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Das Veilchensträußchen.

Es war ein herrlicher Frühlingstag, die liebe Sonne schien hell und freundlich, der Flieder, die Veilchen und Maiglöckchen dufteten und blühten, daß es eine Lust war. Auf den Märkten und an den Straßenecken standen Frauen mit großen Körben voll dieser lieblichen Frühlingskinder, die sie den Vorübergehenden zum Kauf anboten. Vor einer dieser Verkäuferinnen blieb die kleine elfjährige Wally Teichmann auf ihrem Rückwege von der Schule stehen und bat höflich um zwei Veilchensträuße.

»Einem so freundlichen kleinen Fräulein will ich auch die allerschönsten aussuchen,« sagte die Frau, indem sie zwei der besten Sträußchen aus ihrem Korbe nahm und sie Wally überreichte.

Als diese, seelenvergnügt über ihren Kauf, damit nach Hause eilen wollte, kam ihre ältere Schwester Marga eiligst auf sie zugelaufen und rief ihr schon von ferne zu: »Wo hast du denn die vielen Veilchen her?«

.

Von einer der Frauen dort an der Ecke habe ich sie gekauft,« erwiderte Wally ruhig, ohne den ärgerlichen Ton und Blick der Schwester zu beachten.

»Von wem hast du denn das Geld zu solchen unnützen Ausgaben?« forschte Marga weiter.

»Weshalb willst du das so genau wissen?«

»Weil du mir noch gestern sagtest, daß du keinen Pfennig hättest!«

»Gewiß, gestern hatte ich auch nichts, aber heute früh habe ich für die gehäkelten Spitzen von der Frau Professor zwei Mark eingenommen.«

»Dann schäme dich, daß du das mühsam verdiente Geld nicht besser anzuwenden verstehst! Du weißt, daß es der Mutter oft zu dem Nötigsten fehlt; statt es ihr zu Hilfe zu geben, verschwendest du es auf solch unnütze Weise.« Aergerlich kehrte sie mit diesen Worten der Schwester den Rücken und ging mit der Absicht, der Mutter diese unerhörte Verschwendung Wallys zu berichten, eiligen Schrittes nach Hause.

Marga und Wally waren die Töchter einer Witwe, die in sehr beschränkten Verhältnissen lebte. Der Vater, der ein sehr geschickter und menschenfreundlicher Arzt gewesen, war vor zwei Jahren gestorben. Da er seiner Familie kein Vermögen hinterlassen hatte, so mußte die Frau sich und ihre beiden kleinen Töchter selbst ernähren. Sie hatte sogleich ihre Geschicklichkeit in der Malkunst zu verwerten gesucht, und auch für eine Porzellanfabrik dauernde Arbeit gefunden. Diese Tätigkeit war sehr mühsam und dabei wenig einbringend, so daß es der armen Witwe nur kümmerlich erging und sie mit großen Sorgen zu kämpfen hatte. Ihr einziger Trost und ihre Hoffnung waren ihre beiden Kinder; leider aber war bis jetzt nur Wally bestrebt, der Mutter Freude zu machen. Sie war ein liebes, gutes Kind und tat alles, was sie nur der geliebten Mama an den Augen absehen konnte. Dagegen war Marga stets mürrisch und verdrossen, sie war zu der geringsten häuslichen Arbeit unwillig und dachte nur immer daran, was sie alles gegen andere entbehren mußte. Mit Neid sah sie auf die Töchter reicher Eltern, die schönere Kleider trugen und es weit besser hatten als sie. Wallys Herz kannte weder Neid noch Mißgunst, stets war sie zufrieden und guter Dinge. Daher hatte jedermann die muntere Kleine gern, und auch der Mutter Herz neigte sich mehr dem guten, liebevollen Töchterchen zu. Marga aber empfand dies als große Ungerechtigkeit, und ihr ganzer Groll fiel auf die unschuldige Schwester, die sie deshalb nicht liebte. Gern suchte sie eine Ursache, sie bei der Mutter zu verklagen; heute glaubte sie nun, Wally eines großen Unrechts beschuldigen zu können. Schon in der Tür rief sie, auf die hinter ihr eintretende Wally deutend: »Sieh nur, Mama, wie verschwenderisch Wally ist, diesen großen Strauß Veilchen hat sie für das Geld gekauft, das sie für ihre Häkelei eingenommen, woran sie über vier Wochen gearbeitet hat.«

