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I.
Meine weiblichen Schützlinge.

Mathilde H., ein früheres Dienstmädchen, war 45 Jahre alt, unzählige Male vorbestraft wegen groben, im Rausch verübten Unfugs, Vagabundage und Gewerbsunzucht. Sie stammte aus einer ordentlichen Familie, war mehrere Jahre in einem Dienst. Dann fing sie zu trinken an, hatte ein Verhältnis, lief aus dem Dienste fort und lebte schließlich nur von der Unzucht. Auf Antrag ihrer unglücklichen Mutter, einer ehrbaren Witwe, war sie zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand einige Zeit in eine Irrenanstalt verbracht worden. Dort entließ man sie bald, weil sie zwar geistig minderwertig, aber nicht gemeingefährlich sei. Sie kam dann in die Landarmenanstalt, von wo sie nach einigen Wochen fortlief, und seither wandert sie von der Landstraße in das Gefängnis, von dem Gefängnis in die Irrenanstalt, von der Irrenanstalt in das Landarmenhaus. Ihre arme Mutter kam oft ganz verzweifelt zu mir und bat, ihrer Tochter eine geeignete Unterkunft zu besorgen, doch war dies sehr schwer. Mathilde kam freiwillig mehrere Male in mein Vorasyl, lief aber immer davon, wenn sie nichts zu trinken erhielt. Endlich sollte das Gebet ihrer Mutter aber doch Erhörung finden. Mathilde erklärte sich eines Tages, nachdem sie eine sechstägige Haftstrafe im Polizeigefängnis verbüßt hatte, bereit, in ein im Elsaß befindliches Rettungsheim der Heilsarmee zu gehen und wurde auf Kosten meiner Unterstützungskasse dorthin begleitet. Sie ist jetzt schon zwei Jahre dort und hält sich zu meiner großen Freude sehr gut. Zu Weihnachten 1908 erhielt ich folgenden Brief von ihr:

»Rettungsheim der Heilsarmee »Bethanien«.
Neudorf i. Elsaß, 4. Dezbr. 1908.

Liebe, gute Schwester Henny!

Zuerst meinen herzlichen Dank für alles Gute, was Sie schon an mir getan haben. Es tut mir sehr leid, daß Sie krank sind, ich will recht beten für Sie, daß Sie bald wieder gesund werden: Es wird Ihnen gewiß Freude machen, wenn ich Ihnen sagen kann, ich bin glücklich und zufrieden. Der Herr hat Großes an mir getan, des bin ich fröhlich. O es ist so schön, gerettet zu sein. Manchmal fällt es mir recht schwer, Selbstverleugnung und Entsagung zu üben, aber ich bin fest entschlossen, meinem Heiland treu zu bleiben und seinen Willen zu tun. Es ist wohl Zeit gewesen, daß ich zur Heilsarmee kam, sonst wäre ich vollends in der Sünde versunken. Hoch lebe die Heilsarmee und Gott segne Sie! Zu Weihnachten könnte ich brauchen: ein Paar warme Schuhe, denn ich habe immer so kalte Füße, oder ein Kleid oder eine Bluse oder einen schwarzen Schurz oder einen Unterrock für den Sonntag. Bitte schicken Sie mir auch eine Griebenwurst. Im Voraus sage ich dafür tausendmal Vergelts Gott! Es grüßt Sie herzlich Ihre

Mathilde H...«

Ihre alte Mutter schien nur auf die Erhörung ihres Gebetes gewartet zu haben, um diese Welt zu verlassen. Nachdem sie mir mehrfach ihr tiefes Glück über die Rettung ihrer verlorenen Tochter ausgedrückt hatte, entschlief sie kurz nach Weihnachten sanft und friedlich zu einem besseren Leben.

Helene R., 20 Jahre alt. Vater Gepäckträger, Mutter Waschfrau, beide seit vielen Jahren tot, waren nie bestraft. Helene war mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft, schien unverbesserlich. Obwohl des Diebstahls überführt, leugnete sie stets und behauptete immer ein Opfer der Justiz zu sein. Gewerbsunzucht konnte man ihr nicht nachweisen, doch nach den vielen Bestellbriefen von Herren, die sich unter ihren Papieren vorfanden, war mit Sicherheit anzunehmen, daß die Unzucht ihre Haupterwerbsquelle war. Im Jahre 1903 machte ich zuerst auf dem Stadtpolizeiamt ihre Bekanntschaft, und da sie gerade eine längere Gefängnisstrafe verbüßt und kein Unterkommen hatte, forderte ich sie auf, in meinem Stübchen zu schlafen. (Das Vorasyl existierte damals noch nicht.) Einige Tage blieb sie bei mir, kam dann in ein Magdalenenasyl, lief bald von dort fort und war von nun an ganz unzugänglich. Ihre 16jährige Schwester, die noch nicht mit der Polizei in Konflikt geraten war, wurde von einem Geistlichen, dessen Mündel sie war, in demselben Magdalenenasyl untergebracht und hielt sich sehr gut. Der älteren Schwester, die sie sehr liebte, schrieb sie durch meine Vermittelung folgenden Brief:

»L ... d. 26. 12. 1903.

