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Kleine Ursachen, große Wirkungen.

Kleine Ursachen, große Wirkungen! Die Bedeutung dieser inhaltreichen Worte hatte in der letzten Aufsatzstunde Herr Dr. Richter, Lehrer einer höheren Töchterschule, seinen Schülerinnen klar zu machen versucht, da er das Thema für ihren nächsten Aufsatz bilden sollte.

»Gewiß werdet ihr wohl alle aus Erfahrung eine nette Geschichte darüber schreiben können,« hatte Herr Dr. Richter gesagt; »es ist einerlei, ob die Folgen gute oder schlechte waren, wenn ihr nur die Wahrheit dieser Worte in richtiger Weise durch eure Erzählung bestätigt.«

Trotzdem der Lehrer diese Aufgabe für sehr leicht hielt, begegnete er doch vielen fragenden und ratlosen Blicken.

»Nun, es scheint mir wirklich, als ob die meisten unter euch nicht im klaren darüber wären,« sagte er, »diejenigen, die sich nicht sicher fühlen, mögen den Finger heben.« Und siehe da, nur mit wenigen Ausnahmen sah man alle Finger.

»Das hatte ich allerdings nicht erwartet, daß euch solch eine leichte Arbeit schwer erscheinen könnte. So will ich euch durch ein Beispiel belehren und euch eine wahre Geschichte erzählen, die sich erst vor kurzem zugetragen hat: Im Tiergarten, unweit einer Bank, spielten mehrere Kinder, Knaben und Mädchen, die von ihren Fräulein oder Wärterinnen beaufsichtigt wurden. Nicht weit davon stand ein Rollstuhl, in welchem ein alter Herr Zeitung lesend saß. Er hatte den Diener, der ihn gefahren, mit einer Bestellung fortgeschickt. Da entfiel das Blatt seinen zitternden Händen, und es wurde sogleich von dem Winde fortgeweht. Das schien ihm sehr schmerzlich zu sein, denn mit einem traurigen, hilfesuchenden Blick schaute er nach allen Seiten; aber keiner war so gefällig, sich für den armen Kranken zu bemühen. Da kam atemlos ein kleines frisches, freundliches Mädchen angelaufen, das aus der Entfernung das Mißgeschick des alten Herrn bemerkt hatte, haschte nach der Zeitung und überreichte sie mit einem artigen Knix dem Hilflosen. Herzlich dankend blickte er wohlgefällig in das hübsche, treuherzige Gesichtchen des Kindes. Er fragte es dann nach Namen und Wohnung der Eltern, und am Abend übersandte er ihr durch seinen Diener eine große Tüte Konfekt. Oft sahen sich die beiden, der alte Herr und die kleine Erna Haldern, im Tiergarten wieder, und es entspann sich bald eine große Freundschaft und Zuneigung zwischen ihnen. Erna lief oft plaudernd eine ganze Strecke neben dem Wagen her, und man sah, wie sehr die ungezwungene Fröhlichkeit des elfjährigen Kindes den armen Kranken erheiterte. Dieser hatte das freundliche Mädchen bald so in sein Herz geschlossen, daß er es schmerzlich vermißte, als er ihm monatelang nicht mehr begegnete. Wie sehr er sich auch nach ihr umschaute und sich deshalb von seinem Diener nach verschiedenen Gegenden fahren ließ, so konnte er doch zu seiner Betrübnis keine Spur von ihr entdecken. Endlich bemerkte er sie eines schönen Tages zu seiner großen Freude und Verwunderung am Nollendorfplatz. Aber welche Veränderung war mit seiner kleinen Freundin vorgegangen! – Kaum vermochte er seinen Augen zu trauen. Mit traurig gesenkten Blicken, blassem Gesicht und im verwaschenen Kattunkleidchen saß sie, die sonst stets so geschmackvoll und hübsch gekleidet war, allein auf einer Bank. Auf seine teilnehmende Frage nach ihrem Ergehen, stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und sie antwortete schluchzend: ›Es geht uns allen nicht gut, wir sind jetzt so arm geworden, daß wir aus unserer hübschen Villa in eine Dachstube ziehen mußten; wir haben auch fast gar keine Sachen mehr, und der Vater weiß nicht, wie er Brot für uns schaffen soll.‹

Mit tiefem Mitgefühl hörte der alte Herr auf die traurige Erzählung des betrübten Kindes, das bisher so fröhlich in glücklichen Verhältnissen gelebt hatte, und nun wie eine vom Sturme geknickte Blume dasaß.

