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3. Kapitel

Schwester Emma bat Frau Dungs für den Nachmittag um eine Stunde Urlaub, denn sie müsse Helene Momm einen Besuch machen. Das Kind sei immer noch so unglücklich über den Tod ihrer Mutter und jetzt ganz allein, da ihr Vater nach Genua gereist sei.

»Nach Genua?« fragte Frau Dungs verwundert.

»In Geschäften,« bemerkte Schwester Emma.

»Dann verstehe ich es,« meinte Frau Dungs und fragte nicht weiter.

Schwester Emma erzählte, Herr Hugo Momm habe überhaupt viel Neues vor. Er sei immer noch ganz verstört durch den Tod seiner Frau und helfe sich durch doppelte Arbeit darüber hinweg.

Frau Dungs meinte: »Ist es nicht merkwürdig, Schwester, wie hier bei uns alles und jedes mit Arbeit kuriert wird? Hat jemand einen großen Kummer, doppelte Arbeit muß helfen. Hat jemand einen Aerger, Arbeit muß ihn vergessen machen. Ist einem eine Freude widerfahren, schmeckt die Arbeit noch einmal so gut. Nichts wie Arbeit, wohin man sieht und hört, ein Allheilmittel für alles. Andere Leute ruhen sich einmal aus und lesen etwas. Wenn hier einer für einen Augenblick ruhig dasitzt, ist es gewiß nur, weil er sich gerade ausdenkt, wie er seine Fabrik vergrößern, seine Arbeit vermehren kann. Eigentlich schrecklich!«

Schwester Emma konnte das nicht finden, sondern meinte, es sei ganz in der Ordnung, denn so kämen die Männer nicht auf unnütze Gedanken.

»Praktisch ist es gewiß,« sagte die Greisin, »aber wo keine unnützen Gedanken sind, gibt es auch keine Schönheit, und das ist sehr schade.«

Schwester Emma konnte das nicht finden, denn wofür könne die Schönheit gut sein? Und Kunst und dergleichen sei doch nur etwas für Leute, die sonst nichts zu tun hätten.

Frau Anton Dungs senior schwieg, denn ihr lag nicht viel daran, Schwester Emma für eine andere Anschauung zu gewinnen.

Schwester Emma meinte, das junge Fräulein von heute morgen sei gewiß recht hübsch zum Ansehn und so. Aber zu mehr sei die Schönheit doch wirklich nicht gut und das sei nicht gerade sehr viel. Was Solides und Tüchtiges, worauf man bauen und zum Beispiel einen Hausstand gründen könne oder dergleichen, sei es nicht. Die Greisin lächelte dünn und schwieg, während Schwester Emma eine ganze Weile darauf wartete, nun doch Näheres über das junge Mädchen und Alfred Dungs zu hören.

Schwester Emma klopfte noch etwas lauter auf den Busch, indem sie sagte, Herr Alfred Dungs zum Beispiel sei doch gewiß, wie man so sage, ein schöner Mann, aber davon rede doch kein Mensch viel, sondern man rede von seiner Tüchtigkeit, und so gehöre es sich doch auch!

Frau Dungs schwieg.

»Oder sind Sie anderer Meinung, Frau Dungs? Das kann ich mir gar nicht denken.«

Aber Frau Dungs lächelte nur und sagte nichts.

Schwester Emma wurde so ärgerlich, daß sie beinahe angefangen hätte, von Frau Anton Dungs junior, der Frau Adele, zu sprechen, denn das war doch der beste Beweis für ihre Anschauung, und diesem Beweis konnte sich auch Frau Dungs senior nicht verschließen, wo sie das Unglück doch in der eigenen Familie erlebt hatte. Aber Schwester Emma besann sich noch rechtzeitig, daß Frau Dungs eine solche Bemerkung vielleicht übel aufnahm, und sie wollte es jetzt nicht mit ihr verderben.

Schwester Emma erhob sich, bedankte sich noch einmal für den Urlaub, versprach, so bald wie möglich wieder hier zu sein, und wenn Frau Dungs sie früher nötig habe, so möge sie doch bitte telephonieren lassen, denn sie gehe nur zu Helene Momm, und entfernte sich.

Als sie auf der Straße stand, schüttelte sie bedenklich den Kopf. Kein Zweifel, Frau Dungs war nicht mehr recht bei Verstand. Anders ließ es sich wohl nicht gut erklären, daß sie so laxe Anschauungen hatte. Auch hatte sie sich ja leider schon immer so viel mit Musikanten und Schauspielern abgegeben. Das war nun die Folge davon. Wie das schon aussah, die zwei Löwen hier vor der Tür. Als ginge es in eine Menagerie. Und all diese Büsten in dem Wintergarten. So etwas gehörte doch nicht auf die Straße, sondern in ein Museum. Nein, mit der alten Frau Dungs war es nicht mehr ganz richtig, und Herr Anton Dungs junior hatte wirklich keinen leichten Stand in seiner Familie. Und dort auf dem Hotelbalkon stand natürlich das junge Fräulein von heute morgen und sah in die Luft. Hätte sie wenigstens gesessen und eine Handarbeit im Schoß gehabt, aber so. Es war noch nicht vier Uhr nachmittags. Da hat man doch keine Zeit, einfach auf dem Balkon zu stehen und in die Luft zu gucken.

Schwester Emma huschte schnell unter dem Balkon her, um nicht grüßen zu müssen. Es wäre dem jungen Fräulein vielleicht doch unangenehm, wenn man sie dabei antraf, wie es einfach in die Luft guckte und nichts tat.

Schwester Emma machte, daß sie zu Helene Momm kam, das war doch etwas anderes. Schon von weitem sah man sie am Fenster sitzen und stricken. Sie strickte Pulswärmer für ihren Vater. Als sie die Schwester sah, grüßte sie lebhaft und kam ihr schon an der Tür entgegen, wie es sich gehörte.

Sie ließen sich nun zu zweit in dem Erker nieder, in dem Helene Momm schon gesessen hatte. Man übersah von hier aus am besten die Straße. Außerdem war vor dem Fenster noch ein »Spion« angebracht, so daß den Blicken wirklich nicht das geringste von dem, was vielleicht draußen vorging, entgehen konnte. Helene griff wieder zu den Pulswärmern und strickte weiter. Schwester Emma zog ein Sofadeckchen aus ihrer geräumigen Rocktasche und begann zu häkeln. So war es behaglich und anständig.

Helene erzählte zunächst von ihrem Vater, der ihr wieder aus Genua geschrieben habe, daß alles gut voranginge, und daß in Italien noch etwas zu machen sei, wenn man nicht gleich die Geduld verliere. Wie schön Genua war, davon wußten die beiden nichts und erwarteten auch gar nicht, darüber etwas zu erfahren.

Helene sprach mit großem Eifer, denn sie wollte diese Sache möglichst schnell erledigen und es sich doch nicht allzu sehr merken lassen, wie eilig sie es hatte, von Schwester Emma etwas über Dungs zu hören. Das wäre unpassend gewesen. Während das junge Mädchen so eifrig erzählte und Schwester Emma nickte, den Kopf schüttelte und »das soll wohl sein« oder »ho nee!« dazwischen warf, je nachdem es paßte, musterte sie gleichzeitig Helene Momm immer wieder. Sie sollte wirklich etwas dafür tun, daß sie in der Brust ein bißchen dicker würde, dachte Schwester Emma. Das würde ihr viel besser stehn, als wo sie nun so mager ist und ein wenig derbknochig. Große Leute dürfen nicht so mager sein, dachte Schwester Emma, das steht ihnen gar nicht gut. Auch auf die Arme sollte sie ein bißchen mehr Fett bekommen. Aber sonst war sie wirklich ein ansehnliches und tüchtiges Mädchen.