Liebe Schwester!

Unsere liebe Hausmutter gab mir die Erlaubnis, Dir zu schreiben. Ich bin sehr betrübt gewesen, als mir die liebe Schwester Henny solche Nachrichten von Dir brachte. Du hast mir geschrieben, Schwester Henny sei gegen Dich wie eine Mutter! Aber Du bist nicht wie eine Tochter. Liebe Schwester, bedenke doch, daß Dir niemals mehr so die Retterhand geboten wird. Siehst Du denn nicht ein, daß Du so nicht weiter machen kannst? Ich habe schon oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstanden habe und nicht mit Dir aus dem Hause und in das Elend gelaufen bin. Mein einziger Wunsch ist, daß Du auf 2 Jahre in eine Rettungsanstalt gehst. Du mußt nicht denken: »2 Jahre in einer Anstalt zubringen«, sondern nur daran denken, was Du in den 2 Jahren Gutes siehst und hörst und lernst. Du glaubst nicht, was ich in ¾ Jahren schon alles gelernt habe: Waschen, Putzen, Nähen, Sticken, Festonieren, Knopflöcher machen und zeichnen. Liebe Schwester, ich wünsche Dir von Herzen ein gesegnetes neues Jahr und bitte Dich: fange es anders an, als Du es schließt. Wünsche auch der lieben Schwester Henny ein gesegnetes neues Jahr.

In Liebe verbleibe ich
Deine Schwester Anna.«

Anna kam mit 18 Jahren aus der Anstalt in einen Dienst und verheiratete sich wenige Monate darauf mit einem tüchtigen Handwerker. Helene wurde der Boden in Stuttgart zu heiß; sie verschwand eines Tages und blieb lange verschollen. Unbeschreiblich groß war meine Freude, als ich plötzlich aus Südamerika folgenden Brief von ihr erhielt:

»Tampa (Florida), d. 1. September 1907.

Meine liebe, liebe, Schwester Henny!

Vor allem wie geht es Ihnen? Darf ich das Beste hoffen? – Nicht wahr, Sie haben schon lange nichts mehr von mir gehört, ich habe mir aber vorgenommen, niemand mehr zu schreiben, ehe es mir gut geht.

Liebe Schwester Henny, in Gedanken sitze ich oft bei Ihnen in Ihrem trauten Heim, wo ich so manches Mal gesessen habe und mit Ihnen Kaffee trinken durfte. Mein trauriges Schicksal lassen wir ruhen, wie Sie es so manches Mal getan haben und reden wir, wie zwei vertraute, liebe, alte Freundinnen. – Darf ich? – Seit dem 14. August d. J. bin ich die Frau meines lieben guten Erichs, und bin so glücklich – so glücklich! Unsere Hochzeitsreise ging nach hier zum warmen Süden, wo wir nun auch unser Domizil aufgeschlagen haben. Wir leben in einfachen, aber durchaus zufriedenstellenden Verhältnissen. Erich geht morgens um ½9 Uhr auf sein Büro und ist bis 5 Uhr wieder zu Hause.

Anfangs litten wir unter dieser enormen Hitze, oft 98 Grad F. im Schatten, sind es jetzt aber gewöhnt; jeden Moment rollt »Tröpfle« für »Tröpfle« die Stirne herab! Eine wahre Plage sind die vielen kleinen Ameisen, die nicht zu vertilgen sind. –

Nun noch etwas, das mich an meine glückliche Jugendzeit erinnert. Abends, wenn es dunkel wird, trippelt ein altes Negerlein mit einem Leiterchen, bestehend aus zwei Sprossen (aus einer Eierkiste fabriziert) daher, nimmt ein Streichholz aus seinem nicht gerade kleinen Munde und steckt die Laterne an. Dies getan, trippelt es wieder an einen anderen Ort, mich in einen Märchentraum versunken, zurücklassend. So giebt es hier noch manches Idyllische zu berichten, will es aber fürs nächste »Plauderstündchen« aufbewahren. – Darf ich auch auf ein Briefchen warten? Die Post nach hier braucht 18 Tage, da wir am Golf von Mexiko liegen.

Meine liebe Schwester Henny, leben Sie wohl für heute, bleiben Sie gesund und munter. Verbleibe mit herzlichem Gruß und Händedruck

Ihre dankbare Helene.«

Auch ihr Mann legte ein Briefchen bei, in dem er mir viele Grüße sandte und die Angaben seiner Frau bestätigte.

Es versteht sich wohl von selbst, daß ich Helene umgehend antwortete und sie bat, mir recht oft von ihrem Ergehen, so fern von der Heimat, zu berichten.