›Armes, liebes Kind, weine nicht so herzzerbrechend,‹ tröstete der Herr, ›ich will mich noch heute nach dem Unglück deiner Eltern erkundigen, und wenn ich es vermag, werde ich auch gewiß helfen.‹ Damit drückte er der Kleinen, sich verabschiedend, die Hand und ließ sich sogleich nach Hause fahren. Dann schickte er seinen Diener aus, um Erkundigungen über die Familie und deren Schicksal einzuziehen. Diese ergaben denn auch, daß die Eltern der kleinen Erna sehr brave und rechtschaffene Leute waren, und daß der Vater durch den Bankrott eines bisher sehr angesehenen Geschäftshauses sein ganzes Vermögen und seine Existenz eingebüßt hatte. Und da der ruinierte Mann nun auch keine Stelle als Kommis bekommen konnte, befand sich die beklagenswerte Familie in der größten Not. Sofort schickte nun der alte Herr zu dem unglücklichen Familienvater und ließ ihn zu sich bitten. Als dieser denn auch bald erschien und in klarer, ruhiger Weise den Sachverhalt schilderte, wußte er auch sogleich, daß er es mit einem redlichen, strebsamen Manne zu tun hatte, der alles tat, um dem Unglück entgegenzuarbeiten und nicht in trostlosem Jammer, als ein bisher verwöhntes Kind des Glückes, die Hände in den Schoß legte ›Ich würde ja für mein Leben gern mit einer ganz bescheidenen Stelle zufrieden sein, aber alle meine vielen Bemühungen sind bis jetzt gescheitert; es gibt so viele junge Kräfte, die selbstverständlich einem bankrotten Familienvater vorgezogen werden,‹ sagte er traurig.

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Der kranke Herr versprach, ihm die Hand schüttelnd, nach Kräften zu helfen.

Wie groß war aber die Ueberraschung und Freude der armen Familie, als am andern Morgen ein Schreiben des gütigen Herrn mit der Anweisung auf eine Summe eintraf, die groß genug war, um wieder ein Geschäft ohne Sorgen begründen zu können!

›Bauen Sie mit Gottvertrauen und mit frischem Mut ein neues Haus!‹ schrieb der edle Wohltäter. ›Mich hat Gott, wenn auch nicht mit Gesundheit, so doch mit Glücksgütern gesegnet, und ich bitte Sie herzlich, Beifolgendes als Gabe und Ausdruck meiner aufrichtigen Zuneigung für meine kleine Freundin Erna annehmen zu wollen.‹

»Aus dieser Erzählung,« sagte Herr Dr. Richter, »ist es euch allen nun sicher klar geworden, welch eine große Wirkung oft eine kleine Ursache haben kann. Hier wurde die Zuvorkommenheit eines freundlichen kleinen Mädchens die Veranlassung zur Befreiung aus schwerer Not für ihre ganze Familie.

»Ihr könnt ja aber nun auch eine Erzählung entgegengesetzter Art anführen und schildern, wie durch ein kleines Versehen großer Schaden angerichtet ist.«

»Das ist aber eigentlich viel schwerer,« meinten nachher einige der Schülerinnen unter sich. Dieser Ansicht traten auch Emmi Freitag und Olga Arnim kräftig bei. »Du, wir wollen zusammenarbeiten,« schlug letztere vor.

»Na ja, dann werde ich bald nach Tische zu dir kommen.«

»Ach ja! Bitte, komme nur recht früh,« erwiderte Olga erleichtert. Aufsätze machen gehörte nicht zu ihrer starken Seite; sie wußte, daß Emmi ihr darin vor war, deshalb erhoffte sie auch von ihr Rat und Hilfe.

»Ja, aber weißt du, wir brauchen den Aufsatz ja erst am Sonnabend abzugeben, dann werden wir ihn auch erst am Freitag machen.« Damit war Olga sehr einverstanden.

Am Freitag knupperte aber Emmi ebenso ratlos wie Olga an ihrer Feder, und letztere sah sich in der angenehmen Hoffnung, von ihr Rat und Hilfe zu erhalten, getäuscht.

