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Prüfung und Erprobung

Professor Dr. Alfred Klaar:

Geehrte Versammlung! Die Zeit ist sehr weit vorgeschritten – ich meine nicht die Zeit im allgemeinen (Heiterkeit), in bezug auf Kultur und Schulreform, aber die Zeit unserer Versammlung. Ich bin genötigt, mein Thema im Drange der Minuten zu erledigen, also in einem Zustande, den ich gerade in unseren Schulen beseitigt sehen möchte. Aber vielleicht hat dies das Gute, daß ich mir kein Tor baue, sondern, daß ich geradewegs durch die nächste Türe in mein Thema eintrete. Nachdem meine Vorredner Ihnen die leitenden Prinzipien der Schulreform entwickelt haben, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein besonderes Element der Schule richten, in dem sich mir die Gegensätze des Erstarrten und Lebendigen besonders scharf auszuprägen scheinen; ich meine auf die beiden Arten, in denen der geistige Fortschritt des Schülers in der Schule beurteilt wird. Ich will also von Prüfung und Erprobung sprechen. Ich stelle diese beiden Worte nebeneinander, weil sie ja begrifflich verwachsen sind, muß aber sofort den größten Nachdruck darauf legen, daß die Begriffe in der Praxis leider auseinanderfallen. Unsere Schulen sind voll von Prüfungen, dagegen außerordentlich arm an Versuchen der Erprobung, die nur von einzelnen erleuchteten Lehrern – gegenüber dem vorherrschenden Formalismus – unternommen werden. Die Prüfungen in unseren Schulen – die peinlichen Verhöre – das Ausfragen und Hersagen mit dem Damoklesschwert der Zensur, das darüber schwebt, füllen den größten Teil unserer Schulzeit. Wir sind sozusagen damit geboren; es ist uns allen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir uns eine Schule ohne Prüfung gar nicht denken können. Als vor zehn Jahren eine medizinische Autorität auf einem Kongreß von Ärzten den einfachen Antrag stellte: »Die Prüfungen sind abzuschaffen,« war man vollkommen verblüfft und geneigt, den Mann als einen unheilbaren Querkopf zu betrachten. In Wahrheit aber, geehrte Versammlung, hat es ganze Kulturen gegeben, in denen es zwar Wettkämpfe der geistigen und körperlichen Kräfte, aber eine Prüfung in unserem Sinne, ein Examen mit der darüber schwebenden Zensur gar nicht gegeben hat, in denen das Wissen zwischen Schüler und Lehrer in ganz anderer Form vermittelt wurde. Und es gibt auch Kulturen im Westen, wo die Prüfung immer mehr gegen die ruhige, stille Erprobung zurücktritt. Das Prüfungswesen, das wir alle kennen und mit dem wir aufgewachsen sind, ist ein Erbteil der alten klösterlichen Schule und trägt noch die Spuren dieser Herkunft an sich. Das Gespenst der Erbsünde schleicht noch immer durch die Schule, in dem Mißtrauen der Lehrer, die von vornherein das Schlechteste vom Schüler