»Sei nicht böse, liebes Mütterchen,« bat die Kleine, sich der Mutter nähernd und sie zärtlich umarmend. »Ich weiß, daß du die Veilchen so liebst, und nun wollte ich dir damit eine kleine Freude machen. Beide Sträußchen kosten auch nur fünfzehn Pfennige, und ich habe noch zwei Mark hier, bitte, nimm sie, Herzensmütterchen, und kaufe für dich etwas dafür.«

»Ich will es dir verwahren, Herzchen,« sagte die Mutter gerührt, »es ist sehr hübsch von dir, daß du mich erfreuen willst, aber ein Sträußchen wäre auch genug gewesen.«

»Beide solltest du auch nicht haben,« sagte Wally, den Blick verlegen zu Boden senkend.

»Nun, wen wolltest du denn damit beglücken?« fragte lächelnd die Mutter.

»Ich wollte – ich wollte sie dem kranken Fräulein Müller, die im Hinterhaus vier Treppen wohnt, hinauftragen,« stotterte Wally errötend und verwirrt.

»Aber, Kind, woher kennst du denn diese Dame?«

»Ich kenne sie nicht, ich hörte nur gestern die Portiersfrau zu dem Herrn Doktor sagen, daß sie so krank und arm sei, auch keinen Menschen auf der Welt habe, der sich um sie kümmere. Da wollte ich ihr so gern eine Freude machen, wenn du es erlaubst, liebes Mamachen.«

»Gewiß, mein gutes Töchterchen, das erlaube ich dir von Herzen gern,« sagte die Mutter erfreut über das gute Herz ihres Kindes. »Gleich nach dem Essen kannst du der armen Dame das hübsche Sträußchen hinauftragen. Es ist sehr recht und brav von dir, daß du mit der armen Einsamen Mitleid hast und ihr eine Aufmerksamkeit erweisen willst.«

»Die wird noch wegen ihrer Verschwendung gelobt, während ich gestern getadelt wurde, weil ich mir für das Geburtstagsgeld von der Tante etwas Nützliches kaufen wollte,« rief jetzt Marga ärgerlich.

»War vielleicht die Kette, die du dir kaufen wolltest, etwas Nützliches?« fragte die Mutter sehr ernst. »Ist das wohl mit Wallys menschenfreundlicher Tat zu vergleichen, die für ihr mühsam verdientes Geld anderen Freude bereiten will?«

Das konnte und wollte aber der kleine Trotzkopf nicht einsehen.

»Ich möchte wohl wissen, was uns die Alte angeht; wenn sie so arm ist, wird sie sich auch nichts aus den Veilchen machen,« brummte Marga, die sich über die vermeintliche Ungerechtigkeit der Mutter nicht beruhigen konnte.

»Gewiß wird eine so zarte Aufmerksamkeit der armen Kranken Freude machen. Viel hat Wally nicht zu geben, aber darauf kommt es auch nicht an. Sie gibt aus warmer Menschenliebe und handelt damit nach den Worten unseres Heilands: ›Liebet euch untereinander!‹«

Fräulein Müller saß am Nachmittage traurig am Fenster ihres armseligen Dachstübchens, als leise an ihre Tür geklopft wurde und auf ihr ›Herein‹ Wally eintrat. Mit einem artigen Gruß näherte sie sich teilnehmend und schüchtern, indem sie, dem Fräulein die Veilchen überreichend, freundlich sagte: »Ich hörte, daß Sie krank wären und nicht hinausgehen könnten, da wollte ich Ihnen nun einen Frühlingsgruß bringen.«