Helene Momm brach ab, machte eine kleine Pause, in der sie ein wenig seufzte, weil sie so am besten ausgefüllt wurde, und auch Schwester Emma seufzte ein wenig. Das machte sich immer gut und war immer richtig.

Helene sah auf und erkundigte sich, wie es denn nun eigentlich der alten Frau Dungs gehe, und es wäre doch sehr schlimm für die Familie, wo doch die junge Frau Dungs nicht da sei, wenn es eine ernstliche Krankheit wäre. Und als sie das gesagt hatte, fiel ihr die eigene Mutter wieder ein, und Tränen traten in ihre Augen, denn sie litt sehr unter diesem Verlust.

Schwester Emma sah beiseite, denn sonst wären ihr auch die Tränen gekommen, so leid tat ihr Helene, und erzählte, daß es mit der alten Frau Dungs gar nicht gut stehe, gar nicht gut, und daß sie auch ein wenig komisch im Kopfe sei. So jung den Mann verloren und dann das Unglück mit Frau Anton Dungs junior und so. Das lasse sich nicht mit dem Besen wegkehren, das bleibe haften. Und dann die viele Musik, die es da immer gegeben habe, das greife auch an. Und dann die Schauspieler aus Düsseldorf und Köln, das gäbe auch immer neue Aufregungen. Man spräche ja davon, daß sie viel Geld dafür ausgegeben habe, und das sei doch immer ärgerlich, wenn man es hinterher sich recht überlege. Und die vielen Bücher, das sei auch nicht gerade gesund. Nun ja, und da sei sie eben ein bißchen komisch im Kopf geworden und ganz hinfällig an allen Gliedern, und wenn sie nun sterbe, dann sei überhaupt keine Frau mehr in der Familie, und das ginge doch nicht, wohin das denn führen solle?

Schwester Emma seufzte und Helene Momm seufzte, und dann sahen sie beide unter sich, denn nun war es ja wohl an der Zeit, von Alfred Dungs zu reden.

Helene Momm fuhr ein wenig zusammen, denn Schwester Emma sprach nicht, wie sie erwartet hatte, von Alfred Dungs, sondern von seinem Bruder Anton, dem Aeltesten, und was für ein tüchtiger und solider Mensch er sei. Vielleicht ein bißchen zu still, aber das könne sich wohl noch geben, wenn er erst eine angenehme Häuslichkeit habe. Was sie anlange, so gefiele ihr jetzt, wenn sie es sich recht überlege, Anton Dungs eigentlich am besten, und daß man nicht viel Wesens um ihn mache, sei ebenfalls ein gutes Zeichen. Auch ginge er seinem Vater am besten und willigsten zur Hand, und man wisse doch, wie Herr Anton Dungs junior sei, und was er für einen eigenen Kopf habe, wenn es darauf ankäme. Das habe man ja schon erfahren, als seine Frau aus dem Hause ging. Wenn ihm jemand nicht zu Willen sei, dann werde er ja ganz fürchterlich, wie man doch überall hören konnte. Und nun sei Anton außerdem auch der Aelteste und damit sicherlich der wahre Erbe des ganzen großen Unternehmens, von dem er doch sehr viel verstehen müsse, da ihm sein Vater jetzt schon so viel anvertraue. Der junge Anton Dungs sei eben so recht ein Kaufmann, wie es sich gehöre, ein zuverlässiger, solider Mensch, auf den man sich verlassen könne und bei dem man gut aufgehoben sei. Das sei auch etwas wert. Sogar mehr als Schönheit und Mundfixigkeit, und was dergleichen neumodische Manieren mehr sind. Außerdem mache er doch wirklich eine gute Figur unter den Dungs mit seinem breiten und gesetzten Wesen.

Helene Momm war unter diesen Ausführungen ganz blaß geworden. Ganz erschrocken blickte sie auf Schwester Emma. Was war denn mit Alfred Dungs geschehen, daß sie auf einmal nur von Anton sprach und ihn so in den Himmel hob?

Schwester Emma sah wohl, was in Helene Momm vorging, und erzählte nun von Alfred Dungs, der doch wirklich ein bißchen gar zu großstädtisch daher komme, wie man es hier nicht gewöhnt sei und auch gar nicht gerne sähe. In Berlin falle das wohl nicht weiter auf, denn da sollten die meisten so sein, aber hier mache es gar keinen besonders guten und soliden Eindruck. Gewiß, er sei ein auffallend hübscher Mann, wenigstens für den Geschmack der meisten, den sie in diesem Falle aber nicht recht teilen könne. Aber die Hübschheit vergehe, und wenn dann nichts anderes da sei, was sei es dann mit der Hübschheit gewesen? Eine Enttäuschung und nichts weiter.

Als Helene dazu aber schwieg, fuhr Schwester Emma fort, anders verhalte es sich natürlich, wenn jemand, der nicht von hier sei, die Wahl hätte, denn der würde mehr auf Aeußerlichkeiten sehen und schon deshalb sein Auge wohl zuerst auf Alfred, den Berliner, werfen, wie ihn sein Vater nenne, was auch nicht gerade eine Schmeichelei sei.

Helene Momm wurde immer blässer und erregter.

Da sei zum Beispiel heute morgen bei Frau Dungs ein junges Mädchen gewesen, ein Mädchen von auswärts, aus Berlin oder so. Wenn diese zu wählen hätte, würde sie wahrscheinlich nicht den ältesten Sohn wählen, sondern sicher den zweiten, der ja auch viel besser zu einer Berlinerin passe.

Nun konnte sich Helene Momm doch nicht enthalten zu fragen, wer denn dies junge Mädchen sei, und was sie bei Frau Anton Dungs senior gewollt habe?

Schwester Emma berichtete, es sei die Schwägerin von dem neuen Regimentskommandeur, der immer noch umziehe, trotzdem solche Leute sich eigentlich gar nicht so viele Sachen anschaffen sollten, weil sie nie wüßten, wo sie übers Jahr wären. Auch sei es doch recht merkwürdig, daß er gleich die Schwägerin mitgebracht habe, als ob sie gar nicht schnell genug hierher kommen könne. Anstatt beim Auspacken zu helfen, stehe sie auf dem Balkon und gucke in die Luft. Wie dies junge Mädchen zu Frau Anton Dungs gekommen sei, das wisse sie leider nicht. Aber das müsse sie sagen, sie fände es ein wenig zudringlich, wenn man noch fremd hier sei, gleich zu Frau Dungs zu laufen, als sei es die erste beste. Und wenn Frau Dungs nicht ein bißchen komisch im Kopf wäre, würde sie das gewiß auch sagen.

Helene Momm traten Tränen in die Augen, so sehr sie sich dessen auch schämte, aber ihr Unglück war gar zu groß.

»Es wird schon ganz dämmerig, und ich muß nun wieder gehen,« sagte Schwester Emma dann, putzte sich umständlich die Nase und erhob sich. Auch Helene Momm erhob sich und benutzte das Taschentuch. Dann umarmte sie Schwester Emma und dankte ihr für alles Gute, und Schwester Emma war noch ganz gerührt, als sie schon auf der Straße stand, hielt das Taschentuch für alle Fälle in der Hand und steckte es nicht wieder ein. Die arme Helene Momm. Es war gar zu traurig, wenn man keine Mutter mehr hat, und dann die Enttäuschung mit Alfred Dungs. Das arme gute Kind. Schwester Emma wurde es ganz mütterlich und weich ums Herz.

