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III.
Meine Privatsekretäre.

Verschiedene der entlassenen männlichen Gefangenen hatte ich als Schreiber gegen Taglohn engagiert. Solch ein Schreiber half mir die Kleidungsstücke an meine großen und kleinen Schützlinge senden, Broschüren verschicken, Danksagungen schreiben u. s. w. Sie arbeiteten auf dem Stadtpolizeiamt unter meiner ständigen Aufsicht, bis ich eine geeignete Stelle für sie fand. Gewöhnlich erhielten sie aus meiner Unterstützungskasse 40-50 Pf. pro Stunde, ab und zu noch das Mittagessen und etwas Kleidung.

Es sind ganz eigentümliche Gestalten, meine verschiedenen »Privatsekretäre«. Einer von ihnen hatte noch nie »gesessen«. Es war ein kleines mageres Männchen, zirka 26 Jahre alt, mit schmalem Kopf und einer mächtigen Mähne. Diese ist darauf zurückzuführen, daß er »Künstler« ist. Er gibt nämlich Violin- und Klavierunterricht, wurde mir von einem unserer Herren Polizeikommissäre, in dessen Haus er unterrichtet, empfohlen, weil er zur Zeit wenig Schüler und keine Mittel zum leben hatte. Mit Galgenhumor sagte er selbst, er sei gewöhnlich nur »Hungerkünstler«. Es war etwas schwierig mit ihm zu arbeiten. Als er mir einmal etwas schreiben sollte, ließ er einige Sätze ganz aus, dafür schrieb er aber einen Satz 4 Mal hintereinander. Ich war natürlich nicht sehr entzückt von dieser Leistung und als ich ihn auf das Ungenügende der Arbeit aufmerksam machte, meinte er, indem er sich theatralisch mit den Fingern durch die Löwenmähne fuhr: »Wir Künstler können uns auf solches stumpfsinnige Geschäft eben nicht konzentrieren.« Höflich ersuchte ich ihn darauf, die Arbeit ohne Vergütung nochmals zu kopieren, da ich andernfalls einem gewöhnlichen Sterblichen dieses »stumpfsinnige Geschäft« übergeben müßte. Daraufhin »konzentrierte« er sich und es ging dann viel besser. Seine Violine hatte er in Ulm versetzt, meinte aber, daß sie im Versatzhaus gut noch eine Weile aufgehoben wäre. Seine Mutter schrieb mir aus München und bat, daß ich mich ihres Sohnes annehmen möchte, da sie mittellos sei und ihm nichts senden könne.

Der erste von meinen »Privatsekretären« war der Komiker Ludwig H., zirka 40 Jahre alt, den ich gelegentlich eines Besuches in einer Trinkerheilanstalt kennen lernte. Er blieb dort 1½ Jahre, hielt sich gut, wurde aber sogleich rückfällig, als er in die Großstadt zurückkehrte. Alle Bemühungen seiner Angehörigen, ihn zu einem geordneten Leben zu bewegen, blieben erfolglos. Jeden Abend trug er Couplets in den Wirtschaften der Altstadt vor, betrank sich und wurde wiederholt auf dem Stadtpolizeiamt in beschmutzter und zerrissener Kleidung eingeliefert. Meinen Vorschlag, wieder in die Trinkerheilanstalt zu gehen, wies er entrüstet zurück. Dagegen war er einverstanden, nachdem ich ihn mit sauberer Kleidung versehen hatte, als Schreiber zu mir zu kommen. Einen Tag bekleidete er dieses Amt, gegen Abend schaute er mehrfach unruhig nach der Uhr, sehnte sich nach seinen Wirtschaftskumpanen und verschwand dann plötzlich. Seither wurde er wiederholt auf die Polizei gebracht, aber trotz des guten Verdienstes wollte er nicht mehr bei mir arbeiten. Das Stillsitzen behagte ihm zu wenig.

