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9. Kapitel

Der Nachtisch war abserviert worden, man saß bei einer Tasse Kaffee und die Herren hatten sich eine Zigarre angezündet, da sagte Madame Adele: »Monsieur Joseph, Sie haben ja noch einen Brief an meinen Sohn, ich denke, Sie geben ihn jetzt.«

Alfred sah verwundert auf seine Mutter. »Was sind denn das für geheimnisvolle Dinge?«

Lotte blickte ängstlich auf die Mama, die gar nicht so wohl aussah wie sonst.

Joseph brachte den Brief. »Was? Von unserer Firma?« Alfred wollte ihn öffnen, aber seine Mutter hinderte ihn daran.

»Ueberlege einen Augenblick, mon petit, was dieser Brief wohl enthalten könnte?«

»Das weiß ich wirklich nicht,« sagte Alfred verwundert. Ein Jahr lang hatte er zwischen Chinesen und Malaien gesteckt und sich wacker mit ihnen herumgeschlagen. Mein Gott, ein Brief von der Firma, was konnte das viel bedeuten?

»Glaubst Du vielleicht auch, daß Dein Vater Dir in diesem Briefe gratuliert?«

Alfred lachte. »Mein Vater mir gratulieren? Nein, Mama, das glaube ich wirklich nicht! Das sähe ihm gar nicht ähnlich.«

»Ich bin der Meinung, der Brief wird etwas Unangenehmes enthalten, mon petit, und ich wollte nicht gern, daß es Dich zu sehr überrascht, deshalb mache ich Dich daraus aufmerksam.«

»Mein Gott, Mama, warum so umständlich! Das werden wir gleich wissen.«

Er öffnete das Kuvert und las. Er wurde blaß und las noch einmal. »Das ist wirklich! ... Na, ich will nichts weiter sagen!« Er reichte seiner Mutter den Brief. » Cette bête noire, cette bête d'or!« sprudelte sie.

Lotte erhielt den Brief und las:

Herrn Alfred Dungs,
Maatschappij Kufferath,
Maastricht (Holland).

Unser Herr Anton Dungs junior läßt Ihnen mitteilen, baß er sämtliche Forderungen an Sie aufgekauft hat. Sollten Sie es nicht vorziehen, dieserhalb mit unserem Herrn Anton Dungs junior bis zum 1. Juli in persönliche Unterhandlungen einzutreten, so wird sich unsere Firma erlauben, die Forderungen einzuklagen. In größter Hochachtung

Seiffert, Justizrat.

Lotte sah ängstlich von Alfred auf Madame Adele, die ihren Vorrat an französischen Kraftausdrücken, die sie gegen Anton Dungs junior schleuderte, noch nicht erschöpft hatte. Sie verstand nicht recht die Bedeutung dieses Briefes, und weshalb sich Madame Adele deshalb so erregte.

Alfred sagte zu den Kufferaths: »Auf Wunsch meiner Mutter habe ich Ihnen seinerzeit, als wir in Unterhandlungen eintraten, nicht mitgeteilt, daß ich in Unfrieden mit meinem Vater auseinander ging.«

Madame Adele fiel ein: »Es war doch auch ganz gleichgültig und eine reine Familienangelegenheit, nicht wahr? Eine Privatsache. Das Pflichtteil ist ihm auch heute noch sicher.«

Alfred sagte: »Mit Hilfe meiner Mutter und des Vicomte habe ich mir dann den nötigen Kredit für unser Geschäft auf Java verschafft. Doch darüber brauche ich Ihnen nichts zu sagen, das wissen Sie ja. Und nun lesen Sie bitte diesen Brief.«

Er reichte Josua Kufferath das Schreiben.

Der las es, unterdrückte nur mühsam einen Fluch und gab es an Joseph.

»Donnerwetter!« sagte Joseph und gab es an Jakob.

Jakob Kufferath pfiff bedeutungsvoll durch die Zähne und legte den Brief mitten auf den Tisch.

Die Männer sahen sich prüfend an.

»Danach bleibt mir nichts anderes übrig, als von der Sache zurückzutreten,« sagte Alfred, und die wenigen Worte kamen mühsam und stockend heraus.

Oh, mon petit, so weit sind wir noch lange nicht!« rief Madame Adele. »Das werden wir uns erst noch reiflich überlegen und vor allem die Juristen fragen. So eilig werfen wir die Flinte nicht ins Korn. Das könnte Anton Dungs so passen!«

»Das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten,« meinte Joseph und sah voller Bedauern auf Alfred, den er sehr gern hatte.

»Ein Kaufmann! Allen Respekt!« meinte Josua nicht ohne Bewunderung.

»Aber ich verstehe gar nicht, bitte erkläre mir doch!« wandte sich Lotte voller Sorge an Alfred.

Alfred erklärte ihr, was das zu bedeuten habe. Wenn nämlich sein Vater das wahr mache, was in dem Brief steht, und die Forderungen an ihn einklage, so sei sein kaufmännischer Kredit ruiniert und damit die ganze Sache auf Java, die ihn dies ganze Jahr gekostet habe.

»Daß ich daran nie gedacht habe!« sagte Alfred und blickte verzweifelt auf seine Mutter.

»Man ist doch kein Teufel, man ist doch ein Mensch! Wer denkt an so etwas? Wir hätten uns doch sonst gerade so gut dagegen sichern können, daß die Forderungen verkauft werden konnten. Auf das bißchen mehr Geld wäre es doch auch nicht angekommen!«

»Deshalb muß eben unter allen Umständen vermieden werden, daß es zur Klage kommt,« sagte Josua mit Nachdruck.

»Sie wollen mir allen Ernstes zumuten, ich soll mit meinem Vater unterhandeln?« fuhr Alfred auf. »Jetzt nach diesem ... diesem Streich?«

»Pardon, Herr Dungs, das war von mir sozusagen nur laut gedacht. Man überlegt, was man tun könnte, und da ist das für mich, wie Sie zugeben werden, immer noch das Nächstliegende.«

»O, es gibt noch ein Recht in Deutschland!« rief Madame Adele.

»Daran zweifeln wir gewiß nicht,« meinte Jakob. »Aber das Recht muß erstritten werden, und Anton Dungs kann die Entscheidung, wenn sie für ihn nicht günstig steht, immer wieder hinausschieben durch immer neue Einwendungen. Oder er appelliert an eine höhere Instanz. Das kann sich bei solchen Summen jahrelang hinziehen. Er kann es aushalten, ihm macht es nichts, aber wir? ...«

Alle schwiegen und sahen aneinander vorbei. Wenn Anton Dungs das wahr macht, und Alfred Dungs nicht rechtzeitig nachgibt, dann ist es aus, dachten die Kufferaths. Sie waren selbst viel zu gewiegte Geschäftsleute, um auch nur einen Augenblick darüber im unklaren zu sein. Auch Alfred Dungs mußte das einsehen, wenn er erst ruhiger war.

Man machte allerhand Vorschläge herüber, hinüber, aber es geschah eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen. Im Ernst glaubte niemand daran, auch Alfred nicht.

Josua erhob sich. »Das ist wirklich ein Streich!« sagte er. » A la bonheur! An dem haben wir alle zu kauen. Verflucht noch eins!«

»So ein Fuchs!« polterte Madame Adele.

Alfred lachte grimmig. »Hier heißt es, zu Kreuze kriechen oder ...« Er nahm den Brief, der immer noch mitten auf dem Tisch lag, zerriß ihn und schleuderte ihn in die Ecke.

Joseph sprang sofort hin und sammelte die Fetzen. »Ich verdenke Ihnen das wahrhaftig nicht, Dungs, aber schließlich ist das Skriptum doch zu wertvoll, um einfach fortgekehrt zu werden. Ich werde es wieder zusammenleimen, denn ich denke, wir finden doch noch einen Ausweg.«

Auch Alfred erhob sich nun und meinte, jetzt habe wohl jeder das Bedürfnis, sich zurückzuziehen oder ein wenig zu sammeln.

Man nickte, und die Kufferaths waren froh, nicht länger hier sitzen zu müssen.

