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Der alte Musikant

Von Wilhelm Holzamer.

Aus »Im Dorf und Draußen«. Leipzig, Eugen Diederichs.

 

Den Alten hatte er schon zum Tanz aufgespielt – und jetzt spielte er auch den Jungen, den Enkeln, mit dem Frohmut und fast mit dem Feuer der Jugend. Und wo der alte Jakob Veit spielte, da ging's immer noch am lustigsten her, da war am besten tanzen. Da war auch der rechte Genuß, der den Alten immer eine liebe Freude, den Jungen eine reine Erinnerung blieb, weil in allem das rechte Maß war. Denn dafür sorgte schon der Veitjakob, und er genoß auch das Ansehen dazu. Er hielt auf Ordnung. Wenn er vom Orchester herunterstieg, sein schwarzbraun Sammetkäppchen auf dem langen, grauen Haar und die große Stahlbrille auf der starken Adlernase, dann machte ihm jeder Platz, wie's nur dem Pfarrer geschah oder dem alten pensionierten Schullehrer Andreas Krafft, der schon der Eltern Lehrer gewesen war. Jakob Veit ging dann zu den Alten und machte seine Scherze mit ihnen – »Musikantenspäß« nannten sie's – und trank ihnen zu. Und er ging zu den Jungen, erzählte eine Schnurre und hing gefällig und unaufdringlich eine Lehre daran, die ihr Verhalten betraf. Dann nahm er auch gern das angebotene Weinglas, wenn er fröhliche Gesichter und helle Augen sah, stieß mit den Burschen an und mit den Mädeln und trank ihnen einen kräftigen Schluck zu. »Lustig sein«, meinte er immer, »das sei das einzig Gute und Rechte – einem lustigen Burschen und einem fröhlichen Mädel, denen sei immer zu trauen – nur den Heimlichen nicht und den Kopfhängern. Die könnten nie abwarten, bis der Tanz zu Ende sei, um sich dann fortzustehlen – die aber eine rechte Lust am Tanzen hätten und sich dabei so aus ganzem Herzen freuen könnten, denen käme kein anderer Gedanke und arger Wunsch.«

Dabei ging sein Köpflein flink wie bei einem Stärlein, und wenn er so ein wenig einhielt und mit den Lippen leise schmatzte, sah er jeden und jede im Kreise herum an, liebenswürdig scharf – denn einmal meinte er, man müsse mit der Jugend über alles reden – und reden können, das sei das Beste und einzig Richtige – und dann meinte er, nur bei einer offenen Rede könne man wirklich in die Herzen sehen. Und er tat's allemal.

Hiernach ging er beruhigt auf sein Orchester hinauf – denn er wußte, wie's bei der Jugend stand, und er kannte ihren Sinn. Er lächelte still vor sich hin, und beim nächsten Tanze sprang sein Bogen nur leichter und munterer über die Saiten. Dann sahen die Alten auf, lachten und lauschten; die Jugend aber ward noch fröhlicher. Veits Spiel ging dann allen ins Gemüt. Die Alten aber sagten: »Hört mal wieder den Veitjakob! – Wie der wieder – da hört nur mal! – Wenn der Veitjakob mal nicht mehr geigen kann, dann stirbt er! Dann stirbt er – das Geigen ist sein Leben!« –

Jakob Veit aber wußte, wie jetzt sein Spiel wirkte – er blickte über die Brille weg hinunter und nickte da und dort hin – und husch war ihm ein Lauf oder ein Triller oder Doppelschlag aus den Fingern gesprungen, keck zwischen die Melodie hinein. Und dabei sprang sein Herz mit.

Ja, dies Herz! – Das war das ganze Geheimnis von der Wirkung seines Spiels. Fröhlich hatte er sich sein Herz behalten, so recht kindlich und jung. Daß es immer nach dem Heiteren und Leichten verlangen mußte und immer das Heitere und Leichte auch fand. So hatte er sich's behalten in allen Lebenslagen.

