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1. Kapitel

Es gab auch heute nur ein einziges gutes Hotel in der Industriestadt, trotzdem sie jetzt zu den bedeutendsten ganz Westdeutschlands gehörte, wo die Reichsbankstelle im letzten Jahr einen Umsatz von fast zwei Milliarden Mark hatte. Dies eine gute Hotel stammte noch aus der alten Zeit, da die Menschen, wenn sie nur ihr gutes Essen und Trinken bekamen, recht anspruchslos waren und an Bequemlichkeit und Geräumigkeit der Zimmer keine hohen Anforderungen stellten.

In diesem Hotel hatte Frau von Beetzow, die Gattin des neuen Regimentskommandeurs, mit ihrer jüngeren Schwester, dem Freifräulein von Karst, Quartier genommen, bis der etwas umständliche Umzug von Potsdam hierher sein Ende gefunden hätte. Oberst von Beetzow hatte zwar seine Damen darauf vorbereitet, daß sie ihre Ansprüche für die Zeit ihres Aufenthaltes im Hotel etwas zurückschrauben müßten, aber so eng und düster und wenig komfortabel hatten sie es sich doch nicht vorgestellt. Dabei bewohnten sie die beiden besten Räume des Hotels, die sogar einen gemeinsamen Balkon nach der Straße zu besaßen.

»Bist Du schon wach, Lotte?« rief Frau von Beetzow aus ihrem Zimmer.

»Meinst Du vielleicht, ich könnte noch schlafen bei dem fürchterlichen Spektakel, den die Tram da draußen macht?« lautete die Gegenfrage.

Dann war es wieder für eine Weile still in den beiden Zimmern.

»Wie spät ist es eigentlich?« fragte Lotte und gähnte.

»Neun Uhr,« sagte Frau von Beetzow.

»Meinst Du nicht, daß wir allmählich aufstehn sollten?« klang es aus dem Nebenzimmer.

»Wenn Du Mut hast, Lotte!«

Frau von Beetzow lauschte einen Augenblick, dann lächelte sie. Was war nur über die Schwester gekommen, daß sie es so eilig mit dem Aufstehen hatte, seitdem sie hier waren? Die Stadt war doch wirklich nicht sehr verlockend, und die wenigen Menschen, die sie bis jetzt kennen gelernt, eigentlich auch nicht. Dabei zeichnete sich Lotte sonst durch eine gesunde Faulheit aus.

Frau von Beetzow lauschte, und dann erhob sie sich ebenfalls.

Das erste Frühstück nahmen die Damen in Frau von Beetzows Zimmer.

»Decken wir wenigstens den Matz auf,« sagte Lotte, als sie ins Zimmer trat, und entfernte das Tuch von dem Käfig, in dem ein Kanarienvogel saß. Das Tierchen reckte sich, ruckte mit dem Kopf eifrig hin und her und begann laut in den Tag hinein zu singen.

»Jetzt haben wir wenigstens eine angenehme Morgenmusik,« meinte Lotte und ließ sich neben der Schwester am Frühstückstisch nieder.

»Die Verpflegung ist wirklich gut, alles was recht ist,« sagte Lotte.

»Aber ich habe ja noch gar keinen Einwand erhoben, und Du bist schon wieder beim Verteidigen.« Frau von Beetzow musterte die Schwester eingehend.

»Habe ich vielleicht etwas an mir, das nicht kleinstädtisch genug ist, Ise?«

»Das wage ich nicht zu beurteilen, dazu kenne ich diese Stadt noch viel zu wenig. Dir scheint sie übrigens ganz gut zu gefallen, Lotte? Du bist immer guter Dinge!«

»Bin ich das sonst vielleicht nicht?«

»So doch nicht immer!«

»Ich bin eben eine gute Schwester, und da Du so schwer gegen dies Nest anstehst, bemühe ich mich, es Dir so angenehm wie nur möglich zu machen.«

»Lauter pure Güte?« Frau von Beetzow drohte mit dem Finger.

»Was denn sonst? Nun ja, es hebt meine gute Laune wesentlich, daß ich wenigstens nicht sehr lange hierzubleiben brauche.«

Ise seufzte. »Schrecklich, daß Georg annehmen mußte.«

»Es wird ja nicht ewig dauern,« tröstete Lotte.

»Das wäre auch noch schöner!« meinte Frau von Beetzow entsetzt.

Die Schwestern erhoben sich, öffneten die Balkontür und traten hinaus.

»Der erste Punkt unseres Tagesprogramms: Luftschöpfen!« lachte Frau von Beetzow.

»Das ist auch sehr wichtig,« meinte Lotte weise.

Das Hotel lag zu Anfang einer Straße, die so schmal war, daß nicht zwei Wagen aneinander vorbei konnten. Mit der einen Seite grenzte es an eine andere Straße, die wenigstens so breit war, daß die Elektrische, wenn auch langsam, hindurchkam.

»Es regnet wenigstens nicht,« meinte Frau von Beetzow erleichtert. »Aber trotzdem riecht es nach Kohle.«

»Grade wie bei Großpapa, wenn der Wind auf den Schornstein drückte,« sagte Lotte.

»Es berührt Dich also sozusagen heimatlich?«

Lotte nickte. Die Schwester schüttelte den Kopf.

»Jetzt weiß ich auch, wem das Haus dort drüben gehört, über das wir uns schon so amüsiert haben,« erklärte Lotte. »Es gehört Frau Anton Dungs senior.«

»Mein Gott, wenn schon!«

»Du scheinst nicht zu wissen, was das heißt, Ise?«

»Weißt Du es denn?«

»Frau Anton Dungs senior ist die Mutter von Anton Dungs junior.«

»Was Du nicht sagst, sieh mal an.«

»Und Anton Dungs junior ist ...« Sie suchte nach Worten.

»Was ist er denn?«

»Der reichste und mächtigste Mann dieser Stadt.«

»Ist das sehr viel, Kind?«

»So vielleicht eine halbe Milliarde, Ise.«

Ise lachte wie über einen guten Witz. »So viel Geld gibt es ja gar nicht.«

»Hier schon, Ise.«

»Herr Anton Dungs junior wäre also so etwas wie ein wandelnder Juliusturm. Wie alt ist denn der Mann wohl?«

»Fünfzig, Ise.«

»Und immer noch Junior?«

»Das bleibt er, auch wenn er hundert Jahre alt ist.«

»Zu drollig ist das bei diesen Kaufleuten. Aber woher weißt Du das alles so genau?«

»Euer Bursche ist doch hier zu Hause.«

»Aber Lotte!«

»Ich bin doch nicht die Frau Oberst, ich kann mich doch mit ihm unterhalten.«

»Und da hat er Dir das alles aufgebunden?«

»Ich glaube, Ise, lügen tun die Leute hier nicht, außer wenn es aus geschäftlichen Gründen unbedingt nötig ist. Sie machen einen so ehrlichen und geraden Eindruck.«

»Mein Gott, Kind, wie Du redest!«

Lotte fuhr fort: »Frau Dungs senior soll eine sehr scharmante alte Dame sein.«

»Am Ende wird sie mit uns verkehren?« fragte Frau Ise halb neugierig, halb erschrocken.

»Ich glaube nicht, daß sie mag,« antwortete Lotte.

Frau Ise lachte. »Du bist köstlich, Lotte. Mein Gott, wie soll ich ohne Deinen Humor hier fertig werden!«

»Ich spreche ganz ernsthaft, Ise. Hier kommandieren Frau Anton Dungs senior und Herr Anton Dungs junior, sowie Herr Hugo Momm senior und Herr Hugo Momm junior, aber nicht Dein Mann.«

»Hör' auf! Diese unmöglichen Namen!«

Um die Ecke bog in die schmale Straße ein junger eleganter Herr im Zylinder, blickte nach dem Balkon, stutzte, wollte den Hut lüften, unterließ es dann aber doch und eilte hastig zu dem Haus, in dem Frau Anton Dungs senior wohnte.