voraussetzen. (Sehr wahr.) Der Wunsch und der Wille, im althergebrachten Sinne Autoritätsglauben und gedankenlose Gefügigkeit zu pflegen, machen sich in täglichen Drohungen und Machtgeboten geltend. Was aber die pädagogische Bedeutung dieser Examina anlangt, so liegen zwei überwundene Anschauungen zugrunde, einmal die, daß der Ehrgeiz, der Auszeichnungsdrang die Quelle aller höheren Entwicklung sei, und die andere, daß es kein besseres Zeugnis für geistigen Fortschritt gebe, als die Bereitschaft des Gedächtnisses und die Fähigkeit, das Erlernte sofort wieder auszuströmen, etwa so wie eine Flüssigkeit, die, wenn man ein Ventil öffnet, aus dem übervollen Faß heraussprudelt. (Heiterkeit.) Alles das stimmt gar nicht mehr zu unserem Ideal der Menschenerziehung und der Menschenbildung. Wir wünschen gar nicht, daß Streber herangezogen werden, die rastlos um den Vorderplatz kämpfen, sondern wir bevorzugen das Ideal in sich gefestigter freier Menschen, die in ihrer Wirksamkeit die höchste Befriedigung finden. (Lebhafter Beifall.) Wir legen auch gar nicht so viel Gewicht darauf, daß jeder das Erlernte jeden Augenblick parat habe, sondern vielmehr darauf, daß der geistige Kern des Erlernten in Fleisch und Blut übergehe und sich in ein Können verwandle, in die Fähigkeit, im Leben das Wissen und Denken anzuwenden. Also die klösterlichen pädagogischen Zwecke sind nicht die unseren, die Mittel aber werden beibehalten; und wie es mit verfehlten Mitteln so oft der Fall ist: nicht nur, daß sie ihren Zweck nicht erreichen, haben sie oft eine schädliche Nebenwirkung. In unserem Falle besteht diese schädliche Nebenwirkung darin, daß man unsere Jugend durch das ewige Prüfen nervös macht, und daß man sie in einen für die Aufnahme des geistigen Stoffes ungünstigen Zustand versetzt, daß die ewige Furcht vor der Zensur die schlechteste Disposition für den Unterricht erzeugt, da die Teilnahme am Wesentlichen, am Inhalt der Belehrung durch ein äußerliches Moment zurückgedrängt wird. Manche Lehrer gehen auch heute noch so weit, daß sie förmlich eine Virtuosität daraus machen, die Schwächen der Schüler zu enthüllen, daß sie die Kinder »fangen«, daß sie die Schüler zwingen, coram publico – die Mitschüler sind für den Schüler das wichtigste Publikum – ihre Blößen zu zeigen. Ich habe das vor Jahren schon einmal eine Unkeuschheit genannt und habe mich gefreut, jüngst denselben Ausdruck dafür in einem Briefe von Heinrich v. Kleist zu finden, der nicht nur ein großer Dichter, sondern in den Tagen des Studiums ein fanatischer Lerner, ein unermüdlicher Wahrheitsucher gewesen ist. Sicherlich ist es unkeusch, die Jugend in den Zustand äußerster Beschämung zu versetzen und ihr dadurch die Lebens- und Erkenntnisfreudigkeit zu nehmen. (Beifall.)