»O, wie lieb ist das von dir, du gutes, herziges Kind!« rief die Dame mit vor Rührung zitternder Stimme. »Ach, diese schönen Veilchen, sie scheinen mir wie ein Bote vom lieben Gott, um mich daran zu erinnern, daß über uns allen ein guter Vater waltet, der keines seiner Geschöpfe vergißt. Habe vielen, vielen innigen Dank, du lieber Engel, daß du mir eine so große Freude bereitet hast. Gott segne dich dafür!«

Wally fühlte sich durch die Freude und den warmen, herzlichen Dank der so Verlassenen unendlich beglückt und reich belohnt.

»Willst du nicht Platz nehmen und ein Weilchen bei mir bleiben?« bat dann freundlich die alte Dame.

»Sehr gern, wenn ich nicht störe,« sagte Wally und setzte sich zu dem Fräulein an das Fenster. Zutraulich erzählte sie von allerlei Dingen, auch wie herrlich es jetzt im Walde und auf der Flur sei, wie die Bäume grünten und blühten und wie munter die kleinen Vöglein sängen.

Aufmerksam lauschte die Kranke dem fröhlichen Geplauder des Kindes, das so lebendig das frische Leben und wunderbare Walten der Natur zu schildern vermochte. Der Armen war es nicht vergönnt, hinauszugehen und Trost und Hoffnung in dem wunderbaren Zauber der Natur zu suchen, denn sie wurde schon jahrelang übel von der Gicht geplagt. Heute hatte sie sich besonders einsam und unglücklich gefühlt; die liebe Sonne, die so freundlich in ihr dürftiges Stübchen schien, hatte doch mit ihren hellen Strahlen das Herz der von aller Welt Verlassenen nicht erwärmen können. Jetzt, da ein liebliches Menschenkind vor ihr saß, erwachte wieder das Vertrauen auf Gottes Güte und Barmherzigkeit, und Hoffnung und Frieden belebten ihre bekümmerte Seele.

»Darf ich wiederkommen und sehen, wie es Ihnen geht?« fragte Wally, als sie dem Fräulein zum Abschiede die Hand reichte.

»Ich würde mich sehr freuen, Herzchen, wenn du mich wieder und recht oft besuchen wolltest,« erwiderte diese, die Kleine streichelnd und liebkosend.

Wally erzählte nun der Mutter, wie traurig sie das Fräulein gefunden, und wie dankbar und erfreut dasselbe für die kleine Aufmerksamkeit gewesen sei.

»Ach, denke nur, liebe Mama, die Aermste hat solche Schmerzen in den Füßen, daß sie sich nur mühsam an Krücken im Zimmer bewegen kann,« sagte sie mitleidig. »Ach, wie glücklich bin ich doch, daß ich gesund bin!«

»Gewiß, mein Kind, Gesundheit ist das größte Gut, wofür wir dem lieben Gott nicht genug danken können. Das arme Fräulein ist doppelt zu beklagen, weil sie noch dazu so arm ist und sich nicht pflegen kann.«

»Erlaubst du, daß ich sie in Zukunft alle Tage besuche, Mütterchen?«

»Ja, gern, mein Kind, auch ich werde mich nach der Armen umsehen und ihr, so viel ich vermag, beistehen.«

Täglich ging nun Wally zu dem alten Fräulein hinauf, das sie bald so in ihr Herz geschlossen hatte, daß die Kranke meinte, nicht mehr ohne ihr Goldkind, ihren Sonnenstrahl leben zu können. Den ganzen Tag freute sie sich auf den Abend, wo Wally sie zu besuchen pflegte. Sehnsüchtig horchte sie dann auf jeden sich nähernden Schritt, und ihr Gesicht strahlte vor Freude, wenn ihr Liebling eintrat.