Frau von Beetzow sah ihm unwillkürlich nach und wandte sich dann zu ihrer Schwester. »Du kennst den Herrn?«

»Flüchtig.«

»Wenn Du ihn kennst, hätte er doch grüßen müssen?«

»Das hätte er wohl auch getan, wenn er gewußt hätte, ob es mir recht sei.«

Frau von Beetzow wurde ernst und wollte etwas sagen, doch Lotte kam ihr zuvor.

»Ich weiß schon, was Du sagen willst, aber tu' mir den Gefallen und warte noch damit.«

»Lotte, was geht da vor?« sagte Ise leise und erschreckt. »Wer ist der Herr?«

»Du sahst doch, wohin er ging?« wich Lotte einer direkten Antwort aus.

»Am Ende gar Herr Anton Dungs junior?«

Lotte lachte. »Sah er vielleicht so aus, als wäre er fünfzig Jahre alt? Nein, Ise, das war Herr Alfred Dungs.«

»Wer ist denn das nun wieder?«

»Das ist ein Sohn von Anton Dungs junior.«

»Der hat schon so erwachsene Söhne?«

»Du glaubst, scheint's, immer noch, junior das hätte etwas mit Jugend zu tun?«

»Und woher kennst Du den Herrn?«

»Ich traf ihn bei unserer ältesten Schwester, Frau Oberst.«

»Bei Dengerns, die so exklusiv sind?« entfuhr es Ise.

Lotte biß sich auf die Lippen, dann erwiderte sie: »Eben deshalb verkehren sie auch mit Alfred Dungs.«

»Lotte, ich bitte Dich, hast Du ... hast Du ein Tendre für den Herrn?«

Lotte lächelte. »Ein wenig, wenn Du nichts dagegen hast.«

»Und er?« fragte Frau von Beetzow hastig.

»Nicht wenig,« meinte Lotte lächelnd.

»Und das erfahre ich jetzt erst, und das geht hinter meinem Rücken vor?«

Lotte reckte sich und sagte ruhig: »Es geht gar nichts hinter Deinem Rücken vor, es geht überhaupt nichts vor, wenn ich den Ausdruck schon gebrauchen soll.«

Ise legte einen Arm um Lottes Taille und flüsterte: »Würdest Du ihn heiraten?«

Lotte nickte.

»Mein Gott, wenn das Papa erfährt!« Frau von Beetzow blickte die Schwester angstvoll an.

Um Lottes Mund legte sich ein herber Zug, während sie antwortete: »Es liegt gar kein Grund vor, Papa jetzt schon zu beunruhigen.«

Ise blickte die Schwester fragend an.

Lotte wurde blaß, als sie sagte: »Es gibt ja noch andere Schwierigkeiten auf der Welt als Papa.«

»Ich verstehe Dich nicht, Lotte.«

»Er hat ja auch einen Papa!«

Das klang so bitter, daß Ise unwillkürlich sagte:

»Macht er Schwierigkeiten?«

»Das wird er wohl, Ise.«

»Ja, was bilden sich denn diese Leute ein?« rief Ise ganz empört.

Lotte zuckte die Achseln.

»Sie könnten doch froh sein ...«

Lotte legte ihrer Schwester bittend die Hand auf den Mund. Da schwieg sie.

Auch Lotte schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Damit kein falscher Verdacht bei Dir entsteht, muß ich Dir noch sagen, daß ich mich gefreut habe, als ich hörte, Ihr seid hierher versetzt, und daß ich natürlich auch deshalb gleich mit Dir hierher reiste, weil mich diese Gegend jetzt ... interessiert. Aber um mehr handelt es sich nicht, und auch Herr Alfred Dungs wußte nicht, daß ich hier bin. Deshalb war er wohl auch ein wenig verblüfft und wußte nicht gleich, wie er sich zu benehmen hatte, als wir so plötzlich vor ihm auf dem Balkon standen.«

»Aber Du hattest es doch wohl auch deshalb so eilig, jeden Morgen auf den Balkon zu kommen?«

Lotte lächelte wieder. »Wenn der Zufall schon so merkwürdig spielt und mich in diese Stadt führt, so dachte ich, muß man diesen günstigen Zufall unterstützen, soweit es in meinen schwachen Kräften steht.«

»Aber, Lotte, schämst Du Dich denn gar nicht? Was für ein Benehmen!«

Die beiden Damen kehrten in das Zimmer zurück, und Ise deckte wieder ein Tuch über den Käfig, in dem der Kanarienvogel immer noch munter und guter Dinge darauf los sang. »Ich kann das jetzt nicht hören!« sagte sie erregt.

Lotte schlang die Arme um ihre Schwester und geleitete sie zu dem Sofa, auf dem sich beide niederließen. »Du brauchst Dich gar nicht aufzuregen, Ise, es ist wirklich nicht nötig.«

»Aber, Kind, wie soll denn das nun werden? Wenn ich an Papa denke und an die Leute dort drüben ... Wie ist denn das alles nur möglich? Das kann ja nie und nimmer gut werden!«

Lotte sah ihrer Schwester groß ins Gesicht. Dann wandte sie sich ab.

»Bist Du mir böse?« fragte Ise leise.

Lotte schüttelte verneinend den Kopf.

»Für Georg ist das doch auch nicht angenehm,« meinte Ise zaghaft.

Wieder reckte sich Lotte und sah die Schwester kampfbereit an.

»Wir sagen ihm wohl am besten gar nichts,« lenkte Ise ein.

»Das ist auch gar nicht nötig,« erwiderte Lotte ruhig.

»Wie schrecklich selbständig Du bist,« meinte Ise vorwurfsvoll.

Lotte musterte die ältere Schwester, die zart und schlank war, um einen Kopf fast kleiner als sie, die Jüngste und Kräftigste der Familie von Karst.

»Für Dich sind wir viel zu früh von zu Hause fortgegangen, und daß die Mutter so jung starb, war für Dich das größte Unglück,« klagte Ise.

»Nun wollen wir einmal vernünftig miteinander reden,« schlug Lotte vor, »da ich mich Dir gegenüber nun doch verraten habe.«

Lotte erzählte, wie sie Alfred Dungs zufällig bei Dengerns in Berlin getroffen habe. Er sei ihr gleich aufgefallen. Zunächst, weil Bürgerliche selten bei Dengerns verkehrten, am wenigsten so intim. Dann aber auch um seiner selbst willen. Seine sichere, ruhige Art habe ihr von vornherein imponiert, und daß er so gar nichts von einem Hofmacher an sich hatte. Sie seien bald in ein längeres Gespräch gekommen, da es sich herausgestellt habe, daß er ebenfalls das Land sehr liebe. Er habe ihr von seinem Gut im Westen erzählt, und so seien sie schon gleich gut Freund miteinander geworden. Sie hätten sich dann häufiger bei Dengerns gesehen, hie und da auch einmal im Theater getroffen.

»Habt Ihr Euch denn ausgesprochen?« fragte Ise. »Ich meine nicht über das Landleben, sondern ...«

Lotte unterbrach die Schwester. »Er erzählte mir einmal sehr ausführlich von zu Hause, das heißt eigentlich nur von seinem Vater, nicht von seiner Mutter. Mit ihr muß irgend etwas nicht in Ordnung sein, ein dunkler Punkt oder so ...«

»Ein dunkler Punkt auch noch!« seufzte Ise.

»Ich weiß darüber nichts Näheres, jedenfalls ist sein Vater ein Tyrann und hat seine besonderen Absichten mit seinen drei Söhnen.«

»Da ist er wohl der Aelteste und soll das Geschäft übernehmen?« fragte Ise.

»Wie Du das sagst: das Geschäft ... Nein, er ist nicht der Aelteste, sondern der zweite.«

»Also nicht einmal der Aelteste!« klagte Ise.

»Der Aelteste, der Anton heißt ...