War mir das Schreiben der Helene R. wieder ein neuer Beweis von dem göttlichen Funken, der in jedem Menschen vorhanden ist, wenn wir oft auch nichts davon gewahr werden und an allem Guten in einzelnen Menschen verzweifeln wollen, so war die Erfahrung, die ich mit Walpurga B. machte, doch eine der köstlichsten meines Lebens. Walpurga B. war Bayerin, 28 Jahre alt, von Beruf Kellnerin. Aus München wegen ihres liederlichen Lebens ausgewiesen, zog sie in ganz Deutschland als fahrende Dirne umher. Bald war sie im Gefängnis, bald wegen geschlechtlicher Erkrankung im Spital, dann wieder auf der Straße. Ich sprach sie nur einmal. Sie hörte mich aufmerksam an. Meinen Vorschlag, sie in die Anstalt »zum guten Hirten« zu bringen, lehnte sie aber entschieden ab. Dann hörte ich vier Jahre nichts von ihr. Im Sommer 1908 erhielt ich folgendes Schreiben:

»R ... 6. August 1908.

Liebe Schwester Henny.

Zu meiner großen Freude habe ich heute erfahren, daß Sie immer noch treu Ihr Amt erfüllen und in den 4 Jahren schon so viele arme Mädchen mit harter Mühe wieder auf den richtigen Weg gebracht haben, die sich verloren glaubten. Ich weiß nicht mehr genau, wann es gewesen ist, da war ich in Stuttgart und hatte eine Strafe zu verbüßen wegen groben Unfug und Ruhestörung, was ja eine große Schande ist, hauptsächlich für ein weibliches Wesen. Damals habe ich Ihnen meine ganze Lebensbahn erzählt. Ihre lieben guten Worte und Ermahnungen hatten mir Ruhe und Frieden gebracht, allein kaum war ich 14 Tage draußen, so begann wieder der alte Lebenslauf. Ich war nicht fest genug dem Bösen zu widerstehen. So zog ich denn wieder 3 Jahre in der Sünde herum in Tirol, in Innsbruck. Dort bekam ich böse Füße, mußte nach Deutschland zurück und es blieb mir nichts anders übrig, als ins Landarmenhaus zu gehen. Nach 6 Wochen war ich hergestellt. Unser Herr Pfarrer nahm sich meiner an und brachte mich in einen Dienst. Dort war ich ½ Jahr, konnte aber durch meine angegriffene Gesundheit nicht so schwer arbeiten. Plötzlich bekam ich Blinddarmentzündung, lag 9 Wochen im Spital und kehrte von dort wieder in das Landarmenhaus zurück. Aber ich mußte bald wieder in das Spital und wäre schon längst auf dem Friedhof, wenn mich nicht die Schwester Dorotea, eine Kollegin zu Ihnen, wie eine leibliche Mutter, gepflegt hätte. Jetzt liege ich ein Jahr ununterbrochen, bekomme immer Morphiumeinspritzungen. Aber bald, bald geht es der himmlischen Heimat zu. Liebe Schwester Henny, ich bitte Sie, beten Sie für mich. Wie oft denke ich jetzt an Ihre Ermahnungen, an Ihre süßen Worte, das tut mich immer erbauen. Bitte schreiben Sie mir bald. Ich warte jeden Tag voll Sehnsucht auf Ihren schönen Brief. Mit herzlichem Gruß, auch von Schwester Dorotea

Walpurga B...

Ich schrieb sofort an das arme Mädchen und kurze Zeit darauf erhielt ich die Nachricht, daß sie als eine Gerettete zum ewigen Leben eingegangen sei.

Antonie K., Dienstmädchen, 25 Jahre alt, gehört eigentlich nicht in die Kategorie der entlassenen Gefangenen, denn sie war meines Wissens nie im Gefängnis. Ich lernte sie in einer Anstalt »zum guten Hirten« kennen, in die sie mit 14 Jahren von der Gemeinde aus zur Erziehung gebracht worden war. Sie war Waise und sehr jung schon verführt worden. Da sie fleißig und bescheiden war, behielt man sie bis zu ihrem 25. Jahr im »guten Hirten«, dann kam sie nach Stuttgart in Stellung und besuchte mich immer an ihren freien Sonntagen. An einem Sonntag Nachmittag lud ich sie mit noch einigen Anderen ein, mit mir in den Widmann'schen Tiergarten auf der Feuerbacher Heide zu gehen, wo ich durch die Güte des Herrn Widmann für mich und alle meine großen und kleinen Schützlinge Freibillets in beliebiger Anzahl erhielt. Antonie vergaß im Tiergarten bald das Heimweh, das sie immer noch nach dem »guten Hirten«, ihrer eigentlichen Heimat, hatte und bei einer Tasse Kaffee mit Streußelkuchen wurde sie bald recht vergnügt und gesprächig. Ich ließ sie dann durch ein anderes Mädchen heimbegleiten und erhielt am nächsten Morgen folgende Danksagung in Versen:

»Stuttgart, 10. Sept. 1908.

Sehr geehrte, liebe Schwester Henny!