Der zweite war der 38jährige ehemalige stud. med. Georg R. Er stammte aus sehr guter Familie, verlor als junger Student beide Eltern und erbte ein Vermögen von 100,000 Mk., das er in Gemeinschaft zweier Demimonde Damen in Nizza und Monte Carlo verjubelte. Ohne einen Pfennig in der Tasche kehrte er heim und wurde von seinen Verwandten unterstützt. Als er aber seine Studien aufgab und sein liederlicher Lebenswandel chronisch wurde, zogen sich die Verwandten von ihm zurück, und er erhielt nur eine kleine monatliche Rente, die ihn vor dem Hungertode schützen sollte. Er ergab sich nun ganz dem Trunk, machte ab und zu Zechprellereien, und so lernte ich ihn auf der Polizei kennen. Er kam in meine Schreibstube und blieb zirka 14 Tage nüchtern. Da er eine gute Handschrift hatte, hoffte ich, ihm bald durch das städtische Arbeitsamt eine Stelle auf einem Büro besorgen zu können. Meine Hoffnung sollte aber zu Schanden werden. Eines Morgens um 8 Uhr wurde mir von einer Wirtschaft telefoniert, daß ich sofort dorthinkommen möchte. Mein Privatsekretär sitze, bezw. liege, seit dem vorhergehenden Abend betrunken dort, und da der Wirt in Erfahrung gebracht habe, daß ich die Arbeitgeberin des R. sei, ersuche er mich höflichst, ihn persönlich abzuholen. Als ich in die Wirtschaft kam, fand ich R. nicht mehr vor. Der Wirt hatte ihn aufgeweckt, um ihn auf meine Ankunft vorzubereiten, und da hatte er dann schleunigst die Flucht ergriffen. Kurze Zeit darauf las ich im »Neuen Tagblatt«, daß auf den Fildern der ehemalige Student Georg R. tot aufgefunden worden sei. Todesursache noch unaufgeklärt, vermutlich liege Selbstmord vor. Untersuchung dieses Falles durch die Staatsanwaltschaft sei eingeleitet.

Privatsekretär Nr. 3, Karl August Müller, konnte allein den Stoff zu einem ganzen Buche bieten. Er war 48 Jahre alt, als ich ihn kennen lernte, von Beruf Kaufmann, Magazinier, Gärtner, Hausdiener, Schiffsjunge, Kohlenträger, Pferdeknecht, zuletzt Tierbändiger. Er war mehrfach vorbestraft wegen groben Unfugs, Nachtruhestörung, Unterschlagung, einmal wegen Gefährdung eines Eisenbahnzuges durch Bewerfen mit Steinen. Mehrmals wurde er vorgeführt wegen Verdachts von Sittlichkeitsvergehen an Kindern, für die er eine unheimliche Zuneigung hat. M. ist geistig anormal, war mehrere Male im Irrenhaus, wurde aber nach einiger Zeit immer wieder als »geheilt« entlassen, obwohl er entschieden gemeingefährlich ist, und genießt nun die sogenannte »Narrenfreiheit«, zu seinem und seiner Mitmenschen Unheil. Seine Familie, die in geordneten Verhältnissen lebt, hat sich ganz von ihm zurückgezogen, weil er sie in der unflätigsten Weise beschimpft. Er hat Zeiten, wo er zugänglich ist, bat mich einmal um Beschäftigung und war einige Wochen bei mir, bis er eine Stellung fand, die er bald mit einer andern vertauschte. Er hat eine schöne Handschrift und ist intelligent. Um sich mir gegenüber erkenntlich zu zeigen, zeichnete er mir zuerst »zur freundlichen Erinnerung« seinen Stammbaum auf. Er mußte dann wieder eine Strafe im Gefängnis abbüßen, und da er dort die Erlaubnis zum Schreiben erhielt, widmete er mir seinen Lebenslauf »als Denkschrift«. Obwohl Müller bereits durch seine verschiedenen Berufsarten genügend charakterisiert ist, will ich doch nicht unterlassen, den Lesern dieses Büchleins einen kleinen Auszug aus seinem »Lebenslauf« zu geben.