»Schon wieder ein Anton? Das ist ja fürchterlich, da kennt sich ja kein Mensch mehr aus!«

»Der Aelteste heißt immer Anton. Der Jüngste heißt,« Lotte zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »er heißt Adam.«

Ise fuhr auf. »Wirklich Adam? Adam Dungs? Ich finde, das hört sich beinahe unpassend an.«

»Paradiesisch meinst Du?«

»Einfach unpassend. Stelle Dir vor: mein Schwager Adam Dungs ... ich bitte Dich, Lotte! Und warum fängt bei all den Leuten der Vorname immer mit A an? Kannst Du mir das erklären?«

Lotte machte ein spitzbübisches Gesicht. »Vielleicht ist es wegen der Wäsche.«

»Wie meinst Du?«

»Ich meine, es ist doch am einfachsten für alle Familienmitglieder, alles mit A. D. zu zeichnen. Billiger ist es sicher auch.«

Ise schüttelte den Kopf. »Bei Momms heißen sie wahrscheinlich alle Hugo, Hermann, Herbert und so.«

»Und wie heißt die alte Frau Dungs mit Vornamen?«

»Das weiß ich nicht, Ise, das spielt hier keine Rolle, sie heißt einfach Frau Anton Dungs senior.«

»Was diese Leute für Sitten haben!« Ise seufzte immer tiefer.

Nun kam Lotte wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurück. Wie sie den Eindruck gewonnen habe, Herr Anton Dungs junior müsse ein böser Tyrann sein, der nur seinen Willen gelten lasse und niemand anders neben sich anerkenne. Darüber habe Alfred Dungs ganz ausführlich mit ihr gesprochen, und gewiß nicht ohne Absicht.

»Welches war denn seine Absicht?« fragte Ise.

»Bist Du Dir darüber nicht im klaren?«

Frau von Beetzow verneinte.

»Ich bin mir durchaus im klaren darüber.«

»Kind, Du setzt Dir da allerhand in den Kopf,« meinte die ältere Schwester nun ernstlich besorgt.

»Ich liebe ihn,« sagte die jüngere Schwester ruhig und einfach.

Ise wollte etwas einwenden, aber sie unterließ es, als sie nun ihre Schwester ansah, die sich erhob und langsam wieder zum Balkon schritt. Sie trat aber nicht hinaus, sondern blieb im Zimmer an der Türe stehn, das Gesicht von ihrer Schwester abgewandt.

Eigensinnig war die Kleine, wie sie in der Familie hieß, obwohl sie die Längste war, immer gewesen; und verwöhnt wurde sie natürlich auch. Erst von den beiden älteren Schwestern, und als diese aus dem Hause waren, von Vater und Bruder. Da war es ihr wohl auch nie schwergefallen, ihren Willen durchzusetzen, wenn ihr daran lag. Aber jetzt? Wie konnte das Kind nur auf einen solchen Gedanken kommen! Dabei schienen sich die beiden nicht einmal richtig ausgesprochen zu haben. Und nun reiste sie dem Menschen gar noch hierher nach! Wenigstens mußte er das doch wohl so auffassen. Er wußte ja sicherlich gar nicht, daß der neue Regimentskommandeur Lottes Schwager war, und daß es sich ganz natürlich machte, wenn es auch auf den ersten Blick nicht so aussah, daß Lotte mitkam, der älteren Schwester beim Umzug behilflich zu sein. Wenn doch Thea irgendeine Andeutung gemacht hätte. Ganz gewiß hätte sie Lotte dann nicht mit hierher genommen.

»Hat denn Thea gar nichts gemerkt?« fragte Ise aus ihrem Gedankengang heraus.

»Die Gräfin Dengern? Die hat Wichtigeres zu tun.«

Andererseits ist es vielleicht sehr gut, daß sie sich noch nicht richtig ausgesprochen haben, dachte Ise. Man kann die Angelegenheit dann noch ohne Aufsehen wieder in Ordnung bringen. Das Kind wird diese unmögliche Episode bald vergessen und darüber lachen.

Frau von Beetzow erhob sich, ihr war um vieles leichter zumute, und sie meinte: »Wir wollen Georg entgegen gehen, wenn es Dir recht ist?«

Lotte nickte, und die beiden Damen machten sich zum Ausgang fertig.

»Weshalb lächelst Du eigentlich, Ise?«

»Ich finde, Ihr seid recht aus der Art geschlagen, Du und Thea. Sie hat sich mit einem baltischen Grafen verheiratet, Du offenbarst eine noch merkwürdigere Schwäche. Ich bin die einzige, die den normalen Weg einer Pommernfrau geht.«

»Dabei siehst Du viel weniger Pommersch aus als wir beiden anderen.«

Sie traten aus dem Haustor. In demselben Augenblick aber griff Lotte hastig nach dem Arm ihrer Schwester und zog sie mit sich in das Haustor zurück.

»Was hast Du denn?« fragte Ise ärgerlich.

»Dort geht er!« sagte Lotte mit großen Augen und blickte wie gebannt einem untersetzten Herrn nach, der mit kurzen geschäftigen Schritten vorwärts eilte.

»Wer denn eigentlich?«

»Herr Anton Dungs junior,« erwiderte Lotte voll Schrecken.

Frau von Beetzow blickte dem Herrn nun auch interessiert nach und meinte dann, fast ein wenig enttäuscht: »Nach dem, was Du sagtest, hätte ich ihn mir fürchterlicher vorgestellt.«

»Es steht niemand auf dem Rücken geschrieben, wie er ist,« sagte Lotte und wollte nach rechts abbiegen.

Aber Ise hielt sie zurück: »Sag' mal, wohnt denn alles, was Dungs heißt, in dem kleinen Häuschen? Das muß ja schrecklich sein!«

»Nein, da wohnt nur die Mutter. Aber sie ist krank, wie Euer Bursche mir sagte, und ich nehme an, da wollen sie sich nach ihrem Befinden erkundigen.«

»Frau Anton Dungs senior ist nicht ganz wohl, so so!« sagte Ise ein wenig spöttisch.

»Nach dem, was Euer Bursche sagte, muß ich folgern, das ist hier ein ähnliches Ereignis, als wenn wo anders eine Fürstin sich nicht wohl fühlt.«

»Kind, glaube mir, Du siehst die Dinge mit etwas gar zu ... gar zu verliebten Augen. Nächstens machst Du mir weis, daß Bulletins ausgegeben werden, wenn Frau Anton Dungs senior krank ist.«

Lotte wollte sich wieder nach rechts wenden, denn so gelangte man am schnellsten zur Kaserne. Aber Ise hielt sie wieder zurück und fragte: »Woher weißt Du denn, daß es Anton Dungs junior war?«

»Ich fühlte es gleich!«

»Geh', ein Pommernmädel, das an Ahnungen leidet!«

Lotte erwiderte lächelnd: »Auch kenne ich eine Photographie von ihm. Er sieht ihr lächerlich ähnlich.«

»Also hat er wenigstens einen guten Photographen,« meinte Frau von Beetzow, nahm den Arm ihrer Schwester und wandte sich nach links.

»Aber das ist doch gar nicht der Weg nach der Kaserne, Ise!«

»Ich möchte erst noch einmal an dem Stammhaus der Dungs vorbei, Kind. Das interessiert mich jetzt wirklich.«

Langsam schritten sie vorüber, sahen sich an und lächelten beide. Es war ein ganz einfaches einstöckiges Gebäude, das im ersten Stock sieben Fenster zählte, während das Parterre nur vier Fenster hatte. Den Raum der fehlenden drei nahm das Portal ein, zu dem eine kleine Freitreppe mit wenigen Stufen führte. Rechts und links an der Treppe standen zwei Löwen in Lebensgröße und fletschten die Zähne. Ihre gewaltigen Gestalten vor dem bescheidenen bürgerlichen Hause wirkten wirklich recht komisch. Noch seltsamer aber wirkte es, daß offenbar vor nicht allzu langer Zeit an das kleine, bescheidene Haus ein Wintergarten angebaut war, dessen Dimensionen das Haus erdrückten. Die Front des Wintergartens zierten dorische Säulen; und zwischen je zwei Säulen thronte auf einem Sockel eine antike Statue. Da waren Apollo und Diana, Minerva und Mars, Venus und der Zeus von Otrikoli, sowie der Faunkopf des Sokrates und die heroische Maske des Sophokles.

»Sie muß wirklich eine originelle Frau sein,« flüsterte Ise, als sie mit Lotte kehrtmachte, um nun zur Kaserne zu gehen.