»Wir haben ja auch Zeit genug, um alles in Muße zu überlegen, es eilt ja nicht,« meinte Madame Adele, und ging mit den Kufferaths, denn sie merkte ihrem Sohne an, daß er mit Lotte allein zu sein wünschte, was ihm gewiß nicht zu verdenken war.

»Gehen wir hinüber zu Dir?« fragte Alfred.

Lotte nickte, und die beiden begaben sich in das Haus nebenan, wo sie ungestört waren.

Lotte setzte sich an ein Fenster, und Alfred nahm ihr gegenüber Platz. Wie anders war heute alles als gestern!

Nun brach es aus Alfred hervor. Fast ein Jahr war er fortgewesen, viel länger, als er selbst angenommen hatte. Aber wenn er sich schon einen neuen Lebensweg suchte, dann sollte er auch gut sein, daß sie beide sicher auf ihm gehen konnten. Gerade auch die Rücksicht auf Lotte hatte ihn so lange draußen festgehalten. Es ging ja um sein Lebensglück, er riß Lotte ja ohnehin aus ihrem Lebenskreis und allen gewohnten Verhältnissen. Als Ersatz mußte er ihr dann doch wenigstens eine ganz sichere, unerschütterliche Existenz bieten. Mit aller Kraft hatte er ausgeholten, was ihm nicht immer leicht wurde, denn von Lotte erhielt er ja noch spärlicher Nachrichten als sie von ihm. Wie manches Mal war er im Begriff, abzureisen, indem er sich einredete, er habe ja längst alles getan, was man nur irgend von ihm erwarten konnte. Aber immer wieder hielt er an sich und blieb, denn bald erschien ihm hier eine Frage doch nicht geklärt genug, bald sah er, daß er durch längeres Bleiben dort noch einen Vorteil erringen konnte. Und so war er wirklich erst abgereist, als er sich mit gutem Gewissen sagen konnte, daß nicht nur das Geschäft gut sei, das er abgeschlossen, sondern auch sicher und solide, soweit nur ein solches Geschäft das irgend sein kann. Guten Mutes konnte er nach Deutschland zurückkehren, guten Mutes vor die Kufferaths treten und Lotte eine Zukunft bieten ... Eine Zeile von Anton Dungs genügte, und es war mit all den schönen Hoffnungen vorbei.

Lotte unterbrach ihn nicht, denn sie sah ja, wie es ihn drängte, sein Herz auszuschütten, und es war doch ein Trost, daß er gerade ihr gegenüber das Bedürfnis dazu fühlte. O, ihre Ahnungen gestern! Wie seltsam das war!

Alfred sprach und sprach, und nun merkte Lotte, daß er um eine bestimmte Sache sich herumsprach, ihr mit all den vielen Worten aus dem Wege gehen wollte.

Sie nahm seine Hand. »Fred, Du glaubst doch nicht, daß ich Dich um etwas bitten würde, wovon ich weiß, daß es Dir gegen die Ehre geht?«

Er sah sie unruhig an.

»Wenn Du sagst, Du kannst jetzt nicht nachgeben und Dich mit Deinem Vater aussprechen, so glaube ich Dir doch und werde Dich gewiß nicht bitten, es dennoch zu versuchen.«

»Meine tapfere Lotte!«

Und nun erleichterte Lotte ihr Herz. Seit dem Tage, da sie mit ihrer Schwester Ise gereist war, kam sie von dem Vorwurf gegen sich selbst nicht los, unweiblich und unschicklich gehandelt zu haben. Hatte sie sich denn in Wahrheit nicht Alfred aufgedrängt? Hatte Ise nicht ganz recht getan, wenn sie ihr deshalb Vorhaltungen machte? Und nun rächte sich das. Im Grunde war doch sie schuld, daß sich Alfred seinem Vater entfremdet hatte.

»Er wollte mich mit Helene Momm verheiraten!« Alfred lachte spöttisch. »Glaubst Du, dazu hätte ich mich hergegeben? Dazu bin ich mir zu gut, und Helene Momm ist mir für solchen Schacher zu schade. Und glaubst Du wirklich, es wäre nicht auch ohne Dich zu dem Krach gekommen? Ich hätte mich für dies Geschäft bedankt, auch wenn ich Dich nie im Leben gesehen hätte.«

»Ich bitte Dich, Fred, sprich nicht so.«

»Es ist doch aber so!«

»Nun ja, aber Ise hat mir geschrieben, Helene Momm habe sich mit Deinem Bruder verlobt.«

»Was?«

»Ise würde es gewiß nicht schreiben, wenn es nicht wahr wäre. Dafür ist sie viel zu vorsichtig.«

»Mit Anton?«

Lotte nickte.

»Und das hat man mir nicht einmal mitgeteilt? Das ist ja reizend!« Er ging erregt durch das Zimmer.

Lotte sprach weiter. Nun habe er in Java drüben eine Tätigkeit gefunden, die ihm zusage, an der er Freude habe. Ohne sie könnte ihm niemand die Freude daran nehmen, auch Anton Dungs nicht. Wenn er allein wäre, könne er ja einfach als Angestellter der Kufferaths wieder hinübergehen und würde sicher leicht sein gutes Brot finden.

Alfred stand vor ihr und sah sie sprachlos an. Was hatte sie da eben gesagt? Er als Angestellter der Kufferaths? Er mußte lachen. Er, ein Dungs? O nein, das gab es denn doch nicht!

Lotte ließ sich nicht stören und fuhr fort in ihren Selbstvorwürfen.

»Aber, Kind,« unterbrach sie Alfred, »so nimm doch Vernunft an. Du erzählst eben, daß mein Bruder sich mit Helene Momm verlobt hat. Ich wünsche ihnen beiden alles Gute. Es wird auch bei Anton etwas Besseres sein, das ihn seine Abneigung gegen die Ehe überwinden ließ, als geschäftliche Erwägungen, wie sie mein Vater liebt. Nun ist mir doch aber Helene Momm, wenn ich mich so ausdrücken soll, nicht mehr im Wege, und wenn mir mein Vater trotzdem diesen Brief schrieb, so mußt Du doch einsehen, daß Du wahrhaftig nichts mehr mit dem ganzen Konflikt zu tun hast. Es handelt sich bei ihm doch immer nur darum, daß ich nicht tue, was er will, und um nichts anderes. Er will, ich soll parieren unter allen Umständen, ich tue das nicht, das ist der Kern der Sache. Daß ich außerdem Lotte von Karst liebhabe, das hat er längst vergessen, wenn er es je ernst genommen hat. Du brauchst Dir also wirklich keine Vorwürfe zu machen.«

Lotte mußte zugeben, daß Alfred in diesem Punkt nicht unrecht hatte, und das war immerhin angenehm.

Nach einer Weile sagte Lotte: »Ich habe Dir gesagt, daß ich Dich nicht bitte, etwas zu tun, was Dir widerstrebt, also nimmst Du mir eine Frage gewiß nicht übel. Was versteht denn wohl Dein Vater unter persönlichen Verhandlungen, was denkt er sich dabei, und was bezweckt er Deiner Meinung nach damit?«

»Das ist sehr einfach,« antwortete Alfred, »er denkt, wenn ich erst wieder bei ihm bin, wird er mich schon klein kriegen, und gelingt es ihm nicht, so wird er mir zeigen, daß es ihm mit seiner Drohung ernst ist, und daß ich dann nicht nachgebe, das kann er sich einfach nicht vorstellen, denn angenehm ist es natürlich auch für ihn nicht, schmutzige Wäsche vor der Oeffentlichkeit zu waschen, und es ist seine schmutzige Wäsche, nicht meine. Die öffentliche Meinung wird vermutlich zu mir stehen. Aber was nützt mir das? Mit meinem Kredit ist es dann trotzdem aus.«

»Also muß das wirklich unter allen Umständen vermieden werden,« sagte Lotte energisch.