Da ratterte auf dem schlechten Pflaster ein offenes Auto vorbei und riß sie aus aller mütterlichen Weichheit. In dem Auto saß natürlich Herr Alfred Dungs, denn etwas anderes hatte er ja doch nicht zu tun, und neben ihm saß etwas mit einem Hut, wie es sie hier nicht gab. Sie hatte dies Etwas bei der schnellen Fahrt zwar nicht genau erkannt, aber es konnte doch nur das junge Mädchen aus dem Hotel sein, dem Hut nach zu schließen. Nun fuhren sie also schon allein miteinander spazieren und kümmerten sich, wie es schien, gar nicht darum, was wohl die Leute dazu sagen möchten. Und es wurde doch schon dämmerig. Nein, so etwas!

Schwester Emma stand still und steckte mit einer energischen Bewegung das Taschentuch ein. Das gehörte sich doch wirklich nicht. Was wohl Herr Anton Dungs junior sagen würde, wenn er davon hörte?

Schwester Emma fand, es sei ihre Pflicht, Herrn Anton Dungs junior davon Mitteilung zu machen. Er erfuhr es ja doch, wenn die beiden so frech durch die Stadt fuhren, und da war es schon am besten, er erfuhr es durch sie, die den Dungs doch gewiß nichts Böses nachsagen wollte.

Am einfachsten war es wohl, sie gratulierte Herrn Anton Dungs junior, und wenn er nicht gleich Bescheid wußte, dann gratulierte sie ihm eben zu der Schwiegertochter. Dabei war doch nichts Böses, und zugleich erfuhr sie, wie Herr Dungs darüber dachte. Ja, so würde sie es machen, und Schwester Emma schritt energisch der Fabrik zu, wo sie Herrn Anton Dungs sicher antreffen würde. Auch würde er sie gewiß sofort vorlassen, wo sie doch seine Mutter pflegte, die er so liebte.

*

Es hatte Alfred Dungs einige Mühe gekostet, bis er Lotte dahin brachte, daß sie zu ihm in das Auto stieg. Sie fand, es gehöre sich nicht. Am wenigsten, wo sie sich nun heimlich verlobt hatten. Er fand, gerade deshalb sei doch nichts Besonderes dabei. Wenn er schon so oft mit fremden jungen Damen gefahren sei, die ihn gar nichts angingen, sei es doch erst recht begreiflich, wenn er mit seiner Braut fahren wolle.

Alfred Dungs war vor dem Hotel vorgefahren, um den Schwestern einen Besuch zu machen. In Wirklichkeit aber wollte er vor allem Lotte wiedersehen, denn seitdem sie sich in dem Wohnzimmer von Frau Anton Dungs senior ausgesprochen hatten, wäre er am liebsten immer um sie gewesen.

Er traf Lotte allein, denn ihre Schwester befand sich noch in der neuen Wohnung. Uebermorgen war Ises Geburtstag. Bis dahin sollte die Wohnung fertig sein, und an Ises Geburtstag wollten sie zum erstenmal in der neuen Wohnung zu Mittag essen.

Als Alfred Dungs Lotte allein traf, machte er sofort den Vorschlag, sie möge auf ein Stündchen mit ihm fahren. Er werde sie schon rechtzeitig wieder im Hotel abliefern. Auch werde Lotte doch inzwischen ihrer Schwester das Nötige mitgeteilt haben, so daß es sie nicht weiter wundernähme, wenn Lotte ein wenig mit ihrem Verlobten ausführe. Aber Lotte erklärte, sie habe ihrer Schwester noch nichts davon gesagt, denn sie wolle, sowie der Geburtstag vorbei sei, zu ihrem Vater fahren und vor allem mit ihm sprechen, er müsse zuerst davon hören. Daß sie Ise gegenüber auch deshalb geschwiegen, weil sie wußte, die Schwester würde sich sehr darüber erregen und der ganze Geburtstag würde dadurch verdorben werden, das mochte Lotte ihrem Verlobten nicht sagen. Es war doch nicht nötig, ihn dadurch zu ärgern oder zu kränken.

Als Alfred dann immer mehr in sie drang, mitzukommen, meinte Lotte, sie müsse doch wenigstens ihrer Schwester gegenüber einen plausiblen Grund haben.

»Dann fahren wir eben zu unserem Hüttenwerk,« schlug Alfred vor, »und ich zeige es Dir. Das interessiert alle, die hierher kommen. Warum soll es Dich nicht interessieren?«

Lotte erwiderte, das interessiere sie wirklich, denn sie sähe dabei doch auch, wie er eigentlich lebe, und was er treibe, wovon sie sich keine rechte Vorstellung machen könne. Und so fuhr Lotte denn mit.

Alfred Dungs hatte mit Absicht gerade das Hüttenwerk genannt, weil es sehr weit fort von der Stadt lag. So hatte er Lotte fast eine halbe Stunde für sich allein, und das war ihm jetzt die Hauptsache.

»Du willst mich wohl gleich entführen?« fragte Lotte, als sie aus der Stadt herausfuhren.

»Das einfachste und praktischste wäre es entschieden,« erwiderte Alfred und schien allen Ernstes zu überlegen, wie es am besten anzustellen sei.

Sie nahm seine Hand und sagte lachend: »Du bist wohl nicht recht gescheit, Fred. Wir sind doch viel zu vernünftig, um Dummheiten zu machen.«

»Ich fühle mich im Augenblick zu jeder Dummheit aufgelegt,« erwiderte er und zog sie näher an sich.

Sie gab ihm einen Kuß und sagte: »Nun ist es aber genug.«

»Durchaus nicht!«

»Dann kehre ich sofort um.«

»Da wäre ich wirklich neugierig, ob der Chauffeur Dir mehr pariert als mir.«

»Soll ich es darauf ankommen lassen?« Sie wollte sich erheben. Er aber hielt sie zurück und sagte: «Laß nur, ich bin schon wieder vernünftig, wenn Du es absolut nicht anders tust.«

»Dunkel wird es auch schon,« meinte Lotte nach einer Weile. »Was sollen die Leute denken, wenn sie uns sehen. Ich hätte wirklich nicht nachgeben sollen und zu Hause bleiben.«

»Dann hätten wir uns also vor Deiner Abreise überhaupt nicht mehr allein gesehen? Wäre Dir das wirklich lieb, wo wir doch noch so viel zu bereden haben?«

»Dann wollen wir aber auch jetzt davon reden, Fred.«

Alfred Dungs entwickelte ihr seinen Plan. Er habe gestern schon seinen Vater um eine Unterredung gebeten, sie aber nicht erreichen können, weil der Alte im Augenblick mit Arbeiten überbürdet sei. Morgen oder übermorgen würde er ihn aber sicher stellen. Drängen wolle er auch nicht, denn der Alte sei sehr von Stimmungen abhängig.

»Ich bin Euch gegenüber arm wie eine Kirchenmaus, Fred.«

Alfred Dungs sagte ganz erregt, Geld spiele in solchem Falle keine Rolle, nicht die geringste, auch bei seinem Vater nicht.