Die andauernden Prüfungen haben die Schule in eine Art Kriegszustand versetzt und die Begleiterscheinungen dieses Zustandes fehlen nicht wie die Parole » Sauve qui peut« und alle möglichen Kriegslisten. Da sitzen alte Schulveteranen zusammen und erzählen einander von den Streichen, die sie in der Schule ausgeführt haben, wie ergraute Krieger von ihren Bataillen. Ja, verehrte Versammlung, man kann darüber lachen oder lächeln, aber im Grunde weist diese Tatsache auf einen sehr kranken Zustand unserer Schule hin; und wenn man diesen Zustand damit entschuldigen will: Ja, die Schule ist die Vorbereitung für das Leben, und auch im Leben wird der Schüler mancherlei Täuschungen und Listen begegnen, so erwidere ich: Das wäre eine schlechte Vorbereitung für das Leben, wenn man die Schüler dazu abrichtete, an diesen Täuschungen in schlauer Weise teilzunehmen. Was wir wünschen, ist vielmehr: Erziehung von Charakteren, welche diesen Listen und Täuschungen die selbstbewußte Tüchtigkeit und unbedingte Achtung vor Treu und Glauben entgegensetzen. (Beifall.)

Ich verhehle mir nicht, daß es von der höchsten Wichtigkeit ist, zu erkunden, was der Schüler geistig in sich ausgenommen hat. Es ist aber nicht nur überflüssig, es ist direkt schädlich, immer wieder diese Dialoge unter das Damoklesschwert der Zensur zu stellen. Es ist viel vernünftiger und ratsamer und wird zu besseren Zielen führen, wenn, wie es schon vielfach in den westlichen Kulturländern der Fall ist, dieser Dialog von Liebe und Vertrauen zwischen Lehrer und Schüler beherrscht wird, wenn der Lehrer den Erkenntnistrieb des Schülers erweckt und befriedigt, ohne Furcht und ängstliche Spannung hervorzurufen. Gewiß wird er schließlich in die Notwendigkeit versetzt sein, ein Votum über das abzugeben, was der Schüler erreicht hat; er wird bei diesem Votum die Pflicht der Menschlichkeit gegen den Schüler und die Pflichten gegenüber der Gesamtheit abzuwägen haben. Aber wenn das Votum nicht auf Grund einer kurzen mündlichen Prüfung, sondern einer langen Erprobung erfolgt, so wird das Odium, das der täglichen Zensurerteilung anhaftet, wegfallen. Die Schüler werden zur Selbsterkenntnis geleitet werden, wenn sie sich an den ehrlichen, gründlichen Proben, das Angestrebte zu erreichen, bewußt beteiligen. Sie werden manchmal wohl auch gewissen Scheinhöhen entsagen, so wie jemand, der die physischen Kräfte nicht besitzt, einen Berg zu besteigen, darauf verzichtet. Aber noch etwas Wichtigeres wird hinzukommen: Der Lehrer, der auf diesem Wege bestrebt ist, das Maß des Wissens und der Fähigkeit zu erproben, wird, wenn sein Urteil negativ ausfällt, in der Lage sein, dem Schüler einen anderen Weg zu weisen, auf dem er rasch und sicher vorwärts kommt. Es müssen nicht Tränen fließen, wenn jemand gerade für die alten Sprachen nicht geeignet ist; es müssen sich nicht gerade Familientragödien oder noch schauerlichere Vorfälle ereignen, wenn ein Kind für diese oder jene Art des Studiums nicht geeignet ist. Auch die Eltern müssen einsehen lernen, daß ein Mann, der da, wo die praktische Befähigung entscheidet, tüchtig ist, ebensogut im Leben emporkommen kann wie ein anderer, der durch die gelehrten Studien hindurchgeht.

Also wenn Erprobung an Stelle der Prüfung tritt, dann hat man Aussicht, daß nicht nur durch die Erziehung der Kinder, sondern auch durch die der Eltern glücklichere Menschen herangebildet werden.

Damit verlasse ich mein Thema. Denn es war nötig, sich kurz zu fassen. Und es erübrigt für mich nur noch, im Namen des Vorstandes des Goethebundes den geehrten Vorrednern, die uns die leitenden Prinzipien der Schule entwickelt haben, aber auch der Versammlung für ihre Teilnahme und Aufmerksamkeit den besten Dank auszusprechen.

In einer Sache, wie die Schulreform, die die wichtigsten Güter des Staates und das teuerste Gut der einzelnen angeht, wird sich nicht leicht eine uniformierte Meinung erzielen lassen. Und da die Entwicklung der Schulreform obenein im Flusse ist, würde es sich nicht empfehlen, das, was hier angeregt wurde, in die Paragraphen einer Resolution zu bringen. Aber unter dem Eindruck des Gehörten und Ihrer Zustimmungskundgebungen glaube ich doch folgendes sagen zu können: wir alle stimmen in dem Wunsche überein, daß der neue freie Geist, der schon lange um unsere Schulen wirbt, mit Hilfe aller vorwärtsstrebenden Kräfte sich ihrer bemächtigt, daß in unseren Schulen das Lebendige an Stelle des Mechanischen, das geistige Können an Stelle des toten Wissens, daß Liebe und Vertrauen an Stelle von Furcht und Pein trete, und daß die Bildung zu freier, tüchtiger Menschlichkeit an die Stelle der Abrichtung gesetzt werde.

Und damit schließe ich die heutige Versammlung des Goethebundes, von der ich hoffe, daß sie etwas dazu beitragen wird, die Schule der Zukunft, wie sie uns vorschwebt, zu einer Schule der Gegenwart zu machen. (Lebhafter Beifall.)

 


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