Unendlich groß war meine Freud',
Als Sie sich meiner so angenommen heut'.
Denn im Tiergarten war es wirklich schön,
Das will ich gleich am Anfang gestehn.
Bin lieber jetzt in Stuttgart schon,
Der Herr Ihnen diese Wohltat lohn.
Für alles, was Sie hier schon Gutes getan
Mögen Sie himmlischen Lohn einst empfahn,
Sowie alle die edelgesinnten Damen
– Kennen tue ich ja keine mit Namen –
Die der verlassenen Menschheit zu helfen bereit
In dieser, ach wirklich so gefahrvollen Zeit.
Wenn bei einem edelgesinnten Herzen ich Anschluß find'
Mir die leidenschaftlichen Menschen zu nichtig sind.
Daß Sie sich meiner annehmen, freut mich sehr,
Zumal da ich keine Eltern mehr.
Auch war ich bei Ihnen wohlgeborgen,
Denn gut ließen Sie mich nach Hause besorgen
Und daß die Tonie brav und bescheiden bleibt,
Zeigen die Briefe, die sie dem »guten Hirten« schreibt,
Denn solange sie sich an die Schwestern hält,
Es auf andern Wegen ihr nicht mehr gefällt.
Werde nie vergessen der Wohltaten mehr,
Dazu dient mir Schwester Henny auch als Lehr',
Und weil ich jetzt so ganz allein
Können Sie mir eine gute Führerin sein.
Zum Dank weih' ich Ihnen mein aufrichtig Herz,
Bleib' mäßig in Freude und mutig im Schmerz.
Und kostet's mich manchmal auch Opfer viel,
So will ich doch wandeln zum schönen Ziel,
Und rieseln die Tränen vor Heimweh herab,
Will dennoch ausharren ich bis zum Grab.
Ja nehmen Sie sich der armen Mädchen nur an,
Selbst, wenn Sie oft bitteren Undank empfahn.
Es ist ein gut Werk und wird dennoch belohnt,
Vom Herrn, der über den Sternen tront.
Zur Rettungsarbeit wünsch ich viel Glück.
Führen Sie noch viel Schäflein zum guten Hirten zurück.
Auch bessere Gesundheit möge Ihnen der Herr geben,
Daß Sie noch viele Jahre hienieden erleben,
In Ihrem schweren mühevollen Beruf nie ermüden,
Denn ein hartes Los hat der Herr für Schwester Henny beschieden.
Möchte gerne jetzt schließen das Gedicht,
Doch eines noch halte ich für Pflicht!
Nämlich für alles mich zu bedanken.
Möge Ihre Hoffnung nach oben sich ranken
Und Sie in Tonie enttäuscht sich nie sehn.
Dann frohes baldiges Wiedersehn.

Zur Erinnerung an Ihren treuen,
dankbaren Schützling
Antonie K ...

100 000 herzliche Grüße. Gute Nacht! 12 Uhr! Bin so müde, aber trotzdem würde ich der lieben treuen Schwester Henny nochmal ein Gedicht machen. Für Sie ist mir nichts zu viel, weil Ihnen auch nichts zu viel für uns ist.

D. O.«

Antonie blieb brav und bescheiden in ihrer Stellung. Da sie sich aber so sehr nach dem »guten Hirten« zurücksehnte, durfte sie bald zurückkehren, um immer dort zu bleiben, fern von allen Gefahren dieser Welt. –

Oft wird es den Mädchen auch von der Herrschaft sehr schwer gemacht, auf rechten Wegen zu bleiben, und besonders die Leute, die sich an eine Rettungsanstalt wenden, um ein Dienstmädchen zu bekommen, glauben ein besonders gutes Werk zu tun und dafür diesen »Verlorenen« alles bieten und sie In der häßlichsten Weise ausnutzen zu können. Der Lohn ist dabei meistens auch recht karg bemessen. Dafür dürfen die Mädchen aber an den Morgen- und Abendandachten im Hause teilnehmen und am Sonntag in die Kirche gehen.

Frida M., 20 Jahre alt, die wegen Gewerbsunzucht einmal bestraft war, 2 Jahre in einer Rettungsanstalt blieb und dann von dort in ein »gutes christliches« Haus kam, konnte davon bald ein Liedchen singen. Sie schrieb mir darüber:

»Bei der Herrschaft, wo ich mich befinde, gefällt es mir soweit schon, aber ich weiß nicht, es sind 3 Kinder da, eins kleiner, als das andere, das Kleinste ist 9 Wochen alt. Die habe ich ganz zu besorgen und die Zimmer auch, die Frau bekümmert sich gar nicht darum. Des Nachts muß ich das Kleinste auch haben. Es wird jeden Abend 11 Uhr, bis ich in das Bett komme und um 5 Uhr morgens aufstehen und alle Nacht 4–5 Mal zum Kind aufstehen. Ich glaube, daß ich es schließlich nicht mehr machen kann. Bis jetzt hatte die Frau zwei Dienstboten. Bezahlt wird auch nicht viel, blos 120 Mk. Lohn im Jahr, das ist schier zu wenig zu soviel Arbeit. Schreiben Sie mir doch, was ich machen soll« u.s.w.