»Aber weshalb macht er dann überhaupt Schwierigkeiten?«

Alfred Dungs gab sich Mühe, ihr das klarzumachen, ohne sie zu verletzen. Einmal könne es der Alte überhaupt schlecht vertragen, wenn einer in der Familie selbständig einen Schritt tue. »Und ich habe da schon manches auf dem Kerbholz,« sagte Alfred spöttisch. Dann habe er sich auf Grund seiner eigenen Erfahrungen eingeredet, ein Dungs sei darauf angewiesen, wenn er heirate, ein Mädchen von hier zu heiraten, eine Kaufmannstochter, die an Kaufleute gewöhnt sei. Daher habe er eine besondere Aversion gegen Adelige. Nicht an sich, sondern nur soweit sie für die Familie in Betracht kommen. Jeder solle in seiner Sphäre bleiben.

»Das predigt mein Papa auch,« sagte Lotte ein wenig bedrückt.

»Dann haben die beiden Alten einander wenigstens nichts vorzuwerfen,« sagte Alfred lachend.

»Wenn Du das alles nur nicht zu leicht nimmst,« sagte Lotte bedenklich.

»Ist es Dir angenehmer, wenn ich es schwer nehme? Sieh mal, ich kann mir denken, daß Dein Papa nicht weniger Schwierigkeiten macht als der meine ...«

»Er wird sagen, Du seist zu reich für mich,« warf Lotte ein.

»Sagen kann man viel, wenn man es darauf anlegt, und, je mehr man sagt, seine wahren Gründe um so besser verstecken. Aber laß sie doch sagen, was sie wollen, wenn wir nur einig sind, und das sind wir doch?«

Lotte nickte.

»Na also! Was gehen uns viel die andern an. Wir sind ja glücklicherweise beide majorenn und schlimmstenfalls ...«

Sie hielt ihm den Mund zu. »Du sollst so nicht reden, Du sollst an so etwas überhaupt nicht denken!«

Er riß sie an sich und sagte: »Mich wirst Du nicht wieder los, darauf kannst Du Dich verlassen!«

Sie erschrak über seine Leidenschaftlichkeit, wenn sie sich andererseits natürlich auch darüber freute.

»Entschuldige, wenn ich Dich erschreckt habe, Lotte! Siehst Du, die Mädchen hier sind ja alle so tüchtig, fabelhaft tüchtig, aber so ledern! Du bist gerade die Richtige nicht wahr?«

»Aber,« begann sie, doch er unterbrach sie.

»Wollen wir uns wirklich diese halbe Stunde durch Wenn und Aber verderben? Versprich mir nur, daß Du zu mir hältst, unter allen Umständen! Dann gibt es kein Wenn und kein Aber. Alles andere ist Nebensache und wird sich finden. Und nun gib mir noch einen Kuß, Lotte, denn wir sind gleich an Ort und Stelle.«

Sie tat es. Sie fühlte sich seltsam beunruhigt, aber sie schwieg, und erst als das Auto langsamer fuhr, meinte sie fast ängstlich: »Ueberschätzt Du mich auch wirklich nicht, Fred? Wenn es sich nun gar nicht lohnt für Dich, Unannehmlichkeiten zu haben? Ich weiß nicht, ich habe Angst, Fred. Wie ist das?«

»Und was hat die Großmutter gesagt?« flüsterte er erregt.

»Du hast recht,« antwortete sie und drückte seine Hand. Der Wagen hielt.

Alfred half ihr aus dem Wagen und führte sie zu dem Portal, an dem ein alter Mann als Pförtner stand. Er zog die Kappe und schmunzelte, als er den jungen Herrn erkannte. Und als er sah, daß der junge Herr mit einer jungen Dame kam, schmunzelte er noch einmal so wohlgefällig.

Alfred drückte dem Alten die Hand und flüsterte ihm ins Ohr, indem er Lotte näher zog: »Sehen Sie, Loh, das ist Lotte von Karst. Nun?«

Der Alte rückte seine Kappe unruhig hin und her und sein Schmunzeln wurde etwas verlegen.

»Hören Sie, Loh, Sie können ja den Mund halten, also dürfen Sie mir gratulieren. Das ist nämlich meine Braut. Aber niemand weitersagen, verstanden?«

Nun schüttelte der Alte Lotte die Hand und strahlte über das ganze Gesicht und murmelte mancherlei, was wohl Glückwünsche sein sollten, deren Worte Lotte aber nicht verstehen konnte.

»Reinen Mund halten, Loh!« Der Alte nickte, und die beiden gingen weiter.

»Wie nett der alte Mann ist.«

»Er hat noch den Großvater gekannt, Lotte, und wenn Du ihm nicht gefallen hättest, hätte er Dir nicht so kräftig die Hand geschüttelt, darauf kannst Du Dich verlassen. Kriechen tun sie Gott sei Dank hier nicht!«

Lotte griff jetzt unwillkürlich nach Alfreds Arm, so überraschte sie der Anblick, der sich in diesem Augenblick bot. Aus einem Dutzend Schornsteinen loderte dunkelrotes Feuer hoch in den Himmel hinein. Dort drüben sprühte in weitem Bogen eine riesige Feuerfontäne in die Dunkelheit. Dort drüben schwebten weißglühende Riesenblöcke gespenstisch vorüber, von denen die Funken spritzten wie Blut. Aus mächtigen Hallen strahlte grelles elektrisches Licht in den Raum. Hier blitzte es fauchend auf, dort quoll ein dicker, breiter Strom von Feuer drängend, stürmisch hervor. Ringsum ein Riesenmeer von Licht und Feuer, das brodelte, zischte, spritzte, sprang, strömte und wand sich wie fliehende Schlangen.

»Wir haben es gut getroffen,« sagte Alfred leise, »es ist gerade abgestochen worden. Ein hübsches Feuerwerk Dir zu Ehren, Lotte.«

»Mein Gott, was bedeutet das, ist hier die Hölle los?«

Alfred Dungs erklärte Lotte, daß gerade zwei Hochöfen »abgestochen« seien. Daher die Fontäne glühender Schlacke, die so weithin spritzte. Der dicke, drängende Strom darunter oder mitten aus der Fontäne heraus, das sei das dünnflüssige Eisen, das in den großen leuchtenden Töpfen zu den Gießereien geführt werde. »Und die glühenden Blöcke dort schweben zu den Walzwerken, wo sie zu Platten und zu Stangen, eckigen, runden, dicken, dünnen, gewalzt werden.«

»Und der Höllenlärm!« sagte Lotte.

Alfred lachte. »Das macht mehr Spektakel, als wenn Korn ausgedroschen wird, was? Du darfst nicht vergessen, daß wir es hier mit lauter Eisen zu tun haben und nicht mit Hülsenfrüchten, und dies Eisen wird nicht nur gedroschen, sondern noch viel mehr gepreßt, daß es bis ins Innerste ächzt und stöhnt, in die Länge gezogen, gebogen, links herum, rechts herum, durch Löcher gejagt, über Winden getrieben, auf den Kopf geschlagen, gezwickt, geduscht, wieder angehitzt, hörst Du, wie es schreit? Verstehst Du, weshalb es schreit?«

Lotte nickte.

»Dazu hat noch jede Maschine ihre eigene Stimme. Wenn Du lange hier bist, kannst Du sie ganz genau auseinander kennen. Nicht nur ihrem Aussehen, sondern auch ihrer Stimme nach.«

»Furchtbar ist es!« flüsterte Lotte.