Madame Adele trat ins Zimmer, entschuldigte sich, daß sie störe, aber es sei zu wichtig, was ihr da eben eingefallen wäre. »Wir werden die Forderungen eben an Herrn Anton Dungs junior bezahlen, dann hat er das Nachsehen.«

»Du sagst das so einfach, Mama. Es handelt sich doch nicht um einige tausend Mark.«

»Ich werde uns neuen Kredit verschaffen, der Vicomte, auch die anderen Freunde helfen, es wird schon gehen.«

»Das ist möglich, das bezweifle ich durchaus nicht. Aber Du vergißt eins: die Zinsen. Das wüchse mir über den Kopf, das kann ich unmöglich auf die Dauer zusammenbringen. Und dann? Dann ist der Zusammenbruch erst recht schlimm. Auch trifft er dann nicht nur mich, sondern auch Dich. Nein, das geht wirklich nicht. Ich bin doch kein Spieler, Mama, und auch Du selbst bist ein viel zu guter Kaufmann, um nicht einzusehen, daß das nicht geht.«

»Aber, mon petit, es bleibt uns doch gar nichts anderes übrig, wir müssen es wenigstens versuchen, wenn Herr Anton Dungs am Ende nicht doch triumphieren soll.«

»Es wird uns schon noch etwas Besseres und weniger Gefährliches einfallen,« tröstete Alfred. »Du sagtest ja vorhin selbst, daß wir noch Zeit haben.«

Madame Adele sah von einem zum andern und fragte vorwurfsvoll: »Habt Ihr Euch gezankt?«

Alfred und Lotte lächelten. Nein, das hatten sie gewiß nicht getan.

»Warum macht Ihr denn solche Gesichter?«

»Aber, Mama,« meinte Lotte, »dazu ist die Situation doch wirklich ernst genug.«

»Dazu ist sie nie ernst genug, daß man sich die gute Laune verderben läßt!« behauptete Madame Adele mit Leidenschaft.

»Du tust es ja selbst, Mama,« sagte Alfred.

»Ich bin alt, Ihr aber seid jung, für Euch schickt sich das einfach nicht.«

»Also, Lotte, zeigen wir Mama ein vergnügteres Gesicht.«

»Nicht mir, sondern Euch, Euch selbst!« sagte Madame Adele.

Die gute Mama, wie besorgt sie war!

»Wenn ich wüßte, daß es einen Zweck hätte, führe ich selbst zu diesem bête. Es wäre mir schon eine rechte Erleichterung, ihm einmal gründlich meine Meinung zu sagen. Aber Euch würde es nur schaden, fürchte ich.«

Alfred lächelte. »Das fürchte ich auch, Mama.«

»Aber man kann doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis er die Schlinge zuzieht. So gottergeben bin ich nicht, das halte ich nicht aus!«

»Sollst Du auch gar nicht,« erwiderte Alfred. »Ich denke, wir fahren vor allem einmal nach Berlin und konsultieren einige Juristen.«

»Dann wollen wir gleich fahren,« schlug die Mutter vor. »Untätig hier sitzen, das ist unerträglich.«

Alfred trat zu seiner Mutter und küßte sie. »Nicht gar zu eilig, Mama. Erst muß ich mich doch noch ein wenig mit den Kufferaths auseinandersetzen. Bleiben wir noch bis morgen oder übermorgen.«

»Die Kufferaths tun, was ich will,« behauptete Madame Adele.

»Das ist möglich, das glaube ich Dir, Mama. Aber das sollen sie gar nicht, sie sollen auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein, das ist ihre Pflicht. Aber ich kann ihnen zeigen, daß es vorläufig auch ihr eigener Vorteil ist, wenn sie noch eine Weile warten, und darum allein kann es sich jetzt handeln.«

»Ich fahre dann mit Euch?« fragte Lotte.

»Das ist doch selbstverständlich, ma petite

»Ich werde dann zu meinem Vater gehen,« sagte Lotte leise.

»Muß das wirklich sein, Lotte?«

»Ja, Alfred, das muß sein.«

»Aber Du sagst ihm doch nichts, daß die Dinge nicht zum besten stehen? Wir brauchen ihn doch nicht damit zu beunruhigen, nicht wahr?«

Lotte lächelte trüb. »Nein, Mama, das ist wirklich nicht nötig.«

»So ist es recht, petite, und nun lasse ich Euch wieder allein, wenn Ihr mir versprecht, nicht länger so unglückliche Gesichter zu machen. Sonst bleibe ich.«

Lotte und Alfred versprachen es ihr, und so verließ die Mutter sie wieder, nachdem sie ihnen noch einige gute Ratschläge gegeben hatte, die darauf hinausliefen, sich ihres Lebens und Zusammenseins zu freuen, denn das sei trotz allem die Hauptsache.

*

Eine halbe Woche später stand Lotte von Karst, diesmal aber ohne ihre Schwester, wieder auf dem Balkon jenes altmodischen Hotels, wo sie vor einem Jahre Ausschau gehalten nach Alfred Dungs.

Es roch nach Kohlen wie damals, und der Wind wirbelte den Staub in die Luft. Dort drüben lag wie damals das kuriose Haus der alten Frau Dungs. Wäre sie am Leben geblieben, wäre es gewiß nicht so weit gekommen, die alte Frau Dungs hätte schon eine Lösung ohne Katastrophen gefunden, worauf es jetzt hinauslief.

Lotte mußte immer wieder nach dem kleinen, kuriosen Haus blicken, als suche sie dort Hilfe und Trost. Aber das war ja Torheit. Die alte Frau Dungs war tot und konnte niemand mehr helfen, auch Lotte nicht.

Wie sie so allein über der engen öden Straße auf dem Balkon stand, da kam Lotte eigentlich erst so recht zum Bewußtsein, was sie sich vorgenommen hatte, und sie wurde ganz mutlos. Wie konnte sie auch nur einen Augenblick im Ernst glauben, ihr würde es gelingen, Anton Dungs umzustimmen? Es war doch wirklich der reine Wahnwitz!

Lotte trat in das Zimmer zurück. Heute sang hier kein Kanarienvogel und keine Schwester war da, die ihr zwar Vorwürfe machen würde, aber doch mit ihr fühlen. Ganz allein war sie und ganz allein auf sich angewiesen. Weder Alfred noch seine Mutter wußten etwas von ihrem Vorsatz.

Ganz plötzlich in Maastricht war ihr dieser Gedanke gekommen und hatte sie nicht mehr losgelassen. Aber sie durfte natürlich nicht davon sprechen, denn Alfred würde nie zugelassen haben, daß sie hierher fuhr.

Recht unglücklich und verzagt saß sie auf dem alten Sofa und traute sich einfach nicht, das auszuführen, was sie sich vorgenommen hatte. Hier in dem alten Hotelzimmer, allein und verlassen von allen Menschen, inmitten dieser fremden Stadt, die so gar nichts Freundliches und für ihre Pläne Aufmunterndes hatte, – nein, es war wirklich ein unsinniger Einfall, der sie hierher getrieben.

Aber sollte sie nun wirklich bei Nacht und Nebel wieder fortfahren, wie sie gekommen war, ohne auch nur einen Versuch gemacht zu haben, das auszuführen, was sie sich vorgenommen hatte?

Lotte schlug die Hände vor das Gesicht und konnte sich zu keinem Entschluß aufraffen ... Da saß nun in derselben Stadt ihre Schwester und ihr Schwager, und auch sie durften nicht wissen, daß sie hier war. Was sie vorhatte, das war ja noch viel schlimmer als unweiblich und unschicklich in ihren Augen, das war einfach geistig anormal. Sie hörte ordentlich, wie ihr Schwager das sagen würde. Heutzutage wurde mit einem solchen Wort ja alles abgetan, was man nicht gleich verstand.

Lotte von Karst erhob sich wieder. Was wollte sie doch eigentlich? Ach so, ja, vor allem wollte sie mit Helene Momm sprechen. Sie war ja auch ein junges Mädchen, sie war ja auch mit einem Dungs verlobt, sie würde ihr vielleicht helfen können.

Lotte von Karst wollte schon auf den Knopf der elektrischen Klingel drücken, da fiel ihr gerade noch ein, draußen war ja kein Offiziersbursche, der ihre Befehle ausführen würde und sie bei Helene Momm anmelden.