Die Leiterin der Rettungsanstalt, der die frommen Briefe der Hausfrau sehr imponierten, riet Frida, in diesem guten Hause zu bleiben oder wenigstens 1 Jahr auszuhalten. Das tat Frida aber nicht, sondern lief fort, und dieses Mädchen, das in liebevoller Obhut bei angemessener Arbeit zu den besten Hoffnungen berechtigt hätte, ergab sich nun ganz dem liederlichen Leben. Es gelang mir leider nicht, ihre Spur wieder aufzufinden.

Neben der großen Anzahl derjenigen, welche den rechten Pfad wieder gefunden haben, tauchen unzählige unglückselige Menschenkinder vor mir auf, bei denen anscheinend alle Mühe und Arbeit vergebens war, teils wollten sie sich nicht aus dem Sumpfe ziehen lassen, teils konnten sie es nicht, weil ihre Willenskraft zu schwach war.

Da sehe ich sie wieder vor mir stehen, die unglückliche Emma K. Sie war erst 16 Jahre alt, Tochter eines Schneiders. Die Familienverhältnisse waren überaus traurig. Ihr Vater war Trinker, ein roher Mensch, der den alten kranken Vater seiner Frau, der bei ihm lebte, derart mißhandelt hatte, daß er sich vor Gericht verantworten mußte. Der alte Mann starb bald darauf und nach kurzer Zeit verließ auch Emma's Mutter diese Welt, die für sie nur ein Jammertal in des Wortes wahrster Bedeutung gewesen war und ließ ihren Mann mit 2 kleinen Töchtern zurück. Der Mann tröstete sich bald mit einer Anderen, welche die beiden kleinen Mädchen sehr lieblos behandelte. Beide verließen in frühester Jugend das Elternhaus, um sich in dem liederlichen Leben über ihr trauriges Los hinwegzusetzen. Berta, die Aeltere, wurde mit 15 Jahren auf dem Wege der Fürsorge-Erziehung in eine Erziehungsanstalt gebracht, kam von dort nach 2 Jahren in Stellung, mußte sogleich wegen Diebstahls entlassen werden, nahm eine andere Stelle an, wo sie sich wieder verschiedene Diebstähle zu Schulden kommen ließ und verbüßt augenblicklich eine 5monatliche Gefängnisstrafe. – Emma, über welche nicht Fürsorge-Erziehung ausgesprochen war, war, kam mit 16 Jahren das erste Mal auf die Polizei wegen Vagabundage und Gewerbsunzucht. Auf meine Ermahnungen, in geordnete Verhältnisse zurückzukehren, hatte sie nur die Antwort: »noch nicht.« Sie setzte noch ein Jahr diesen Lebenswandel fort, dann wurde sie schwanger, kam in die Entbindungsanstalt, wo sie ein Töchterchen in die Welt setzte und starb. Nach ihrem Tode ging ich zu ihrem Vater und fragte, wer sich des kleinen Mädchens annehmen würde. Er antwortete: »Das geht doch mich nichts an. Meine Tochter ist tot, der Vater des Kindes ist unbekannt, und ich will mit der Sache nichts zu schaffen haben.« Mit diesen Worten begleitete er mich höflich zur Türe. –

Oft noch muß ich an die arme Emma denken, besonders, wenn ich 16jährige, wohlbehütete junge Mädchen vor mir sehe. »Noch nicht«, »noch nicht« klingt es mir dann in den Ohren, und dann denke ich auch an das arme kleine Wesen, das jetzt vom Armenamt aus versorgt wird, an die Sünden der Eltern, die heimgesucht werden an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied – – – –

Schweifen meine Gedanken zu Luise S., der blassen, mageren Fabrikarbeiterin, von 28 Jahren mit dem finsteren scheuen Blick, wie sie wegen Mordes ihres 11 Tage alten Kindes in das Polizeigefängnis gebracht wurde, dann fällt mir das alte Lied ein:

Es gibt auf der Welt ein Herzeleid,
Das ist wie die weite Welt so weit,
Das ist wie Bergeslasten schwer,
Das ist so tief, wie das tiefe Meer.

Das ist das große Herzeleid,
Wenn um die Sünde die Seele schreit,
Wenn um die Sünde die Wang' erblaßt,
Wenn um die Sünde die Träne naßt.