Seine schönsten Freuden aber, die drückte er in Tönen aus, in ein paar ganz einfachen Tönen – in einem Triller, einem Lauf, einem Doppelschlag, wenn sie ihm wie lustige Lacher in die Stücke hineinsprangen. Und vieles von dem, was er spielte, war nichtssagend für sich, aber er sagte etwas damit. Das Unbedeutendste ward bedeutend in seinem Empfinden, und für alles hatte er die gleich innige Hingebung und Liebe. Er liebte die Musik und lebte sie, und vor jedem ihrer Töne hatte er eine so hohe Achtung, daß er jedem den gleichen Wert gab und die gleiche Sorgfalt angedeihen ließ.

Und so war's gekommen, daß er alt und grau geworden war, aber jedesmal kinderjung wurde, wenn er seine Geige strich. Und das hatte sich ihm auch auf alles im Leben übertragen. Er sah die Welt mit den Augen seiner Jugend an, und nur selten kam sie ihm anders vor. Ebenso selten berührte ihn eine Veränderung tiefer. Er sah in allem Leben das Lichte – und fielen Schatten in seine Seele, wußte er, wo er eine Zuflucht finden konnte und sein Heil. Dann geigte er eben so lange, bis es wieder hell ward in ihm. Für alles hatte er einen Trost in der Sprache der Töne, und von manchem guten Wort, das er zu sagen wußte, konnte man beinahe behaupten, daß es sich aus seiner Musik herausgeformt habe.

So war er ein rechter Künstler, wie er seiner Musik lebte, obgleich er nur ein simpler Musikant war. Die hohe Schulung war ihm ja wohl fremd geblieben, aber da er den Ausdruck des Elementaren voll erfaßt hatte und sich darin genügen konnte, empfand er nie eine Sehnsucht nach ihr.

Er war glücklich. Ein altes Kind und ein jugendlicher Greis – und sein Lachen war zu allen Zeiten frisch wie Bergwasser und quellhell.

Nur dann schlich sich in neuerer Zeit eine leichte Betrübnis in sein Herz ein, wenn neue Noten kamen. Er sagte nichts zu den anderen, oder nur selten wenigstens zeigte er ihnen, daß er nicht so recht begeistert war.

Das wollte nicht in seinen Sinn, was da neu kam. Es war ihm gar oft eine fremde Sprache, weltfremd sozusagen – und sein Herz blieb kalt von ihr. Er konnte es nicht lieben – es war ihm kein Genuß. Darum verwarf er's in seinem Sinn. Und war er zu Hause allein, dann »erholte« er sich, kramte einen ganz alten Marsch oder Walzer hervor, spielte sich den und sang und pfiff abwechselnd dazu – so ganz allein in seinem Stübchen, wohin niemand durfte, wenn er spielte. Und dann fühlte er den warmen Sonnenschein draußen so wohlig – der Duft des Flieders quoll herein zu ihm aus seinem Garten – und die Welt war schön und voller Klarheit.

»Die können ja nichts mehr, diese Jungen«, sagte er oft zu sich, ganz heimlich, denn er war immer bescheiden gewesen und hatte wenig geurteilt. Alles lag bei ihm in der Empfindung. »Gott, das ist doch noch Musik, mein alter Walzer da, den ich schon meiner Liese gespielt, da wir noch ganz jung waren und nur heimlich zusammenkommen durften. Darum spielte ich ihn auch, als uns der Pfarrer zusammengetan hatte – am Hochzeitstag – und ich war im siebenten Himmel. Ja, das ist doch noch Musik!«

Und er sah zum Fenster hinaus und zum Himmel auf, und innig bewegt spielte er ins Abendleuchten: Goldne Abendsonne, wie bist du so schön.

Und es löste sich ihm von der Seele wie ein tiefes, frommes Beten, ein seliges Weihegefühl –.

Jakob Veit war nun schon fünfundsiebzig. Aber er spielte noch tapfer die erste Geige in seiner Gesellschaft und war immer dabei, wo sie nur hingerufen wurde.