»Wenn ich dir doch auch einmal eine kleine Freude machen könnte, mein Herzblättchen,« seufzte sie oft, »aber ich armes Geschöpf kann dir durch nichts meinen Dank und meine Liebe beweisen!«

»Ach, bitte, sage das nie wieder, liebes Tantchen,« protestierte dann die Kleine dagegen. »Es macht mir eine große Freude, wenn ich dir nützlich sein kann, und ich würde dich nicht lieber haben, wenn du mir auch noch so viel schenken könntest.«

»Das weiß ich, mein Liebling,« beschwichtigte dann das alte Fräulein. »Dein gutes Herzchen findet seinen schönsten Lohn in dem Bewußtsein, andere zu erfreuen und ihnen Liebes zu erweisen.«

Jahr und Tag war seit der Bekanntschaft Wallys mit ihrer alten Freundin vergangen, als sich beide wieder wie gewöhnlich eines Abends gegenüber am Fenster saßen. Die Kleine sah heute nicht vergnügt wie sonst, sondern traurig und niedergeschlagen aus, nur mühsam schien sie mit Tränen zu kämpfen.

»Was fehlt dir, Herzchen?« fragte teilnehmend das Fräulein. »Warum willst du mir deinen Kummer verbergen? Wenn ich dir auch wohl nicht zu helfen vermag, so kann ich dich doch trösten und für dich beten.«

Durch die liebreichen Worte des Fräuleins aus der Fassung gebracht, schluchzte Wally: »Meine Mutter war schon gestern sehr unwohl, heute ist sie aber so krank, daß wir den Doktor rufen mußten.«

»Beruhige dich, mein armes Kind,« tröstete das Fräulein, die betrübte Kleine zärtlich streichelnd und liebkosend. »Der liebe Gott wird helfen und dein Mütterchen bald wieder gesund werden lassen.«

Leider aber sollte sich dieser Trost nicht erfüllen. Statt besser, wurde die Krankheit mit jedem Tage schlimmer, und die armen Kinder schwebten in größter Angst und Sorge, daß ihnen das treue Mutterherz entrissen werden könnte. Dazu war bald die bitterste Not an sie herangetreten, sie wußten schon nicht mehr, wo sie das Geld zu den Arzneien und zu den nötigsten Bedürfnissen hernehmen sollten.

»Ich nehme jetzt die letzte Mark,« flüsterte Wally verzweiflungsvoll der Schwester zu, als sie nach der Apotheke gehen wollte; »was fangen wir an, wenn auch die ausgegeben ist?«

»Dann verkaufen wir unsere goldenen Kreuze; mit dem Gelde, das wir dafür bekommen, reichen wir wohl, bis wir den Einsatz zum Verkauf fertig haben,« tröstete Marga.

In den Tagen des gemeinsamen Kummers, da beide in größter Angst und Sorge um das teure Leben der Mutter schwebten, hatten sich die Herzen der Schwestern gefunden. Marga hatte tiefe Reue empfunden, daß sie der guten Mutter bisher keine Freude gemacht und auch zu ihrem einzigen Schwesterchen stets lieblos gewesen war. Als Wally eines Abends betend am Bett der schlummernden Mutter kniete, hatte sie plötzlich Marga innig umschlungen und, sie zärtlich küssend, unter Tränen gebeten: »Verzeihe nur alles Unrecht, das ich dir getan, und habe mich nun wieder lieb!«

»Von ganzem Herzen,« sagte Wally bewegt, die Reuige fest an sich drückend. »Nie wollen wir wieder etwas zwischen uns treten lassen und immer treu wie gute Schwestern zusammenhalten.«