»Eine hochoriginelle Frau,« erwiderte Lotte und erzählte von Frau Anton Dungs senior, wie sie hier inmitten all der Kohlen und des Rußes ein begeistertes Herz für alles Schöne habe und vor allem im stillen für Maler, Schauspieler und Dichter außerordentlich viel Gutes tue.

»Weißt Du das auch von unserem Burschen?« fragte Ise scherzend.

»Alfred Dungs hat es mir erzählt,« erwiderte Lotte mit ruhiger Selbstverständlichkeit.

Und wieder stieg eine große Angst und Sorge in Frau von Beetzow auf. Wie schade wäre es um sie, wie sehr schade, dachte sie und musterte die Schwester verstohlen, die so frank und frei und stolz ihr zur Seite schritt. Sie allein ist eigentlich wirklich schön von uns dreien, dachte Ise im Weiterschreiten. Thea ist zu mondain geworden, zu sehr Modedame, und ich?«

»Sag' mal, Lotte, wie findest Du mich heute eigentlich?«

Die jüngere Schwester prüfte die ältere ganz ernsthaft, dann glitt ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, sie beugte sich zu dem Ohr der Schwester, küßte es und flüsterte: »Reizend!«

Das kam so enthusiastisch heraus, daß Ise fast rot geworden wäre, aber jedenfalls sehr zufrieden war.

»Siehst Du, hier wohnt Hugo Momm,« sagte Lotte. »Fast genau so wie Anton Dungs. Nur der Wintergarten und die Büsten fehlen. Und siehst Du, über dem Portal stehen in Gold die Initialen H. M. Genau so, wie bei dem andern Haus die Initialen A. D.«

Ise nickte.

»Dort das, das ist das Geschäftshaus der Reedereigesellschaft. Nun kommen wir zum Wohn- und Sterbehaus von Matthias Terjung, der hier auch einmal ein großer Mann war. Er starb aber kinderlos.«

»Woher weißt Du denn das alles?« fragte Ise entsetzt.

»Ich habe mir einen Führer gekauft und das Gelände studiert, Frau Oberst.«

Georg von Beetzow winkte schon von weitem mit der Reitgerte, als er die Damen kommen sah. Er schritt ihnen eilig entgegen und schien sehr guter Dinge zu sein. Frau Ise stieg eine leise, leichte Röte in das Gesicht vor Freude darüber, so daß sie wie ein junges Mädchen aussah, so rosig und ein ganz klein wenig verlegen.

»Wirklich famose Leute hier, ausgezeichnetes Material!« sagte der Oberst voller Befriedigung. »Fast ein bißchen zu fix. Aber es sitzt doch, was man ihnen sagt, ohne daß man es ihnen erst einbleuen muß.«

Ise schob leise den Arm in den ihres Mannes, und die drei schlenderten nun gemächlich der Wohnung zu, die Beetzows gemietet hatten.

»Uebrigens habe ich gestern abend im Bürgerkasino eine Menge interessanter Leute kennen gelernt, von denen man ja schon manchmal in der Zeitung las. Ich stellte mir diese Krösusse offengestanden weniger sympathisch vor. Ich dachte mir, es werden heraufgekommene Großtuer sein, die sich entsprechend benehmen. Dabei sind es ganz einfache, traitable Leute, denen man gar nichts Besonderes ansieht.«

»Wer war denn alles da?« fragte Lotte leise.

»Eine ganze Masse Menschen, die ganze Hautevolee: zwei Momms, zwei Dungs, ein Zehres, ein Fabrikant Müschenborn, und wie die Leute alle heißen.«

»Zu komische Namen,« meinte Ise.

»Wenn man aus Potsdam kommt, klingt das allerdings zunächst recht merkwürdig. Aber wir leben jetzt nun einmal hier, und da ist es am zweckmäßigsten, sich schleunigst an diese neuen Menschen zu gewöhnen. Zuerst war mir die Unterhaltung, in die ich hineinhorchte, ganz unverständlich. Es war nur von Kuxen, Aktien, Reedereien und Schiffen die Rede. Aber bald kam ich dann zu einem ganz menschlichen Gespräch. Der eine will mich sogar schon heute besuchen. Ich habe ihn ins Hotel gebeten, denn mit der Wohnung ist es ja noch nichts Rechtes.«

»Wer ist denn das?« fragte Ise.

»Anton Dungs junior, ich glaube, der größte von ihnen allen,« antwortete der Oberst.

»Will er etwas Besonderes?« fragte Ise hastig und konnte nur mühsam ihren Schreck verbergen.

»Daß ich nicht wüßte. Aber irgend etwas wird er ja wohl damit bezwecken. Vielleicht ist es auch nur eine Höflichkeit. Aber das ist mir dann doch wieder nicht recht wahrscheinlich.«

Sie waren an dem kleinen Haus angekommen, das Beetzows gemietet hatten, und schritten durch den freundlichen Vorgarten zur Haustür.

»Na, Lotte, Du bist ja ganz verstummt?« fragte Beetzow verwundert, denn das paßte gar nicht zu der sonstigen Art seiner Schwägerin.

»Sie hat Kopfschmerzen,« sagte Ise und zog die Schwester schnell über die Schwelle ins Haus; und da einer der Möbelwagen an diesem Morgen angekommen war und schon seit einer Weile entladen wurde, gab es für die beiden Schwestern so mancherlei anzuordnen, daß das Gespräch nicht wieder auf Anton Dungs oder auf Lottes Kopfschmerzen kam.

Das war namentlich Ise angenehm, denn sie konnte sich gar nicht vor ihrem Mann verstellen und wollte es doch unter allen Umständen vermeiden, daß ihr Mann an ihrer Unsicherheit irgend etwas merke und dann mit Fragen in sie dringe. Sie würde ihm dann schließlich ja doch alles sagen; und wenn man darüber ausführlich sprechen mußte, dann wurde die Sache doch erst wirklich peinlich, die bisher hoffentlich nichts weiter war als eine eigensinnige Narrheit der Kleinen, über die man am besten schweigend hinwegging.

Aber während Ise Befehle erteilte, wie die großen Möbel verteilt werden sollten, kehrten ihre Gedanken doch immer wieder zu Lottes Narrheit zurück, wie sie es jetzt vor sich selber nannte. Wenn nun Anton Dungs junior Lottes wegen den Besuch bei Georg machte? Aber nein, sie vergaß immer wieder, daß der Kaufmann ja gar nicht wissen konnte, Lotte sei Georgs Schwägerin. Aber hatte Alfred Dungs sie nicht beide vorhin auf dem Balkon gesehen? Und vielleicht hatte ihm Lotte einmal von den Schwestern erzählt? Am einfachsten wäre es, sie schickte Lotte noch heute wieder nach Berlin oder am besten gleich nach Hause zu Papa. Aber das ging auch nicht gut, wo sie doch mitten im Umzug war, um dessentwillen die Schwester mit hierher gereist war. Eigentlich gar nicht hübsch von Lotte, daß sie so getan hatte, als läge ihr nur daran, der Schwester behilflich zu sein, und dann stellte es sich heraus, daß sie ein ganz anderer Grund hierher zog.

Frau Ise fuhr auf, denn Georg fragte sie schon zum zweitenmal, wie der Flügel denn eigentlich gestellt werden solle.

»Ach so, ja, ich denke, gerade hierhin, siehst Du: so. Da fällt das Licht sehr gut und hell von links.«

»Hast Du auch Kopfschmerzen, Ise?« fragte Georg.

»Ich? Nein, nicht im mindesten.«

»Du bist so zerstreut. Oder ist es Dir so unbehaglich in der neuen Umgebung?«

Ise verneinte und nahm sich fortan mit aller Gewalt zusammen; und da Lotte im unteren Stockwerk hantierte, während sie im ersten Stock tätig war, wurde sie an die »Narrheit« erst wieder erinnert, als es zwölf Uhr schlug und die Arbeiter Mittag machten.

Der Oberst geleitete seine Damen zum Hotel und wollte dann noch einen Sprung in die Kaserne tun. Vor halb eins würde Herr Dungs doch wohl schwerlich erscheinen, also hatte der Oberst gerade noch Zeit. Und wenn er doch früher kam, so konnten ihn ja einstweilen die Damen in Empfang nehmen.

