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4. Kapitel

Die elf bewußtlosen Bergleute waren zwar noch am späten Abend wieder zu sich gekommen, aber am andern Vormittag, als man schon daran dachte, sie wieder zu ihren Angehörigen zu entlassen, war es plötzlich mit ihnen viel schlechter geworden, ohne daß die Aerzte einen rechten Grund dafür erkennen konnten, und ehe sich die Aerzte dessen versahen, starben ihnen die armen Menschen bei großen Schmerzen unter den Händen. Die giftigen Gase mußten sie innerlich verbrannt haben. Anders ließ es sich nicht erklären.

Anton Dungs junior, der sich über das Befinden seiner Leute auf dem laufenden erhalten ließ und auch wiederholt bei ihnen gewesen war, fühlte sich tief niedergeschlagen. Sie gehörten ja mit zu der großen Schar, die an seinem Werke arbeitete und dafür so gearbeitet hatte, daß es jetzt groß da stand. Schon aus diesem Grunde nahm Anton Dungs ein persönliches Interesse an seinen Leuten, wenn er es auch nur selten zeigte. Auch waren Jahr und Tag vergangen, seit ein solches Unglück vorgekommen, und Anton Dungs hatte insgeheim gehofft, ähnliche Unglücksfälle seien nach allem, was geschah, um sie zu verhindern, so gut wie ausgeschlossen.

Aber ein Unglück kommt selten allein, und so war zu allem auch noch Frau Anton Dungs senior gestorben, ein besonders schwerer Verlust für den Sohn, der sich an niemand so sehr angeschlossen hatte wie an seine Mutter.

Gestern morgen schien es ihr wieder besser zu gehen. Sie hatte sich in ihren Wintergarten fahren lassen und noch darüber gefreut, daß der Frau Oberst im Hotel von der Regimentskapelle gerade ein Ständchen gebracht wurde, denn heute war der Frau Oberst Geburtstag.

Als die Blechmusik gar kein Ende nahm und Anton schon ungeduldig wurde und hinüberschicken wollte mit der Bitte, man möge Rücksicht auf die Kranke nehmen und aufhören, da wehrte sie ab und neigte den Kopf lächelnd hintenüber. Niemand achtete darauf, wie sich das Lächeln plötzlich verlor, und als man wieder nach der Kranken sah, weil sie gar so ruhig war, da war sie schon tot. Und die Blechmusik spielte immer noch. Schwester Emma wollte empört hinauseilen und um Ruhe bitten, aber nun hatte es ja doch keinen Zweck mehr, nun mochte die Musik ruhig weiterspielen.

Anton Dungs stöhnte. Es war wirklich ein abscheulicher Kontrast gewesen ... Ach, es war überhaupt alles abscheulich und widerwärtig!

Anton Dungs schritt mit einem ganz verzerrten Gesicht durch das kleine Arbeitszimmer in seinem Schloß. Er war ja allein, niemand sah ihn, da konnte er sich wohl einmal ein wenig gehen lassen.

Heute nachmittag würde man also die Mutter begraben und morgen vormittag die Bergleute, denn diese Beerdigung war hinausgeschoben worden, weil der Regierungspräsident erscheinen und einige Worte des Trostes reden wollte. So dachte man in der Stadt aus Aufregung darüber nicht ganz so viel an den Tod der Frau Dungs und an ihn, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre. Das war wenigstens noch ein Glück bei allem Unglück, denn nichts war ihm unerträglicher, als wenn sich andere um seine persönlichen Angelegenheiten und Gefühle kümmerten.

Anton Dungs ließ sich in einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. Nun war der einzige Mensch von ihm gegangen, der ihn wirklich kannte und seine und seines Werkes ganze Entwicklung miterlebt hatte.

Wie leer und tot kam sich Anton Dungs in diesem Augenblick vor. Ein unerträgliches Gefühl. Er zwang sich, an alle die vielen, vielen Jahre zurückzudenken, die seine Mutter neben ihm und mit ihm gegangen war, ratend, helfend, warnend, aber nie ohne Verständnis für ihn. Das war wohl das größte gewesen, was er an ihr besessen, und was nun für immer verloren war. Alt und müde und einsam fühlte sich der Mann jetzt. Hart und streng war er geworden, weil es anders nicht ging. Schon in jungen Jahren mußte er es sein, um seine Autorität zu wahren all den viel älteren Leuten gegenüber, mit denen er zu tun hatte. Hart und streng war er auch gegen sich selbst geworden. Nur einmal nicht. Ein einziges Mal nicht. Damals, als er heiratete.

Wie bitter hatte sich das gerächt. Als er es eingesehen, verschloß er sich erst recht gegen alle Einflüsse von außen und wurde auch immer strenger gegen sich selbst. Man fürchtete ihn, man respektierte ihn, aber man liebte ihn nicht.

Das war kein Wunder. Er hatte es ja selbst nicht anders gewollt. Aber gut tat es doch, einen Menschen in der Nähe zu haben, von dem man wußte, daß er ein warmes, immer gütiges Herz für einen hatte. Nun schlug auch dieses Herz nicht mehr.

Anton Dungs erhob sich wieder, und unwillkürlich fiel sein Blick auf alle die Karten an den Wänden, die er selbst angefertigt hatte, denn sie stellten ihm immer vor Augen, wie sich sein Werk entwickelt hatte, was er zurzeit sein eigen nannte, und was für die Zukunft noch zu erwerben war.

Er trat zu der einen Karte, auf der genau verzeichnet stand, was alles ihm in der Umgegend »unter der Erde« an Grubenfeldern gehörte. Er hatte diesen Besitz mit eigener Hand schraffiert. Es war über die Hälfte des ganzen Landes, soweit es für die Kohle in Betracht kam, dessen unterirdische Schätze ihm gehörten.

Er trat zu einer anderen Karte, die seinen Grundbesitz »über der Erde« darstellte, und der sich bis weit nach Holland hinein erstreckte. Es war immer sein besonderer Stolz gewesen, daß er nie auf Großbanken angewiesen war, daß er immer noch durch Hypotheken auf seinen Grundbesitz die Summen erlangen konnte, die er für die Ausdehnung seiner Hütten und Bergwerke und die Vervollkommnung all dieser Betriebe nötig hatte. So war er unabhängig von den Banken geblieben und auch in der Beziehung ein freier Mann.

Ferner hing hier eine Karte von Spanien, wo seine Erzgruben lagen. Auch sie hatte er beträchtlich ausdehnen können. Alles in allem ein majestätischer Besitz, umfangreicher als mancher Fürstenbesitz und jedenfalls viel rentabler. Alles aber, was ihm seine Arbeit abwarf, hatte er wieder in sein Werk gesteckt. Nur so konnte er mit an der Spitze bleiben. Nur so wahrte er sich die Unabhängigkeit, die sein besonderer Stolz war, und fast die einzige Freude, die er sich noch gönnte.

