Da es sich sonach um Verfehlungen handelt, welche, wenn erwiesen, zur Entfernung vom Amt führen müßten, so kann die Untersuchung und Entscheidung darüber nur im Wege des förmlichen Disziplinarverfahrens erfolgen. (Art. 210 Gem.O.) Etwaige nicht-förmliche Voruntersuchungen können m. E. jetzt, nachdem das Verfahren schon länger als 9 Monate währt, nicht mehr in Betracht kommen.

Rechtsanwalt Dr. Lutz.«

Die Antwort des Stadtschultheißenamts lautete:

»Herrn Rechtsanwalt Dr. Lutz, hier.

Stadtschultheißenamt Stuttgart, 7. Sept. 1908.

Ihr im Auftrag der Polizeiassistentin Arendt gestelltes Ersuchen vom 4. d. M. ist gegenstandslos, da gem. Art. 209 der G.O. die Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens gegen Ihre Mandantin gar nicht möglich ist.

Im übrigen haben wir zu bemerken, daß die lange Verzögerung des Verfahrens gegen Ihre Mandantin lediglich von dieser selbst verursacht ist, da sie ein halbes Jahr lang behauptete, vernehmungsunfähig zu sein und auch jetzt angeblich nur beschränkt vernehmungsfähig ist.

Gemeinderat Rettich.«

Dem Assessor A. wurde die Untersuchung gegen mich nun abgenommen, und ein siebter Untersuchungsrichter übernahm den »Fall Arendt«. Um nicht den Anschein zu erwecken, als ob ich die Drohung von der »Enthüllung meiner Vergangenheit« fürchte, kündigte ich nicht, stellte dagegen die Frage: »Warum kündigt das Stadtschultheißenamt mir nicht, nachdem es soviel Belastungsmaterial gegen mich angesammelt hat?« Darauf erwiderte der Repräsentant des Stadtschultheißenamts: »Eine Kündigung ohne Gründe ist nicht gut angängig. Sobald sich im Laufe der Verhandlung aber ein Grund zur Kündigung findet, so wird Ihnen gekündigt werden.«

Infolge der unausgesetzten Anfechtungen und Quälereien kam es dahin, daß man mich in das Krankenhaus bringen mußte, wo ich wochenlang im Fieber schwer krank lag. Nun endlich entschloß ich mich, mein Amt aufzugeben und folgendes Schreiben an das Stadtschultheißenamt zu senden:

 

»An das Stadtschultheißenamt, Stuttgart.

Da mein Gesundheitszustand sich im Laufe des letzten Jahres derart verschlimmert hat, daß ich mich zu weiterer Fortsetzung meines Dienstes unfähig fühle, bin ich genötigt, meine Stelle als Polizeiassistentin auf 31. Januar 1909 zu kündigen.

Gleichzeitig hiemit stelle ich das Gesuch, mir gemäß § 5 des Pensionsstatuts einen lebenslänglichen Ruhegehalt bezw. gem. § 2 des Ortsstatuts betreffend die Unfallfürsorge für Beamte der Stadt Stuttgart eine Pension zu bewilligen.

Meine Dienstunfähigkeit ist eine Folge der Ueberanstrengung im Dienst und der Aufregungen, welche ich in den letzten Jahren aus Veranlassung des Dienstes ausgesetzt war.

Es hat sich infolge dieser Umstände bei mir eine chronische Herzerweiterung und Nervenschwäche eingestellt, was dauernd meine Erwerbsfähigkeit mindern wird. Aerztliche Zeugnisse hierüber werde ich nachbringen, sobald mein Befinden die Vornahme einer gründlichen Untersuchung durch den Arzt gestattet. Zur Zeit befinde ich mich im Paulinenhospital hier.

Ich habe mich im Dienste insbesondere deshalb überanstrengt, weil mir seit August d. J. trotz wiederholten Gesuchen für die Zeiten mit großem Geschäftsanfall eine Gehilfin nicht zugeteilt wurde, wie ich eine solche früher stets gehabt habe. Durch die Ausdehnung meiner Tätigkeit auf die Fürsorge für Verwahrloste und Schutzbedürftige jeder Art ist mein Geschäftskreis überdies stetig erweitert worden. Es ergibt sich dies aus meinen Büchern und Statistiken. Der ursprüngliche, in meinem schriftlichen Anstellungsvertrage festgelegte Umfang meiner Dienstpflichten erstreckte sich nur auf die Aufsicht über die weiblichen Gefangenen beim Stadtpolizeiamt. Es kam im Laufe der Zeit hinzu: Recherchen und Fürsorge bezüglich verwahrloster und mißhandelter Kinder; Fürsorge für die männlichen Gefangenen unter 18 Jahren, Führung der damit verbundenen Statistiken.

Meine Arbeitszeit war deshalb regelmäßig von 8½-1 Uhr vormittags und von 3-8 Uhr nachmittags. Bei besonderem Geschäftsandrang hatte ich zuweilen mehrere Tage hinter einander von morgens 8-10 Uhr abends durchzuarbeiten.