Der Wirt näherte sich den dreien und teilte dem Oberst mit, Herr Dungs habe telephonieren lassen, er werde um eins vorsprechen können, und wenn der Herr Oberst um eins zu Tisch ginge, wie Herr Dungs annähme, so würde Herr Dungs auch gleich einen Bissen essen, wenn der Herr Oberst nichts dagegen hätten.

»Also schön,« sagte der Oberst mit einem leisen Lächeln, und der Wirt entfernte sich wieder.

»Die Wichtigkeit!« meinte Ise und rümpfte die Nase.

»Er hält mich, wie es scheint, für einen Junggesellen, oder er glaubt, ich sei noch allein hier. Aber wenn es Euch nicht unangenehm ist, kann er ja mit uns essen?« Der Oberst sah auf seine Damen, die schwiegen. »Oder ist es Euch unangenehm?« fragte er verwundert.

»Nein, Georg, unangenehm ist es mir nicht, wenn es Dir nur nicht unangenehm ist.«

Der Oberst lachte. »Mir ist es, sozusagen, schnuppe!«

»Also schön, dann werden wir noch ein bißchen Toilette machen für Herrn Dungs junior, den wandelnden Juliusturm,« sagte Ise spöttisch, und der Oberst empfahl sich.

Punkt eins begaben sich die drei in den Speisesaal, da Herr Dungs noch auf sich warten ließ. Die Damen waren bisher noch nicht in diesem Saal gewesen, da man auf dem Zimmer gespeist hatte. Das ging heute, wo Herr Dungs erscheinen wollte, natürlich nicht.

»Nein, wie komisch!« sagte Ise, als sie in den Saal traten, und hatte Mühe, nicht laut zu lachen. Mitten durch den Saal, der ganzen Länge nach, lies die Tafel, an deren einem Ende ein Häuflein Menschen saß, die schon eifrig mit dem Löffel hantierten. Dann zeigte die Tafel eine ziemlich weite leere Strecke, wo niemand saß, und dann traf man auf einen großen Trupp Herren, rechts und links, die sich eifrig unterhielten.

Während der Oberst seine Damen zu einem kleinen Tisch am Fenster geleitete, wo für sie gedeckt war, und den Gruß zweier Hauptleute erwiderte, die an der großen Tafel saßen, erklärte er seinen Damen die für sie so merkwürdige Situation. »Der kleine Trupp gleich bei der Tür, das sind Reisende, die in Geschäften hier sind, meist in den Nachbarstädten übernachten, aber hier gerne zu Mittag essen, weil das Essen des Hotels berühmt ist. Der leere Raum zwischen ihnen und den anderen markiert die gesellschaftliche Distanz, die zwischen den Reisenden und den anderen Herrschaften besteht, die hier regelmäßig ihr Mittagbrot einnehmen: höhere Beamte, die Junggesellen sind, einige Offiziere und dergleichen. Zuoberst sitzt der Oberbürgermeister, dann kommt der Hauptmann Goebel und so weiter. Genau der Rangordnung nach.«

Ise lachte in sich hinein. Sie fand das Bild zu drollig und machte ihre Bemerkungen darüber. Lotte aber verhielt sich stumm. Sie war zu sehr mit mancherlei Gedanken über Anton Dungs junior beschäftigt. War es wirklich nur ein Zufall, daß er hierher kam, oder hatte sein Sohn etwas über sie laut werden lassen, was dem Vater Veranlassung gab, den Oberst heute aufzusuchen?

»Nun könnte er aber wirklich kommen,« meinte Ise geärgert, »sonst wird uns noch die Suppe kalt, und anstandshalber müssen wir doch auf ihn warten.«

In demselben Augenblick sahen die drei nach der Tür, und zwar einfach deshalb, weil es alle anderen auch taten und es für einen Augenblick ganz still wurde in dem Saal.

Der untersetzte Herr dort an der Tür, das war Anton Dungs junior. Ise kannte ihn ja schon. Er sah sich hastig um, schritt dann mit eiligen Schritten durch den halben Saal, hier und da einen Gruß erwidernd, erblickte den Obersten und stutzte. Für einen Augenblick sah sein Gesicht wie hilflos drein, und es schien fast, als wolle er wieder umkehren. Aber der Oberst hatte sich schon erhoben und ging Herrn Dungs entgegen. Eine leichte Röte trat in Herrn Dungs Gesicht, und Ise merkte, wie es ihrem Mann einige Ueberredung kostete, bis Herr Dungs sich mit ihm dem kleinen Tisch näherte.

Der Oberst stellte vor, und Herr Dungs nahm Platz. Er hatte in der Tat nicht gewußt, daß der Oberst verheiratet war, und es berührte ihn augenscheinlich peinlich, daß er da sozusagen in eine Familienmahlzeit hineingefallen war. Er entschuldigte sich deshalb wiederholt und tat das so eifrig, indem er zugleich auf seinen Sekretär schalt, der ihn nicht ausreichend informiert habe, daß es nun direkt wie eine Unhöflichkeit gegen die Damen wirkte. Plötzlich schien er das selbst zu empfinden, und wieder bekam sein Gesicht für einen Augenblick einen hilflosen, fast kindlichen Ausdruck.

Ise atmete auf, indem sie dachte: jedenfalls weiß er von Lotte nichts.

Auch Lotte wurde es leichter, indem sie dachte: einen gar so gefährlichen Eindruck macht er wirklich nicht.

Für die Herren an der langen Tafel war es augenscheinlich eine Sensation, daß Anton Dungs junior heute hier aß, denn man sah immer wieder nach dem kleinen Tisch, die Reisenden am oberen Ende der Tafel tuschelten, und einige reckten gewaltig die Hälse, um sich Herrn Dungs ja recht genau zu betrachten.

Der Kellner servierte die Suppe an dem kleinen Tisch, an dem man sich nun bemühte, Konversation zu machen. Aber das war leichter gesagt als getan, standen sich doch zwei fremde Welten gegenüber, die eigentlich gar keine Berührungspunkte hatten. Wovon sollten sich der Oberst und der Kaufmann unterhalten, ohne mehr als allgemeine Redensarten zu machen? Wie sollten sich Ise und Lotte an der Unterhaltung mit Herrn Dungs beteiligen? Es waren ja weder gemeinsame Bekannte noch gemeinsame Interessen da.

Also begann Frau Ise vom Wetter zu sprechen und fragte, ob es hier das ganze Jahr über so arg nach Kohlen rieche.

Herr Dungs lächelte und meinte, das sei jetzt noch gar nichts, das käme noch ganz anders, wenn erst der Sommer da sei und die Sonne über der Stadt brüte. Ihm persönlich sei dann offengestanden am wohlsten, er wünsche sich gar keine bessere Luft. Mit den Damen sei es freilich etwas anderes. Sie klagten immer sehr, daß es hier mit den hellen Kleidern kein gutes Durchkommen habe. Nun, dann müßten die Damen eben noch häufiger die Kleider wechseln, und das sei ihnen zumeist wohl gar nicht unangenehm.

Nette Aussichten, dachte Ise und blickte vorwurfsvoll auf ihren Mann, daß er hierher gegangen. Der Oberst kannte diesen Gesichtsausdruck, wußte, was er zu bedeuten hatte, und so griff er jetzt in das Gespräch ein. Er erkundigte sich nach Art und Charakter der einheimischen Bevölkerung, worüber Herr Dungs doch gewiß Bescheid wußte.

Da bekam Herr Dungs mit eins auch schon ein ganz anderes Gesicht und erzählte. Sogar die beiden Damen folgten seinem Gespräch sehr bald mit großem Interesse. Was er sagte, hatte Hand und Fuß. Es floß alles aus einer so urgesunden und klaren Beobachtungsgabe, die sich nichts weismachen ließ und sich selbst mit größter Selbstverständlichkeit zum Ausgangspunkt aller Wahrnehmungen machte. Und da er sich über die eigene Person nichts vorlog, hatte er auch ein sehr klares Urteil über seine Umgebung. Dabei redete er nie abstrakt, sondern immer sehr anschaulich und mit Hilfe von Beispielen, und zwar sprach er in einem trockenen, ein wenig satirisch gefärbten Ton.