Als seine Frau seinerzeit von ihm ging und ihr bedeutendes Vermögen zurückhaben wollte, hatte er es nach langen Kämpfen erreicht, daß ihr Vermögen im Werke blieb und sie sich damit zufrieden gab, die reichlichen Zinsen zu erhalten. Adele gab nach, als er selbst zugunsten der Kinder ebenfalls auf ein eigenes Vermögen verzichtete. Das ganze Vermögen wurde auf die Kinder überschrieben, und er war nur für Lebenszeit zum Verwalter bestellt.

Das war wohl mit der klügste Plan, den er je ausgesonnen, denn Adele hatte von den Konsequenzen, die das eventuell haben konnte, nichts geahnt. Damit war nämlich seine frühere Frau, solange er lebte, vermögenslos geworden, wenn er ihr selbstverständlich die reichlichen Zinsen auch regelmäßig zugehen ließ. Aber auch seine drei Söhne besaßen nun kein eigenes Vermögen, über das sie unabhängig von ihm hätten verfügen können, denn solange er, der Verwalter dieses Vermögens, lebte, hatte er das alleinige Verfügungsrecht, wenn auch nicht über das Kapital, so doch über das, was damit erarbeitet wurde.

Anton Dungs hielt diesen Ausweg deshalb für besonders klug, weil ihm nun gar niemand dreinreden konnte, solange seine Art der Verwaltung des Vermögens nicht beanstandet wurde. Dazu aber würde nie auch nur der kleinste Grund vorliegen.

Aus einem ähnlichen Grund hatte er sich nie entschließen können, so verlockend es zuweilen gewesen, aus seinem Werk eine Aktiengesellschaft zu machen. Aktionäre hemmen die Bewegungsfreiheit. Es dauert eventuell so lange, sie unter einen Hut zu bringen, daß es für die Aktion, zu der man sie zusammenrief, längst zu spät ist. Wie es jetzt war, hielt er allein tatsächlich alle Macht in den Händen. Das hatte sich schon oft, wenn es galt, sich schnell zu entscheiden und zu handeln, als ein großer Vorteil herausgestellt, dem er außerordentlich viel verdankte, wenn sein Gegner mit Aktionären und dergleichen zu rechnen hatte. Wie Zieten aus dem Busch kam er, wo ein großes Geschäft auftauchte; und ehe die anderen noch recht merkten, was vor sich ging, hatte er das Geschäft schon gemacht. Dabei mußte jedermann zugeben, daß er, der ja nur Vermögensverwalter war, nur im Interesse seiner Söhne handelte. Deshalb konnte man ihm auch eine scharfe Maßnahme, ein rücksichtsloses Draufgehen nicht so leicht verübeln wie einem anderen. Er handelte ja nur für seine Kinder.

Die Sache besaß aber noch einen anderen Vorzug, an den er damals nicht im entferntesten gedacht hatte, weil ihm eine solche Möglichkeit nie in den Sinn gekommen wäre. Ihm schien aber seit einer Weile, als werde er eventuell mit solcher Möglichkeit rechnen müssen. Wenn nämlich einer seiner Söhne anders wollte als der Vater oder sich gar mit ihm überwarf, was dann? Unter normalen Umständen hätte er ihm dann wohl ein anständiges Pflichtteil geben müssen. Jetzt aber? Er durfte das gewissenhafterweise ja gar nicht. Er, der Vermögensverwalter, konnte doch am wenigsten zulassen, daß das Kapital zugunsten des einen Sohnes geschmälert würde. Seine Aufgabe war es vielmehr, das Kapital unter allen Umständen allen drei Söhnen ungeschmälert zu erhalten und es zu vergrößern, aber jedenfalls nicht zu verkleinern.

Anton Dungs junior biß die Lippen fest aufeinander. Ob sich sein Sohn Alfred darüber wohl klar war? Schwerlich. Denn sonst würde er sich doch wohl etwas vorsichtiger aufführen und sich nicht gar so selbständig gerieren.

Indem Anton Dungs junior noch einmal den Blick über die Karten ringsum gleiten ließ, setzte er sich wieder und seufzte. Ein guter Haushalter war er immer für die Seinen gewesen. Auch seine erbittertsten Gegner mußten das zugeben. Einen besseren Haushalter hätten sie gar nicht finden können.

Und nun war die Mutter tot, Adele trieb sich wohl in Paris herum. Und Alfred? Ihm traute er am wenigsten. Von seiner Seite machte er sich auf Schweres gefaßt, denn er war ja, was Eigensinn und Starrköpfigkeit anging, ein echter Dungs. Daß er aber zugleich beweglicheren und waghalsigeren Geistes war, darin seiner Mutter ähnelnd, das konnte ihn als Gegner höchst unangenehm machen.

Anton Dungs sah grübelnd unter sich. Sollte er am Ende doch seiner Mutter die Freude machen und Alfred gewähren lassen? Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht. Wer garantierte ihm denn dafür, daß sie noch eine Freude davon hatte, wo sie tot war? Etwa der Pastor? Auf so unsichere Sachen ließ sich Anton Dungs junior so leicht nicht ein.

Er horchte und trat schnell zum Fenster. Er hörte ein Auto mit großer Eile näher kommen. Das hatte etwas Besonderes zu bedeuten. Andernfalls hätte man ihn an diesem Morgen allein gelassen, wie er es gewünscht hatte. Sein Aeltester stieg eilig aus, zog hastig den Hut und lief die Treppe in die Höhe.

Was es nur jetzt wieder geben mochte? Anton Dungs war auf Unangenehmes gefaßt.

»Verzeih', daß ich Dich störe, aber darüber mußte ich Dich doch gleich und persönlich informieren.«

»Bitte!« Der Junge war ganz aufgeregt.

Er zog einen Brief aus der Aktentasche. »Sondermann schreibt uns eben, daß die »Hispania« saniert sei.«

»Was?« Anton Dungs junior fuhr zornig auf.

Direktor Sondermann von der »Hispania« war nämlich schon seit längerer Zeit Anton Dungs ein Dorn im Auge. Er war zu talentvoll und rührig, als daß man ihn hätte gewähren lassen dürfen. Also hatte Anton Dungs unter der Hand einen sehr beträchtlichen Teil der Kuxe der »Hispania« an sich gebracht.

Als Sondermann dann mit großen Erweiterungsvorschlägen an die Aktionäre herangetreten war, hatte Anton Dungs dafür gesorgt, daß diesem tüchtigen Direktor die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. Seine Absicht war, die »Hispania« ein wenig auszuhungern, bis ihr fähiger Direktor einsah, daß er mit Anton Dungs einen Kompromiß schließen müsse, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Anton Dungs kaufte unter der Hand weiter Kuxe der »Hispania« und setzte sie so nach und nach aufs Trockene. Bevor Sondermann die Luft ausging, würde er schon zu Dungs kommen. Anton Dungs wollte ihn zu seinem Generaldirektor machen, und damit war der Mann ihm nützlich und nicht mehr schädlich. Alles war auf dem besten Weg, und nun kam dieser Brief.