Beide hatten geglaubt, die Mutter schlafe, doch sie hatte nur mit geschlossenen Augen still gelegen und alles gehört. Segnend legte sie jetzt die Hand auf die Häupter der geliebten Töchter, die heute den Bund treuer Schwesterliebe für ihr ganzes Leben schlossen. In innigster Vereinigung trugen sie jetzt die schwere Prüfung, die ihnen durch die lange Krankheit der Mutter von Gott auferlegt war. Mit aufopfernder Kindesliebe pflegten sie die Teure und mühten sich die halben Nächte mit Handarbeiten, um ein paar Groschen zu verdienen. Tapfer suchten sie der Mutter ihre Not zu verbergen, damit sie sich nicht noch mehr betrüben und aufregen sollte, als sie es so schon tat. Aber das Auge einer Mutter sieht scharf, sie mußte wohl, wie es in dem Herzen ihrer Lieblinge aussah, und sie flehte zu Gott um Trost und Hilfe für die jungen gequälten Seelen.

»Grämt euch nicht, meine lieben Kinder,« sagte sie eines Morgens, »es geht mir heute etwas besser, der liebe Gott wird mich noch bei euch lassen und sich auch unserer Not erbarmen.« Nach einer Weile fragte sie: »Habt ihr auch in meiner Krankheit das arme Fräulein Müller nicht vergessen?«

»Nein, Herzensmütterchen, Marga oder ich haben alle Tage gesehen, wie es ihr geht,« erwiderte Wally, erfreut, daß die Mutter nicht teilnahmlos gegen alles wie bisher lag. »Nur gestern war keine von uns bei ihr, weil du elender wie sonst warst, und wir dich beide nicht verlassen wollten,« setzte sie darauf hinzu.

»Ach, Kindchen, dann geh doch gleich zu ihr hinauf, das arme Wesen könnte sich über euer Ausbleiben beunruhigen.«

»Ja, Mütterchen, das fürchte ich auch, ich will sie auch sofort beruhigen, sie wird sich sehr freuen, zu hören, daß es dir besser geht.« Mit diesen Worten stand Wally auf und begab sich zu der alten Dame.

Still weinend, die Hände wie zum Gebet gefaltet, fand sie diese am Fenster sitzen; vor ihr auf dem Nähtisch lag ein geöffneter Brief, den sie allem Anschein nach soeben gelesen hatte.

»Liebes, gutes Tantchen, warum weinst du?« fragte Wally teilnahmsvoll. »Hat dir der Brief dort so traurige Nachrichten gebracht?«

»Nein, Kindchen, im Gegenteil, ich habe eine so überwältigend frohe Nachricht durch den Brief erhalten, daß ich vor Freude weine. Denke doch nur, es wird mir Ahnungslosen plötzlich mitgeteilt, daß ein reicher Verwandter von mir, den ich kaum kannte, im Auslande gestorben ist, und daß mir, da er keine näheren Erben hat, seine große Hinterlassenschaft zufällt. Ich bin noch ganz betäubt und kann es gar nicht fassen, daß ich armes Geschöpf mit einem Mal zu solchem großen Reichtum kommen soll; es scheint nur fast unglaublich.«

Wally hatte sie anfänglich ganz erschrocken angesehen, sie hatte schon gefürchtet, die Arme habe den Verstand verloren und spreche im Irrsinn. Sie überzeugte sich aber bald, daß das Fräulein durchaus bei klarem Verstände sei und die Wahrheit spreche.

»O, wie herrlich! Nein, das ist ja zu schön, liebstes, bestes Tantchen!« fiel sie ihr dann jubelnd um den Hals. »Ach, wie freue ich mich, nun kannst du dich pflegen und wohl auch noch gesund werden!« Das gute Kind war so selig, daß ihrer alten Freundin ein solches Glück widerfahren, daß sie ihr eigenes Leid beinahe vergessen hätte.