Die Schwestern sahen sich an, und beide dachten: das ist offenbar in der Tat ein grundgescheiter Mensch. Und während Herr Dungs weiter erzählte, musterte Lotte ihn ein wenig genauer. Eine untersetzte, kräftige und sehr bewegliche Gestalt. Schlichtes, blondes Haar, das an den Schläfen fast weiß war. Ein kräftiger, kurzgeschnittener Schnurrbart, dazu ein spärlicher, ebenfalls ganz kurz gehaltener blonder Vollbart. Eine massige Stirn, in die von der scharf abgesetzten und sehr energischen Nase eine tiefe Furche hoch hinauf stieg. Die großen graublauen Augen traten stark heraus. Lotte dachte, gar kein hübsches Gesicht, nicht eine Spur von Aehnlichkeit mit Alfred Dungs, und nun wandte sie sich plötzlich ab und fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, so unvermittelt und scharf und schnell hatten sich die beiden graublauen Augen in ihr Gesicht gebohrt, um im nächsten Augenblick schon wieder mit einem liebenswürdig-jovialen Ausdruck sich dem Oberst zuzuwenden. Lotte klopfte das Herz, denn in diesem Augenblick war es ihr, als könne man sich wirklich vor diesem Manne fürchten. So hatte er sie angesehen.

Dem Oberst war bei der klaren und gescheiten Auseinandersetzung ganz warm geworden, und er sprach nun von dem Eindruck, den er von seinen Leuten in der Kaserne gewonnen habe in diesen Tagen. Er war sichtlich bemüht, seine Anschauungen möglichst denen des Herrn Dungs anzupassen.

Ise langweilte sich, denn nun hatte das Gespräch für sie mit einem Male kein Interesse mehr.

Lotte beobachtete wieder Herrn Dungs, dessen an sich schon bewegliche Glieder unruhiger wurden. Merkwürdig, er saß eigentlich ganz still am Tisch wie andere Leute auch, und doch wurde man den Eindruck nicht los, als ob nur die Kleider, die er trug, so ruhig wären, während der Mensch selbst in allen Gelenken federte. Die Hände waren unausgesetzt in Bewegung, ohne daß Herr Dungs gestikulierte, die Füße hielten keinen Augenblick Ruhe und die Augen auch nicht. Jetzt hatten sie ein ganz listiges und verschlagenes Aussehen. Aber im nächsten Augenblick war dieser Ausdruck schon wieder verschwunden. Nun kehrte er wieder, und gleichzeitig wurden die Hände noch beweglicher, die Finger griffen hin und her, und das Handgelenk vibrierte. Was hat er nur, was will er? dachte Lotte und fühlte sich beunruhigt, ohne zu wissen, weshalb.

Der Oberst kam zufällig auf den Exerzierplatz zu sprechen, und in demselben Augenblick saß Herr Dungs plötzlich ganz unbeweglich da, und die graublauen Augen traten noch ein wenig mehr und starr hervor.

Der Oberst kam auf etwas anderes zu sprechen, und nun wurde Herr Dungs wieder unruhig und nervös. Lotte ließ kein Auge von ihm. Er warf ihr zwei-, dreimal einen flüchtigen Blick zu, als störe sie ihn. Er schien sich dessen aber kaum bewußt zu sein, so sehr war er augenscheinlich in einen ganz bestimmten Gedanken vertieft.

Der Oberst sprach wieder vom Exerzierplatz, und wieder ward alles an Herrn Dungs ruhig und unbeweglich. Fast sieht er jetzt wie ein Raubtier aus, das springen will, schoß es Lotte durch den Kopf.

Der Oberst kam auf ein anderes Thema, sprach eine ganze Weile, und nun fing Anton Dungs von dem Exerzierplatz an.

Ise wurde ungeduldig und wandte sich mit der Frage an Herrn Dungs, ob die Umgebung der Stadt denn auch so rußig sei.

Anton Dungs schwieg einen Augenblick, wie um sich zu sammeln, und dann fragte er mit dem liebenswürdigsten Gesicht von der Welt und voller Verwunderung, ob die Frau Oberst denn die Umgebung noch gar nicht kenne, die doch weithin berühmt sei. Ise verneinte, und Herr Dungs behauptete, dann sei es höchste Zeit für die Frau Oberst, diese berühmte Umgegend kennen zu lernen. Vielleicht versöhne sie das in etwas mit dem Kohlenstaub in der Stadt. Herr Dungs stellte für den Nachmittag gleich ein Automobil zur Verfügung. Er selbst könne den Damen die Umgegend nicht zeigen, da er geschäftlich verhindert sei, aber seinem Sohn Alfred, dem Berliner, wie er ihn nannte, würde es ein Vergnügen sein. Ehe der Oberst und seine Damen noch etwas einwenden konnten, hatte Herr Dungs schon einen Kellner zum Telephon geschickt und den Wagen bestellt.

Ise machte Einwendungen. So sei ihre Frage natürlich nicht gemeint gewesen, denn ihr gefiel es gar nicht, wie dieser fremde Mensch plötzlich einfach über sie und ihren Nachmittag verfügte. Aber Herr Dungs sagte, es sei doch ganz selbstverständlich, daß sie sich so bald wie möglich, zumal es gerade einmal nicht regne, die Umgegend ansähen, und im Auto ginge es am schnellsten und bequemsten. Wollte man nicht direkt unhöflich sein, konnte man sein Anerbieten nicht gut ablehnen. Eigentlich lag ja auch kein triftiger Grund zu einer solchen Ablehnung vor, aber Ise war nun einmal ärgerlich über Herrn Dungs und seine Art und brauchte einige Zeit, bis sie sich damit abgefunden hatte.

Beim Nachtisch kam Herr Dungs wieder auf den Exerzierplatz zu sprechen und meinte so beiläufig, es interessiere ihn ein wenig, daß also wirklich ein neuer Exerzierplatz gekauft werden solle, der alte liege wirklich ein bißchen sehr nahe der Stadt und beginne deren Entwicklung im Wege zu stehen.

Lotte horchte auf. Hatte Alfred Dungs nicht zufällig einmal bemerkt, daß das Stammwerk seines Vaters beim Exerzierplatz läge und in seiner weiteren Entwicklung dadurch gehemmt würde? O, sie hatte ein gutes Gedächtnis für alles, was sie mit Alfred Dungs gesprochen hatte. Nun glaubte sie, ganz genau zu wissen, weshalb sich Anton Dungs junior heute zu Tisch hier eingefunden hatte. Er wollte einfach erfahren, wann ein neuer Exerzierplatz angelegt würde, um als erster bei einem eventuellen Verkauf des alten bei der Hand zu sein. Das war alles. Und da er nun darüber informiert zu sein schien, interessierte ihn die ganze Gesellschaft augenscheinlich nicht mehr. Wenigstens bekam sein Gesicht jetzt etwas Ungeduldiges und Unaufmerksames, und die Hand fuhr einige Male nach der Weste, als wolle sie die Uhr herausziehen.

Ise erzählte von Potsdam und Berlin. Vielleicht ärgerte das Herrn Dungs, den sie jetzt gar nicht mochte. Als sie im Gespräch den Namen Dengern fallen ließ, horchte Anton Dungs einen Augenblick auf, und Ise setzte gleich hinzu, daß die Gräfin Dengern eine Schwester sei, die älteste von ihnen. Anton Dungs sagte, sein Berliner habe ebenfalls bei einer Familie dieses Namens verkehrt, es sei am Ende dieselbe. Das bejahte Ise.

»Dann kennen Sie meinen Berliner wohl schon?« fragte Herr Dungs.

Lotte erklärte, ihn bei Dengerns einige Male gesehen zu haben, und wieder traf sie ein schneller, scharfer Blick aus den graublauen Augen für einen kurzen Augenblick. Diesmal kam es Lotte so vor, als sei er auch voller Mißtrauen.