»Was glaubst Du, wer mir da hineinsaniert hat, Junge?« fragte der Vater.

»Ich traue es eigentlich nur einem zu,« meinte der Sohn vorsichtig.

»Ich auch. Ich vermute, das haben wir Hugo Momm zu verdanken!«

»Ich vermute dasselbe.«

»Der Mann ist ja wirklich ganz rabiat seit dem Tode seiner Frau. Schwester Emma hat ganz recht!«

Vater und Sohn traten zum Fenster und sahen eine Weile stumm auf den Park. Ungewöhnlich ähnlich waren sie einander. Nur benahm sich der Sohn ruhiger und gemessener als der allezeit bewegliche Vater.

»Was hältst Du eigentlich von Helene Momm?« fragte der Vater, ohne seinen Sohn anzusehen.

Dieser zögerte einen Augenblick und antwortete dann: »Ein nettes, bescheidenes Mädchen.«

Wieder war es für eine Weile ganz still im Zimmer. Dann fragte der Vater: »Sag' mal, hast Du Deine Meinung über das Heiraten vielleicht geändert?«

Der Sohn schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich frage nur für alle Fälle. Ich rede Dir da nichts drein,« meinte der Vater.

Der Sohn schwieg. Beide schritten zu dem kleinen Sofa an der Querwand und ließen sich nachdenklich hier nieder.

»Wie findest Du, daß sich der Adam entwickelt?« fragte der Vater.

»Ich glaube, ganz vorzüglich,« lautete die Antwort, »er plant ein großes Laboratorium, in dem er sich nur mit dem Stahl befassen will. Er ist ganz begeistert davon und verspricht sich sehr viel für das ganze Werk.«

»Wie alt ist wohl Helene Momm?« fragte der Vater nach einiger Zeit.

»Genau so alt wie Adam, einundzwanzig.«

Die beiden sahen sich an, und beide dachten: nein, das geht wirklich nicht, wir würden uns lächerlich machen.

Es verging wieder einige Zeit, bis der Vater fragte: »Was treibt Alfred eigentlich? Ich habe ihn seit ... dem Tode der Leute nicht mehr gesprochen.«

»Ich saß heute morgen eine Weile mit ihm im Wintergarten, Vater. Zu dem Obersten hättest Du wirklich nicht gehen sollen. Er ist mit Recht darüber aufgebracht.«

Zum erstenmal seit langer Zeit sah Anton Dungs seinen Vater in Verlegenheit. Dann sagte er: »Der Oberst hat mein Verhalten durchaus korrekt gefunden.«

»Mag sein,« meinte der Sohn, »aber hübsch kann ich es wirklich nicht finden.«

Nun wurde Anton Dungs junior wieder lebhaft: »Ich bitte Dich, wie liegt denn die Sache? Zu einem Techtelmechtel ist die Schwägerin des Obersten doch zu gut. Von heiraten kann keine Rede sein, also war es meine Pflicht, dem Schwager klaren Wein einzuschenken. Er war mir dankbar dafür, wie ich es nicht anders erwartet hatte. Die übrigen Verwandten des jungen Mädchens können mir auch nur dankbar sein!«

»Und das Mädchen selbst?« fragte der Sohn.

Anton Dungs junior machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was sich so ein junges Ding einredet! Ich bin überzeugt, schon in wenigen Wochen ist sie froh, nichts mehr mit uns zu tun zu haben.«

»Und wenn Du Dich täuschst?«

»Mir scheint, sie ist sehr verwöhnt. Ich habe dem Obersten auch erklärt, weshalb ich nicht in der Lage bin, ein Pflichtteil auszuzahlen ...«

Anton sah seinen Vater vorwurfsvoll an. »Willst Du es wirklich bis zum äußersten kommen lassen?«

»Es wird schon nicht dahin kommen. Ich denke, Alfred wird schließlich doch Vernunft annehmen. Tut er es aber nicht, sage selbst, wie soll ich anders handeln? Ich kann ja gar nicht anders!«

»Großmutter ist noch nicht unter der Erde, und schon geht der Streit an,« meinte der Sohn voller Betrübnis.

Anton Dungs junior seufzte ebenfalls, aber schwieg.

»Du könntest zu Tisch bei mir bleiben, Anton.«

Der Sohn nickte zustimmend, und Anton Dungs junior fühlte sich sichtlich erleichtert, denn jetzt auf einmal wäre es ihm sehr schwer gewesen, wieder allein zu bleiben. Es dauerte ja noch einige Stunden bis zur Beerdigung. Ihm war plötzlich, als könne er, mit sich allein gelassen, nicht über sie hinwegkommen. Diese Stunden hätten ihn vielleicht doch mürbe gemacht. Wenn sein Aeltester bei ihm blieb, ließ sich leichter darüber hinwegkommen. Anton aber blieb, weil er hoffte, seinen Vater wenigstens so weit beeinflussen zu können, daß es nicht zu einem äußeren Bruch zwischen ihm und Alfred kam. Alfred schien entschlossen zu sein, ihn herbeizuführen, wenn es nicht anders ging. Das mußte unter allen Umständen vermieden werden. Was sollten denn die Leute denken! Ein Vergnügen hatten doch nur die Gegner davon. Dieser Gesichtspunkt mußte doch auch dem Vater einleuchten, wenn man ihn geschickt darauf brachte.

Anton Dungs junior erhob sich wieder und ging mit seinen kurzen, schnellen Schritten hastig durch das kleine Zimmer. Mit einem Ruck blieb er dann vor der Karte Spaniens stehen und winkte seinem Sohn, der hinzutrat.

»Siehst Du, hier im ganzen Cantabrischen Gebirge ist für uns so gut wie nichts mehr zu holen. Hier sitzen Krupp, Henkel, Engländer und Franzosen. Und was noch zu haben war, haben Thyssen, Stinnes und Gelsenkirchen fortgenommen. Aber in Navarra habe ich jetzt große Ankäufe gemacht und gedenke noch größere zu machen. Es liegt für die Fracht nicht ganz so günstig, aber es geht noch. Außerdem könnte man es noch weiter westlich versuchen, wenn wir erst festen Boden gefaßt haben und uns auf die Leute dort verlassen können. Das wäre so eine Aufgabe für Alfred, meinst Du nicht? Er reist ja gerne und könnte wohl einmal für einige Wochen hinfahren.«

»Vor vier Wochen hätte er es sicher gerne getan, aber heute? ...«

»Vor vier Wochen war ich noch nicht so weit.«

»Schade,« seufzte der Sohn.