»Weißt du, Olga, die Geschichte ist durchaus nicht leicht,« sagte Emmi, nachdem sich beide schon lange die Köpfe zerbrochen hatten, »ich dachte vorhin, wir könnten von einem Ball schreiben, der in des Nachbars Garten gefallen war, dabei jemand an den Kopf geflogen sei und ihn arg beschädigt habe.«

»Ach nein,« schüttelte Olga den Kopf, »das wollen wir doch lieber nicht schreiben. Dabei könnte Herr Dr. Richter leicht auf die Vermutung kommen, daß uns so etwas passiert sei.«

»Ja, aber was nur?« stöhnten beide mit verzweifeltem Gesicht. Olga dachte im stillen: »Ich hätte doch wirklich geglaubt, die Emmi wäre klüger.« Und diese hatte wieder bei sich die leise Bemerkung: »Die Olga ist doch rein zu einfältig, nicht einen einzigen Gedanken weiß sie anzuführen; wenn ich das vorher gewußt hätte, dann hätte ich zu Hause bleiben und allein arbeiten können.«

»Olga,« rief jetzt die Mutter herein, »ich gehe aus und habe auch der Anna erlaubt, sich nachher eine Besorgung zu machen, daher sieh ab und zu einmal in das Esszimmer, ob Ernst und Fritz auch artig spielen und keine Dummheiten machen.«

»Du, die Mühe, nach uns zu sehen, kannst du dir sparen,« sagte Fritz, sobald die Mutter fort war, den Kopf in die Tür steckend.

»Nein, das laß nur ja sein,« rief jetzt auch Ernst. »Auf dich hören wir ja doch nicht, und du störst uns nur, wenn du alle Augenblicke hereinguckst.«

»Was betreibt ihr denn aber, wobei ich euch stören könnte

»Na, wir bauen eine Festung und wollen Krieg spielen,« war Fritz so gütig zu antworten.

»Dabei können sie ja auch keinen Schaden anrichten,« dachte Olga sehr beruhigt, ließ die beiden wilden sechs- und achtjährigen Jungen machen, was sie wollten, und blieb in aller Seelenruhe bei ihrem Aufsatz.

»Du, weißt du was,« rief Emmi plötzlich, die Freundin so heiter anstoßend, daß diese glaubte, ihr wäre plötzlich ein besonders einleuchtender Gedanke gekommen, »eine von uns könnte ja schreiben, daß die beiden Unheil angerichtet haben, weil du nicht nach ihnen gesehen hast!«

»O nein, dafür danke ich recht schön! Das hieße ja den Teufel an die Wand malen!« rief Olga ganz entrüstet über solche Rede:

»Na meinetwegen, denn nicht, aber dann schlage du doch endlich auch einmal etwas vor!«

»Ja, wie gern! Wenn ich nur etwas wüßte,« stöhnte Olga, und ihr verzweifeltes Aussehen bestätigte die Wahrheit ihrer Worte.

»Komm!« rief Emmi, die Feder ärgerlich auf den Tisch werfend, »wir wollen einen Augenblick auf die Straße gehen; vielleicht sehen wir da etwas, worüber wir schreiben können.«

Damit war Olga sogleich sehr einverstanden, und beide eilten ins Freie. Vor der Türe und auch die Straße herunter war nichts Besonderes zu sehen. Ein Junge zog mit seinem Hundemagen pfeifend an ihnen vorüber; ein anderer bot mit großem Geschrei Zitronen und Apfelsinen zum Kauf an; Droschken und Wagen fuhren hin und her. Das war alles! – –

»Weißt du, wir wollen nach dem Marktplatz gehen, da wird es eher etwas Vernünftiges zu sehen geben,« schlug Olga vor. Natürlich war da heute ein großes Menschengewühl, mancherlei zu sehen, denn es war ja der erste Jahrmarktstag, zu dem Leute von nah und fern mit ihren Buden eingetroffen waren.

»Gewiß, das war ein guter Einfall von dir, hier ist es heute wirklich nett. Komm, wir wollen gleich einmal zusehen, was dort in der Bude los ist,« sagte Emmi, Olga mit sich fortziehend.