»Geboren nach Aussage meines Vaters nachts ein Uhr bei fürchterlicher Kälte im Monat Januar des Jahres 1855. Schon in meiner frühen Jugend zeigte sich in meinem Charakter entschiedener Hang zur Einsamkeit, was sich bis auf gegenwärtige Zeit auch fort erhalten hat. Eine weitere Sonderbarkeit besteht in dem Umstande, daß ich keine Musik, kein Glockengeläute und keinen Hahn krähen hören kann, ohne entweder zum Weinen geneigt oder schwermütig davon affiziert zu werden.

Ich bin weiter nichts, als nur von fixen angeborenen Ideen behaftet, welche unheilbar sind und welche auch der erfahrenste Arzt nicht zu ändern imstande ist. Wohl bin ich imstande, in der vernünftigsten Weise mit den Menschen zu verkehren, wie jeder Andere, allein diese fixen Ideen bestehen unverändert fort und ist jegliche Maßregel hiergegen vollkommen zwecklos, ja es wird nur ärger dadurch. Es ist am Zweckmäßigsten, mich, wenn nicht ganz besondere Umstände schwerer Art (z. B. Angriffe auf Menschen oder sonstige schwerwiegende gemeingefährliche Exzesse) es erheischen, so weit es möglich ist, in Ruhe zu lassen, da anders es nur dazu dient, die reizbar angelegte Natur nur noch mehr zu steigern, gleichwie man z. B. einem Nachtwandler nicht zurufen darf. Er erschrickt und verunglückt und man bringt ihn ins Unglück, statt ihn davor zu schützen. Bei geisteskrank veranlagten Menschen ist es gerade, wie wenn man ein trübes Wasser durch darin Umherstieren noch trüber macht, anstatt ruhig dessen allmähliche Erhellung abzuwarten.

Mit 25 Jahren kam ich zum ersten Male in die Irrenanstalt. Ich »rappelte« wegen unglücklicher Liebe. »Sie« war meine erste Liebe, hieß Crescenz und stammte aus dem Altbayrischen. Mit 28 Jahren hatte ich meine »zweite Liebe«. Sie hieß Marie, war die älteste Tochter des Gärtners, bei dem ich damals in Stellung war und wurde zwei Mal von mir geküßt. Mit 30 Jahren reiste ich nach Amerika und trat in Newyork als Hausdiener in ein Damenkonfektionsgeschäft ein. Nach 3 Monaten trat ich als »Kohlenzieher« auf dem Schnelldampfer »Fulda« die Rückreise nach Deutschland an und traf nach vielen Leiden und Mißhandlungen aller Art glücklich in Bremerhafen ein, wo ich sogleich bei einem Gärtner Stellung fand. Aber eines Tages, als ich ein Wägele mit Pflanzen auf den Markt führen mußte, ließ ich den »ganzen Blitz« einfach allein auf dem Markte stehen und suchte mir eine andere Existenz in der Stadt, unbekümmert um das Schicksal der Pflanzen.«

Nach einem Aufenthalt in Bremerhafen kehrte er schließlich nach Cannstatt zurück, fand eine Stelle als Magazinier, prügelte dort eine von ihm unglücklich geliebte Dienstmagd, unterschlug M. 100.- und faßte den Entschluß »die Platte zu putzen« d. h. durchzugehen. –

Als Karl August sich eines schönen Abends in einer Stuttgarter Wirtschaft tüchtig vollgetrunken hatte, schickte er mir eine offene Postkarte, des unflätigsten Inhalts. Die Aufschrift lautete: »An die Oberkommandeuse der Stuttgarter Polizei, die Preußin Schwester Henny Arendt.« Um dieses Vergehen wieder gut zu machen, schrieb er mir kurze Zeit darauf folgenden Brief, in dem er seine Flucht aus Cannstatt ausführlich schilderte.