Und wieder ging Lotte unentschlossen durch das Zimmer. Einen Hoteldiener schicken? Was sich der wohl denken würde? Was das dann wohl für ein Geschwätz gäbe? Und wenn nun Helene Momm gar nicht hier war? Sie konnte doch verreist sein, was dann? Oder sie konnte sie gar nicht annehmen. Was wußte sie denn von Lotte von Karst? Sie kannte wohl nicht einmal den Namen. Aber vielleicht war das ein Glück, dem sie es verdankte, wenn sie überhaupt angenommen würde?

Lotte machte sich zum Ausgehen fertig. So ging das nicht weiter. Die Qual solcher Fragen war schlimmer als alles andere. Und es handelte sich doch einfach um ihr Glück. Das würde doch Helene Momm verstehen können.

Sie trat auf die Straße. ›Ich habe mir einen Führer gekauft und das Gelände studiert, Frau Oberst,‹ klang es ihr plötzlich mit ihrer eigenen Stimme in den Ohren. Hatte sie damals, vor einem Jahr, nicht so zu ihrer Schwester gesprochen? Nun, es kam ihr wenigstens heute zugute, so daß sie ohne Schwierigkeiten das Haus fand, wo Helene Momm wohnte, die Tochter von Hugo Momm.

Ein Dienstmädchen öffnete und führte Lotte in ein einfaches Empfangszimmer. Also ist sie wenigstens zu Hause, dachte Lotte und ging unruhig auf und ab. Den Tisch, der mit einer grünen Plüschdecke bedeckt war, die Stühle, die mit grünem Plüsch überzogen waren, die wenigen Stiche sentimentalen Inhalts an den Wänden, die grüne Tapete mit dem Goldmuster, das alles sah sie ganz genau, aber wie durch einen Schleier.

Helene Momm erschien. Sie sah blaß aus und bat Lotte, Platz zu nehmen, indem sie hinzusetzte: »Ich glaube, Sie zu kennen, Sie waren doch vor einem Jahre hier, nicht wahr?«

Lotte nickte. Noch brachte sie kein Wort über die Lippen, die leise bebten. Wie eine Bettlerin kam sie sich vor. Helene Momm sah das und wurde sehr verlegen.

»Entschuldigen Sie bitte,« sagte Lotte leise, und sie griff zu ihrem Taschentuch und fuhr damit an die Augen, denn sie wollte und durfte jetzt nicht weinen.

Helene Momm wurde ganz rot und fragte plötzlich: »Wie geht es Alfred?«

Und nun ging es doch nicht anders, Lotte saß auf ihrem Stuhl und weinte, weinte leise und hilflos in ihr Taschentuch.

Helene Momm rang vor Verlegenheit und Mitgefühl die Hände.

Lotte fuhr sich energisch über die Augen. »Zu dumm, nicht wahr?«

Helene Momm lächelte verlegen.

Jetzt hatte sich Lotte wieder einigermaßen in der Gewalt und sprach von Alfred, und wie es ihm ging.

»Darf ich ganz offen sein?« fragte sie.

Helene Momm nickte.

Nun sprach Lotte auch von Anton Dungs junior, und wie er seinen Sohn Alfred augenscheinlich ruinieren wolle, und was er zu diesem Zweck unternommen habe.

Helene Momm hörte aufmerksam zu. Davon wußte sie ja gar nichts, davon hatte ihr Bräutigam kein Wort zu ihr gesagt. Sie teilte das Lotte mit.

»Dann weiß es Ihr Bräutigam wahrscheinlich auch nicht,« sagte Lotte bitter, »da hat er es ihm wohl gar nicht gesagt.«

Helene Momm wurde unruhig und ängstlich und sagte Lotte, daß Anton Dungs junior schon die ganze Zeit über fürchterlich verstimmt sei. Es sei kaum noch ein Auskommen mit ihm.

»Gönnt er Ihnen vielleicht auch Ihre Verlobung nicht?« fragte Lotte herb und bitter.

O nein, das war es nicht, damit war er durchaus einverstanden, setzte Helene Momm mit Eifer auseinander. Aber Anton wolle nun auch seinen selbständigen Wirkungskreis innerhalb des ganzen, großen Werkes haben, und das wolle seinem Vater nicht in den Kopf. So gebe es fast jeden Tag Zank und Streit, und ihr Vater dürfe sich nicht einmal hineinmischen, denn das vertrage Anton Dungs junior schon gar nicht. Es sei einfach schrecklich. Natürlich könne ihr Bräutigam jederzeit bei ihrem Vater eintreten, aber das ginge doch nicht. Dann gäbe es offenen Kampf zwischen den beiden Familien, was keiner zum Segen gereichen könne. Anton Dungs junior wisse natürlich genau, daß sein Aeltester schon deshalb nichts gemeinsam mit Hugo Momm unternehmen würde, und deshalb sei er auch so unnachgiebig.

»Will er denn alle Welt sich zum Sklaven machen?« rief Lotte empört, und Helene Momm wurde ganz blaß vor Schreck.

»Sprechen wir bitte leiser,« bat Helene Momm. »Es ist nicht nötig, daß uns jemand hört.«

Lotte fuhr sich mechanisch nach dem Halse. Was für eine Atmosphäre war das, in der die Menschen hier lebten, eng, stickig, rußig, und Anton Dungs thronte darüber wie ein Moloch, der alles fraß, was ihm nicht gehorchte und sich gegen seinen Willen auflehnte. War er denn ein Gott? Was bildete er sich eigentlich ein?

Helene Momm wurde rot und blaß vor Aufregung über Lottes Zorn. So etwas sagte man doch nicht, man traute sich kaum, Aehnliches zu denken. Vergaß sie denn ganz, wo sie war, daß sie im Reiche Anton Dungs' war?

»Ich werde ihm das ins Gesicht sagen!« rief Lotte außer sich. »Einer muß es ihm einmal sagen!«

Helene Momm hob bittend und beschwörend die Hände.

Lotte brach ab und blickte verzweifelt und stumm vor sich hin.

Helene Momm beugte sich vor und nahm ihre beiden Hände in die ihren. Mehr konnte sie nicht tun. Das war eine Braut für Alfred Dungs, das war die rechte, so tapfer und mutig. Ach wie klein kam sich Helene Momm in diesem Augenblick vor, und wie gerne hätte sie Alfred geholfen.

»Ich werde mit Anton sprechen, er kommt zu Tisch zu uns,« sagte Helene Momm. »Ich bitte Sie, unternehmen Sie nichts, ehe Sie mit ihm gesprochen haben. Ich werde ihn bitten, gleich nach Tisch Sie zu besuchen. Ich bitte Sie, denken Sie daran, daß nichts Gutes dabei herauskommt, wenn Sie den alten Dungs reizen, und Sie wollen doch etwas Gutes erreichen für sich ... und für Ihren Bräutigam!«

Lotte nickte stumm. Sie war mit ihrer Kraft zu Ende.

Helene Momm sah sie an, und dann ging sie schnell hinaus und sagte, sie werde sofort wieder hier sein.

Sie kam mit einem Tablett zurück, auf dem sich ein Glas Wein und ein Butterbrot befanden.

»Ich bitte Sie, essen Sie einen Bissen und trinken Sie einen Schluck,« bat Helene Momm, und Lotte tat es. Ihr wurde wirklich etwas wohler.

»Und, nicht wahr, heute abend kommen Sie zu mir? Ich bin ganz allein. Mein Vater ist verreist. Ich bitte Sie darum, Sie müssen mir schon den Gefallen tun.«

Lotte nickte mechanisch. Sie war so voll von ihrem Vorsatz, unter allen Umständen Anton Dungs junior zu sprechen, daß es ihr gar nicht weiter auffiel, wie außerordentlich nett Helene Momm zu ihr war, trotzdem sie sich doch gar nicht näher kannten.

Schon kurz nach zwei Uhr erschien Helenens Bräutigam bei Lotte.

»Nun wollen wir einmal ganz ruhig und verständig miteinander sprechen,« sagte Anton, nachdem er Lotte kräftig die Hand geschüttelt hatte. »Wir sind ja sozusagen verwandt und haben alle doch nur das eine Interesse, dasselbe Interesse.«

Er geht mit mir um wie mit einer Kranken, dachte Lotte, ich muß auf seine Braut einen recht merkwürdigen Eindruck gemacht haben.