»Wir könnten ja alles andere ruhen lassen, bis er von dort zurück ist,« meinte der Vater.

»Wer garantiert ihm aber, daß Du, während er fort ist, ebenfalls nichts unternimmst?« fragte der Sohn, der seinen Vater kannte.

»Was soll ich wohl unternehmen?«

»Nun, Du könntest Dich vielleicht direkt mit dem Baron Karst in Verbindung setzen. Nachdem Du den Obersten informiert hast, wird Alfred mit Recht mißtrauisch sein. An seiner Stelle wäre ich es auch.«

»Das werde ich nicht tun.«

»Ich glaube es, Vater, wenn Du es mir sagst.«

»Das wäre ja noch schöner, wenn er mir nicht glauben wollte!«

Der Sohn schwieg. Weshalb den Vater aufs neue reizen?

»Ich werde mit ihm reden!« sagte Anton Dungs junior entschlossen. »Heute noch!«

»Heute noch?« fragte der Sohn erschrocken.

Der Vater setzte ihm auseinander, weshalb er gerade den heutigen Tag für besonders günstig halte. Heute werde sich doch gewiß keiner von ihnen unnütz ereifern. Heute werde man doch gewiß ruhig bleiben. Was Anton Dungs junior aber hauptsächlich bestimmte, heute noch mit Alfred zu reden, das sagte er selbst Anton nicht, weil es ihm unmöglich war, darüber zu sprechen. Dann hatte er nämlich etwas, womit er sich während der Beerdigung beschäftigen konnte, was ihn ablenkte, so daß er sicher nicht vor den fremden Leuten nachher die Fassung verlor. Und dies war ihm wichtiger als alles andere. Ja, heute noch würde er mit Alfred reden, und gewiß würde keiner von beiden heftig werden.

Anton Dungs junior seufzte und wischte sich die Stirn. Daß sie nicht bei ihm geblieben war, die Mutter!

Fritz, der Diener, trat ein und meldete, daß angerichtet sei.

Die beiden begaben sich in das kleine Eßzimmer, das sich Anton Dungs junior für seinen privaten Gebrauch in dem geräumigen Schloß hatte einrichten lassen. Er liebte die kleinen Räume. Alle die großen und prächtigen Säle seines Schlosses benutzte er nie, wenn es nicht aus Gründen der Repräsentation geschah, wobei er sich mit Vorliebe auch noch von seinen Söhnen und seinen Generaldirektoren vertreten ließ.

Vater und Sohn löffelten schweigend ihre Suppe.

»Möchtest Du ein Glas Wein, Anton?«

Der Sohn dankte. »Ich trinke zwar sonst zu Tisch zuweilen ganz gerne ein Glas, aber heute möchte ich nicht.«

Fast gleichzeitig ließen beide die Löffel sinken, sie mochten nicht mehr, sie hatten beide keinen Appetit heute.

»Wir haben wirklich einen ungewöhnlich schönen Frühling dies Jahr,« meinte der Sohn. »Seit langem war es nicht mehr so.«

Anton Dungs junior bestätigte das und erzählte von einem Frühling, der noch schöner gewesen war. Aber das war schon lange her.

Sie führten eine ganz konventionelle Unterhaltung, denn sonst hätten sie einfach überhaupt nichts zu sich nehmen können, wo doch nun gleich Frau Anton Dungs senior beerdigt wurde.

Anton Dungs junior griff sich verschiedentlich an den Hals, als ob ihm der Kragen zu eng würde.

»Ich werde nächstens mal wieder nach Paris müssen,« meinte er, »Monsieur Harmet hat mir geschrieben, er sei einer weiteren Vervollkommnung seines Verfahrens auf der Spur. Er kann wirklich was.«

»Man sollte Adam später einmal zu ihm schicken. Da könnte er wohl noch manches lernen,« meinte der Sohn.

Der Vater griff das Thema mit Eifer auf und war für den Vorschlag seines Aeltesten. Das Harmetsche Verfahren beim Stahlguß war von größter Bedeutung, kein Zweifel. Da konnte Adam nur profitieren, wenn er es an Ort und Stelle studierte.

Der Sohn sah verstohlen nach der Uhr, der Vater bestellte hastig Kaffee und brachte Zigarren.

»Ich denke, in einem Jahr ist Adam so weit,« meinte der Vater. »Ich werde mit Harmet gleich sprechen, wenn ich in Paris bin.«

Sie steckten sich ihre Zigarren an und sahen vor sich hin. Sie zermarterten beide ihr Hirn über ein neues, harmloses Gesprächsthema, aber es fiel ihnen keins ein, denn beider Gedanken waren ganz mit der Toten beschäftigt. Jeder wußte das auch vom andern, und deshalb blickten sie aneinander vorbei und sahen sich nicht in die Augen.

Ueber Anton Dungs junior kam es plötzlich wie Verzweiflung. Mein Gott, wäre sie doch nur am Leben geblieben, er hätte ihr auch den Gefallen getan und Alfred gewähren fassen!

Wieder sah der Sohn verstohlen nach der Uhr und meinte dann stockend: »Ich glaube, es ist Zeit, Vater, daß Du Dich zurechtmachst.«

»So? Ist es schon so spät?« Der Vater sprang auf und sah ebenfalls nach der Uhr.

»Ja, Du hast recht, es ist wirklich schon so weit. Warte nur einen Augenblick, ich bin gleich wieder hier.« Hastig begab er sich in sein Schlafzimmer.

Der Sohn legte die Zigarre beiseite und trat ans Fenster. Wie sie alle die alte Frau vermissen würden! Nun war niemand mehr da, der lachte und scherzte und immer wieder mit leichter Hand die Gegensätze ebnete. Nun war niemand mehr da, wohin man sich für eine Stunde zurückzog, wenn man des Alltagsbetriebes satt war. Immer wußte sie etwas, was ablenkte und erfrischte. Mochte sie nun Schnurren von ihren Schauspielern erzählen, oder mochte man gerade kommen, wenn Musik gemacht wurde. Man setzte sich still in eine Ecke wie die andern und lauschte, lauschte, ohne etwas sagen zu müssen.

»So,« sagte der Vater, »da bin ich wieder. Nun wollen wir auch gleich anspannen lassen.« Er rief nach Fritz und Fritz teilte mit, daß schon angespannt sei.

Vater und Sohn begaben sich hinunter und stiegen in den Einspänner, den Anton Dungs junior zu benutzen pflegte, wenn er es nicht vorzog, zu Fuß zu gehen, was heute nicht gut möglich war.