Da dachten aber doch ein paar Freunde, ihm eine Hilfe zu geben und eine jüngere Kraft zu engagieren. Es war ein ganz junger Mensch, kaum zwanzig, aber er wurde viel gelobt. Richard Vormann hieß er, jedoch im ganzen Dorfe wurde er nur kurz der »Rickes« genannt. Unter diesem Namen kannte ihn jedes Kind.

Der »Rickes« hatte bei einem Theatergeiger in Mainz Stunden genommen, schon seit seinem zwölften oder vierzehnten Jahre, und er spielte großartig. Und wundervolle Sachen. Er werde sicher auch mal in ein Theaterorchester kommen.

Der sollte nun den Jakob Veit manchmal ablösen, daß er ruhen könne. Veit sträubte sich zwar anfangs – »ihm geh's noch leicht von der Hand« – aber schließlich gab er sich doch darein. »Er hab's am End' ja auch verdient.«

Der junge Geiger kam. Veit stellte ihn zu seiner Linken, vorerst mög' er mal zweite Geige spielen.

Man konnt's dem »Rickes« ansehen, es war ihm nicht ganz recht. Aber er wollte sich dem Alten nicht widersetzen.

Anfangs achtete Veit nicht auf den Kollegen. Oder höchstens, daß er sich mehr zusammennahm und mit der heimlichen Absicht spielte, soviel wie möglich zu glänzen.

Aber da achtete wieder der Jüngere nicht darauf.

Nach ein paar Tänzen aber, mitten in einen neuen Walzer, den der alte Veit gar nicht sonderlich liebte, sprang des Jungen zweite Geige frisch und keck in die erste. Und wie klang jetzt der Walzer, der vorher »gar nicht recht gewollt hatte!«

Im Saale horchte man auf. Jakob Veit ward rot – strich anfangs seine Saiten heftiger, ließ aber bald nach, als er merkte, daß er nicht durchdringen könne. Ärgerlich und mißmutig, spielte er fast leise weiter.

»Faxen! – Damit will man einen alten Musikanten kalt stellen! Nichts dahinter – kennen wir!« – sagte er zu sich selbst.

Der Jüngere aber, plötzlich merkend, wie sein Spiel wirkte, und wie sein grauer Nachbar verstimmt war, ließ die erste Stimme fallen und begleitete wieder in der zweiten.

Aber nun war es kein Feuer mehr und keine Wirkung.

Jakob Veit machte sich Vorwürfe. »Was brauchte er sich auch so verstimmen zu lassen!« Aber wie er sich auch Mühe gab, er brachte seine Stimme und damit das ganze Stück nicht mehr in die Höhe – und er gab bald das Zeichen zum Schluß.

So wiederholte sich's noch ein paarmal. Und als einmal Veit um Mitternacht ganz aussetzte, da wählte der Jüngere einen »Rheinländer« mit einem Violinsolo.

Veit saß unten an einem Tische, sah und hörte zu.

Die Jugend schien über alle Maßen befeuert. Der Ordner hatte seine schwere Not, Paare zum Pausieren zu bringen. Die Burschen und die Mädel schienen unermüdlich. Und alle Gesichter glühten. Das machte der »Rickes«.

»Brillant!« sagte ein Fremder ganz in Veits Nähe.

»Sie meinen doch den neuen Geiger?« sagte der Wirt, »ja, der ist ganz ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet!«

Und als der Wirt sich umdrehte, sah er den alten Veit.

»Veit, den müßt Ihr Euch halten!« sagte er zu ihm. »Der kann's, hol' mich der Kuckuck, der kann's! Ein Mordskerl das! – Da guckt nur mal (er wies auf die Tanzenden) – alles außer sich. Da könnt' man fast in seine alte Tag noch was lerne, he?!« – scherzte er zu dem alten Musikanten und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ja, ja«, nickte der Veit.

Aber ihm war's, als liefen ihm Tränen übers Herz. Zum Weinen war's ihm. Er fühlte einen tiefen Schmerz – eine Qual und Unruhe. Ganz unglücklich war er. Ganz dumpf war ihm.