»Ja, mein teures Kind, mein Herz ist voll Dank gegen den gütigen Vater im Himmel, der noch einen Sonnenstrahl in meine alten Tage fallen läßt. O, wie viel Gutes will ich nun tun, und die Not meiner Mitmenschen lindern. Vor allem will ich jetzt aber dir, mein Herzensliebling, meine Liebe mit der Tat beweisen. Dein liebes Mütterchen soll nun so gepflegt werden, daß sie mit Gottes Hilfe bald wieder kräftig und gesund wird; schicke mir noch heute den Arzt herauf, daß ich mit ihm beraten kann, was zu ihrer Genesung dienlich ist, denn schon in einigen Tagen habe ich reiche Mittel in den Händen.«

Vor Freude überwältigt, konnte Wally kaum Worte finden, ihren Dank so auszudrücken, wie ihn ihr froh bewegtes Herz empfand; schluchzend verbarg sie das Gesicht an der Brust ihrer alten, treuen Freundin. Von Dank wollte diese aber nichts hören.

»Sprich nicht so, mein Herzensliebling,« wehrte sie ab. »Wie könnte ich dir wohl je die Liebe und Teilnahme vergelten, welche du mir in so reichem Maße erwiesen hast, als ich arm, elend und von aller Welt verlassen war!«

Das bisher so arme Fräulein Müller befand sich nun wirklich nach einigen Tagen im Besitze großer Reichtümer, und das ganze Haus wunderte sich, daß sie nicht sofort ihr dürftiges Dachstübchen mit einer eleganten Wohnung vertauschte. Darüber schien sie aber andrer Meinung zu sein, sie nahm sich nur eine junge Dienerin, die ihr kräftige Speisen holte und den Tag über bei ihr blieb. Die reiche Dame schien so ihre eigenen Gedanken und Pläne zu haben, von denen sie selbst ihrer geliebten Wally nichts verriet. Als diese sie eines Tages fragte: »Aber, Tantchen, willst du denn in diesem engen Stübchen bleiben, willst du dir nicht eine schöne Wohnung mieten?« da hatte sie sehr geheimnisvoll gelächelt, ihr nur freundlich zugenickt und eine rätselhafte Antwort gegeben.

Der kranken Frau Doktor wurde nun durch Fräulein Müllers Güte und Freigebigkeit die sorgsamste Pflege zuteil, alles, was nur zu ihrer Genesung und Stärkung beitragen konnte, wurde herbeigeschafft. Dabei erholte sie sich nun schnell und war in einigen Wochen wieder ganz hergestellt. Freude und Glück war wieder bei der kleinen Familie eingezogen, und die noch vor kurzem so bleichen, vergrämten Gesichter der beiden Kinder strahlten von Frische und Gesundheit.

Der Genesenen erster Ausgang war zu dem guten Fräulein, der sie nächst Gott ihre schnelle Herstellung und die Befreiung von drückenden Nahrungssorgen verdankte. Aber so groß auch die Freude der alten Dame über den lieben Besuch war, so schnitt sie doch von vornherein die herzlichen Dankesworte ab.

»Beschämen Sie mich nicht, meine liebe Frau Doktor,« sagte sie, »die Mutter meiner kleinen lieben Wally ist mir durchaus keinen Dank schuldig; außerdem werden Sie sogleich hören, was für eine greuliche Egoistin ich bin, nehmen Sie mir daher nicht den Mut, mein Anliegen auszusprechen.«

»Es würde mich sehr beglücken, unserer Wohltäterin einen Wunsch erfüllen zu können, bitte, sprechen Sie, was wir Ihnen zuliebe tun könnten.«

»Nun denn, würden Sie wohl Wallychen erlauben, mich während der Ferien nach einem Badeorte zu begleiten?«

»Von Herzen gern! Wally wird sehr glücklich über eine so schöne Aussicht sein.«

»Noch bin ich mit meinen Bitten nicht zu Ende,« fuhr das Fräulein freudig erregt fort, »ich habe mit meinen Zukunftsplänen sehnlichst auf Ihre vollständige Genesung gewartet, jetzt sollen Sie nun alles erfahren. Wollen Sie, meine liebe Frau Doktor, während ich mit Wally im Bade weile, eine hübsche kleine Villa mit Garten mieten und diese wohnlich und nett, ganz nach Ihrem Geschmack, einrichten?«