Vor dem Stammhaus der Dungs fletschten die beiden Löwen ihre Zähne wie immer, und die Büsten der griechischen Götter und Weisen am Wintergarten sahen gleichmütig drein, trotzdem die enge Straße vollgepfropft war mit Menschen, die Frau Anton Dungs senior die letzte Ehre zu erweisen gekommen waren. Im Wintergarten segnete der Geistliche die Leiche ein, und während er ein Gebet verrichtete, fühlte Anton Dungs ganz mechanisch, ohne sich dessen bewußt zu werden, hinter sich nach den Blumentöpfen, ob man sie auch begossen habe, denn die Mutter hatte ihn ja noch ganz besonders gebeten, darauf zu achten. Dann hoben die acht ältesten Meister der Dungsschen Werke, was sie sich ausgebeten hatten, den Sarg und trugen ihn langsam durch den Wintergarten auf den Gang die Treppe hinunter zwischen den beiden Löwen hindurch zur Straße. Vor dem Sarg schritt der Geistliche. Hinter ihm Anton Dungs junior mit seinen drei Söhnen. Es folgten entferntere Verwandte, ihnen auf dem Fuß Musiker und Schauspieler, die wirklich genau so ein Gesicht machten, wie Frau Anton Dungs senior es sich ausgemalt hatte, und dann die halbe Stadt, die es sich nicht nehmen ließ, dabei zu sein. Langsam, langsam bewegte sich der Riesenzug im schönsten Frühlingssonnenschein durch die Straßen über die Promenade, wo die Vögel ihr Lied schmetterten, an dem Fluß entlang, der silbern lächelte und plätscherte, dem Friedhof zu nach dem einfachen Reihengrab, wie es sich die Verstorbene ausgebeten hatte. Vorsichtig ließen die acht Meister den Sarg in die Gruft. Der Geistliche sprach wieder ein Gebet, denn die Verstorbene wollte nicht, daß man ihr eine lange Rede hielt, drei Hand voll Erde rollten dumpf auf das Grab, wieder drei Hand voll Erde, immer wieder, bis kein Rollen mehr zu hören war. Viele Hände mußte Anton Dungs junior schütteln, viele Kondolationen entgegennehmen, und dann kehrte er inmitten seiner Söhne zurück über die Promenade, wo die Vögel sangen, durch die Straßen, auf denen die Sonne lachte, zwischen den zwei Löwen hindurch in das alte einfache Haus, das nun mit eins so tot und ausdruckslos geworden war.

Ganz teilnahmslos schien Anton Dungs junior zu sein. Ein wahres Glück, daß Schwester Emma da war und für alles sorgte, mit jedermann sprach, der sich zu sprechen gedrungen fühlte, und jedermann die Hand schüttelte, der danach begehrte. Anton Dungs junior lief derweil unruhig im Wintergarten zwischen den Leuten hin und her und prüfte ab und zu immer wieder mit dem Finger, ob auch alle Blumen gut begossen seien.

Schwester Emma wurde schließlich ganz verlegen, weil sich Herr Anton Dungs junior gar nicht so benahm, aber auch gar nicht, wie es sich gehörte. Einmal hätte er doch zeigen müssen, daß er sich durch die Teilnahme all der Leute geehrt fühlte. Natürlich verlangte kein Mensch von ihm, daß er lachte, oder so. Aber gar so brummig und finster brauchte er auch nicht dreinzublicken, wo doch seine Mutter in allen Ehren das biblische Alter erreicht hatte. Er sollte lieber dankbar dafür sein, daß der liebe Gott ihm die Mutter so lange gelassen hatte. Noch lange nicht jeder Sohn hatte es so gut, und viel jüngere Frauen, die daheim doch noch nötiger waren, mußten fort, wie es zum Beispiel bei Frau Hugo Momm junior gewesen war. Was wohl die Leute gesagt hätten, wenn Herr Hugo Momm junior vor ihnen ein solches Gesicht gezeigt hätte, wie es jetzt Herr Anton Dungs junior tat. Das war wirklich nicht recht von ihm. Er merkte wohl noch immer nicht, wie die Leute schon die Köpfe zusammensteckten.

Schwester Emma ging zu Anton, der wirklich ein verständiger junger Mann war, und sprach mit ihm, ob es nicht besser sei, wo doch sein Vater einen so angegriffenen Eindruck mache, daß er nicht länger hierbliebe und sich gräme und quäle. Es sähe doch auch nicht gut aus, wie er mit niemand rede und immer nur an den Blumentöpfen herumfühle. Gewiß sei es besser für ihn, er käme ein bißchen an die frische Luft? Sie, Schwester Emma, werde derweil schon alles besorgen, wie es sich gehöre. Deshalb brauche man sich keine Sorgen zu machen.

Anton ging daraufhin zu seinem Vater und fragte ihn, ob sie jetzt nicht gehen wollten? Schwester Emma würde schon für alles weitere sorgen.

Anton Dungs junior nickte, mußte noch einmal viele Hände schütteln und ging. Kaum war er aber draußen, erschien er schon wieder und fragte nach Alfred. Er wurde geholt, und der Vater bat ihn, mitzukommen.

»Ich bitte Dich, werde nicht heftig, bedenke, daß es der Vater ist,« flüsterte ihm der älteste Bruder ins Ohr.

Alfred nickte und ging mit.

»Wenn es Dir recht ist, vertreten wir uns ein bißchen die Füße,« meinte Anton Dungs ganz milde und nachgiebig.

Alfred nickte und schritt neben seinem Vater einher. Die letzten Tage war er ihm aus dem Wege gegangen. Wo das Unglück im Bergwerk geschehen war, und solange die Großmutter noch über der Erde war, wollte er jeden Konflikt und jeden Streit vermeiden. Er hatte sich ja auch heute möglichst im Hintergrund gehalten und war dem Vater aus dem Wege gegangen. Da dieser nun aber jetzt ausdrücklich nach ihm verlangte, ging er mit ihm. Aber er würde das Gespräch nicht auf das gefährliche Thema bringen, heute noch nicht. Erst sollte auch der morgige Tag vorüber sein, das Begräbnis der Bergleute.

Als sie die Stadt hinter sich hatten und durch den Stadtwald gingen, sagte Anton Dungs: »Ich habe mir das überlegt, es war doch wohl übereilt, daß ich mit dem Obersten sprach.«

Alfred zuckte zusammen. Daß sein Vater jetzt, in dieser Stunde, davon anfangen würde, das hatte er nicht erwartet. Er biß sich auf die Lippen und schwieg.

»Daß ich Dich neulich nicht in Schacht III einfahren ließ, war, wenn man es recht betrachtet, wohl nur ein Glück,« sagte Anton Dungs.

Alfred wollte heftig antworten, aber er beherrschte sich und antwortete auch jetzt nicht.

Die beiden Männer machten größere Schritte, denn sie wurden beide erregter.

»Du könntest wohl ein Wort sagen,« meinte Anton Dungs nach einer Weile.