»Und schön, Lotte, wunderschön. Oder findest Du nicht?«

Lotte nickte und starrte mit weit aufgerissenen Augen in all das unruhige Licht, das nicht nur leuchtete, sondern zugleich auch zischte, fauchte, ächzte, stöhnte.

Er faßte sie am Arm und zog sie mit sich weiter. Es ging über Bahngeleise, die unter ihren Füßen leise bebten von der Eisenlast, die auf ihnen befördert wurde. Ueber ihren Häupten fuhren surrend gewaltige Kräne hin und her. Lokomotiven stampften, Signale gellten. Es ging durch geräumige Tunnels unter der Erde her, so daß sie es nur noch über ihren Köpfen dröhnen hörten.

Lotte hatte ihren Verlobten am Rockärmel gefaßt, denn sie fühlte sich ganz verwirrt von all dem lärmenden, glühenden, eilenden Durcheinander, das wie ein Chaos aussah, und aus dem doch jeder Kran, jeder Eimer, jedes Geleise seinen sicheren unabänderlichen Weg hatte.

Sie traten in eine gewaltige Halle, die nur aus Eisen und Glas bestand. Taghell lag sie da in einem grellweißen Licht, das aus riesigen Glocken flutete, die wie außerirdische Monde unter der Wölbung standen, gespenstisch und übermenschlich zugleich. In das grellweiße Licht mischten sich gelbliche und graue Dämpfe, die den Gußöfen entstiegen. Und Plötzlich sprang in das grellweiße Licht unter die gelben und grauen Dämpfe ein hellroter Schein. Eine Ofentür war geöffnet worden, und dunkle Gestalten mit Drahtgeflechten vor dem Gesicht rührten mit gewaltigen Eisenstangen in der hellroten Flut im Innern des Ofens. Immer neue Türen öffneten sich, und plötzlich standen wohl vor jeder dieser Türen ein Dutzend Menschen, die an langen Stangen kleine Eimer hielten. In diese Eimer ergoß sich die hellrote Flut, so daß die Eimer mit eins von innen heraus glühten wie riesige Glühwürmer. Und nun strömten all diese Glühwürmer in der ganzen weiten Halle aus allen Entfernungen her einem Mittelpunkt zu. Wie Irrlichter, dicht zusammengedrängt, schaukelten sich die Eimer. Und dann ergoß sich aus ihnen die hellrote Flut langsam in die Tiefe, in den Schoß der Erde, in die Form. Die Männer hielten die Stangen mit den Eimern so weit fort, als es irgend ging, bogen den Körper zurück und wandten den Kopf der glühenden Hitze wegen schräg nach oben, daß auf den hageren Gesichtern das Licht der grellweißen Monde mit dem Licht der hellroten Flut kämpfte, während graue und gelbliche Dämpfe leise darüber hinzogen.

»Wer das malen könnte!« sagte Alfred.

Lotte nickte nur und brachte kein Wort über die Lippen. Der grandiose Anblick der Riesenhalle mit ihren Lichtern und Dämpfen nahm sie gefangen.

Alfred trat zu einem älteren Mann und fragte ihn etwas, und nun nahm er Lotte an der Hand und zog sie weiter.

»Wie ein Dom ist das,« sagte Lotte und atmete hoch auf.

»Aber ein sehr moderner Dom,« meinte Alfred, den Vergleich aufgreifend. »Die alten Dome schließen die Menschen ab von der Außenwelt. Deshalb setzte man so dicke Steinmassen zwischen sich und die Welt. Nichts sollte an die Welt da draußen erinnern, so lange man sich in dem Dom aufhielt, allein mit seinem Gott. Am deutlichsten empfindest Du das in einem romanischen Dom. Wie in einem Grabgewölbe, wenn auch oft in einem herrlich schönen, stehst Du da. Kein Laut dringt von außen zu Dir, kein Sonnenstrahl, kein Lufthauch. Im gotischen Dom wurde es dann schon ein wenig anders. Wir reden von gotischen Fenstern, aber in Wahrheit sind auch das noch keine Fenster, sondern sozusagen Mauern aus Glas. Sollten es Fenster in unserem Sinne sein, hätte man sie nicht bemalt, damit nur ja kein Tageslicht hereindränge. Und nun nimm die Halle, aus der wir kommen. Dieser moderne Dom ist sozusagen nur Fenster. Wer sich in diesem Dom befindet, der fühlt sich nicht getrennt von der Welt ringsum, deren Licht voll zu ihm eindringt. Er steht mitten in der Welt, ihrer Sonne und ihrer Dunkelheit, ihrem Wechsel von Licht und Schatten. Es ist fast wie ein kosmisches Bewußtsein ...« Er brach plötzlich ab und meinte: »Ein Glück, daß mich mein Vater nicht gehört hat. Ich glaube, er würde mir nicht einmal mehr einen Portiersposten in seiner Fabrik anvertrauen.«

Lotte aber drückte ihm dankbar die Hand. »Wie gut Du das gesagt hast, wie recht Du hast!«

Sie kamen an einem kleinen Bau vorbei, aus dem Blechmusik erschallte. »Unsere freiwillige Feuerwehr, die übt,« sagte Alfred lächelnd. Sie gelangten zu einem langgestreckten, barackenartigen Haus, dessen Tür Alfred öffnete. Zur Hälfte enthielt der Bau nichts wie Badezellen, zur anderen Hälfte einen Eßraum. »Die Kantine für die italienischen Arbeiter.«

»Sind die Arbeiter denn hier nach Nationen getrennt?« fragte Lotte verwundert.

»Gewiß,« antwortete Alfred. »Aber ich glaube nicht, daß ein besonderer Haß dahinter steckt, ich glaube vielmehr, jede Nation will nur ihren besonderen Liebhabereien ungestört von den anderen frönen. Wenn die Italiener hier sitzen, wollen sie singen und Gitarre klimpern. Die Deutschen, die derweil Sechsundsechzig oder Skat spielen wollen, würden durch das Spiel und den Gesang gestört. Dann kommt es zu Reibereien, einer zieht den andern auf, und dann erst gibt's Geraufe und Messerstechen. Früher verging fast kein Tag ohne so ein Ereignis. Ich kam dann zufällig hinter den wahren Grund, weil die Leute zum Teil ein besonderes Zutrauen zu mir haben, und habe es, wenn auch nach Schwierigkeiten, durchgesetzt, daß getrennte Kantinen eingerichtet wurden. Jetzt tut kaum noch einer dem andern etwas Böses. Ich glaube, wenn man genauer zusieht, beruht der sogenannte Rassenhaß recht häufig auf ähnlichen Gründen.«

»Die Leute hören also gerne auf Dich?« fragte Lotte, die das besonders freute.

Alfred lächelte. »O ja. Wenigstens sind sie offener zu mir als zu Anton und zu meinem Vater. Ich komme ihnen wohl nicht so streng vor. Ich glaube, sie nehmen mich als Herrn überhaupt nicht so recht für voll. Ich bin nicht scharf genug und nicht so kurz angebunden, wie sie es gewöhnt sind. Deshalb traut man sich bei mir leichter einmal mit einem Wort hervor.«

»Du brauchst Dich doch nicht schlechter zu machen, als Du bist, Fred.«

»Will ich auch gar nicht, Lotte.«

»Schön muß es sein, hier zu arbeiten, hier Führer zu sein!« Lotte reckte sich.