»Sie halten mich wohl für geistig anormal?« fragte Lotte und hatte Mühe, nicht zu lachen, worüber sie heftig erschrak, denn das war ja wirklich nicht geistig normal.

Anton sah sie einen Augenblick verwundert an, schüttelte leise den Kopf und meinte vorwurfsvoll: »Wie können Sie so etwas denken? Ich habe selbstverständlich bisher keine Ahnung davon gehabt, was mein Vater Alfred schreiben ließ, und ich mißbillige das durchaus wie Sie. Ich werde heute noch mit meinem Vater darüber reden, darauf dürfen Sie sich verlassen, und auch mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg halten.«

Lotte lächelte schwach. »Ich danke Ihnen, Herr Dungs, ich danke Ihnen herzlich. Was müssen Sie von mir halten?«

Anton versicherte eifrig, daß er ihr Verhalten durchaus verstehe und billige, ja bewundere, und daß er sich nur freuen könne, daß Alfred so ein Mädchen gefunden habe.

Lotte lächelte wieder. Ihr war so seltsam zumute. Sie hörte alles nur wie durch einen Vorhang, wie aus einer Ferne. Sie erschrak. Sie würde doch nicht krank werden, doch jetzt nicht?

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Anton besorgt.

»O durchaus!« antwortete Lotte.

»Erzählen Sie mit doch bitte von Alfred. Ich habe so lange nichts von ihm gehört. Eine Karte hat er mir einmal aus Java geschickt, dann nichts mehr. Ich denke, er wird sehr viel Arbeit gehabt haben dort drüben?«

Lotte nickte und erzählte. Ach, und das tat sehr wohl, und Anton hörte so hübsch ruhig zu. Darüber wurde sie selbst ganz ruhig.

»Ich werde versuchen, meinem Vater sein Vorhaben auszureden,« sagte Anton nach einer Weile.

»Wie kann man nur gegen sein eigen Fleisch und Blut so hart und ungerecht sein,« sagte Lotte heftig.

Anton versuchte ihr das verständlich zu machen, aber Lotte schüttelte immer nur den Kopf. »Wenn jemand in Not ist, hilft man ihm, das tut selbst ein Feind. Aber ein Vater stößt den eigenen Sohn doch nicht aus bloßem Eigensinn ins Elend.«

»Ich bitte Sie, er nimmt doch gar nicht an, daß es so weit kommen wird!«

»Wer gibt ihm ein Recht, das nicht anzunehmen? Alfred hat doch bisher so gehandelt, daß sein Vater wissen muß, er kann jetzt nicht nachgeben. Das wäre doch einfach ehrlos!«

»Aber es handelt sich doch um Vater und Sohn und nicht um einander fremde Menschen. Da mögen Sie von ehrlos reden, aber das geht in diesem Falle doch nicht.«

»Er hat sich seinem Sohne gegenüber schlimmer benommen als ein Fremder,« beharrte Lotte und war davon nicht abzubringen. »Wenn ihm das einer einmal sagt, muß er es doch selbst zugeben, das ist doch klar.«

Damit war Lotte wieder bei dem Punkt angelangt, auf den es ihr ankam, und Anton hatte alle Mühe, ihr das Versprechen abzuringen, daß sie mit ihren Versuchen, Anton Dungs junior zu sprechen, wartete, bis er mit ihm geredet hatte, daß sie wenigstens nicht schon heute etwas derartiges versuchte.

»Ja, ich will heute noch warten, das verspreche ich Ihnen, aber länger kann ich wirklich nicht warten; und zwar einfach deshalb nicht, weil ich nicht weiß, ob ich nicht übermorgen schon krank bin und das Bett hüten muß. Das alles hat mich ganz elend gemacht, verstehen Sie das?«

Anton nickte voller Teilnahme. »Ich bitte Sie, auch um Alfreds willen, schonen Sie sich.«

Lotte nickte mechanisch, aber achtete offenbar kaum noch auf das, was er sagte. Wie geistesabwesend blickte sie vor sich hin.

»Sie sind ja heute abend bei meiner Braut. Vielleicht komme ich noch auf einen Sprung vorbei?«

»Bitte, tun Sie das, Herr Dungs.«

Lotte erhob sich, und auch Anton stand auf.

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Dungs.«

Anton wollte schon zur Tür hinaus, da hielt sie ihn nochmals zurück durch die Frage: »Jetzt können Sie es mir ja sagen, Herr Dungs, nicht wahr, es gehört sich nicht, wie ich mich benehme?«

Anton redete ihr gut zu.

»Was würden Sie sagen, wenn Ihre Braut so etwas täte?«

Anton behauptete, daß er sich nur freuen würde, wenn seine Braut in allen Lagen so für ihn einträte.

»Aber ich versichere Ihnen, Herr Dungs, meine Schwestern, meine Schwäger und auch mein Vater denken nicht so wie Sie.«

Anton behauptete, darin täusche sie sich sicherlich.

Lotte lächelte matt. »Bemühen Sie sich nicht, ich weiß es besser, Herr Dungs. Aber das schadet nun nichts mehr, das ist jetzt Nebensache, nicht wahr? Die Hauptsache ist, daß Alfred glücklich wird, und daß er nicht seine Arbeit aufgeben muß, für die er schon ein ganzes Jahr lang seine Kraft ausgegeben hat, und die ihm lieb ist.«

Anton blieb noch eine Weile, bis es ihm so vorkam, als ob Lotte nun wirklich ruhiger geworden sei, und dann begab er sich sofort in die Fabrik. Sein Vater richtete ja auch dieses Mädchen zugrunde, wenn das nicht bald ein Ende nahm mit seinem Starrsinn. Dazu hatte er doch schon gar kein Recht.

Am Abend fand sich Lotte rechtzeitig bei Helene Momm ein, die schon in Sorge war, denn ihr Bräutigam hatte ihr aus der Fabrik telephoniert und gemeint, es stehe seiner Meinung nach nicht gut um Lotte, und am besten wäre es, sie brächte es zustande, daß Lotte die Nacht über bei ihr bliebe und nicht wieder in das Hotel zurückkehre, denn er fürchte, sie sei krank, alle die Aufregungen der ganzen Zeit hätten sie gar zu sehr mitgenommen.

Wenigstens hat sie einen ganz guten Appetit, dachte Helene Momm, als sie mit Lotte bei Tisch saß, und wurde etwas ruhiger.

Nach Tisch nahm Helene Momm sie mit in ihr Zimmer.

»Nicht wahr, Sie bleiben noch recht lange bei mir?« sagte Helene Momm. »Ich freue mich so, mit Ihnen noch recht lange beisammen zu sein.«

Lotte nickte. Natürlich bleibe ich hier, bis Anton kommt, dachte Lotte, das hat er mir doch versprochen. Ich muß doch wissen, was sein Vater gesagt hat.

Helene Momm, der es in Gegenwart Lottes, die vor sich hinsah und nichts sprach, wieder ein wenig unheimlich zumute wurde, begann von sich zu erzählen, was ihr gewiß nicht leicht wurde.

Zuerst erzählte sie von ihrer Mutter und deren schwerer Krankheit, bis ihr plötzlich zum Bewußtsein kam, daß das doch wohl nicht gerade ein beruhigendes Thema für sie und ihren Besuch war. Sie schwieg betroffen.

Lotte sah auf und sagte: »Ich habe eigentlich gar keine Mutter gehabt. Sie starb, als ich noch ganz klein war. Meine Schwester Ise behauptet immer, deshalb fehle es mir auch an der rechten Kinderstube, und deshalb machte ich solch dumme Streiche.«

Lotte schwieg und lauschte. Es dauerte lange, bis Anton kam. Das war kein gutes Zeichen.

Helene Momm erzählte von Alfred Dungs, den sie ja von klein auf kannte, das würde Lotte von Karst doch gewiß interessieren. Was er für ein wilder Junge gewesen sei, und wie viel dumme Streiche er ausgeheckt habe, die ihm aber nicht sonderlich übelgenommen wurden, da er ein Dungs war, ein Sohn von Anton Dungs junior.