»Wenn Du es Dir überlegt hast, dann könntest Du ja zu dem Obersten gehen und ihm sagen, daß es übereilt war.«

Anton Dungs blieb mit einem Ruck stehen und sah seinen Sohn maßlos erstaunt an. »Ich?«

»Jawohl, Du!«

Die beiden sahen sich in die Augen und gingen dann mit noch längeren Schritten weiter.

Nach kurzer Zeit begann Anton Dungs seinem Sohn das Vorkommnis mit Direktor Sondermann zu erzählen und fragte ihn schließlich, wem er nach seiner Meinung das zu verdanken habe.

»Hugo Momm,« antwortete Alfred sofort.

»Siehst Du, dasselbe meinen ich und Anton auch,« erwiderte der Vater geschäftig und erzählte, wie Hugo Momm seit dem Tod seiner Frau überhaupt ganz rabiat sei und sich wieder mehr auf Kohle und Eisen werfen wolle. Anton Dungs wußte darüber zwar nichts Bestimmtes, aber er nahm es an, weil es ihm gut in seine Absichten paßte in diesem Augenblick. Er setzte seinem Sohn auseinander, wie töricht das von Hugo Momm sei, denn dann liefe es auf einen Kampf bis aufs Messer hinaus, bei dem Hugo Momm schließlich den kürzeren ziehen müsse, da Anton Dungs ihm um ein zu großes Stück in Kohle und Eisen voraus sei. Derweil aber würde man sich unnütz ärgern und verbittern und die Gelsenkirchener und Mülheimer hätten den Vorteil davon.

Alfred wurde immer ungeduldiger, denn er wußte ja, wohinaus das Gespräch nun doch gehen würde. Der Vater wollte es nun einmal nicht anders. Er blieb plötzlich stehen und sagte: »Helene Momm gäbe eine prächtige Frau für Anton.«

Anton Dungs sah seinen Sohn verwundert an. Darauf war er nicht gefaßt gewesen. »Für Anton?«

»Jawohl, für Anton.« Und nun redete Alfred ganz ausführlich darüber. Sein Vater ließ ihn gewähren und hörte scheinbar aufmerksam zu.

»Aber Anton will überhaupt nicht heiraten!« sagte er schließlich heftig.

»Und was Anton will oder nicht will, darauf nimmt man Rücksicht.« Nun wurde auch Alfred heftig. »Aber was ich will, darauf nimmt man keine Rücksicht. Wenn Du schon solchen Wert darauf legst, Dich mit Momms zu verschwägern, warum soll nicht Anton derjenige sein, warum muß ich es sein?«

Dagegen ließ sich sachlich nicht viel einwenden. Aber Anton wollte doch nun einmal nicht, und da er dem Vater sonst in allem zu Willen war, mußte man ihm doch auch einmal zu Willen sein und nachgeben. In diesem Punkte aber konnte man es schon deshalb, weil ja Alfred da war und endlich auch einmal für das Werk etwas von Wichtigkeit tun konnte, zumal es doch keine Unannehmlichkeit war, Helene Momm zu heiraten, dies nette, bescheidene, gesunde und grad gewachsene Mädchen. Aber Anton Dungs junior fühlte, daß er das Alfred jetzt nicht so gradezu sagen durfte. Der Junge schien ernstlich in das Berliner Fräulein verliebt zu sein. Wenn man ihm da direkt mit Helene Momm kam, fühlte er sich einfach beleidigt. Verliebte Leute sind ja immer gleich beleidigt. Also schwieg er zunächst und ging eifrig weiter, immer tiefer in den Stadtwald hinein. Alfred getreulich ihm zur Seite.

Da der Vater immer noch schwieg, begann Alfred ihm zu erzählen, wie er Lotte von Karst kennen gelernt habe, und wie viel sie ihm jetzt schon sei. Anton Dungs nickte dazu nur wiederholt mit dem Kopf und dachte: es ist ganz ähnlich wie damals bei mir, und es wird sicher dasselbe Unglück geben, es geht ja auch gar nicht anders bei zwei Menschen aus so verschiedenen Lebenskreisen. Aber er sagte immer noch nichts und ließ Alfred ruhig weitererzählen. Der Sohn war es gar nicht gewöhnt, daß sein Vater ihm so ruhig und ohne Widerspruch zuhörte, und deshalb hoffte er, die Angelegenheit würde sich in Frieden und Ruhe ordnen lassen. Er setzte daher auch ganz vertrauensvoll dem Vater auseinander, wie er sich seine Zukunft dachte.

Auch jetzt schwieg Anton Dungs noch, denn so erfuhr er wenigstens genau, was Alfred eigentlich vorhabe. Aber es war keine Kleinigkeit für ihn, äußerlich so ruhig zu bleiben, wo der Sohn ihm doch auseinandersetzte, wie wenig wohl er sich an seiner augenblicklichen Stelle fühle, wie er sich selbständig machen möchte und lieber eine eigene Tätigkeit anfangen. Ohne das Berliner Fräulein wäre der Sohn gewiß nie auf eine so unsinnige Idee verfallen. Nun ja, wenn die Leute aus Liebe heiraten wollen!

Schließlich fragte Anton Dungs ganz ruhig und wohlwollend, woher Alfred denn das Kapital zu nehmen gedächte für seine selbständigen Pläne?

Alfred bat, man möge ihm sein Pflichtteil auszahlen oder wenigstens einen Teil davon, wenn es nicht auf einmal ginge.

Nun hatte der Vater den Sohn, wo er ihn haben wollte, und nun konnte er ihm ganz ruhig erklären, weshalb das nicht möglich sei. Er brauchte gar nicht heftig und erregt zu werden. Das war doch alles so klar und einfach, da Anton Dungs ja selbst kein Verfügungsrecht über das Kapital hatte, sondern nur der Vermögensverwalter seiner Kinder war. Selbst wenn er ihm sein Pflichtteil auszahlen wollte, so konnte er es einfach nicht.

Alfred meinte, man könne ja die frühere Abmachung wieder beseitigen, die vielleicht ihr Gutes hatte, solange sie Kinder waren und unmündig, nun aber doch wirklich nicht mehr am Platze sei.

Alfred Dungs meinte ganz sanft, das ginge doch wohl nicht so ohne weiteres, da diese Abmachung sich bisher so ausgezeichnet für das ganze Werk bewährt habe. Er müsse doch auch das Ganze im Auge behalten und nicht nur seine Person. Er, der Vater, müsse das doch ebenfalls. Gewiß, es sei nicht immer bequem und angenehm, für ihn, den Vater, auch nicht, aber es gäbe nun einmal höhere Pflichten als die persönlichen Wünsche.