»Immer näher, meine Dämchens!« rief ihnen die schnarrende Stimme des Budenbesitzers entgegen; »hier gibt es gar viel zu sehen, allerliebste Meerschweinchen, niedliche Aeffchen und andere liebe Tierchen!« Und wirklich schien es auch in der Bude gar lustig zuzugehen; matt hörte lautes Lachen und bewundernde Ausrufe der Zuschauer von innen. Fragend sahen sich die beiden Freundinnen an.

»Emmi, wollen wir schnell einmal hineingehen?« fragte Olga. »Ich habe in meinem Portemonnaie noch achtzig Pfennige, die Hälfte davon reicht ja für uns beide.« Sehr beifällig nickte Emmi, und beide traten ein. War das nun ein Vergnügen! – Der Raum war mit Menschen überfüllt, verschiedene Tiere tanzten nach der schrecklichen Musik,« die von den lauten Beifallrufen der Zuschauer noch übertönt wurde. Besonders aber machten die kleinen Aeffchen den beiden vielen Spaß; diese wurden zur Belehrung von dem Besitzer mit Nüssen und Naschwerk gefüttert, und in komischster Weise suchten sie sich nun das einander zu entreißen.

Bei dieser Lust war natürlich der schwierige Aufsatz ganz vergessen. – Nachdem sie sich weit über eine Stunde in der Bude ergötzt hatten, wanderten sie sehr vergnügt und in größter Seelenruhe nach den Würfelbuden. Hier versuchten sie so lange ihr Glück, bis sie den Rest ihrer beiderseitigen Barschaft verspielt hatten.

»Schade um das schöne Geld, wir hätten uns lieber Obst dafür kaufen sollen,« bedauerten sie nachher beide. Aber zu spät, das Geld war einmal fort und sie mußten sich nun schon an dem bloßen Anblick der gar zu verlockend aussehenden rotbackigen Birnen und Aepfel genügen lassen.

In aller Gemütlichkeit schlenderten sie nun nach dem anderen Ende des Platzes, und standen hier lange Zeit bewundernd bald vor den Spielwarenbuden, bald vor den Pfefferkuchenbuden.

»Bitte, Fräuleinchens, treten Sie gefälligst einen Augenblick zurück, daß ich die Lampe anstecken kann,« bat der Verkäufer, ein kleiner vierschrötiger Mann mit roter Nase, sehr höflich.

Sehr erschrocken erinnerten sich jetzt bei eingetretener Dämmerung Emmi und Olga ihrer Schularbeiten.

»Na ja, siehst du, daran bist du bloß schuld, du warst ja gar nicht von den Würfelbuden wegzubekommen,« machte jetzt Olga der Freundin Vorwürfe.

»Was fällt dir ein, rede doch nicht solchen Unsinn,« gab Emmi höchst entrüstet zurück, »du wärst ja für dein Leben gern noch länger bei den Affen geblieben, wenn ich nicht so viel getrieben Hütte.«

In dieser Weise stritten sie sich noch weiter, eine die Schuld immer der andern zuschiebend.

»Was soll nun aber mit unseren Schularbeiten werden?« fragten sie sich dann in großer Angst. »O, wären wir doch lieber gar nicht hinausgegangen!« Aber was halfen jetzt alle Klagen, die Reue kam leider zu spät.

»Es ist gewiß schon acht Uhr, ich muß nur schnell meine Bücher zusammenpacken und sogleich nach Hause gehen,« sagte Emmi sehr niedergeschlagen.

»Ach, wenn nur unterdessen Ernst und Fritz keine Unarten getrieben haben,« sagte Olga, von leiser Ahnung ergriffen. Sehr schuldbewußt öffnete Olga zaghaft die Tür des Wohnzimmers, als sie endlich atemlos angelangt waren. – Aber starr vor Entsetzen bei dem Anblick, der sich hier ihren Augen darbot, glaubte sie, das Herz müsse ihr stillstehen. – Zertrümmert und in tausend Scherben lagen die Glocken und Zylinder der Gaskrone auf dem Fußboden, und mit zerzausten Haaren und blutenden Händen standen Ernst und Fritz, wild wie kleine Räuber aussehend, da.

»Was habt ihr unnützen Schlingel gemacht?« stieß Olga endlich hervor.