Bei Luise S. war nichts von Herzeleid zu beobachten. Keine Träne rann über ihre Wange, kein Wort von Schmerz und Reue kam über ihre Lippen, und doch war sie geständig, den Mord verübt zu haben. Aus ihren knappen Antworten entnahm ich, daß sie unehelich geboren war, bei fremden Leuten erzogen wurde, stets gearbeitet habe und nie bestraft worden sei. Ueber den Vater des Kindes eine Aussage zu machen, weigerte sie sich. Sie war in der Hebammenschule entbunden worden, ging von dort mit dem 11 Tage alten Kinde nach dem Friedhof und hat es da lebendig begraben. Ueber das kleine Grab wäre vielleicht Gras gewachsen, hätte nicht das Vormundschaftsgericht Nachforschungen nach dem Verbleib des Kindes angestellt. So wurde diese furchtbare Tat entdeckt. Die Untersuchung ergab dann, daß sich Luise in keiner Notlage befunden hatte. Sie hatte Mk. 1000.– auf der Sparkasse hinterlegt, angeblich Ersparnisse. Außer diesem Umstande fiel erschwerend für sie ins Gewicht, daß sie sehr viel Geld – Mk. 200.– wurde nachgewiesen – für Kartenlegerinnen verausgabte und sich bei 2 solcher Frauen, die sich das systematische Betrügen der »Dummen, die nicht alle werden« zum Beruf machen, Rat holte über die verschiedenen Todesarten von kleinen Kindern. Einen direkten Rat zur Entledigung des Kindes scheinen die Frauen ihr nicht erteilt zu haben, doch hat der Verkehr mit diesen dunklen Persönlichkeiten zweifellos einen unheilvollen Einfluß auf Luise ausgeübt. –

Bei der Schwurgerichtsverhandlung bat ihr Verteidiger, gegen diese Sünderin nicht die ganze Härte des Gesetzes walten zu lassen, sondern zu berücksichtigen, daß als Mitschuldige zu betrachten seien die Leichtlebigkeit der Männer, die solche gefallene Mädchen im Stich zu lassen pflegen, ferner unsere sozialen Einrichtungen, besonders der Mangel an Findelhäusern, wodurch solchen Mädchen die Sorge für den Unterhalt ihrer Kinder aus ihrem eigenen geringen Verdienste schwer gemacht sei. Das Gericht verneinte aber mildernde Umstände in diesem Falle, und so wurde Luise S. zu einer Zuchthausstrafe von 7 Jahren verurteilt.

Anna St., 19 Jahre alt, Buchhalterin, Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten, verließ das elterliche Haus nach dem Tode ihrer Mutter, weil der Vater seine Geliebte, ein ganz junges, schlecht beleumundetes Mädchen, heiratete. Sie kam nach Stuttgart und nahm zuerst eine Stelle in einem Büro an. Sie wohnte bei der wegen Unzucht und Kuppelei vorbestraften Friseurin, Frau G. und lernte dort die Kellnerin Marie D. kennen, welche ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Gewerbsunzucht bestritt. Marie D. veranlaßte sie, die Stelle in dem Büro aufzugeben und auch Kellnerin zu werden. In diesem neuen Beruf lernte sie den Kaufmann W. kennen, der ihr zuredete, von ihrer Stelle fortzugehen und sie 2 Monate aushielt. Dann ward er ihrer überdrüssig. Sein Nachfolger wurde der stud. techn. Eugen S., der ihr aber keine großen Mittel zur Verfügung stellen konnte, so daß sie nebenbei auf den »Strich« gehen mußte. Als diese Erwerbsquelle nicht genügend einbrachte, hatte sie mit der Kellnerin D., im Einverständnis mit der Friseurin G., verschiedene Ladendiebstähle verübt. Die Untersuchung förderte Goldwaren im Werte von Mk. 1200.–, ferner diverse seidene Blusen, elegante Damenschuhe, Pelzkolliers u. a. m. zu Tage. Die D. wurde wegen 9 schwerer und 2 einfacher Diebstähle zu 1 Jahr 9 Monate Gefängnis verurteilt, während die Friseurin G., welcher die Hehlerei nicht direkt nachgewiesen werden konnte, frei ausging, obwohl sie zweifellos die Ursache war, daß beide junge Mädchen und besonders die unerfahrene St. auf diese abschüssige Bahn gerieten. Auf dem Transport nach der Strafanstalt kam die St. mit einem toten Kinde nieder und war längere Zeit schwer krank. Nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatte, nahm sie wieder eine Stelle als Kellnerin an, mußte aber bald wegen Syphilis und Lungenleiden das Hospital aufsuchen und soll im Alter von 22 Jahren an der Schwindsucht gestorben sein.

Marie L., 25 Jahre alt, Dienstmädchen, syphilitisch, Waise seit frühester Jugend, in einer katholischen Erziehungsanstalt erzogen, hat zwei Brüder, von denen sie nie etwas gehört hat. In meinem Personalbogen finde ich folgende Beschreibung der L.: »beschränkt, faul, frech. Sie hat mehrfach wegen groben Unfugs, verübt im Rausch, Zechprellerei und Gewerbsunzucht im Gefängnis gesessen, besitzt wohl manchmal den Willen, ein ordentlicher Mensch zu werden, aber nicht die Kraft, ihn durchzusetzen.« In eine Anstalt will sie nicht gehen, arbeitet ab und zu als Spülerin in Wirtschaften 5ten und 6ten Ranges. Zweimal mußte sie in den letzten Jahren nach Tübingen in die Frauenklinik zur Entbindung und bat mich von dort um Unterstützung. Weß Geistes Kind sie ist, beweisen am besten ihre Briefe:

»Tübünge, Mai.

Werde Schwesster.