Das klang alles so selbstverständlich und tugendhaft und war in Wirklichkeit doch ganz anders, daß Alfred wieder heftiger und erregter wurde. Aber Anton Dungs ließ sich jetzt durchaus nicht aus der Ruhe bringen. Er dachte: Alfred ist ganz ähnlich wie ein junges feuriges Pferd, das ausbrechen will, aber merkt, so leicht geht das doch nicht, und nun wild und ungebärdig wird. Ich verdenke es ihm gar nicht einmal, daß er ein wenig wild wird. Aber er wird schon wieder zur Vernunft kommen.

Anton Dungs irrte sich jedoch, denn nun vergaß sein Sohn alle Rücksichten, und je mehr er seine Machtlosigkeit gegenüber der »Abmachung« fühlte, um so rücksichtsloser wurde er und erklärte ganz einfach, daß er seinen Vater durchschaue, und daß ihm jene alte »Abmachung« nur ein bequemes Mittel sei, um alle eigenen Regungen und Wünsche seiner Kinder zu strangulieren. Ja, er ließ sich sogar dazu hinreißen, ihm vorzuwerfen, daß jene Abmachung auch ein großes Unrecht gegen die Mutter sei, die Anspruch auf ihr Vermögen habe, das man ihr widerrechtlich vorenthalte.

Nun wurde Anton Dungs ebenfalls unruhig und erregt, denn von irgendeiner Ungesetzlichkeit könne durchaus nicht die Rede sein. Alles, was er getan, stehe durchaus im Einklang mit dem Gesetz, und es gehe doch wirklich zu weit, ihm mit solchen Vorwürfen und Verdächtigungen zu kommen.

Alfred hinwiederum hielt dem entgegen, es könne etwas formell gesetzlich und einwandfrei in Juristenaugen sein und könne dabei doch ein bitteres Unrecht und eine grausame Härte bleiben.

Nun ereiferten sich die beiden immer mehr und waren mitten im hitzigsten Streit, den sie doch beide hatten vermeiden wollen. Alfred nahm kein Blatt vor den Mund, und Anton Dungs ließ es seiner Meinung nach auch nicht an Deutlichkeit fehlen. Ganz rot und wild wurden die beiden Dungsköpfe, und dann zog Alfred, ohne noch ein Wort zu sagen, einfach den Hut, so wie man vor einem älteren Gegner notgedrungen den Hut zieht, kurz und heftig, und schlug einen anderen Weg ein.

Anton Dungs gab es einen Ruck. Er öffnete schon den Mund, um den Sohn an seine Seite zurückzurufen, aber er unterließ es. Nein, jetzt durfte er nicht nachgeben, jetzt mußte er fest bleiben. An dem Sohn war es, wieder einzulenken und um Entschuldigung zu bitten; und wenn er erst wieder einen ruhigen Kopf hatte, würde er es gewiß auch tun.

Alfred befand sich in der höchsten Aufregung, denn er hatte wohl erwartet, daß sein Vater ihm äußersten Falls mit Enterbung drohen würde und er sich dann sein Pflichtteil unter harten Kämpfen würde erobern müssen, aber dies war ja viel schlimmer als Enterbung, weil man wehrlos war und der Gegner dabei noch den Schein der Gesetzlichkeit und Gewissenhaftigkeit auf seiner Seite hatte. Dazu war Lotte noch ohne Abschied abgereist, indem sie nur einige Zeilen an ihn gelangen ließ, in denen sie ihm mitteilte, sein Vater habe es für gut befunden, dem Obersten einen Besuch zu machen und ihm auseinanderzusetzen, er halte es für seine Pflicht, ihm zu sagen, daß sein Sohn Alfred sich gegen seinen Willen und Wunsch für des Obersten Schwägerin interessiere, was für die junge Dame unmöglich ein Glück sein könne.

Alfred zog wieder einmal den Brief aus der Tasche. Es stand wirklich nichts weiter darin. Kein Gruß, kein Wunsch, kein persönliches Wort, nichts derart.

Als er nach Empfang dieses Briefes sofort zu dem Oberst eilte, war er nicht angenommen worden. Die Herrschaften seien nicht zu Hause, hatte es geheißen. Aber natürlich waren sie zu Hause, sie ließen sich nur vor ihm verleugnen.

Wie ein dummer Junge wurde er behandelt! Wie der erste beste dumme Junge! Aber das würde er sich keine Stunde länger gefallen lassen. Er ballte die Fäuste. So ließ er sich denn doch nicht behandeln. Alles hatte ein Ende, auch seine Geduld. Er ließ sich auf einer Bank nieder und schlug die Hände vors Gesicht, denn es überkam ihn eine gewaltige Scham vor sich selbst. Was hatte er bisher ein unnützes, törichtes Leben geführt! Was brauchte er sich auch besonders anzustrengen, er war ja der Sohn von Anton Dungs, dem Millionär. Dabei hatte er sich noch etwas darauf zugute getan, daß er nicht einfach ausgerissen war. Ueberaus edel war ihm das vorgekommen. Im Grunde aber war er viel zu verwöhnt und zu träge gewesen, um sich auf eigene Füße zu stellen. Es war ja auch viel bequemer, einfach der Sohn von Anton Dungs zu sein und nichts weiter; und dem Vater war es ja nur lieb, wenn seine Söhne nichts weiter waren, denn so lange behielt er einfach allein das Heft in Händen.

In dieser Stunde schonte sich Alfred Dungs nicht, und als er jetzt den Entschluß faßte, sich auf eigene Füße zu stellen, sich sein eigenes Leben zu schaffen, da wußte er, das war keine vorübergehende Laune, sondern dies war wirklich die Entscheidungsstunde, der Wendepunkt in seinem Leben.

Er stand auf von der Bank und reckte sich. Dann schritt er langsam und überlegend der Stadt zu.

Er sah plötzlich alles mit anderen, neuen Augen, und auf einmal verstand er auch Lottes Benehmen. Sie mußte ja doch einfach ohne Abschied abreisen, sie konnte ihm jetzt doch keine freundlichen Worte schreiben, wenn sie auf ihre Würde hielt. Er hatte sich wirklich recht unmännlich ihr gegenüber benommen, nachdem sie ihm so weit entgegengekommen war. Der richtige verwöhnte Millionärssohn war er gewesen. Kein Wunder, daß es sich sein Vater beikommen ließ, ihn zu bevormunden wie ein kleines Kind Wie sollte er auch Respekt vor ihm haben, der nur Respekt vor Leistungen besaß. Wie kindisch mußte ihm der Sohn vorkommen. Wie er bisher gewesen, taugte er in der Tat nicht zu viel mehr, als ein williges Werkzeug in der Hand seines Vaters zu sein. Er mochte wohl erwarten, daß der Sohn morgen oder übermorgen wieder zu Kreuze kriechen würde. Was sollte der verwöhnte Alfred wohl sonst auch anfangen?