»Ernst ist schuld!« rief Fritz grimmig; »er hat vor Wut die ganze Festung eingerissen, und da habe ich –«

»Das ist nicht wahr,« unterbrach ihn heulend Fritz; »er hat mich gestoßen, und da bin ich hineingefallen!«

»Lüge nicht, du frecher Junge.«

»Doch ist es wahr, ich lüge nicht; nachher hat er mich noch geschlagen und mit Bauklötzen geworfen.«

»Lügen, nichts als Lügen!«

»Ja, schöne Lügen, dabei hat er mit dem Klotz in die Krone geworfen!« beharrte Fritz mit grimmiger Gebärde.

»Ach, was wird die Mama nur sagen,« schluchzte Olga. »O, wäre ich doch nicht fortgegangen!«

»Ja eben, du bist auch eigentlich an allem schuld!« riefen jetzt beide Knaben, froh, einen Ausweg gefunden zu haben.

»Jawohl,« besiegelte Fritz sein Verdammungsurteil, »die Mutter hatte dir ja aufgetragen, auf uns aufzupassen, und du hast dich statt dessen den ganzen Nachmittag draußen herumgetrieben.«

Bei diesen Beschuldigungen wurde Olgas Gewissen immer unruhiger, und ihre Angst hatte den Höhepunkt erreicht, als sich plötzlich die Tür öffnete, und die Mutter, ebenso erschrocken wie vorhin Olga, starr wie zur Bildsäule geworden, stehen blieb. Mit einem Gewirr von Entschuldigungen und gegenseitigen Beschuldigungen stürzten ihr die aufgeregten Kinder entgegen. Zuerst war die arme Mutter natürlich beim Anblick der Scherben und der kleinen blutenden Raufbolde so betäubt, daß sie keines Wortes mächtig war. Als sie dann endlich aus Olgas unter heftigem Weinen hervorgebrachten Bericht den Sachverhalt ahnte, stieß sie endlich die Frage hervor: »Wie kommt es denn, daß die ungezogenes! Rangen bluten, haben sie sich etwa gar noch in die Glassplitter hineingestoßen?«

Nun folgte wieder ein Durcheinanderreden und heftiges Streiten, daß kein Mensch daraus klug werden konnte.

»Der Ernst!« »Nein, der Fritz!« »Die Olga!« – versuchte eines das andere zu überschreien.

»Ruhe!« gebot die Mutter jetzt sehr energisch; »Olga, höre endlich auf mit deinem Weinen und erzähle mir alles ruhig und vernünftig. Wollten dir die gottlosen Buben nicht folgen?«

»Die und vernünftig, fortgelaufen ist sie,« heulten wieder beide Jungen zugleich.

»Augenblicklich schweigt ihr schrecklichen Rangen und laßt Olga mir die Sache erklären.

»Mama! – ach, Mama! – die Emmi und ich – wir – wir wollten nur hinausgehen und sehen, ob uns nicht vielleicht draußen – ein – ein Gedanke – für unseren Aufsatz kommen konnte,« – stotterte Olga in höchster Verwirrung.

»Ja schön, auf dem Markt sind sie gewesen und eben erst zurückgekommen,« konnten wieder die kleinen Sünder nicht unterlassen, sich einzumischen.

»Was? – Olga, das kann ich doch unmöglich von dir großem zwölfjährigen Mädchen glauben! Sprich! ist das wahr?«

»Wir gingen nur in die Tierbude und sahen uns dann noch die Spielsachen an,« brachte die kleine Missetäterin schuldbewußt und hoch errötend hervor.

»So!! Also auf solche Weise habt ihr den ganzen Nachmittag verbummelt. Da hört denn doch alles auf, dafür hast du eine harte Strafe verdient, und der sollst du auch gewiß nicht entgehen.«

»O bitte, bitte, liebes, einziges Mamachen, vergieb mir nur dieses eine Mal noch!« flehte Olga unter krampfhaftem Schluchzen.

»Gnädige Frau,« kam jetzt das Mädchen zitternd und bleich hereingestürzt, »es sind Diebe in der Wohnung gewesen! Ich fand die Tür nur angelehnt, als ich nach Hause kam, alle Schubkasten standen weit offen, und alles Silberzeug fehlt.« Die arme Frau fiel aus einem Schreck in den andern, und als sie nun sofort alles durchsuchten, stellte es sich heraus, daß nicht nur die Löffel und anderes Silbergerät, sondern auch die Uhr von der Wand und viele Wertsachen, wie auch verschiedene Kleidungsstücke, die am Riegel hingen, fehlten. Sogar dem Mädchen waren der Wintermantel und die besten Kleider gestohlen. Fritz und Ernst hatten sich in gegenseitiger eifriger Verfolgung wohl eine Stunde draußen herumgejagt. Die Zeit hatte der Dieb benutzt, sich in die offene Wohnung geschlichen und mitgenommen, was ihm gerade zusagte.