»Liebe Schwester Henny!

Ich möchte Ihnen nur hiermit eine Begebenheit mitteilen, die sich am 23. Juni 1896 mit mir zugetragen hat. Ich war bei der Firma ... in Cannstatt als Lagerist angestellt, zu einer Zeit, wo ich noch nicht lange von Amerika zurückgekehrt war. Ich hatte in der letzten Zeit, da ich noch bei genannter Firma war, einige Male hintereinander die lebhaftesten Träume von einer rötlich blonden, sehr schönen Oesterreicherin, Miß Mary, die ich in Newyork in der 5ten Avenue kennen gelernt hatte. Ganz begeistert von diesen Träumen glaubte ich ganz entschieden nach Newyork zurückgehen zu müssen, um nur das Mädchen wiederzusehen. Aber – – woher Geld nehmen?! Die Gelegenheit hierzu sollte sich mir bald bieten. Eines Tages bekam ich eine geschäftliche Rechnung an einen Mechaniker in Cannstatt zu zahlen mit einem Hundertmarkschein. Diese Rechnung bezahlte ich aber nicht, sondern beschloß nach Amerika abzudampfen. Gedacht, getan – – –. Ich ließ sofort den Schein im nächsten Laden gegen Gold umwechseln und ging dann nach Feuerbach, von wo aus ich nach Mannheim reiste. Dort quartierte ich mich im gleichen Gasthaus ein, wie damals, als ich nach Amerika ging. Merkwürdigerweise erhielt ich das gleiche Zimmer wieder und abermals merkwürdigerweise hing gerade über meinem Bett das Bild des Heilands mit dem verlorenen Schäflein auf dem Arm, das ich unwillkürlich auf mich bezog. Am andern Morgen löste ich ein direktes Schnellzugsbillet nach Antwerpen. Es war mir angst und bange, bis ich im Zuge saß, dann ging es in schnellster Fahrt dahin, bald durch reizende Landschaften, bald durch zahlreiche Tunnels. In Antwerpen quartierte ich mich zunächst in das Hotel Heinermann am Hafen ein und gab mir alle Mühe, bei den Kapitänen der im Hafen liegenden Schiffe Arbeit als »Kohlenzieher« zu erhalten. Umsonst. Nun blieb ich eben in Antwerpen, solange ich noch Geld hatte, und so kam ich eines Tages in ein Restaurant, wo ein feines, blondes, schlankes Mädchen als Kellnerin war. Mit diesem Mädchen trank ich zunächst eine Flasche Bier, dann Wein. Sie sagte: »Ich bin auch eine Deutsche.« Wir schlossen sofort Freundschaft und das Ende vom Liede war –. Der ganze Spaß kostete mich Mk. 5.–. Bald darauf kam ich wieder in ein Restaurant, wo eine bildschöne Holländerin als Kellnerin war. Sie drückte mich an ihr Herz und wir hatten ebenfalls einen urfidelen Abend. Nun ging mir allmählich das Geld aus und ich fuhr kurzer Hand nach Aachen zurück, wo ich total besoffen, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche ankam. Hier stellte ich mich freiwillig der Polizei und wurde 8 Tage im Gefängnis in Aachen festgehalten, bis mich ein Zivilkommissär vom Landgericht Stuttgart abholte. Im Stuttgarter Landgerichtsgefängnis wurde ich 14 Tage eingesperrt, dann durch den Stadtdirektionsarzt für geistig anormal (an Monomanie leidend) erklärt und auf freien Fuß gesetzt.