So armselig, so leer fühlte er sich. Ach Gott, als habe er nie eine Geige gehabt, nie einen Ton geliebt. Ja, er mochte jetzt die Musik nicht mehr leiden. Sie war falsch und untreu. Sie hatte ihn noch verhöhnt dazu. Nein, seine Geige wollte er rein gar nicht mehr haben – und er hatte jetzt das Gefühl, sein Bogen müsse einen schweren Zentner wiegen, wenn er ihn wieder in die Hand nähme.

Darum war jetzt so etwas in seine Seele gekommen, was er nie gekannt – etwas Zorniges und Hartes. Fast, als müsse er den neuen Geiger hassen.

Er erschrak.

Aber es ließ ihm keine Ruhe.

Er stieg hinauf aufs Orchester, packte seine Geige ein und ging heim.

»Er sei müd' und abgespannt, und er müßte jetzt Ruhe haben. Und nun habe er ja auch Ersatz.«

Und er ging heim.

Der junge Geiger war ein bißchen betroffen. Es tat ihm so leid. Denn ihm war, als habe er den Alten vertrieben.

Aber die anderen redeten's ihm aus.

Traurig ging Veit heim. Der Jüngere aber spielte immer feuriger und wählte nur die neuesten Sachen. Er spielte sich in alle Herzen ein.

»Dagegen kann der Veitjakob daheim bleiben«, hieß es da mal und dort mal.

Der gute Veitjakob konnte aber zu Hause keine Ruhe finden. Als er ein paar Stunden schlaflos im Bett gelegen hatte, stand er auf. Es zog ihn zu seiner Geige, zur Musik. Sollte sie ihm wirklich nichts mehr zu sagen haben, ihm nicht mehr gut sein können? Ihm untreu geworden sein, sich gewandelt haben?

Freilich immer lagen ihm diese Klänge des jungen Geigers im Ohr. Sie waren ja ganz anders. Und er spielte ganz anders. Ganz korrekt. Sauber und klar und breit die Melodie – ohne Triller und Läufer und Doppelschläge – fast grob schien's ihm.

Und doch hatten sie so seltsam anders gewirkt.

Nein, aber er mochte sie nicht. Er wehrte sich gegen sie, er war ihnen feindlich. Er wollte so etwas fürs Gemüt haben, so leicht und süß.

Und halb mit Zagen griff er zu seiner Geige.

Es war noch dunkel – aber er zündete kein Licht an.

Aus dem Gedächtnis spielte er – einen Schottischteil, einen Walzerteil, einen Mazurkateil – und er kam an die Kirchenlieder, die lieben alten, und es war ihm, als werde sein Herz schon leichter, und er kam an die süßen Lieder seiner Jugend, die so herzig waren und so schlicht – und immer froher ward er und immer froher. Und dann spielte er fromm und feierlich: Wie schön leuchtet der Morgenstern! – und sein Herz sprang ihm in der Brust – und er spielte seinen geliebten »Liesewalzer« – und er sang und pfiff dazu – und er war so glücklich wie an seinem Hochzeitstage, allen Leides und aller Härte frei. Und als das Morgenrot am Himmel strahlte, da bettete er sanft und zärtlich seine geliebte Geige im Kasten und legte sich selbst zur Ruhe. Jetzt fand er sie leicht – und er schlief bis in den hellen Tag hinein, tief und erquickend.

Die Abneigung gegen den »Rickes« hatte sich freilich der Jakob Veit nicht ganz weggeschlafen. Er zeigte es ihm allerdings nicht weiter. Nur dies eine – er trat in kein näheres Verhältnis zu ihm. Er sprach mit ihm nur das Notwendigste. In die zweite Geige verwies er ihn natürlich nicht mehr, und so spielten sie in der kleinen Dorfkapelle auch in den Proben zusammen die erste Stimme.