Ise sprach weiter, aber es stellte sich ganz unvermittelt eine unbehagliche, drückende Stimmung ein, die sich auch der Sprecherin mitteilte, so daß sie bald abbrach.

Man rührte mit dem Löffel in der Mokkatasse, und auch den Obersten überkam ein ungemütliches Gefühl, das er sich gar nicht erklären konnte. Er versuchte es mit einem neuen Gespräch, das aber bald wieder langsam versickerte.

Herr Dungs sprang plötzlich hastig auf, entschuldigte sich, die Herrschaften so lange in Anspruch genommen zu haben. Er stockte einen Augenblick, und wieder bekam sein Gesicht einen hilflosen, fast kindlichen Ausdruck. Er machte eine etwas ungelenke Verbeugung und verschwand.

»Tyrann!« murmelte Ise.

Der Oberst lachte. »Natürlich, Du bist nicht gut auf ihn zu sprechen, Dir gefallen seine Manieren nicht. Besonders galant ist er ja in der Tat nicht.«

»Wie kann er gleich auf uns beide Beschlag legen für den Nachmittag!« sagte Ise empört.

»Aber ich bitte Dich, das war doch keinesfalls böse gemeint,« beschwichtigte der Oberst. »Und weshalb sollt Ihr heute nachmittag nicht eine hübsche Spazierfahrt machen? Das wird Euch nach der Arbeit heute morgen doch gewiß eine ganz angenehme Erholung sein.«

»Ich mag aber nicht diesem Herrn Dungs eine Erholung verdanken,« erklärte Ise eigensinnig, wozu Lotte lächelte, denn Ise war es gewiß nur unangenehm, mit Herrn Alfred Dungs zusammen zu treffen, das war der wahre Grund ihrer Mißstimmung. Man erhob sich, der Oberst sichtlich verstimmt über die Art seiner Frau. An der Tür stieß man auf Alfred Dungs, der mit dem Auto schon zur Stelle war. Da der Oberst ihn von gestern abend her schon kannte und auch Lotte ihm sofort als einem guten Freund die Hand reichte, mußte Ise sich darein finden, gleich zum Auto geführt zu werden.

»Vermutlich hätten die Damen lieber erst eine kleine Siesta gehalten,« meinte Alfred Dungs. »Daran hat mein Vater natürlich nicht gedacht.«

Um keinen Preis hätte Ise das jetzt zugegeben, und so stieg sie gleich in das Auto. Die beiden Damen nahmen im Fond Platz, und der Oberst verabschiedete sich, da er nun wieder zur Kaserne müsse. Anton Dungs ließ sich auf dem Rücksitz nieder, und man fuhr ab.

»Jetzt fahren wir also zunächst zum Stadtwald, dem besonderen Stolz unserer Stadt,« erklärte Alfred Dungs.

»Ist der Wald denn hier eine Rarität?« fragte Ise, immer noch ein wenig unzufrieden.

Alfred Dungs erklärte, weshalb ein solcher Wald heutzutage für diese Gegend in der Tat etwas Wertvolles sei, und das Auto sauste einen Hügel hinauf. Dann ging es wieder bergab, ein neuer Hügel wurde genommen, und man befand sich am Stadtwald.

»Könnten wir nicht ein bißchen zu Fuß gehen? Es ist so hübsch hier,« meinte Lotte, und da Ise einverstanden war, stieg man aus und schritt auf einen schmalen Pfad zu, den gewaltige Buchen im ersten Frühlingsgrün umstanden. Der Chauffeur fuhr, ohne daß ihm eine Weisung gegeben wurde, auf der Chaussee weiter.

»Sie haben ja dem Chauffeur kein Wort gesagt. Woher weiß er denn, wann und wo wir ihn wieder brauchen?« fragte Ise verwundert.

Alfred lächelte dünn. »Das ist deshalb nicht nötig, gnädige Frau, weil wir jedem Besuch, an dem uns liegt, ungefähr dasselbe zeigen. Das weiß der Chauffeur schon auswendig. Es ist seit vielen Jahren die Tour für unsere Gäste, die nur je nach der Jahreszeit einige kleine Variationen hat. Wären wir zum Beispiel jetzt, wo es Frühling ist, nicht hier ausgestiegen, ich glaube, der Chauffeur hätte alle Fassung verloren.«

Man kam tiefer in den schönen Frühlingswald.

Alfred Dungs ließ sich dadurch nicht stören, sondern fuhr mit leichtem Spott fort: »Wenn Sie wollen, ist auch diese Fahrt in die Umgegend eine Geschäftstour, die mein Vater jedem auferlegt, mit dem er zu tun hat. Vormittags wird im Kontor verhandelt, und ist das Geschäft gut und perfekt, folgt diese Nachmittagstour. Für gewöhnlich liegt einem von uns Brüdern die Begleitung ob. Es muß schon etwas ganz Besonderes sein, wenn mein Vater mitfährt, zumal ihm das moderne Auto in der Seele zuwider ist.«

»Wohin man hört, Geschäft. Selbst hier unter den schönen Buchen,« meinte Ise.

»Man gewöhnt sich auch daran, gnädige Frau.«

»Sehen Sie nur, dieser prachtvolle Reitweg,« rief Lotte enthusiastisch.

»Ihn hat die Stadt eigens für den Geheimrat Hofmann anlegen lassen,« erklärte Alfred. Und da die beiden Damen ihn fragend anblickten, fuhr er fort: »Geheimrat Hofmann wohnte nämlich früher in Mülheim. Bei dem letzten großen Bergarbeiterstreik ging nicht alles so, wie er es wollte, und da zog er wütend von Mülheim fort hierher.«

»Und da baut die Stadt ihm gleich einen eigenen Reitweg?« fragte Lotte.

»Er ist ein leidenschaftlicher Reiter, Baronesse, und dieser Reitweg ist gleichsam das Band, durch das man ihn an unsere Stadt fesselt.«

»Ist denn das so wichtig?« fragte Ise.

Wieder lächelte Alfred ironisch. »Und ob das wichtig ist, gnädige Frau. Jetzt versteuert er doch hier sein Privatvermögen und nicht mehr in Mülheim. Das ist für die Stadt keine Bagatelle.«

»Geschäft!« meinte Lotte nicht ohne leise Bitterkeit.

Man gelangte zu einer kleinen Wiese, an deren Rand ein Komplex kleiner Häuser lag.

»Hier wohnt die Dienerschaft von Geheimrat Hofmann,« erklärte Alfred. »Seine Villa, Villa Eris hat er sie zur Erinnerung an den Streik und alle Streitigkeiten getauft, liegt noch eine Viertelstunde tiefer im Wald.«

Sie wanderten weiter und näherten sich der »Villa Eris«, die ganz versteckt in einem verwilderten Garten lag, der von einer hohen Mauer umgeben war.

»Den Lärm und die Menschen scheint der Mann nicht sonderlich zu lieben,« sagte Lotte.

»Lärm und die Menschen hat er ja den ganzen Tag über bei der Arbeit. Will er sich wirklich erholen, darf er von beiden nichts merken.«

»Entweder arbeitet er also zu viel, oder er ist ein Menschenfeind,« sagte Ise.

»Er arbeitet zu viel, gnädige Frau. Das tun überhaupt alle hier.«

»Und wozu?« warf Lotte ein.

»Um möglichst viel Geld zu verdienen, Baronesse.«

»Man kann es doch nicht essen!« rief Ise.

»Aber man erwirbt Macht damit, das ist es!« sagte Alfred. »Sie leiden hier alle am Machthunger und wissen deshalb nichts von Genuß.«

»Ihnen ist es vielleicht der Genuß aller Genüsse?« fragte Lotte.

»Es muß wohl so sein, denn sonst wäre das alles gar zu närrisch,« erwiderte Alfred.

Sie umschritten die »Villa Eris« und gelangten bald wieder zur Chaussee, wo der Chauffeur schon wartete. Tiefer ging es in den Wald hinein, bis sich in einer Lichtung ein schöner, schloßähnlicher Bau erhob, vor dem der Chauffeur hielt.

»Wollen wir einen Augenblick hineingehen?« fragte Alfred.

»Geht denn das?« meinte Ise.