Es grüßt Sie hiermit freundlich in
aller Hochachtung Ihr ergebenster
Karl August Müller.«

Privatsekretär Nr. 4 war 32 Jahre alt, Kaufmann, aus wohlhabender Familie, Trinker, sehr jähzornig. Er hat mehrfach die eigenen Eltern tätlich angegriffen, Teller, Gläser, Fensterscheiben zerschlagen, Türen eingedrückt, so daß die Eltern wiederholt ihre Zuflucht zu der Polizei nehmen mußten. Er arbeitete einige Tage bei mir und kam dann in das Krankenhaus wegen geschlechtlicher Erkrankung. Seine Angehörigen gaben mir nach seiner Entlassung vom Spital die Mittel, ihn in eine Trinkerheilanstalt in der Schweiz zu bringen. Dort benahm er sich gleich bei seiner Ankunft derart ungebührlich, daß ich mit ihm zu einem Psychiater nach Zürich reiste. Dieser riet mir dringend, ihn in ein Sanatorium für Nervenkranke am Zürichersee zu verbringen, was mir denn auch, nachdem ich zuvor telegraphisch die Zustimmung seiner Angehörigen eingeholt hatte, mit großen Schwierigkeiten gelang.

Privatsekretär Nr. 5, Georg Schmälzle, 24 Jahre alt, aus Heilbronn gebürtig, wegen Betrugs und Unterschlagung vorbestraft, wurde mir von privater Seite als Schreiber »empfohlen«. Er ist der uneheliche Sohn einer Dirne, die wegen Kindsmords und anderer Vergehen längere Zeit im Zuchthaus war, Vater unbekannt. Sch. wurde von braven Leuten erzogen, geriet jedoch schon mit 15 Jahren in schlechte Gesellschaft und kam sehr früh ins Gefängnis. Er war, ehe er zu mir kam, einige Zeit in dem Fürsorgeheim gewesen, hatte dort Unterschlagungen gemacht, war dann nach Baden-Baden gereist, nahm dort eine Stelle als Ausläufer an, brannte mit Mk. 70 durch und bezahlte davon im Fürsorgeheim seine »Schulden«. Er hält sich für einen durchaus ehrenwerten Menschen. Als ich ihm einmal auseinandersetzte, daß ein Dieb kein ehrenwerter Mensch sei, war er tief beleidigt. »Das hängt doch ganz von den Umständen ab«, meinte er, »wenn ich, wie so mancher Andere, einem armen Teufel in der Herberge seine mühsam erfochtenen Stiefel nehmen würde, so wäre das eine gemeine Handlung, die zu begehen ich nie imstande wäre; wenn ich aber einem reichen Menschen etwas nehme und« – fügte er stolz hinzu – »ich sehe mir die Menschen vorher genau daraufhin an, so ist das in meinen Augen nichts unehrenhaftes.«

Er machte einen bescheidenen Eindruck, war auch fleißig und zuverlässig in der Arbeit. Nachdem er ca. 14 Tage bei mir beschäftigt gewesen war, sandte ich ihn zu einer Dame, um ihr eine Bestellung auszurichten. In großer Aufregung kehrte er zurück und bat mich, ihm doch nie wieder derartige Aufträge zu geben. Er erzählte dann, daß man ihn in einen Raum geführt habe, wo er warten sollte. Dort hätten auf dem Tisch Mk. 107.50 gelegen und mit diesen Mk. 107.50 habe man ihn ca. ¼ Stunde allein gelassen. Da habe der Versucher mächtig an ihm gearbeitet und ihm zugeraunt, daß er mit dieser großen Summe in die Schweiz reisen könnte oder nach Hamburg oder nach Paris. Schließlich habe doch das Gute in ihm gesiegt, zum ersten Male in seinem Leben. Als er durch die belebte Königsstraße zu meinem Amtszimmer zurückkehrte, da habe er sich so stolz gefühlt, wie ein siegreich aus der Schlacht heimkehrender Feldherr. Am folgenden Abend besuchte ich eine Versammlung der Heilsarmee und forderte Sch. auf, mich zu begleiten. Er tat es gerne und der schlichte Gottesdienst, die Worte erbarmender Jesuliebe, die er dort hörte, bewegten ihn so sehr, daß er beschloß, ein aktives Mitglied der Heilsarmee zu werden. Auf meine Anfrage im großen Männerheim in Hamburg wurde mir mitgeteilt, daß man bereit sei, den Sch. dort aufzunehmen. Ich schaffte ihm die nötige Kleidung an, erbettelte mir bei meinen verschiedenen Gönnern das Reisegeld und begleitete ihn nach Hamburg.