Alfred beschleunigte seine Schritte, denn er wollte vor allem einen juristischen Bekannten aufsuchen und mit ihm beraten, was zu tun sei, um gegebenenfalls den Alten zur Herausgabe des Erbteils zu zwingen. Im ersten Augenblick dachte er an die Juristen, die auf dem Werk beschäftigt waren. Aber sie würden und konnten doch einfach nichts gegen seinen Vater, ihren Brotgeber, unternehmen. Das war doch klar. Er würde hier wohl überhaupt keinen Juristen finden, der für ihn gegen Anton Dungs tätig wäre. Höchstens einen sozialistischen Rechtsanwalt. Aber sich gerade in diesem Fall an einen solchen zu wenden, das widerstrebte ihm. Nein, das wäre unfair gewesen, und das wollte er unter keinen Umständen sein. Aber wer blieb ihm dann als Beistand übrig?

Alfred Dungs verlangsamte seine Schritte wieder. Seine juristischen Bekannten, soweit sie nicht zu der Fabrik seines Vaters in Beziehung standen, waren entweder unerfahrene junge Leute wie er, oder sie standen zu Hugo Momm in Beziehung. Sie würden sich deshalb vielleicht ein Vergnügen daraus machen, gegen Anton Dungs vorzugehen, schon um ihn zu ärgern. Aber eine solche Hilfe behagte Alfred auch nicht.

Er sah auf die Uhr. Am einfachsten war es, er fuhr heute noch nach Berlin. Ja, das war das einzig richtige. In Berlin würde er schon Rat und Hilfe finden. Außerdem konnte er dann gleich bei Dengerns vorsprechen, die ihm ja wohlgesinnt waren, und dann zu Lottes Vater fahren. Jawohl, so gehörte es sich.

Aber würde man ihn nicht gerade morgen beim Begräbnis der Bergleute vermissen, würde es nicht zu sehr auffallen, wenn er nicht teilnahm? Nun, dann merkte eben sein Vater morgen schon, daß es dem Sohn ernst war, daß er durchaus nicht gewillt war, wieder nachzugeben; und das konnte Alfred nur recht sein:

Er eilte in seine kleine Garçonwohnung in der Stadt und packte einen Koffer mit den notwendigsten Sachen. Das nahm eine knappe Stunde in Anspruch, und der Zug fuhr erst um zehn Uhr ab.

Er setzte sich und rauchte eine Zigarette. Ob er jetzt nicht den Bruder aufsuchte und mit ihm sprach? Eine Weile überlegte er, dann aber kam er zu dem Entschluß, es zu unterlassen. Anton würde ja doch nur zu vermitteln suchen. Es war ja wohl auch einfach seine Pflicht. Es würde den Bruder nur unnütz aufregen und kränken, wenn er auf seinem Standpunkt verharrte. Und helfen konnte ihm auch Anton nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Der Vater war ja auch seines Vermögens Verwalter, und auf eine gemeinsame Aktion gegen ihn würde sich Anton nie einlassen. Für ihn lag ja auch gar kein triftiger Grund dazu vor. Er fühlte sich wohl in seiner Tätigkeit, er wollte es gar nicht anders haben. Nein, er wollte dem älteren Bruder nicht zwecklos das Herz schwer machen. Er mußte nun seinen Weg allein gehen. Mit dem Jüngsten war ja überhaupt noch nicht zu reden.

Draußen war es schon fast dunkel, und nun wurde es Alfred doch etwas melancholisch ums Herz. Nun er seinen Koffer gepackt hatte und untätig dasaß, kam es ihm zum Bewußtsein, daß er sich nun wohl für lange Zeit von dieser Stadt trennen würde, in der er groß geworden war. Vielleicht sogar für immer, denn wenn er seinem Vater gegenüber nicht nachgab, gab es für ihn hier wohl überhaupt keinen Platz mehr. Und er würde nicht nachgeben, um keinen Preis, das war er sich schuldig, und auch Lotte konnte das von ihm verlangen.

Alfred erhob sich und schlenderte wehmütig durch die alten Gassen und nahm Abschied von ihnen wie von guten Freunden, die man bisher als selbstverständlich hingenommen, und deren wahren Wert man erst erkennt, wenn man sie verlassen muß. Plötzlich durchzuckte es ihn und er griff hastig nach seiner Brieftasche. Nun, einige braune Lappen waren ja glücklicherweise noch vorhanden. Das würde reichen für die allernächste Zeit, bis er wußte, was er zu tun hatte. Aber immerhin, er mußte haushalten und sich auf die Finger sehen, die so gar nicht daran gewöhnt waren, mit Geld zu rechnen. Ein merkwürdig abenteuerliches Gefühl, mit der er jetzt seine Barschaft betrachtete. Der Sohn von Anton Dungs junior zählte sie zum erstenmal ganz genau bis auf die Markstücke.

Es zog ihn zu dem Friedhof, zu dem Grab der Großmutter, die ihm immer so gut gewesen war. Wäre sie nicht gestorben, wäre sicherlich alles anders geworden. O, und Lotte hatte ihr gut gefallen, sehr gut. Sie hatte sich ja so gefreut über seine Wahl, und sie hatte ja wohl als sicher angenommen, daß der Vater sich damit abfinden würde. Nun war es ja aber gar nicht mehr Lotte, die zwischen ihm und dem Vater stand. Es war viel mehr als das. Und das hätte am Ende wohl auch die alte Frau nicht mehr ganz verstanden.

Alfred trat zu dem Hügel, auf dem sich Kränze türmten. Aber was war das? Da gruben die Totengräber ja noch eine ganze Reihe von Gräbern und warfen die Erde auf? Ach ja, dahinein würde man morgen die Bergleute betten. Gerade neben Frau Anton Dungs senior kamen sie zu liegen.

Alfred pflückte sich ein Immergrünreis aus einem Kranz und steckte es in seine Brusttasche. Großmutters Grab würde er nun auch lange nicht mehr zu sehen bekommen.

Leise wandte er sich wieder dem Ausgang zu und stieß an dem Portal, das zur Hälfte schon geschlossen war, auf eine junge Dame in Schwarz, die ebenfalls den Kirchhof verlassen wollte. Es war Helene Momm, und da sie so dicht beieinander waren, begrüßten sie sich, denn sie waren ja alte Schulkameraden von den Volksschuljahren her.

Sie schüttelten sich die Hände, und Helene sah recht verlegen drein. Sie sprachen miteinander eine kleine Weile über ihre Toten, die sie hier liegen hatten. Und dann griff Alfred wieder nach ihrer Hand und sagte fast ein wenig feierlich: »Leb wohl, Helene, und lasse es Dir recht gut gehen.«

Helene erschrak ordentlich und fragte: »Verreist Du denn?«

»Ja, Helene, und ich glaube für sehr lange.« Er drückte ihr nochmals die Hand und verschwand in der Dunkelheit.


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