»O ja. Aber im Grunde sind wir alle nur Geführte, außer meinem Vater. Und wenn man genauer zusieht, als er es liebt, wird er auch geführt.«

»Von wem denn?« fragte Lotte erstaunt.

»Von der Konjunktur, von der allgemeinen geschäftlichen Lage. Wirklich unabhängig, wie er es sich gerne einbildet, ist auch er nicht.«

»Wie ein Fürst muß er sich fühlen!«

»Mag sein. Aber auch Fürsten sind abhängiger, als sie oft wahr haben wollen.«

»Du bist so skeptisch, Fred?« meinte Lotte nicht ohne Unbehagen.

»Das finden die andern auch, und sie mögen mich wohl deshalb nicht besonders.«

»Warum bist Du es denn, Fred?«

Nun sprach Alfred Dungs, während sie weiterschritten, etwas ausführlicher von sich. »Damit Du nicht demnächst auch zu den anderen gehörst, die mich nicht mögen,« meinte er lächelnd.

Sie drückte ihm heimlich die Hand.

Alfred Dungs hatte eigentlich Soldat werden wollen.

Lotte sah verwundert zu ihm auf.

Alfred lächelte wieder. »Nicht der schönen bunten Uniform wegen, Lotte, sondern um in die Kolonien zu gehen. Aber nicht als Kaufmann. Und da man mich nie und nimmer als Forscher hinausgelassen hätte, denn das wäre in den Augen meines Vaters hinausgeworfenes Geld gewesen, so wollte ich eben Soldat werden. Aber auch das setzte ich nicht durch. Meinem Vater kam es wie eine Spielerei vor. Ich dachte darüber natürlich anders. Aber darin hatte er recht, mein eigentlicher Herzenswunsch war es nicht, sondern sozusagen nur ein Umweg zu ihm, ein Umweg, von dem ich damals annahm, ihn meinem Vater plausibel machen zu können. Aber es gelang mir nicht, und da wollte ich Jurist werden, zur Verwaltung oder zur Diplomatie gehen, um so wenigstens reisen zu können und fremde Länder zu sehen und zu studieren.«

»Das war also Dein Herzenswunsch?«

Er nickte. »Aber da mein Vater auch das nicht wollte, gab ich schließlich nach und blieb hier. Da mein Herz nicht ganz bei der Sache ist, hilft es sich eben mit Skepsis über seinen Kummer hinweg. Mein Vater fühlt das wohl selbst, und deshalb ärgert ihn meine Art. Sie erinnert ihn immer daran, daß er mir meinen Herzenswunsch ausgeschlagen hat, und er sieht, daß ich ihn trotzdem nicht vergessen habe. Bei jedem anderen gefiele ihm das, denn er mag es, wenn man konsequent ist. Aber bei mir ist es ihm unbequem ...«

»Wie schade, daß Ihr Euch nicht gut versteht!«

Alfred zuckte die Achseln und erzählte weiter von seinem Leben, das ihn wohl durch ganz Europa führte; denn am liebsten unternahm er noch die Reisen für das Geschäft, aber eben nicht in unkultivierte Länder, was ihn viel mehr interessiert hätte.

»Ich hätte ja einfach ausreißen können,« meinte er nachdenklich. »Aber als ich noch ganz jung war, kam mir dieser Gedanke einfach nicht. Ein Dungs und ausreißen. Eine ungeheuerliche Vorstellung. Ich stand damals doch wohl viel mehr unter dem Bann meines Vaters, als ich dachte. Und jetzt?« Er warf einen prüfenden Blick auf Lotte. »Nun, wir werden ja sehen.«

»Was willst Du damit sagen, Fred?« fragte sie beunruhigt.

»Eigentlich gar nichts Bestimmtes, aber ich habe das Gefühl, als käme jetzt wohl der Wendepunkt in meinem Leben.«

»Meinetwegen?« fragte sie leise.

Er blickte sie gerade und offen an. »Würde Dich das beunruhigen und quälen?«

Sie schwieg.

»Aber, Lotte! Nein, das will ich nicht glauben!« Er wurde erregt. »Sieh mal, ich habe mich eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, viel zu sehr von den Verhältnissen schieben lassen. Es war ja auch bequemer so. Und weshalb besondere Anstrengungen machen, wenn man nicht recht weiß, wozu? Es lohnte sich offengestanden nicht recht. Das ist jetzt doch anders, und das verstehst Du auch ganz gut, wie ich Dich kenne. Weshalb soll ich hier mein Leben lang bestenfalls der Zweite sein, wenn ich das Zeug in mir fühle, vielleicht an anderem Ort ein Erster zu werden? Eigentlich müßte Dir das doch eher gefallen?«

Aber Lotte schwieg immer noch.

»Also schön, lassen wir das, und warten wir alles Weitere ab,« meinte er langsam und wieder völlig ruhig. »Ich sage das mit solcher Gelassenheit, weil ich annehme, ich werde nicht mehr lange zu warten brauchen ... Und nun wollen wir hier im Kasino für einen Augenblick eintreten, denn den Clou habe ich Dir bis zuletzt aufgespart.«

»Das Kasino?« fragte sie verwundert.

Alfred lachte. »Nein, gewiß nicht, aber ich möchte von hier aus telefonieren, damit alles bereit ist, wenn wir kommen.«

Er führte sie in das Beamtenkasino, einen schönen, geräumigen Bau, der auf ganz moderne Art und Weise ausgestattet war.

»So, hier sind wir sozusagen im Allerheiligsten,« sagte Alfred und öffnete die Tür zu einem Raum, der besonders einfach aussah. In der Mitte stand ein großer Tisch, von bequemen Ledersesseln umgeben. An den Wänden hingen einige Stiche, die Dungssche Fabrikanlagen darstellten, und eine Anzahl Diplome von Ausstellungen. »Das Beratungszimmer,« sagte Alfred. »Hier sitzen wir mit unseren Generaldirektoren, wenn etwas Besonderes los ist. Dort auf dem Holzstuhl mein Vater. Er kann sich an die Bequemlichkeit der Klubsessel nicht gewöhnen ... Und nun entschuldige mich für einen Augenblick.«

Lotte nickte, und Alfred entfernte sich.

Lotte ging unruhig hin und her. Und plötzlich setzte sie sich auf den Holzstuhl und weinte leise. Wie quälend das war, daß sie nun wirklich Unfrieden in diese Familie bringen würde, denn sonst hätte Fred nicht so zu ihr gesprochen. Nein, daß es so schlimm werden könnte, das hatte sie wirklich nicht gedacht. Mein Gott, es war doch keine Schande, sie zu heiraten! Aber es sah jetzt fast so aus, wo nicht einmal Fred es zu wagen schien, einfach mit seinem Vater zu reden. Und was würde ihr Vater sagen, wenn er davon erführe? Wie häßlich das alles war, gar nicht auszudenken! Darf man denn wirklich nicht mehr einfach seinem Herzen folgen? Oder dürfen das heutzutage nur noch Knechte und Mägde?

Lotte erhob sich, trocknete die Augen und sagte halblaut: »Morgen reise ich ab. Das ertrage ich nicht länger!«

Nun wurde sie ein wenig ruhiger und trat zum Fenster. Es war ganz dunkel, und wie ein schweres, schwarzes Ungetüm lag die riesige Fabrik vor ihr ausgebreitet. Es atmete schwer, es spie Feuer, wie ein Drache im Märchen.