Der Jüngere brachte immer mehr und mehr die neueren und neuesten Sachen, die dem Veit doch gar nicht behagen konnten. Er machte aber doch mit, so weit's halt ging – und wenn er auch gerade nicht mehr mitlernte, und er ließ den Kollegen gewähren, der immer größeren Einfluß in der Kapelle gewann.

Veit aber zog sich bald mehr und mehr zurück – in seine stille Stube, zu seinen alten Stücken, die er immer mehr und mehr liebte.

Auch bei den Kirchweihtänzen war er nicht mehr so dabei. Er fühlte sich entbehrlich.

Und nun behielten die Leute recht. Der Veitjakob war nicht mehr so frisch und gesund. Was da an seiner Seele nagte, das machte seinen Körper matt. Und die Jahre dazu –!

Jakob Veit hatte sich nun fast ein halbes Jahr von den Proben ferngehalten und hatte wohl beinahe seit einem Jahr auf keiner Kirchweih mehr gespielt. Er lag häufig zu Bett, oft den ganzen Morgen lang – und nur am Nachmittag konnte er ein paar Stunden auf sein und wohl auch noch einen kleinen Spaziergang machen.

»Man wird halt alt«, meinte er, wenn er gefragt wurde, wie's ihm gehe.

»Widder Musik mache!« riet ihm dann auch mal einer, »a widder 's Geigelche unner de Arm und de Fiddelboge genomme, so werd schun alles widder wern.«

»Ja, ja!« lächelte er dann.

So pflegte er sich und lebte seine Tage.

Und allmählich kamen ihm Enttäuschung und Ärger ganz anders, viel milder vor.

Er hatte das Spiel des Jüngeren wohl noch im Ohre, nicht so forsch und keck, wie's ihm damals geklungen hatte – gesänftigt, eine Erinnerung.

Und seltsam – dann und wann fiel ihm eine Stelle aus einem der neuen Stücke ein – und er behielt sie sich gerne und gewann sie sogar lieb. Und hatte sie bald noch lieber.

Und er freute sich, wenn ihm wieder etwas Neues wach wurde.

Wenn er dann sann und dachte und die Jahre all zurückging, die hinter ihm lagen – da war ihm doch, als habe er seinen Platz rechtschaffen ausgefüllt und sich und anderen brav genug getan – und es sei ganz in Ordnung und gerecht, daß ein anderer auf seinen Platz trete, ein jüngerer, mit frischem Wagen und neuem Können und anderen Tönen, die für die jungen Herzen waren. Und es war ihm auch, als dürfe er mit seinem alten Herzen recht warm an dem Alten hängen und es recht lieben. Aber darüber schalt er sich, daß er das Junge verachtet und von sich gestoßen hatte.

Er verachtete das Junge und Neue nicht mehr.

Ja – oft war's ihm wie eine Sehnsucht, es auch noch einmal zu können, auch noch einmal zu leben und so recht zu lieben und feurig zu spielen, so frisch aus der Geige heraus, daß er alle Herzen mitreißen müßte, und je schwächer er wurde, desto stärker wurde diese Sehnsucht.

Aber er klagte nicht.

Es mußte in diesen neuen Melodien liegen, die in seiner Erinnerung so sanft und traumhaft klangen, daß sie ihn trösteten und stärkten, wenn sie auch seine Sehnsucht weckten. Und er versöhnte sich mit seinem Schicksal und sah in diesem Neuen, das ihn so hart verwundet hatte, die Erfüllung alles dessen, was er selbst erstrebt, und die Krönung seiner Arbeit, weil es ihm das schien, was der Zukunft gehören würde.

Dem jungen Primgeiger ward er nun von Herzen gut.

Da er nun schon tagelang auf dem Krankenbette lag, so wünschte er ihn zu sich an sein Bett.

Wenn er nur einmal kommen würde. Er wollte ihm so gerne noch einmal die Hand drücken – und ihn noch einmal spielen hören.

Aber er sagte nichts.

Im Dorfe hatte sich die Nachricht bald verbreitet, daß der alte Veitjakob krank liege.