»Ach, mir wollten doch nur Rat für unsern Aufsatz suchen,« wehklagte und jammerte Olga immer wieder.

»Was für einen Aufsatz?« fragte die Mutter heftig.

»Wir sollen morgen eine Erzählung über ›Kleine Ursachen, große Wirkungen‹ bringen, und es wollte uns rein gar nichts einfallen.«

»Nun, dann kann es dir ja jetzt an Stoff dazu nicht mehr fehlen, denn aus der, wie du doch wohl meinst, kleinen Ursache, daß ihr nur einen Augenblick hinausgehen wolltet, sind ja nun die größten und unheilvollsten Wirkungen hervorgegangen.«

Da Olga gar nicht aufhörte, immer wieder herzlich und demütig um Verzeihung zu bitten und heilig versicherte, sich nie wieder dergleichen zuschulden kommen lassen zu wollen, so ließ die Mutter Gnade vor Recht ergehen und sagte: »Weil ich sehe, daß dir dein Unrecht wirklich so zu Herzen geht, will ich dir diesmal noch vergeben, aber mit der Bedingung, daß du irr Zukunft nie wieder vergißt, daß gute und dankbare Kinder die Wünsche und Befehle ihrer Eltern zu respektieren haben!«

Die kleinen verstockten Sünder, Fritz und Ernst, die nicht reuig wie die Schwester um Verzeihung baten, bekamen nachher von dem Vater ihre verdiente Strafe und mußten außerdem noch ohne Abendbrot zu Bette gehen.

Olga trat am andern Morgen sehr betrübt und niedergeschlagen ihren Schulweg an. Am Abend war sie zu verwirrt von den schrecklichen Erlebnissen und der ausgestandenen Angst gewesen, um noch arbeiten zu können, und früh hätte sie eine Aufgabe, die immerhin beinahe zwei Stunden in Anspruch nahm, nicht mehr fertig bekommen.

Der Unterricht begann an dem Tage sogleich mit der deutschen Aufsatzstunde, und am Schlusse derselben wurden alle Hefte gefordert.

»Nun, wird's bald? Schnell, schnell eure Hefte,« befahl Herr Dr. Richter mit strenger Miene, vor den beiden nebeneinander sitzenden Missetäterinnen Olga und Emmi stehend.

»Wir konnten – wußten nicht wie« – stammelten sie in größter Angst und Verlegenheit.

»Was? Ihr großen Mädchen wäret nicht imstande gewesen, eine so einfache Arbeit, die ich euch noch durch ein Beispiel klar gemacht habe, fertig zu bekommen! Schämt euch! Zur Strafe werdet ihr nun nach der Schule den Aufsatz hier machen und mir dann die Hefte sogleich bringen!«

Da halfen nun weder Bitten noch Tränen; beide mußten nachbleiben und trotz ihres großen Hungers noch zwei Stunden auf das Mittagbrot warten. Auf strengen Befehl des Lehrers hatten sie sich ganz auseinandersetzen und jede für sich arbeiten müssen. – Aber nun fanden sie wirklich Stoff. Wenn sie auch nicht gerade ihre bösen Erlebnisse vom gestrigen Nachmittage dazu verwandten, so war es ihnen doch plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen, so daß sie jetzt ihre Aufgabe zur Zufriedenheit des Lehrers lösen konnten.

»Nun haben euch wohl eure Vergehen und die auf dem Fuß gefolgte Strafe klug gemacht,« sagte Herr Dr. Richter, der Olgas Vater getroffen, und von diesem die gestrigen Vorgänge erfahren hatte. »Ich hoffe nun aber, daß ihr m Zukunft bestrebt sein werdet, die Wahrheit von ›Kleine Ursachen, große Wirkungen‹ auch im guten Sinne zu erproben!«

 

Druck von Rob. Bardtenschlager in Reutlingen.


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