»So,« sagte Alfred eifrig, als er wieder eintrat, »nun wollen wir auch gleich aufbrechen zu Schacht I. Ich habe telefoniert. Sowie wir da sind, können wir einfahren.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Fehlt Dir etwas? Fürchtest Du Dich?« fragte er besorgt.

Sie lächelte. »O nein, gewiß nicht, gehen wir.«

Sie war froh, als sie mit Alfred wieder im Freien, im Dunkeln war.

»Ist es Dir auch wirklich nicht unangenehm, mit mir in den Schacht zu fahren, den Kohlenschacht? Ich habe gar nicht daran gedacht, daß es Dir unangenehm sein könnte. Es interessiert nämlich alle Besucher immer am meisten, trotzdem wir natürlich nur wenig einfahren lassen. Und besonders schmutzig ist es auch nicht, denn wir ziehen uns entsprechend um, und wenn wir da unten sind, brauchen wir ja nicht gleich bis in die entferntesten Löcher zu kriechen.«

»Aber Fred, ich fürchte mich wirklich nicht, und es interessiert mich sehr.«

»Ich meine nur, wenn Du doch schon einmal hier bei uns bist, solltest Du Dir das nicht entgehen lassen. Auch macht es mir Freude, wenn ich denke, daß Du das alles dann ein bißchen kennst.«

»Lieber Fred!« Sie streichelte seine Rechte.

Er führte sie durch einen langen Tunnel. Je näher sie seinem Ende kamen, um so lauter wurde es. Es war gerade, als ginge ein schweres Gewitter nieder, so donnerte und krachte es. Als sie das Ende des Tunnels erreicht hatten, hielt sich Lotte unwillkürlich die Ohren zu. Aber nach wenigen Augenblicken schon gab sie die Ohren wieder frei, als wenn sie sonst das Bild ringsum nicht völlig in sich aufnehmen könnte. Vor ihnen ragte ein riesiger Turm aus Eisen hoch in die Nacht. Er war in mehrere Etagen eingeteilt, jede höher gelegene um ein beträchtliches kleiner als die nächste darunter. Man sah es ganz deutlich, denn auf allen Etagen huschten viele Lichter hin und her, unruhig, geschäftig, und ringsum hingen wieder wie in den großen Hallen, die großen, bleichen, gespenstigen Monde hoch in der Luft. Romantischer konnte auch die wildeste Gebirgsschlucht bei Mondenschein nicht aussehen als dies Terrain hier mit dem gewaltigen Förderturm, den vielen Laufbahnen, Hütten und Hallen, zwischen denen sich enge, kohlschwarze Gäßchen schlängelten.

Alfred nahm Lotte an der Hand und führte sie auf schmalen Eisentreppen den Turm in die Höhe, der in allen Gliedern bebte und zitterte wie ein Zugtier, das in schwerer Arbeit steht. Mit Donnergepolter fuhren die Kohlenwagen am Förderseil zu den verschiedenen Etagen des Turms, wo sie ausgekarrt, entladen und wieder eingekarrt wurden. Das krachte, donnerte, dröhnte, bebte, als stände man auf einem Vulkan vor einer Eruption.

Ein Mann in besserer Kleidung zog die Mütze und trat auf Alfred zu. Sie sprachen miteinander, aber Lotte konnte kein Wort verstehen. Der Lärm ringsum war zu gewaltig. Aber nach Alfreds Gesten zu urteilen, hatte ihm der Mann keine angenehmen Mitteilungen zu machen. Alfred zuckte heftig zusammen, wurde heftig, erblaßte, auch der andere wurde erregt, dann verlegen und zuckte schließlich hilflos die Achseln, als Alfred sich so weit vergaß und mit dem Fuß auf den Boden stampfte.

»Was gibt es denn?« fragte Lotte ängstlich, die Alfred noch nie so erregt gesehen hatte. Aber wie sollte er ihre Frage verstehen, da sie ihre Worte nicht mehr verstand, als sie ihre Lippen verließen?

Anton Dungs junior hatte von seinem Kontor aus telephonisch den Befehl erteilt, daß niemand einfahren dürfe. Alfred nahm als selbstverständlich an, daß sich dieser Befehl nicht auf ihn beziehe. Aber der Meister mußte ihm mitteilen, daß Herr Dungs diesen Befehl noch ganz ausdrücklich auch auf seine Söhne ausgedehnt habe. Nun wußte Alfred Bescheid. Es war dem Vater irgendwie hinterbracht worden, daß er sich hier mit einer jungen Dame befand. Er wußte, wer die junge Dame war, Klatsch verbreitet sich ja schnell, und nun zeigte er ihm auf so brutale Weise, wer hier der Herr war, und daß der Sohn gar nichts zu sagen hatte, wenn Anton Dungs junior nicht wollte. Er wollte ihn beleidigen und auch die Dame, die mit ihm war. Unerhört. Nur mühsam gelang es Alfred, wieder ruhiger zu werden. Aber Lotte durfte ja nichts merken, unter keinen Umständen durfte sie erfahren, worum es sich handelte. Er gab dem Meister kurz die Hand und führte Lotte auf einer schmalen eisernen Bahn, die mit Schienen belegt war, vom Turm fort in eine große Halle.

Nun konnte man sich wieder verstehen, aber der Anblick, der sich Lotte hier bot, war so seltsam, daß sie zunächst danach fragte. In der Halle hingen nämlich, etwa drei Meter über dem Boden, Tausende von Kleidungsstücken. Als seien sie zum Trocknen aufgehängt. Aber es waren nicht nur Wäschestücke, es waren auch Jacken und Beinkleider, die hier zu Tausenden dicht nebeneinander hingen.

Alfred war froh, daß Lotte von dem Vorfall, der sich eben auf dem Turm zugetragen hatte, durch diesen Anblick abgelenkt wurde und erklärte ihn eifrig. Was hier hing, das waren die Kleidungsstücke der dreitausend Bergleute, die jetzt unter ihren Füßen im Schoß der Erde arbeiteten. Sie erhielten für diese Arbeit vom Werk ihre besondere Tracht. Was hier hing, waren die Privatkleider. Jeder hing sein Bündel, nachdem er sich umgezogen hatte, an einen Haken. Der Haken wurde an einer Kette in die Höhe gezogen. Jede Kette besaß ihren eigenen Verschluß. Jeder Arbeiter hatte den Schlüssel zu dem seinen, so daß nun kein Fremder an seine Kleider konnte.

Grotesk sah es aus, eigentlich zum Lachen. Aber wenn man nun wußte, daß die Leute im Schacht sich mühten, während ihre Hüllen hier teilnahmslos und leer hingen, bekam der Anblick etwas Unheimliches. Wie entseelt hingen diese Hüllen da. Als ob das, was ihnen erst Leben gab, sie für immer verlassen hätte. Wenn die Arbeiter aus dem Schoß der Erde nun nicht mehr zurückkämen, was dann?

»Komm!« sagte Lotte und zog Alfred mit sich fort. Ihr war, als ginge ein großes Klagen und Seufzen durch all die Kleiderbündel, die wie die Gehenkten unter der Decke hingen.

Sie traten auf eine breite Estrade, auf der die Kohlen sortiert wurden und von hier aus gleich in die Waggons liefen.

»Ich dachte, wir wollten einfahren?« fragte Lotte nach einer Weile, während Alfred ihr alles eifrig erklärte, froh, daß ihr die Szene vorhin nicht weiter aufgefallen zu sein schien.

