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Der Königssohn und der Wesir.

»Ein König hatte einen Sohn, den er sehr liebte und seinen übrigen Kindern weit vorzog. Dieser äußerte einst gegen seinen Vater den Wunsch, auf die Jagd zu gehen. Nachdem der König die dazu nötigen Befehle erteilt hatte, trug er seinem Wesir auf, seinen Sohn zu begleiten und für alle seine Bedürfnisse Sorge zu tragen. Mit allem Nötigen versehen, gelangten sie endlich an einen zur Jagd sehr günstigen Ort, in welchem sehr viel Wild war. Der Sohn des Königs ging voran, ließ die Falken und Jagdhunde los, und sie machten großen Fang von aller Art. Als sie bereits aus die Rückkehr bedacht waren, traf der Prinz auf eine sehr schöne Gazelle, die sich von ihren Gefährten entfernt zu haben schien. Die Lust, sie zu fangen, bemächtigte sich seiner, und er sagte zu dem Wesir, daß er sie verfolgen wolle. Er eilte ihr auch wirklich sogleich nach und entfernte sich durch die Verfolgung derselben immer mehr von dem Wesir.

Schon begann es Abend zu werden, als die Gazelle sich in eine Bergschlucht rettete, und dahin wollte sie der Prinz nicht weiter verfolgen. Er wollte jetzt zurück; allein es war schon dunkel, und er konnte den Weg dahin nicht finden. Um sich nicht noch weiter zu verirren, beschloß er, auf derselben Stelle den Morgen zu erwarten; allein am Morgen war er nicht glücklicher. Er irrte überall umher, ohne den Weg finden zu können. Endlich sah er von ferne eine Stadt und eilte auf sie zu; allein bei seiner Hinkunft fand er sie ganz wüste und zerstört. Ihre Ruinen setzten ihn in Erstaunen, plötzlich sah er unter einer Mauer ein schönes Mädchen sitzen, welches weinte und wehklagte. Er näherte sich ihr und fragte, wer sie wäre, und wer sie hierher gebracht habe. Da antwortete sie ihm: »Ich heiße Namyme, Tochter des Netach, des Königs des grauen Landes. Ich war bei Nacht aus meines Vaters Hause gegangen, als ein Geist auf mich losstürzte, der mich durch die Lüfte forttrug, hier bin ich nun schon seit drei Tagen dem Hunger und dem Durste ausgesetzt. Als ich dich indes sah, gewann ich wieder Hoffnung zum Leben.« Diese Rede rührte den Prinzen, und von Mitleid durchdrungen, ließ er sie hinter sich auf sein Pferd setzen. »Wenn mir Gott aus dieser wüsten Einöde hilft,« sagte er zu ihr, »so verspreche ich, dich zu deiner Familie zurückzuführen.« Hierauf betete er und empfahl sich Gott. Während er seinen Weg weiter fortsetzte, kam er an einem Gesträuch vorbei, hinter welchem eine Mauer war. »Hier,« sprach das Mädchen zu dem Prinzen, »habe ich etwas zu verrichten. Warte ein wenig auf mich.« Der Prinz hielt sein Pferd an; sie stieg ab und trat hinter die Mauer. Allein bald darauf kam sie wieder hervor, und zwar in der Gestalt einer Flamme. Der Prinz war äußerst darüber erschrocken und wußte nicht, was er tun sollte. Sie aber nahm schnell ihren vorigen Platz wieder ein und sprach: »Mein Prinz, warum bist du so bekümmert, und warum ist deine Gesichtsfarbe so verändert?« – »Ach,« sagte er, »irgend eine Angelegenheit macht mir Kummer.« – »Nun wohl, dein Vater ist König,« erwiderte sie, »bediene dich seiner Reichtümer, benutze seine Schätze.« – »Was mich bekümmert,« sagte der Prinz, »kann nicht durch Schätze abgewandt, auch nicht durch Kriegsheere vermieden werden.« – »Ihr Leute sagt ja,« sprach sie, »daß ihr einen Himmel und einen Gott habt, der alles sieht, ohne gesehen zu werden, der allgegenwärtig, allmächtig, allwissend ist, und über den keine Macht geht. Rufe diesen zu Hilfe gegen das, was dich betrübt.« – »Sehr wohl,« sagte er, »nur an ihn kann ich mich wenden.« Zugleich richtete er seinen Blick zum Himmel, schüttete sein Herz in einem frommen Gebet vor Gott aus und sprach: »O mein Gott, zu dir nehme ich meine Zuflucht in der Angelegenheit, die mich jetzt bekümmert,« und indem er dieses sagte, zeigte er auf sie. In demselben Augenblicke fiel sie, immer noch als Flamme, zur Erde und wurde eine ausgebrannte schwarze Kohle. Da lobte und dankte er Gott wegen seiner Rettung. Seinen Weg weiter fortsetzend, gelangte er endlich in sein Land und zu seinem Vater.

Du mußt aber wissen, o König,« fügte die Frau hinzu, »daß dieses alles auf Veranstaltung des Wesirs geschehen war, welcher die Absicht hatte, den Sohn des Königs umkommen zu lassen. Du siehst also, o König, daß den Wesiren nicht immer zu trauen ist.« Der König beschloß hieraus, keinem seiner Wesire mehr Gehör zu geben.

 

Neunhundertundsechsundachtzigste Nacht.

Am folgenden Tage begab sich der vierte Wesir zum Könige, machte ihm Vorstellungen wegen seines Sohnes, bat ihn, nicht den einzigen Thronerben auf eine leichte Anklage zu töten, und erzählte ihm folgende Geschichte.

 


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