Der erste, der ihn besuchte, war der alte Andreas Krafft, der pensionierte Lehrer, dem der Sturm des Lebens die Brust nicht hatte schwächen können. Er stand nun an den achtzig.

Sie sprachen über dies und das zusammen, auch über die anderen Zeiten.

»Ich will dir was sagen, Veit«, sagte Krafft und strich über seinen schlohweißen Bart, »wir Alten dürfen zur Ruhe gehen. Die Welt braucht uns nicht mehr. Die Welt braucht die Jugend. Und daß die recht keck und kräftig und mutig sei, das wollen wir ihr wünschen, der Jugend und der Welt. Das ist so das Leben, und das ist so recht eigentlich seine Gesundheit.«

Jakob Veit reichte ihm die Hand, drückte die seine und preßte die Lippen fest, fast herb zusammen. Doch gleich danach sagte er: »Krafft, ich fühl's auch so wie du – ich fühl's auch so.«

Auch die Kollegen von der Kapelle kamen – und eines Tages kam auch der »Rickes«.

Er kam ein bißchen verlegen und schüchtern. Aber über Veits Züge glitt ein Lächeln und hielt sich fest darin. Er streckte dem Jüngeren die Hand entgegen: »Ich dank dir so, daß du gekommen bist, Rickes – sagen kann ich dir das nicht, wie ich dir danke.«

Und die beiden saßen lange beisammen.

Als der »Rickes« fortging, versprach er dem Veit, bald wieder zu kommen. Und am anderen Abend saß er schon wieder am Krankenbett.

Er erzählte dem Alten, von der neuen Musik, von ein paar neuen Tänzen, die er in Mainz gehört habe und die er nun für die Kapelle bestellen wolle. Es sei schade, daß Veit nicht mehr mitspielen könne. Aber wenn er wieder gesund sei – dann ...

»Ja – dann ...«

So saß der Jüngere nun jeden Abend am Bett des Alten – zwei Herzensfreunde.

Jakob Veit war mit jedem Tage schwächer geworden.

Er würde einmal ganz sanft hinüberschlummern, hatte der Arzt der Familie gesagt. Das Alter – er würde voraussichtlich einen sanften Tod haben.

So war wieder eine Woche herumgegangen, und es war Sonntag geworden. Richard Vormann war schon am Nachmittag gekommen.

Und heute sprach ihm Veit seine Bitte aus.

»Rickes – du könntest mir mal eins spielen – ich wollt dir's die ganze Zeit schon sagen. Dort hinten in der Eck steht meine Geige.«

Und der »Rickes« zauderte nicht. Er spielte mit Feuer. Beseelt von der hohen Achtung für den Alten und in der Freude, daß er sein Spiel hören wollte. Das Beste, was ihm einfiel, spielte er, das Neueste und Schwerste, ganz unermüdlich.

Und Veit lauschte. Entzückt! – Ja, jetzt klang alles viel milder, gedämpfter, vielleicht, weil's seine alte Geige war, die die neuen Melodien sang.

Sein Herz war aller Wonne voll.

Er träumte den Traum seiner Jugend.

Der da aber lebte ihn.

Und der fühlte seine Zukunft voraus.

Und er durfte ihm zulächeln und zuwinken.

Jakob Veit lag in den Kissen und schlief.

Richard Vormann setzte den Bogen ab und sah zum Alten.

Wie war sein Herz so froh!

Und er schlich sich fort.

Dann und wann sahen die verwandten nach. Jakob Veit schlief sanft.

Einmal wachte er auf:

»Rickes, ich dank dir! Ich dank dir! Es war sehr schön – es war so schön wie mein Liesewalzer! So – schön ...«

Dann schlief er wieder ein.

Und er wachte nicht wieder auf.

Als es dunkel wurde, ging seine Seele ins Licht.

Sein Körper empfand keinen Schmerz.

Auf seinem Antlitz lag ein Lächeln.

Er hatte die Augenbrauen hochgezogen – und die Ohren standen gespannt, als ob er lauschte.

Die Rechte hing zum Bette heraus, als ob sie nach etwas ausgestreckt sei.


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