Lotte hörte lächelnd zu und sagte: »Das glaube ich, daß er ein wilder Bub war, das sieht ihm ganz ähnlich.«

Helene Momm erzählte, was sie nur von Alfred Dungs wußte. Ach, Lotte von Karst wußte ja glücklicherweise nicht, wie schwer ihr das wurde, und wie das weh tat, daß gerade sie seiner Braut davon sprechen mußte.

Es schellte. Lotte sprang auf. »Das ist er!«

»Wer?« fragte Helene Momm erschrocken.

»Anton. Er kommt von seinem Vater, er wollte mit ihm über Alfred reden, er versprach mir, dann noch hierher zu kommen.«

Es war Anton, der eilig ins Zimmer trat, seine Braut flüchtig begrüßte und einen besorgten Blick auf Lotte warf.

»Sie brauchen nicht so ängstlich dreinzusehen, Herr Dungs, ich habe es gar nicht anders erwartet, als daß Sie bei Herrn Dungs nichts erreichen würden.« Lotte hatte wieder dies leichte, fatale Lächeln im Gesicht, das Anton so beunruhigte.

»Auf den ersten Hieb fällt keine Eiche,« erwiderte Anton und lachte. »Aber wir werden ihn schon klein kriegen.«

»Hat er Ihnen wenigstens gesagt, was er sich bei den persönlichen Unterhandlungen denkt?« fragte Lotte.

»Aber gewiß. Setzen wir uns doch.«

Alle drei setzten sich.

»Es ist genau, wie ich Ihnen schon sagte, er nimmt ganz bestimmt an, daß Alfred es nicht bis zum Alleräußersten kommen lassen wird.«

Lotte besaß in diesem Augenblick ganz ungewöhnlich empfindliche Sinne für alle Nuancen der Worte Antons. So fiel ihr denn sofort auf, daß er vom Alleräußersten gesprochen hatte, während bisher doch nur vom äußersten die Rede gewesen war. Das mußte einen besonderen Grund haben, und sie fragte: »Was ist denn dann das Aeußerste, nach dem noch das Alleräußerste kommt?«

»So dürfen Sie meine Worte aber wirklich nicht auf die Goldwage legen. Dabei habe ich mir wirklich nichts Besonderes gedacht.«

Lotte lächelte. »O ja, Herr Dungs, dabei haben Sie sich etwas ganz Bestimmtes gedacht, das weiß ich ganz genau.«

Anton wurde ganz verwirrt. Dies junge Mädchen war ja von einer ganz gefährlichen und unheimlichen Spitzfindigkeit.

»Was das Alleräußerste ist, wozu es unter keinen Umständen kommen darf, das wissen wir ja.«

Lotte nickte.

»Bloß damit Sie sehen, daß ich Ihnen wirklich nichts verschweige, und damit Sie mir vertrauen, sage ich Ihnen, obwohl es unsinnig ist und sich Alfred nicht darauf einlassen wird, ich täte es auch nicht, daß mein Vater bereit wäre, die Forderungen an Alfred auszuhändigen, wenn er ... nein, es ist wirklich ungeheuerlich, was er sich in seiner Wut ausgedacht hat!«

»Sagen Sie es nur, ich fürchte mich nicht.« Lotte lächelte.

Anton sprang auf. »Es ist wirklich eine Zumutung. Also, er würde auf die Klage verzichten, wenn Alfred auf sein Pflichtteil verzichtet.«

Helene Momm sprang nun auch auf. »Das ist unmenschlich!« entfuhr es ihr. »Das tut der schlimmste Feind dem anderen nicht an!«

»Das tun wohl nur Blutsverwandte einander an,« sagte Lotte und lächelte.

»Es kann natürlich gar keine Rede davon sein, daß er sich darauf einläßt,« begann Anton von neuem.

»Was heißt denn das eigentlich?« fragte Lotte. »Sie müssen schon entschuldigen, aber ich verstehe von kaufmännischen Dingen so gar nichts.«

»Das würde heißen,« antwortete Helene Momm für Anton, der sich nicht dazu entschließen konnte, so sehr schämte er sich für seinen Vater, »daß Alfred auf zwei Drittel seines Vermögens verzichtete, um etwa ein Drittel zu gewinnen.«

»Also ein sehr schlechtes Geschäft,« meinte Lotte und lächelte.

»Dabei handelt es sich nur um das Pflichtteil,« erklärte Helene Momm weiter, »nicht um sein Erbteil, das unter friedlichen Verhältnissen, wie ich annehme, größer sein würde.« Sie blickte fragend auf Anton, der zustimmend nickte.

»Auf so etwas geht kein Mensch ein, der auf Selbstachtung hält,« sagte Anton erregt, »es war natürlich auch nur eine Bosheit, mir das zu sagen, denn mein Vater denkt ja gar nicht daran, daß Alfred darauf einginge. Er will ihn damit nur kränken, weil er sich durch ihn gekränkt fühlt, weil er ihm nicht verzeihen kann, daß er seine Gaben in den Dienst einer anderen Sache gestellt hat.«

»Also bleibt eben doch nur das Alleräußerste, wie Sie es vorhin nannten,« sagte Lotte.

»Dazu wird es aber nicht kommen, so lange ich da bin!« rief Anton.

»Wie wollen Sie es denn verhindern, Herr Dungs?«

»Das weiß ich im Augenblick noch nicht!« rief Anton.

»Sehen Sie, Sie wissen es noch nicht, und die andern wissen es auch nicht, aber ich weiß es, sehen Sie, ich weiß es ganz genau.«

»Wollen Sie es uns nicht sagen?«

»Aber gewiß, nur müssen Sie mir zuerst sagen, ob ich morgen Ihren Vater mit Sicherheit sprechen kann.«

Helene Momm wurde kreidebleich.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, Helene, ich tue ihm nichts, das brauchen Sie nicht zu befürchten. Aber ich weiß, wenn er mich angehört hat, wird er anders denken. Er muß, ich gehe nicht früher wieder von ihm fort. Also sagen Sie mir, Herr Dungs, wo treffe ich Ihren Vater am sichersten morgen.«

Anton suchte nach Ausflüchten, denn es war doch ganz unmöglich, daß sie in dieser seltsamen Verfassung mit seinem Vater sprach, der weiß Gott gereizt und unerträglich genug war. Man mußte ihr das unter allen Umständen ausreden.

»Es ist wirklich sehr schwer, Ihnen darauf eine zuverlässige Antwort zu geben. Denn, sehen Sie, wenn sich mein Vater nicht sprechen lassen will, ich glaube, eher dringen Sie noch bis zum Kaiser vor als bis zu ihm.«

Lotte lächelte nur.

Anton warf seiner Braut einen auffordernden Blick zu. »Wissen Sie, ich werde Ihnen telefonieren, sowie ich weiß, daß mein Vater zu Tisch nach Hause geht, da erreichen Sie ihn immer noch am sichersten und können ganz ungestört mit ihm reden.«

»Und heute nacht bleiben Sie bei mir, Sie tun mir den Gefallen,« fiel Helene Momm ein. »Es ist doch gemütlicher hier als im Hotel.«

Lotte lächelte nur. Für wie dumm sie mich halten, dachte sie. Als ob ich den Blick nicht gesehen hätte, den sie sich zuwarfen. Sie halten mich einfach für krank und meinen, sie dürften mich nicht aus den Augen lassen, deshalb reden sie so. Und wenn ich wirklich hierbleibe, dann lassen sie mich morgen einfach nicht aus dem Haus, denn sie wollen ja durchaus nicht, daß ich mit Anton Dungs junior spreche, und das ist doch das einzige, was noch helfen kann. In Lotte stieg ein großes Mißtrauen gegen die beiden auf. Warum waren sie eigentlich so dagegen, daß sie mit Anton Dungs junior sprach? Sie wollten am Ende wohl gar nicht im Ernst, daß es wieder gut wurde mit Alfred?

»Nicht wahr, Sie bleiben bei mir?« bat Helene Momm wieder.

»Was sollen Sie denn jetzt noch in das Hotel zurück?« sagte Anton.