»Es geht schon,« erwiderte Alfred lächelnd, »das habe ich mir nämlich bauen lassen, und im Herbst werde ich wohl einziehen.«

Still und ein wenig bedrückt folgten die Damen ihrem Führer in das Innere des schloßartigen Hauses. Sie müssen hier schon unmenschlich viel Geld haben, dachte Lotte und wurde immer stiller.

Alfred zeigte ihnen die Räume, die er zu bewohnen gedachte. Alles außerordentlich geschmackvoll und modern. Als sie in den zweiten Stock gelangten, rief Ise: »Das sieht hier ja fast wie ein Hotel aus!«

»Soll es sozusagen auch sein, gnädige Frau. Sehen Sie, immer ein Wohn- und ein Schlafzimmer mit Bad daran. Es ist für die Gäste. Ich habe meinem Vater schon längst in den Ohren gelegen, daß wir besser für sie sorgen müssen. Unser altes Hotel in der Stadt ist ja, was Verpflegung angeht, gewiß gut, aber mit dem Komfort ist es schlecht bestellt. Nun hat mein Vater zwar einen großen Kasten gekauft, in dem er wohnt und zu Repräsentationszwecken auch Leute empfängt. Aber er verträgt keine fremden Menschen über Nacht unter seinem Dach. Eine Marotte von ihm. Deshalb habe ich das hier so eingerichtet.«

Man setzte sich wieder in das Auto, es ging bergab, das Auto raste, bis Alfred Dungs dem Chauffeur etwas zurief. Der Chauffeur bremste mit aller Gewalt und bog in einer scharfen Kurve nach Süden ein, und nun befanden sie sich plötzlich am Ausgange eines langen Wiesentals, das rechts und links von hübschen Bergen umstanden war, durch dessen Mitte sich ein lieblicher Fluß behaglich schlängelte.

»Das ist wirklich reizend,« sagte Ise und erhob sich. Auch Lotte stand auf.

»Das gehört nicht zur Geschäftstour,« sagte Alfred Dungs, »aber ich dachte mir, es würde Ihnen gefallen. Am liebsten hätte ich mich hier angebaut. Aber es geht leider nicht, da unser so harmlos aussehendes Flüßchen bei Hochwasser ganz gefährlich werden kann und das ganze Tal überflutet.«

Langsam fuhren sie ein Stück flußaufwärts durch das idyllische Tal, das märchenhaft still und menschenleer dalag. Nur hie und da am Abhang eines Berges lag einsam ein Bauernhof, aus dessen Schornstein bläulicher Rauch kräuselte. Vor fünfzig Jahren hatte es in der ganzen Gegend nicht viel anders ausgesehen, erklärte Alfred Dungs. Dann hatte sich die schwere Industrie hier niedergelassen, und unter ihren eisernen, rußigen Füßen war alles, was idyllisch, friedlich und bäuerlich war, verschwunden.

»Wie schade,« sagte Lotte unwillkürlich. Auch Alfred Dungs seufzte ein wenig. Dann lud er die Damen zu einer Tasse Kaffee im »Kurhaus« ein. »Das haben wir nämlich auch hier, wenn die Stadt auch gar nicht danach aussieht.«

Nun, das Kurhaus war ein hübscher freundlicher Bau, ganz in hellen Farben gehalten mit einer geräumigen Liegehalle, einem großen Wandelgang, den Münchener Künstler ausgemalt hatten, und einem großen Badehaus.

»Wem gehört denn das? Der Stadt?« fragte Ise verwundert.

»Wir haben es der Stadt geschenkt,« lautete die Antwort. »Und sehen Sie, dort drüben befindet sich noch ein ähnliches Etablissement. Das haben die Momms der Stadt geschenkt. Auch im Wohltun sind wir scharfe Konkurrenten.«

Auf dem Rückweg fuhren die Damen plötzlich mit einem Schrei in die Höhe, denn der Chauffeur hätte bei einer Biegung fast einen Menschen überfahren, der gerade noch im letzten Augenblick beiseite sprang. Es war Herr Anton Dungs junior, dem beinahe sein eigenes Auto das Leben gekostet hätte. Der Chauffeur wollte halten, aber Herr Anton Dungs winkte ab, grüßte verbindlich und verschwand hinter den nächsten Bäumen.

Die Damen waren noch ganz blaß und außerstande, ein Wort zu sagen.

Auch Alfred Dungs war im ersten Augenblick heftig erschrocken, hatte sich aber schon wieder in der Gewalt und meinte: »Das wäre wirklich der Gipfel der Ironie gewesen. Ich habe es ihm schon so oft gesagt, er solle vorsichtiger sein, aber er hört ja nicht. Immer spaziert er mitten auf der Straße, als lebten wir noch wie vor fünfzig Jahren. Seinen äußeren Gewohnheiten nach lebt er ganz in jenen Zeiten und ist nicht davon abzubringen. Sehen Sie, dort oben, der gewaltige Kasten, ein altes Schloß, dort haust er mit seinem Diener und einer Köchin. Und wenn er zur Arbeit muß, geht er am liebsten zu Fuß. Wenn es hoch kommt, benutzt er seinen alten Einspänner, und wenn er es sehr eilig hat, springt er auf die Elektrische. Dafür fahren wir Jungens, die Direktoren und das höhere Personal um so eifriger mit seinen Autos. Wie oft muß er vor ihnen in den Graben springen oder hinter einen Baum flüchten, um nicht von oben bis unten mit Schmutz besudelt zu werden. Aber von seinen eingefleischten Gewohnheiten läßt er nun einmal nicht.«

Als man wieder am Hotel angekommen war und die Damen ihren Dank ausgesprochen hatten, zögerte Alfred Dungs noch für einen Augenblick, als warte er auf etwas. Als aber das, was er offenbar erwartet hatte, nicht erfolgte, verbeugte er sich nochmals, macht kurz kehrt und verschwand.

»Du hättest ihn auch noch für einen Augenblick hereinbitten können,« meinte Lotte. »Oder ihn wenigstens um seinen Besuch bitten.«

Ise antwortete darauf nicht, sondern nahm ihrer Schwester Arm und ging mit ihr auf das Zimmer. Der Kanarienvogel schmetterte sein Lied in die Luft, als solle ihm die Kehle bersten. Stumm setzten sich die Schwestern auf das Sofa.

»Bist Du noch nicht kuriert, Lotte?« fragte Ise leise.

Lotte starrte vor sich hin.

Da sprach Ise eifrig auf die Schwester ein. Nun müsse sie doch einsehen, daß das wirklich nicht ginge, das sei doch ganz unmöglich, diese gesellschaftlichen Unterschiede und mehr noch die äußeren Verhältnisse. Diese Menschen seien ja zu gräßlich reich. Das würde der Papa nie zugeben, denn das sähe ja genau so aus, als ginge es um eine Geldangelegenheit. Und dann dieser Alfred Dungs. Er sei ja gewiß ein hübscher und angenehmer Mensch von guten, großstädtischen Manieren. Aber der alte Dungs habe sicher eine entsprechende Partie für ihn. Hier sei ja doch alles Geschäft. Und wenn Alfred Dungs auch gewiß kein Hofmacher sei, etwas weniger trocken und spöttisch sei doch wohl jeder Mensch, wenn er eine ernstere Neigung habe. Davon sei doch den ganzen langen Nachmittag über nichts zu spüren gewesen, aber auch gar nichts.

Immer mehr redete sich Ise in Eifer und hoffte schon, ihr Ziel erreicht zu haben, weil Lotte gar keine Einwendungen machte, bis sich Lotte plötzlich vornüber beugte und leise, aber unaufhaltsam in ihre Hände weinte.

Ise schwieg. Es ist am besten, wenn sie sich gründlich ausweint, dachte sie. Dann geht es am schnellsten vorüber.

Es klopfte laut und kräftig an die Tür, die sich auch sofort öffnete. In ihrem Rahmen stand der Bursche des Obersten und trug in der Rechten einen großmächtigen Blumenstrauß. »Ist soeben für die Baronesse abgegeben worden mit einem Gruß von Frau Anton Dungs senior.«


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