Ich Teile ine kurtz mit das ich alls noch so erhum sisse aber Krank eiten habe ich vorer genung es is traureg Wen man alein da stet kein Mensch mer hat woh man sage kan man hat emant und hat neamez wo ein libt, da werd ich noch kans nebentraus. Bite schreibe sie was afange soll und kein drag Küsen (Tragkissen) bekomt man nich, bin ich kans verlase. Schike sie ein Orok (Unterrock), wen vom Spital kome werde als im Reine machen und Strümpe, laufe auf dem blangen Solen und wohindan mit den Kind das mac mich kans krank. Wen ich hi naus kome dan werde ich tunwas sie schon lang gesagt haben.

Es grüst Marie L...«

Das erste Kind kam von Tübingen aus in ein Kosthaus, wo es bald starb. Das zweite Kind wollte sie nicht von dort aus unterbringen lassen, obwohl ich ihr dringend dazu riet. Sie kehrte nach Stuttgart zurück, kam in mein Amtszimmer, legte es auf meinen Tisch, machte mich darauf aufmerksam, was für ein schönes Kind es sei und wollte sich dann allein aus dem Staube machen. Es war eine harte Geduldsprobe für mich, bis ich ihr klar machen konnte, daß ich bereits Pflegekinder in genügender Anzahl besitze und dieses »Geschenk« von ihr nicht annehmen könne. Zuerst fühlte sie sich tief beleidigt, dann wurde sie frech und schließlich ließ sie sich von mir mit dem Kinde in das Armenhaus begleiten, erklärte aber, daß ich »eine ganze Wüschte« sei und daß sie mir nie mehr »eppes« bringen würde. Auch dieses Kind starb bald darauf. Vor einiger Zeit kam Marie L. ganz aufgeregt zu mir. Sie war wegen Majestätsbeleidigung angezeigt worden. In einer Wirtschaft war nach Mitternacht von Sr. Majestät, dem König von Württemberg, gesprochen worden und da hatte sie, die wieder einmal ganz betrunken war, die Bemerkung gemacht: »Unser Keinig, der isch au eppes rechts!« Deshalb sollte sie sich nun vor Gericht verantworten. Sie schluchzte zum Erbarmen und beteuerte immer wieder: »Und i han doch dem Keinig nischt ton.« Das Gericht scheint schließlich auch zu dieser Ueberzeugung gekommen zu sein, denn sie wurde freigesprochen.

Elise C., 28 Jahre alt, Stickerin, mehrfach vorbestraft wegen Diebstahls und Betrugs, wurde mir von der Strafanstalt Gotteszell zur Fürsorge überwiesen. Sie fand Aufnahme in meinem Vorasyl, erhielt von dort aus Anstellung in einem Stickerei-Geschäft, während sie Logis und Verpflegung im Vorasyl behielt. Sie war bescheiden und fleißig. Ihr 7jähriges Töchterchen war bei ihren Eltern auf dem Lande in Kost, der Vater des Kindes angeblich in Amerika. Nachdem Elise sich zirka 3 Monate gut gehalten hatte, fiel es der Hausmutter auf, daß so viele Briefe, angeblich von Verwandten, an sie eintrafen. Eines Tages erschien ein biederer Schuhmachermeister auf der Bildfläche und wollte bei der Hausmutter um die Hand ihrer »Nichte« Elise C. anhalten. Die Hausmutter erklärte ihm, daß Elise C. in keinen verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihr stünde und ersuchte ihn um Aufklärung dieses Mißverständnisses. Da zog er das »Neue Tagblatt« aus der Tasche, in dem sich folgendes Heiratsgesuch fand:

»Junges, ehrbares Mädchen mit etwas Vermögen,
wünscht behufs Heirat mit bravem,
christlich gesinntem Herrn in Verbindung zu treten.
Antwort unter E. C. hauptpostlagernd.«

Auf diese Annonce hatte der Schuhmachermeister, der Witwer war und sich nach einem »jungen, ehrbaren Mädchen« sehnte, geantwortet, und dieses hatte ihm dann bei dem ersten Stelldichein erzählt, daß es noch sehr unerfahren und unschuldig und von seinen Eltern zu der Tante in Stuttgart in Pension gegeben worden sei. Als der Heiratskandidat erfuhr, daß Elise ihn belogen hatte, zog er sich von ihr zurück; aber nun erschienen noch mehrere Freier im Vorasyl und einer davon, der ein eigenes kleines Kauflädchen hatte, erklärte sich bereit, Elise zu seiner Ehefrau zu machen. Ehe aber noch die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen werden konnten, stellte es sich heraus, daß das »junge, ehrbare Mädchen« sich in dem Stickereigeschäft verschiedene Diebstähle hatte zu Schulden kommen lassen. Sie mußte nun wieder für mehrere Monate ins Gefängnis wandern. Während sie dort war, erfuhren wir, daß ihr zukünftiger Ehemann längst mit einer Anderen verheiratet war, die einige Zeit von ihm getrennt gelebt hatte, jetzt aber schleunigst zurückkehrte. Vom Gefängnis aus schrieb mir Elise:

»Liebe Schwester!