»Wir müssen noch ein wenig warten, es ist gerade kein günstiger Augenblick,« erwiderte er und erklärte weiter.

Nach einer Weile führte er sie in eine kleine Halle, in der ein gewaltiges Schwungrad eilig sich um seine Achse drehte. Vor dem Schwungrad stand ein einzelner Mann, die Hand an einer Weiche.

Alfred erklärte, wie von hier aus und von diesem einen Mann der ganze Förderbetrieb in Schacht I geregelt wurde. Rechts von ihm an der Wand hing eine große Skala, die bis auf eine halbe Sekunde genau angab, mit welcher Schnelligkeit das Förderseil draußen im Förderturm auf und niederstieg. Einmal lag natürlich sehr viel daran, möglichst schnell zu fördern. Andererseits durfte aber eine bestimmte Schnelligkeit im Interesse der Sicherheit nicht überschritten werden. Das alles konnte der Mann an der Weiche bequem von der großen Skala ablesen und danach die Zahl der Umdrehungen des großen Rades vor ihm regeln. Zugleich aber sprangen unausgesetzt an einer kleineren schwarzen Tafel römische Zahlen auf und klappten nach einer bestimmten Zeit wieder zu. Das zeigte an, von welcher Sohle im Bergwerk gerade der Förderkasten beladen war, der jetzt aufstieg.

Plötzlich öffnete sich eine Klappe mit einer roten Zahl.

»Siehst Du, jetzt steigt von Sohle III ein Mann auf, und dann muß etwas langsamer gefördert werden,« erklärte Alfred.

Der Mann an der Weiche verlangsamte die Drehungen seines Rades um ein weniges.

»Fehlt dem Mann nun etwas, der jetzt aufsteigt?« fragte Lotte, den Blick immer auf der roten Zahl.

»Vielleicht ist er nicht ganz wohl, oder er hat eine dringende Bestellung für seine Belegschaft auszurichten und dergleichen.«

»Wenn nun irgendein Unglück da unten passiert, kann man das hier auch sehen?« fragte Lotte leise.

»So weit sind wir leider noch nicht. Immerhin ist jedenfalls etwas Ungewöhnliches los, wenn kurz hintereinander mehrere Male die roten Ziffern sichtbar werden.«

»Da öffnet sich ja schon wieder die Klappe mit der roten Zahl!« sagte Lotte.

»Wenn das noch einige Male passiert, was wir nicht hoffen wollen, dann muß man allerdings annehmen, daß da unten etwas nicht in Ordnung ist, denn die Leute verlassen ja nicht gerne und freiwillig während der Schicht ihre Arbeit,« setzte Alfred auseinander.

»Mein Gott!« sagte Lotte und deutete auf die Klappe, wo schon wieder die rote Zahl erschien.

Der Mann an der Weiche blickte aus Alfred Dungs und dieser auf ihn. Beide waren blaß geworden.

Sechs Augen hingen jetzt gespannt an der Klappe, und die Sekunden kamen ihnen wie Minuten vor.

Wieder öffnete sich die Klappe, und wieder sprang die rote Zahl III heraus.

Der Mann an der Weiche, der bisher den Rücken leicht angelehnt hatte, stand nun kerzengerade an seiner Weiche, blaß bis in die Lippen und verlangsamte die Umdrehungen seines Rades.

Wieder sprang dieselbe Klappe auf.

Der Mann an der Weiche drückte mit bebenden Fingern links auf einen Alarmknopf, der direkt zum Kontor und zu den Aerzten führte. Alfred bat Lotte, ruhig hierzubleiben, er wolle nur schnell einmal zusehen, ob wirklich etwas passiert sei.

Langsamer drehte sich das Rad. Immer wieder öffnete sich die Klappe mit ihrer roten Zahl. Wie aus Stein gehauen stand der Mann an seiner Weiche.

»Was ist denn geschehen?« fragte Lotte entsetzt.

Der Mann an der Weiche schien sie gar nicht zu hören, er starrte nur immer auf die Klappe mit der roten Zahl.

»Haben Sie jemand da unten?« fragte Lotte.

Der Mann nickte nur und starrte. Zwölfmal war die rote Zahl nun aufgetaucht und wieder verschwunden.

»Schlagende Wetter!« preßte der Mann an der Weiche zwischen den bebenden Lippen hervor, ohne die Hand von der Weiche und den Blick von der Klappe zu lassen.

Lotte wußte davon nicht viel, aber sie wußte doch, daß es etwas Fürchterliches war, und nun fiel es ihr auf einmal auf, wie es draußen ruhiger wurde und nicht mehr so laut donnerte und krachte. Es wurden ja auch zurzeit keine Kohlen gefördert, sondern Menschen, vielleicht tote Menschen.

Wieder zeigte die Klappe die rote Zahl, und der Mann an der Weiche drückte zum zweitenmal auf den Alarmknopf. Es war so wenig laut mehr da draußen, daß man das Gellen der Alarmglocke, wenn auch wie aus weiter Ferne, vernahm.

»Müssen Sie denn hierbleiben?« fragte Lotte.

Der Mann nickte.

Die Klappe öffnete sich und zeigte wieder eine schwarze Zahl. In den Mann an der Weiche kam neues Leben, und das Rad lief wieder schneller.

»Soll ich einmal fragen, was geschehen ist?« fragte Lotte.

Der Mann nickte dankbar.

Als Lotte ins Freie trat, war es ganz still, so still wie auf einem Kirchhof, und sie sah viele Tragbahren, die gerade hochgehoben wurden, auf denen unkenntliche Gestalten lagen, die von Kohlenstaub überzogen waren.

Alfred kam sofort zu Lotte und berichtete, was eigentlich vorgefallen, sei noch nicht recht klar. Jedenfalls ein schlagendes Wetter, das unglücklicherweise zwölf Bergleute überrascht habe, wie sie gerade ihr Abendessen einnehmen wollten. Einer sei tot, die anderen seien augenscheinlich nur bewußtlos und würden hoffentlich gerettet werden.

Da fiel Alfred plötzlich etwas ein, er öffnete die Tür zu der kleinen Halle und rief dem Mann an der Weiche zu, worum es sich handle, und der Sohn von ihm sei nicht dabei.

In den Augen des Mannes leuchtete es für einen Augenblick dankbar auf, dann sah er wieder unentwegt nach der Skala, die Hand an der Weiche, und schon donnerte und krachte es wieder auf allen Etagen des Förderturmes. Es wurden wieder Kohlen gefördert, nicht Menschen.

Als Alfred wieder neben Lotte stand, trat Anton Dungs junior hinzu, begrüßte die junge Dame sehr förmlich und sagte zu seinem Sohn, er möge sofort in die Stadt fahren, der Großmutter ginge es sehr schlecht, wie eben telephoniert worden sei. Er könne erst in einer Stunde nachkommen. Er grüßte förmlich und verschwand mit den Tragbahren.

Als Lotte und Alfred im Auto saßen, meinte Lotte plötzlich: »Wenn wir nun eingefahren wären, Fred?«

»Dann wären wir eben vielleicht auch in ärztlicher Behandlung, Lotte. Denn ich wollte gerade zu Sohle III, sie galt bisher als absolut ungefährlich.«

Lotte schwieg erschüttert, Alfred aber dachte, wie merkwürdig es doch sei, daß ihnen beiden am Ende sein Vater, wenn auch ohne es zu wollen, das Leben gerettet hatte.


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