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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Die Schildbürger hatten Mitleiden mit einem armen Nußbaum; was sie daher mit ihm vorgenommen haben.

Nicht weit von Schildburg in. Misnoropotamien floß ein Wasser vorbei, an dessen Gestade ein großer Nußbaum stand. Von diesem Nußbaum herab hing ein großer Ast über das Wasser, so daß er dasselbe mit seinen Zweigen beinahe berührte. Die Schildbürger sahen einmal solches, und in ihrer einfältigen Frömmigkeit (dergleichen Bauern man heutiges Tags wenig mehr findet) ergriff sie ein herzliches Mitleiden und Erbarmen über den guten Nußbaum, so zwar, daß sie es der Mühe werth hielten, ein Sitzung zu halten, und sich über diesen Umstand zu berathen; die Frage war: was doch dem guten Nußbaum angelegen sein möchte, daß er sich so sehr zum Wasser hinabneige?

Verschiedene Meinungen, die aber nicht gewürdiget werden konnten, wurden aufgestellt, doch zuletzt trat der Herr Schultheiß auf und erklärte: »Seid ihr nicht närrische Leute! Ihr sehet doch wohl, daß der Baum an einem dürren Ort steht, und sich aus diesem Grunde zum Wasser herabneigen muß, um, weil er sehr Durst hat, zu trinken. Es versteht sich von selbst, der niederste, auf das Wasser herunterragende Ast sei nichts anders, als der Schnabel des Baumes, welchen er zu» Trunke bereit habe.«

Nun war unsrer Schildbürger Rath natürlich kurz; es handelte sich hier nur um ein Werk der Barmherzigkeit von ihnen, d.h. daß sie dem Nußbaume zu trinken gaben. Letzteres bewerkstelligten sie auf folgende Weise: Einige stiegen auf den Baum bis oben, brachten ein großes Seil an, Andere stellten sich jenseits des Wassers und zogen so den Baum herunter, damit es ihm möglich würde, zu saufen; als er beinahe die Spitze seines Schnabels im Wasser hatte, befahlen sie einem, der sich noch auf dem Baume befand, er solle ihm den Schnabel vollends hineintunken. Während Letzterer bemüht war, seinen Auftrag zu vollziehen, zogen die untern auch desto kräftiger, bis über einmal das Seil brach. Der Ast schnellte zurück und dem unglücklichen Bauer auf demselben schlug ein harter Ast dergestalt den Kopf ab, daß er in das Wasser fiel. Die Bauern bemerkten nicht, wie es ging, sondern sie sahen nur den Körper vom Baume herunterfallen. Ueberdies erschracken die Bauern fürchterlich, besahen augenblicklich auf der Stelle ihr Gericht, also stündlingen und frugen um: ob er wohl auch einen Kopf gehabt habe, als er auf den Baum gestiegen sei? Aber dieses erinnerte sich Keiner von ihnen. Der Schultheiß war ganz der Ansicht, er seie ohne Kopf mit ihm herausgekommen, denn er habe ihm wenigstens drei oder vier Mal gerufen und keine Antwort von ihm erhalten können. Hieraus schließe er: habe er nichts gehört, so habe er notwendig keine Ohren; habe er aber keine Ohren gehabt, so könne er noch weniger einen Kopf gehabt haben; denn die Ohren müssen ja am Kopfe stehen. Doch so ganz eigentlich wolle er dieses nicht behaupten, darum wäre sein guter Rath der, man solle geschwind einen Boten zu seinem Weib abschicken und bei dieser fragen lassen, ob ihr Mann heute Morgen, als er aufgestanden und mit dem Herrn Schultheißen zu dem Nußbaume hinausgegangen sei, auch einen Kopf bei sich gehabt habe. Hierauf erklärte die Frau, dies wisse sie wirklich nicht; in dieser Sache seie ihr so viel noch erinnerlich, daß er am verflossenen Samstag, wo sie ihn das letzte Mal gewaschen, noch einen Kopf gehabt habe, seither habe sie keine Achtung mehr darauf gegeben. »Dort an jener Wand hängt sein alter Hut, wenn der Kopf nicht dort innen steck, so wird er ihn ja mit sich hinausgenommen oder sonst wohin verlegt haben, was ich natürlich nicht wissen kann.« Sie suchten unter dem Hut an der Wand; aber da war nichts. Heutiges Tages noch kann im ganzen Flecken kein Schildbürger sagen, wie es mit dem Kopf dieses Schildbürgers gegangen sei, ob er ihn mit auf den Nußbaum gebracht, ob er ihn zu Haus verlegt, oder wie er ihn sonst verloren habe.


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