»Ich danke Ihnen sehr, Sie sind zu freundlich, Helene, aber ich gehe doch lieber ins Hotel. Ich fühle mich nicht ganz wohl, ich möchte mich gleich schlafen legen, ach, und lange, lange schlafen. Sie besuchen mich vielleicht morgen früh, Helene? Und wenn Herr Dungs dann so freundlich fein will, mir zu telephonieren, so wäre ich ihm sehr dankbar. Ich warte dann so lange im Hotel.«

Helene und Anton sahen sich unruhig an. Nun sprach Lotte von Karst ja eigentlich ganz ruhig und verständig.

»Wenn Sie es durchaus so haben wollen,« meinte Helene Momm unsicher.

»Ich komme dann morgen nach dem Frühstück gleich zu Ihnen,« sagte Lotte, »dann brauchen Sie sich erst gar nicht in das Hotel bemühen, und dann warte ich hier bei Ihnen, wenn es Ihnen nicht zu lästig ist, bis Herr Dungs mir telefoniert.«

Sie reichte Helene Momm die Hand. »Wie viel Unbequemlichkeiten ich Ihnen mache.«

Helene Momm war ganz gerührt.

»Und Herr Dungs ist vielleicht so freundlich, mich bis zum Hotel zu begleiten.«

Anton Dungs war sofort dazu bereit, und unterwegs sprach Lotte so verständig und heiter zu ihm, daß er dachte: ich habe mich getäuscht, sie ist ja ganz gesund und vernünftig, und den Besuch bei meinem Vater werde ich ihr morgen auch noch ausreden.

Anton fühlte sich recht erleichtert, als er sich von Lotte verabschiedete.

Als Lotte in ihrem Zimmer war, lächelte sie wieder. Jetzt sah Anton Dungs sie ja nicht mehr, jetzt konnte sie sich wieder gehen lassen.

Sie ging zu Bett und dachte darüber nach, wie sie es wohl am besten anfing, Anton Dungs junior allein zu sprechen, denn eine andere Hilfe gab es nun nicht mehr. Wenn sie in die Fabrik ging, konnte er sich verleugnen lassen, und wenn er erst wußte, daß sie ihn sprechen wollte, konnte er ihr leicht aus dem Wege gehen. Er brauchte ja nur zu verreisen zum Beispiel. Er würde das wohl auch tun, wenn er erst wußte, daß Lotte von Karst da war und er nun nachgeben mußte, ob er wollte oder nicht. Sie mußte ihn also überraschen, so daß er ihr gar nicht mehr entfliehen konnte. Aber in der Fabrik konnte sie ihn nicht überraschen, das war klar. Nun, Anton hatte vorhin doch gesagt, daß er zu Tisch nach Hause gehen werde, also würde sie sich eben in die Nähe dieses Hauses begeben und dort warten, bis er käme. Das war doch wirklich einfach. Und dann würde sie schon dafür sorgen, daß er ihr nicht entwischte. Er konnte doch auch gar nicht einfach fortlaufen, das wäre doch zu lächerlich gewesen vor ihr, einer Dame. Und selbst wenn er den Versuch machen sollte, sie war jedenfalls viel schneller auf den Beinen. Fast hätte sie laut gelacht, so deutlich sah sie das Bild vor sich, wie Anton Dungs Reißaus nahm in den Wald und sie hinter ihm her. Ach nein, das würde er schon nicht tun, sondern er würde sie mit ins Haus nehmen, weil er einfach mußte, und dann würde sie mit ihm sprechen.

Stunde um Stunde lag Lotte da und sprach mit Anton Dungs junior. Er machte Einwendungen, und sie widerlegte sie, eine Einwendung nach der anderen. Immer neue Einwürfe fand sie, aber alle hielten ihr nicht stand. Und schließlich bekam Anton Dungs diesen merkwürdigen Gesichtsausdruck, der so gar nicht zu ihm paßte, und den sie doch schon an ihm gesehen hatte, ganz hilflos sah er drein. Bei welcher Gelegenheit war das nur gewesen, als er so hilflos und fast kindlich aussah? Sie besann sich hin und her, aber es wollte ihr nicht einfallen. Jedenfalls würde er auch jetzt plötzlich so aussehen, und damit hatte sie gewonnenes Spiel.

Ab und zu fiel Lotte in einen kurzen, unruhigen Schlaf, aber immer wieder erwachte sie, und sofort begann auch der Disput mit Anton Dungs junior wieder und dauerte, bis er das hilflose Gesicht machte und Lotte wußte, daß sie gesiegt hatte. Dann schlief sie wieder für eine Weile ein.

Die Nacht verging, und die Sonne kam am Himmel herauf, Lotte disputierte immer noch. Aber es war nicht im geringsten beschwerlich und unangenehm, denn Anton Dungs junior verlor ja doch zum Schluß immer.

Sie sah nach der Uhr, ob es noch nicht Zeit sei, aufzustehen, aber es war noch zu früh. Eigentlich war ihr das gar nicht unangenehm, denn gerade kamen wieder neue Einwände, die Herr Dungs erhob, und die sie doch erst noch widerlegen mußte, bevor sie aufstand und wirklich zu ihm ging.

Nicht ein bißchen müde fühlte sich Lotte, als sie dann endlich aufstehen konnte. Ganz frisch und munter und guter Dinge fühlte sie sich, und sie frühstückte fast mit Heißhunger. Die nächtliche Diskussion hatte Appetit gemacht. Auch mußte sie sich recht für das stärken, was noch kommen würde. Es war erst acht Uhr. Bis die Unterredung mit Herrn Dungs vorbei war, würde sie schwerlich noch etwas zu essen bekommen. Auch ging sie natürlich nicht zu Helene Momm. Die würde sie jetzt nur stören. Nachher, wenn es vorbei war, würde sie zu ihr gehen, dann war es noch früh genug dazu.

Jetzt würde sie ihr einen Brief schreiben und sich entschuldigen, daß sie noch nicht kommen könne. Aber was sollte sie ihr schreiben?

Lotte lächelte und setzte sich an den Nebentisch, wo das Schreibzeug stand. Das war doch wirklich sehr einfach, sie schrieb Helene Momm, daß es ihr sehr gut gehe, und daß sie gar nicht mehr in Unruhe sei und deshalb vor allem ihrer Schwester guten Tag sagen wolle, die sie wohl über Tisch bei sich behalten würde. Helene Momm brauche sich also gar keine Gedanken zu machen, wenn sie erst am Nachmittag bei ihr einträfe, denn sie habe ihre Schwester nun gerade ein Jahr nicht gesehen. Und Anton solle sie auch schönstens grüßen, und die Unterredung mit seinem Vater habe wohl noch einen Tag Zeit.

Wie klar und einfach das war. Nun sollte noch einer sagen, daß sie nicht ganz gesund sei.

Sie steckte den Brief in ein Kuvert und wartete noch bis neun Uhr, bevor sie schellte, damit der Brief besorgt würde. Früher ging es doch wohl nicht gut. Und dann steckte sie noch ein Brötchen zu sich. Es ist wie bei einem Ausflug über Land, dachte Lotte und verließ das Hotel.

Aber wo lag doch das Schloß von Anton Dungs junior? Ach so, ganz richtig, natürlich, sie würde es ohne Schwierigkeiten finden. Sie war ja ein Landkind, eine Offizierstochter und hatte das Gelände studiert, Frau Oberst.

Gemächlich und guter Dinge marschierte sie drauf los. Sie hatte ja Zeit. Es herrschten hier zwar kleinstädtische Verhältnisse, so viel Geld die Leute auch verdienten, aber vor halb ein Uhr würde doch wohl auch Herr Anton Dungs junior nicht Mittag essen. Wenn sie um zwölf das Schloß erreichte, genügte das sicherlich.

Sie war natürlich schon viel früher an Ort und Stelle, aber das genierte sie durchaus nicht. Sie ließ sich in der Nähe des Einganges zum Schloß auf einem gefällten Buchenstamm nieder und verzehrte ihr Brötchen. Es vollzog sich ja alles nach Wunsch.

Jetzt saß Alfred wohl im Hotel und beriet sich mit seinen Juristen, und auch die Mama war dabei. Wie sie sich die Köpfe zerbrachen und zerquälten und doch keinen Ausweg fanden, und wie nun die Mama mit ihren französischen Flüchen loslegte, zu denen sie sich so gerne rettete, wenn es gar nicht mehr anders ging. Lotte sah die Szene so deutlich vor sich, daß sie lachen mußte.