Kaum bin ich meiner Undankbarkeit wegen so keck, Ihre weitere, liebevolle Hilfe zu beanspruchen. Wo soll ich aber sonst Hilfe und Rettung suchen und finden können für ein Verderben, das in mir so tiefe Wurzeln geschlagen hat, daß ich unrettbar, ewig verloren bin, wenn sich nicht jemand rechtes energisch meiner annimmt? Ich bin so unglücklich und nervös, nicht mehr Mensch, sondern mehr eine in Bewegung gesetzte Maschine, die eben arbeiten muß, wie sie getrieben wird. Ich handle oft, ohne jede Veranlassung so unmenschlich, daß ich mir selbst ein Rätsel bin. Bitten Sie doch, daß man mich nach Verbüßung meiner Strafe nicht mehr so in dem bisherigen Zustand unter Menschen läßt, sondern, daß man mich rettet, solange es noch Zeit ist.«

Nachdem Elise aus dem Gefängnis entlassen worden war, wollte ich mich noch einmal ihrer annehmen. Sie wies meine Fürsorge aber ab und verließ Stuttgart. Ich habe nichts mehr von ihr gehört.

Eine anscheinend ganz vergebliche Mühe hatte ich auch mit der 17jährigen Emilie N. Emilie wurde von ihrer Stiefmutter verkuppelt, als sie 14 Jahre alt war. Sie war von Beruf zuerst Kindermädchen, dann Cafe-Chantant-Sängerin und Gelegenheitsprostituierte; zuletzt lebte sie nur von der Prostitution. Wegen Gewerbsunzucht mehrfach vorbestraft und stets ganz unzugänglich, war sie jetzt, nach Verbüßung einer kurzen Gefängnisstrafe im Stadtdirektionsgefängnis, bereit, in das Vorasyl und von dort in eine Rettungsanstalt zu gehen. Sie wurde mir vom Stadtdirektionsgefängnis zugeführt und ich begleitete sie in das Vorasyl. Kaum war sie aber den Gefängnismauern entronnen und sah keinen Gefangenwärter und Polizisten mehr, da verschwand auch sofort ihr guter Wille, ein neues Leben anzufangen. Sie ergriff die Flucht und – ward nicht mehr gesehen.

Vor zweieinhalb Jahren brachte ich ein Mädchen, Magdalene M., welche zum zweiten Male wegen Berufslosigkeit auf dem Stadtpolizeiamt eingeliefert war, als Dienstmädchen in einer bekannten Familie unter und, als diese nicht mit ihr zufrieden war, schickte ich sie in die Rettungsanstalt Leonberg, wo sie zwei Jahre blieb. Von dort aus kam sie in eine Stelle, lief dort fort, und eines Abends fand ich sie weinend auf meiner Treppe sitzen. Ich brachte sie in die »Zufluchtsstätte« und bat, daß man sich dort ihrer annehmen möchte. Als ich im Genesungsheim Lorch war, teilte sie mir mit, daß sie von der Zufluchtsstätte aus in Stellung gekommen sei, sich dort aber mit einem Kessel kochenden Wassers schwer verletzt habe und sich jetzt im Bezirkskrankenhaus zu G. befinde. Ich sandte ihr dorthin eine Unterstützung und wartete dann längere Zeit auf Nachricht von ihr.

Nach einiger Zeit erhielt ich vom Stadtschultheißenamt in W. folgendes Schreiben:

»An die Polizeiassistentin
Schwester Henny Arendt, Stuttgart.

Am 5. d. M. ist in hiesiger Stadt eine Frauensperson aufgegriffen worden. Sie gibt an Magdalene M. zu heißen und will am 20. 6. 88 in O. geboren sein. Im Uebrigen verweigert die M. jede Auskunft. Sie macht den Eindruck einer Geisteskranken. – Durch eine dritte Person habe ich in Erfahrung gebracht, daß die M. auf Ihre Rechnung in der Leonberger Rettungsanstalt längere Zeit untergebracht war.

Da ich annehme, daß Sie auch heute noch an einem geordneten Fortkommen der M. Interesse haben, gestatte ich mir anzufragen, ob Sie eventl. bereit wären, der M. ein geeignetes Unterkommen zu verschaffen.

Des Weiteren bitte ich Sie, mir über die persönlichen und Vermögensverhältnisse der M. baldgefälligst Auskunft zu erteilen.«

Selbstverständlich reiste ich noch am selben Tage nach W., um nach der armen Magdalene zu sehen. Ich besuchte sie dort im Krankenhaus. Sie erkannte mich sogleich, war geistig allerdings etwas gestört, befand sich aber auf dem Wege der Genesung. Mit der Oberschwester des Krankenhauses und dem Stadtschultheißenamt vereinbarte ich, daß Magdalene, sobald es angängig wäre, für Rechnung meiner Unterstützungskasse, in eine Rettungsanstalt verbracht werden sollte, was inzwischen geschehen ist.


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