Der Roman eines Konträrsexuellen
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Vorwort

Emile Zola an Dr. Laupts in Lyon

Mein lieber Doktor!

Ich sehe nichts Verwerfliches darin, daß Sie den »Roman eines Homosexuellen« veröffentlichen; im Gegenteil, ich bin sehr glücklich darüber, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Gelehrter das tun können, was ein einfacher Schriftsteller wie ich nicht gewagt hat.

Als ich vor Jahren dieses so merkwürdige Dokument erhielt, hat das große Interesse, das es in physiologischer und sozialer Hinsicht darbot, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Seine absolute Aufrichtigkeit rührte mich; man fühlt in ihm die Glut, fast möchte ich sagen die Beredsamkeit der Wahrheit. Man bedenke nur: der junge Mann, der da seine Beichte ablegt, schreibt eine Sprache, die nicht die seine ist: und erhebt er sich nicht trotzdem an bestimmten Stellen zu dem bewegten Stil tief empfundener und voll wiedergegebener Gefühle? Hier liegt ein vollständiges und zwar ein naives, spontanes Bekenntnis vor, wie es sehr wenige Männer abzulegen gewagt haben, und gerade diese Eigenschaften verleihen ihm von mehreren Gesichtspunkten aus einen ganz besonderen Wert. Daher hatte ich auch anfänglich, von dem Gedanken getragen, daß eine Veröffentlichung nützlich sein würde, den Wunsch, von dem Manuskript Gebrauch zu machen. Ich habe aber vergebens nach einer passenden Form der Veröffentlichung gesucht, und dies hat mich schließlich dazu bestimmt, den Plan fallen zu lassen.

Ich hatte damals die schwersten Stunden meines literarischen Kampfes durchzumachen; die Kritik sprang täglich mit mir wie mit einem Verbrecher um, der zu allen Lastern und zu allen Ausschweifungen fähig wäre. Und sehen Sie mich in jenen Zeiten als den verantwortlichen Herausgeber jenes »Romans eines Homosexuellen«? Zuerst hätte man mich beschuldigt, die Geschichte in allen Stücken frei erfunden zu haben, aus persönlicher Verderbtheit. Sodann wäre ich gehörig verurteilt worden, weil ich in der Sache nur eine niedrige Spekulation auf die widerlichsten Instinkte gesehen hätte. Und was für ein Geheul, wenn ich mir zu sagen erlaubt, daß kein Gegenstand wichtiger und trauriger ist, daß es sich hier um eine Wunde handelt, die viel häufiger vorkommt und viel tiefer geht, als man zu glauben vorgibt, und daß das beste Mittel, um Wunden zu heilen, darin besteht, sie zu studieren, sie aufzuzeigen und zu behandeln!

Aber der Zufall hat es so gewollt, mein lieber Doktor, daß, als wir eines Abends zusammen plauderten, wir auf jenes menschliche soziale Übel der sexuellen Perversionen zu reden kamen. Und ich vertraute Ihnen das Dokument an, das in einer meiner Schubladen schlummerte, und so kam es, daß es endlich das Tageslicht hat erblicken dürfen; und zwar in den Händen eines Arztes, eines Gelehrten, den man nicht beschuldigen wird, dem Skandal nachzugehen. Ich hoffe sehr, daß Sie damit einen entscheidenden Beitrag zu der schlechtgekannten und besonders ernsten Frage der invertiert Geborenen liefern werden.

In einem anderen vertraulichen Briefe, den ich um dieselbe Zeit erhielt und den ich unglücklicherweise nicht wiedergefunden habe, hatte mir ein Unglücklicher den herzzerreißendsten Schrei menschlicher Qual gesandt, den ich jemals vernommen. Er wehrte sich dagegen, so schändlichen Liebesgelüsten nachzugeben, und er verlangte zu wissen, woher diese Verachtung aller stamme, woher diese stete Bereitwilligkeit der Gerichtshöfe, ihn niederzuschmettern, wo er doch in seinem Fleisch und Blut den Ekel vor dem Weibe, die wahre Liebe zum Manne mit zur Welt gebracht habe. Niemals hat ein vom Dämon Besessener, niemals hat ein dem unbekannten Verhängnis des Geschlechtstriebes preisgegebener armer Menschenleib so gräßlich sein Elend hinausgeheult. Dieser Brief, ich erinnere mich, hatte mich unendlich erschüttert; und ist nicht der Fall in dem «Roman eines Homosexuellen« ein und derselbe, nur mit einer glücklicheren Unbewußtheit? Hat man nicht hier einen wirklichen physiologischen Fall leibhaftig vor Augen, ein Herumtasten, einen halben Irrtum der Natur? Nichts ist tragischer, meiner Meinung nach, und nichts verlangt mehr nach der Enquête und dem Heilmittel, falls es ein solches gibt.

Denkt man an solche Dinge bei dem dunklen Geheimnis der Empfängnis? Ein Kind wird geboren: warum ein Junge, warum ein Mädchen? Man weiß es nicht. Aber was für eine Verwicklung voll Dunkel und Elend ist es, wenn die Natur in einem Augenblick der Unentschiedenheit den Jungen als halbes Mädchen, das Mädchen als halben Jungen geboren sein läßt! Und das sind alltägliche Tatsachen. Die Unsicherheit kann einfach mit dem physischen Gesamt-Habitus beginnen, den großen Linien des Charakters: der weibische, zarte, feige Mann; das maskuline, gewalttätige, jede Weichheit entbehrende Weib. Und sie geht bis zu der erwiesenen Monstrosität, dem Hermaphroditismus der Organe, bis zu den widernatürlichen Gefühlen und Liebesempfindungen. Gewiß, die Moral und die Justiz haben Recht einzuschreiten, da sie die Hüter der öffentlichen Ordnung sind. Aber mit welchem Rechte, wenn doch der Wille teilweise aufgehoben ist? Man verurteilt nicht einen von Geburt an Buckligen, weil er bucklig ist. Warum einen Mann verachten, der als Weib handelt, wenn er als halbes Weib geboren wurde?

Selbstverständlich, mein lieber Doktor, liegt es nicht in meiner Absicht, das Problem auch nur aufzustellen. Ich begnüge mich damit, die Gründe dafür anzugeben, die mir die Veröffentlichung des »Romans eines Homosexuellen« wünschenswert gemacht haben. Vielleicht wird dies ein wenig Mitleid für gewisse Bejammernswerte einflößen und ein wenig Billigkeit. Und ferner, alles was das Sexuelle betrifft, betrifft das soziale Leben selbst. Ein Invertierter ist ein Zerstörer der Familie, der Nation, der Menschheit. Mann und Weib sind sicherlich nur deswegen hienieden, um Kinder zu zeugen, und sie töten das Leben an dem Tage, wo sie nicht mehr das tun, was notwendig ist, um solche zu zeugen.

In herzlicher Freundschaft

Medan, 25. Juni 1895

Emile Zola


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