Besondere Aufregung verursachte mir die seit Februar 1907 gegen mich geführte Untersuchung, in welcher ich zahlreichen (etwa 40-60) von verschiedenen Beamten geführten Verhören unterworfen wurde.

Stuttgart, Paulinenhospital, 19. November 1908.

Schwester H. Arendt,
Polizeiassistentin.«

Als Stellvertreter der Polizeiassistentin fungiert von da ab ein Fahnder auf dem Stadtpolizeiamt, in dessen Gegenwart die Prostituierten sich im Wartezimmer auch entkleiden müssen. Bei der ärztlichen Untersuchung assistiert die Frau des Gefangenenwärters.

Als ich endlich wieder aufstehen durfte, erhielt ich die Erlaubnis, auf das Stadtpolizeiamt zu gehen, um dem mich vertretenden Fahnder, dem »Polizeibruder«, wie er scherzend genannt wird, auf seinen Wunsch einiges zu erklären. Gleichzeitig wollte ich die mir gehörenden Bilder und Bücher von der Polizei fortschaffen lassen und einigen armen Leuten warme Kleidungsstücke, die ich zu diesem Zweck von Freunden meiner Rettungsarbeit erhalten hatte, geben. Als ich in meine Kanzlei trat, würde ich von Polizei-Kommissär B. und einem Kassenbeamten empfangen, die mich um die offizielle Uebergabe ersuchten. B. erklärte mir außerdem, daß er den Auftrag habe, darüber zu wachen, daß ich nichts mitnehme, was der Polizei gehört. Das Benehmen dieses Herrn mir gegenüber war unbeschreiblich. Während vier langen Stunden inquirierte er mich, obwohl er wußte, daß ich schwer krank war, durchstöberte alle meine Privatbriefe, sandte expreß einen Boten auf das Rathaus, um zu fragen, ob nicht die von mir als persönliches Eigentum bezeichneten Bücher dem Stadtschultheißenamt gehörten, ja er ging sogar soweit, mir verbieten zu wollen, die an mich persönlich von einer Anzahl wohltätiger Personen gesandten alten und neuen Kleidungsstücke ohne Genehmigung des Herrn Amtsvorstands verschenken zu dürfen. Als er sich zur Verteidigung vor den Kleiderschrank stellte, riß mir die Geduld, und als er merkte, daß ich handgreiflich werden wollte, retirierte er freiwillig, worauf ich fast den ganzen Schrank ausräumen ließ. Nur auf die Besichtigung des neben meiner Kanzlei gelegenen Badezimmers für die Gefangenen verzichtete er freiwillig, indem er zu dem Kassenbeamten bemerkte: » Na, die Badewanne wird sie ja nicht fortgeschleppt haben!« – Das war mein Abschied von der Stätte, an der ich sechs Jahre gewirkt habe.

Mein Gesuch um Bewilligung einer Pension ist abschlägig beschieden worden. Von den von mir gemachten Einzahlungen an die Pensionskasse wurden mir ¾ ohne die Zinsen ausbezahlt. Unglaublich sind alle die Verleumdungen und Klatschereien, die über mich in Umlauf gesetzt wurden, und denen noch heute teilweise Glauben geschenkt wird. Ein großer Teil dieser Gerüchte ist auf die falschen Denunziationen eines Fahnders zurückzuführen. Ich hatte diesen wegen »ungebührlichem Benehmen im Amt« beim Stadtpolizeiamt angezeigt. Um sich dafür zu rächen, stellte er allerhand falsche Behauptungen über meinen Verkehr mit den unter Kontrolle stehenden Prostituierten auf, z. B. soll ich mich von diesen haben bestechen lassen, Anzeigen zu unterdrücken u. s. w. Wegen dieser böswilligen Aussagen wurde er vom Stadtpolizeiamt zu einer Geldstrafe verurteilt. Er erhob Beschwerde bei der K. Stadtdirektion, wurde aber abgewiesen. Nun wandte er sich an die K. Kreisregierung. Diese leitete eine Untersuchung ein. Die Haltlosigkeit seiner Behauptungen wurde amtlich festgestellt, und das erste Urteil auch von der K. Kreisregierung bestätigt. – Trotz alledem werden die falschen Anschuldigungen jenes Fahnders noch heute gegen mich ausgenutzt.

Wie mir mitgeteilt wurde, begnügt man sich im frommen Württemberg aber nicht damit, die »Hochstaplerin« und »Ketzerin« zu vertreiben, sondern auch mein Geist soll vertrieben werden. Die von mir begründete »Zufluchtsstätte für Frauen und Mädchen«, die jedes bedürftige Weib, ohne Unterschied der Konfession aufnahm und ohne Zwang religiöser Heuchelei, ist christianisiert worden. Nur solche Mädchen sollen aufgenommen werden, die sich »bekehren« wollen. Zur Schaffung solcher Zufluchtsstätten, »die im entschieden christlichen Sinne zu führen sind«, hat die Frau Herzogin Wera von Württemberg eine Summe von M. 160,000 gestiftet.


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