Alfred und die Mama dachten natürlich, sie sei bei ihrem Vater. Und ihr Vater dachte, sie sei bei Alfred und seiner Mama in Berlin. Derweil saß sie hier so munter und guter Dinge wie seit Tagen nicht, hatte ein gutes Brötchen verzehrt und wartete auf Anton Dungs junior.

Sie sah nach der Uhr und suchte sich einen besseren Versteck, denn hier aus dem Buchenstamm hätte er sie schon von weitem erblickt und wahrscheinlich auch erkannt. Und dann brauchte er einfach kehrt zu machen, und sie hatte das Nachsehen. Nein, Herr Dungs, so ging es denn doch nicht.

Hier, nur wenige Schritte von dem Tor entfernt, befand sich ein Busch. Dahinter versteckte sie sich und wartete. O, die Zeit wurde ihr durchaus nicht lang, denn sie unterhielt sich schon wieder lebhaft mit ihrem Partner.

Nun ja, und da kam er ja auch wirklich. Ganz langsam und ahnungslos und dachte an gar nichts Böses. Am liebsten hätte Lotte laut gelacht, aber das durfte sie ja nicht, um ihn nicht zu verscheuchen.

Sie wartete, bis er die Hand zum Torgriff hob. Da trat sie aus dem Busch, ging gerade auf ihn zu, sagte: »Guten Tag, Herr Dungs« und hielt ihm die Hand hin. Sie hatte ja nun schon seit gestern abend spät unausgesetzt mit ihm gesprochen, und alles ließ sich genau so an, wie sie es erwartet hatte, daß sie ihn wie einen alten Bekannten begrüßte.

Anton Dungs trat einen Schritt beiseite und sah sie an. Nun erkannte er sie und hob wieder die Hand zum Torgriff.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Dungs.« Lotte sah ihn freundlich an. Es war ja alles genau so, wie sie es vorausgesehen hatte.

Sie ist wohl verrückt! schoß es Anton Dungs durch den Kopf.

»Sie fürchten sich doch nicht vor mir, Herr Dungs?« fragte Lotte freundlich.

Nun machte Anton Dungs eine leichte Verbeugung, sagte kurz und schroff: »Bitte«, öffnete das Tor und ließ sie zuerst eintreten.

»Ich danke Ihnen, Herr Dungs.«

Er schritt schweigend neben ihr in das Haus. Man muß sie in eine Anstalt bringen lassen, dachte er. Sowie es geht, werde ich nach Schwester Emma telephonieren.

»Sie möchten gewiß erst essen, Herr Dungs,« meinte Lotte, als sie im ersten Stock angekommen waren. »Lassen Sie sich bitte nicht stören, ich habe Zeit.«

Immer noch stumm geleitete Anton Dungs sie in sein kleines Arbeitszimmer mit den vielen Karten. Es ließ sich leicht abschließen, und die Fenster hatten Gitter, was ihm jetzt eigentlich zum erstenmal zum Bewußtsein kam.

Sie setzten sich, und Lotte von Karst sah in diesem Augenblick, wie Anton Dungs sich sagen mußte, durchaus nicht wie eine Kranke aus.

»Was wünschen Sie?« fragte er kurz und schroff.

Lotte sah ihn verwundert an. Mit dieser einfachen Frage hatte sie nicht gerechnet, und eine große Unruhe legte sich über ihr Gesicht.

»Ich nehme an, mein Sohn hat Sie hierher geschickt?«

»Alfred weiß nicht, daß ich hier bin,« erwiderte Lotte leise. Auch diese Frage paßte nicht zu der Unterredung, wie sie sie sich ausgemalt hatte.

»Wollen Sie bitte sagen, was Sie hierher führt? Ich nehme an, Sie sind noch die Braut meines Sohnes?«

Lotte nickte.

Will sie mich zum Narren halten? dachte Anton Dungs junior und bekam einen roten Kopf.

Jetzt sah er genau so aus, wie Lotte es sich vorgestellt hatte, jetzt konnte sie reden, und sie begann zu reden, ganz ruhig und sachlich, wie sie es sich für den Anfang vorgenommen hatte.

Anton Dungs ließ sie eine ganze Weile gewähren, denn sie hatte ihn tatsächlich überrumpelt, und es war ihm nicht gleich klar, was das Ganze eigentlich sollte, wenn sie die Wahrheit sagte und nicht als Abgesandte Alfreds kam.

Lotte stutzte, denn er erhob gar keine Einwendungen. Sie sah ihn fragend an.

Sie ist entschieden geistesgestört, dachte Anton Dungs nun wieder, und ein großes Unbehagen überkam ihn.

Aber im nächsten Augenblick sprach Lotte wieder ganz verständig und klar, so klar, wie man es nur wünschen konnte. Sie setzte ihm auseinander, warum er die Forderungen an Alfred nicht einklagen dürfe.

Da habe ich mich geirrt, dachte Anton Dungs junior, die ist wahrhaftig nicht verrückt, die ist sehr klar bei Verstand.

Lotte schwieg wieder. Warum sagte er denn gar nichts? So ging es doch nicht weiter, daß sie redete und er kein Wort erwiderte, so kam doch nie der Disput zustande, in dem sie siegen würde.

Nun wurde sie lebhafter und begann, ihm Vorwürfe zu machen.

Anton Dungs traute seinen Ohren nicht. So pflegte man doch nicht mit ihm zu reden!

Lottes Vorwürfe wurden heftiger, da er immer noch nicht erwiderte. Sie mußte ihn reizen, bis er wild wurde, die Vorwürfe erwiderte, Einwendungen machte ...

Anton Dungs sprang auf. »Das muß ich mir denn doch entschieden verbitten!« rief er puterrot. »Wie komme ich dazu, mir in meinem eigenen Hause solche Dinge sagen zu lassen? Sagen Sie Ihrem Bräutigam, weil er in ein fremdes Geschäft eingetreten ist und schon dadurch das meine schädigt, so gehört es sich, daß ich mich dafür schadlos halte im Interesse meines Geschäfts. Ich liefere ihm die Forderungen aus, wenn er auf sein Pflichtteil verzichtet. Ich bin es unserer Firma schuldig, so zu handeln, ich habe die Pflicht, auf ihren Vorteil bedacht zu sein.«

Lotte saß fassungslos da. Das waren keine Einwände, wie sie es erwartet hatte, das waren Gesichtspunkte, die sie nicht verstand und auch nicht widerlegen konnte ... Sie verstand überhaupt nur halb, was er sagte. Es klang wie aus weiter Ferne, und wie war denn das? Er rückte ja immer weiter von ihr fort, ganz klein wurde er, wie ein kleines Bild ganz, ganz weit fort an einer Wand.

Da Lotte keine Anstalten machte, sich zu entfernen, wie Herr Dungs nach seinem Ausfall erwartet hatte, so räumte er selbst das Feld und ging zur Tür.

Er wandte sich plötzlich nach Lotte um, die so einen seltsam gurgelnden Laut hervorgestoßen hatte. Er sah, wie sie wankte, und sprang zu. Er erreichte sie gerade noch, sonst wäre sie zu Boden gefallen. Sie war ohnmächtig geworden.

Nun machte Anton Dungs ein hilfloses, fast kindliches Gesicht, aber Lotte sah es nicht mehr.

Er legte sie auf das Sofa und schellte dem Diener.

»Telephonieren Sie sofort an Schwester Emma, sie soll sofort herkommen!« rief er dem alten Fritz zu, der verwundert an der Tür stand.

Fritz kam sehr bald zurück und sagte, Schwester Emma sei nicht zu Hause, und man wisse auch nicht, wohin sie gegangen sei.

»Dann bleiben Sie hier!« rief Anton Dungs.

Er eilte zum Telephon und ließ sich mit Helene Momm verbinden. »Komme doch bitte gleich her, Helene. Hier ist ein Fräulein von Karst bei mir, dem ist nicht wohl. Bringe sie fort von hier. Ich verstehe mich nicht auf so ein Mädchen.«

Er wartete die Antwort Helene Momms erst gar nicht ab, sondern griff nach seinem Hut und verließ eilig das Haus.


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