Anfangs ging alles gut. Sein erster Brief lautete:

»Meine liebe Schwester Henny!

Mir geht es sehr gut und ich bin wirklich glücklich und zufrieden. Wenn die Zeit so vergeht, dann mache ich Ihnen alle Ehre. Bald darf ich Rekrut, vielleicht bis Weihnachten Soldat werden. Der Kapitän nimmt sich meiner sehr freundlich an, ebenso unser Leutnant und die Helfer. Die anderen Leute sind eben Weltmenschen, mit denen ich nicht in Berührung zu kommen brauche oder doch selten. Lassen Sie bitte bald von sich hören.

Mit Heilsgrüß
Ihr dankbarster
Georg Schmälzle.«

Zum folgenden Weihnachtsfest schrieb er mir:

»Viele Dankesbezeugungen möchte ich mir erlauben Ihnen von ganzem Herzen zu übermitteln. Endlich ist der Tag gekommen, an welchem ich Ihnen zweifellos die erste Freude und Ehre bereite. Unser lieber Kapitän hat mich für würdig befunden, ein Kämpfer für unseren Heiland und für die Heilsarmee zu sein und mir deshalb das Rekrutenband mit den herzlichsten Segenswünschen überreicht. Ich freue mich, mit großen Hoffnungen in die Zukunft blicken zu können.«

Dann kamen kurze Briefe, in denen er klagt, daß das Weltliche ihn übermanne, daß er sich in eine Leutnantin verliebt habe, die seine Liebe nicht erwidere, daß der Heiland ihm keinen Trost spenden wolle, der Teufel wieder mächtig in ihm sei u. s. w.

Ende Januar erhielt ich dann vom Männerheim der Heilsarmee Hamburg folgendes Schreiben:

An Polizeiassistentin Schwester H. Arendt. –
Stuttgart.

»Hiermit gestatte ich mir Ihnen mitzuteilen, daß der mir von Ihnen zugeführte

Georg Schmälzle

heute Abend ¾7 Uhr nach Unterschlagung von Mk. 75.- aus dem Heim entflohen ist.

Ich habe die Sache sofort der hiesigen Kriminalpolizei übergeben und bitte Sie, wenn Sch. in Stuttgart auftauchen sollte, sofort der Hamburger Polizei Nachricht zukommen zu lassen.«

 

Sch. kam aber nicht nach Stuttgart. Von Lübeck, Kiel, Hannover und verschiedenen anderen Städten sandte er mir per Ansichtskarte »herzlichste Grüße«, bis er wieder vom »Arm der Gerechtigkeit« ergriffen wurde und mehrere Monate im Gefängnis zubringen mußte. Von dort kam ein Brief an mich, in dem er mich um Verzeihung bat, daß er meine Güte so schlecht belohnt habe. Sein Gott- und Selbstvertrauen sei dahin und er fühle sich tief unglücklich. Vor ganz kurzer Zeit aber, bald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, kam eine begeisterte Karte aus – Italien. »O, es ist herrlich, liebe Schwester Henny«, schreibt er, »so durch die Welt zu bummeln und dem Freiheitsdrang den Lauf zu lassen.« Er bat mich dann, ihm unter falschem Namen postlagernd ein Lebenszeichen von mir zu senden, da er an meinem Ergehen lebhaften Anteil nehme.

Armer Schmälzle! Er gehört auch zu denen, bei denen anscheinend alle Rettungsarbeit vergebens war, und doch lebt auch in ihm der göttliche Funke. Auch für ihn wird der Tag kommen, wo seine Seele aus den Banden der Finsternis sich endlich zum Licht ringen wird.


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