»Gewiß, mit dem allergrößten Vergnügen; ich freue mich herzlich, daß Sie so viel Vertrauen zu mir haben, und ich werde mir die größte Mühe geben, Ihnen ein recht behagliches Heim einzurichten.«

»Behaglich kann es für mich nur werden, wenn Sie auch meine letzte Bitte erfüllen und mit Ihren beiden Kindern dann bei mir wohnen, auch mir gestatten wollen, die Kosten des gemeinsamen Haushaltes zu tragen?«

»Ach, liebes, bestes Fräulein, so viele unverdiente Güte kann ich doch unmöglich annehmen, Sie haben schon so unendlich viel für mich und die Kinder getan, daß wir immer hoch in Ihrer Schuld bleiben werden.«

»O bitte, sagen Sie das nie wieder, Sie wissen nicht, wie weh Sie mir damit tun. Wenn Sie auf meine Wünsche eingehen, so geben Sie meinen Leben Wert und Inhalt, ich allein bleibe dann diejenige, die immer nur zu danken hat. Es wäre ein Glück für mich, wie ich es nur nicht schöner denken könnte. O bitte, schlagen Sie ein,« bat das Fräulein herzlich, der Frau Doktor die Hand reichend.

Diese weigerte sich nun nicht länger, sie nahm mit Dank das gütige Anerbieten an. Marga und Wally waren hoch erfreut, als sie hörten, daß der Mutter alle Sorgen abgenommen waren und sie in einer hübschen Villa wohnen sollten.

Während nach Verlauf von einigen Wochen Fräulein Müller und Wally im Bade weilten, hatte die Frau Doktor bald ein reizendes, kleines Haus, im Garten gelegen, gefunden. Auf Wunsch des Fräuleins hatte sie sogleich den Kauf abgeschlossen und es sehr gemütlich und nett eingerichtet.

»Hier ist gut sein, hier wollen wir glücklich und friedlich leben!« rief Fräulein Müller begeistert aus, als sie zum erstenmal ihr neues Heim betrat. »Liebe und Barmherzigkeit sollen unter unserm Dache wohnen! Nie, meine liebe Freundin, werden wir es vergessen, wie den Notleidenden zumute ist, denn wir beide haben das Leid und die wunderbaren Wege Gottes kennen gelernt!«

Alle lebten nun sehr einträchtig und glücklich in der neuen Heimstätte; die Frau Doktor bewohnte mit ihren Kindern die oberen, und das Fräulein mit ihrer Dienerin die unteren Zimmer. Die alte gebrechliche Dame war gar nicht wiederzuerkennen, so verändert war sie innerlich und äußerlich. Nachdem sie im Herbst noch einige Wochen in einer Naturheilanstalt zugebracht hatte, war sie vollständig von ihrer Gicht befreit. Sie sah jetzt sehr munter und blühend aus, und ihr Auge strahlte vor innerer Glückseligkeit. Niemand hätte in der stattlichen Erscheinung das einst so elende, von aller Welt vergessene Wesen wieder erkannt.

Ebenso gut erging es auch der Frau Doktor und ihren beiden Töchtern; erstere brauchte sich jetzt nicht mehr für ihren Unterhalt zu sorgen und zu quälen. Das Zusammenleben mit ihrer Wohltäterin gestaltete sich nach allen Seiten zu einem sehr glücklichen. Marga und Wally wetteiferten förmlich in Liebe und Aufmerksamkeit gegen ihre Mutter und ihr altes gutes Tantchen. Der armen Alleinstehenden hatte der liebe Gott nicht nur einen sorgenlosen Lebensabend, sondern auch die höchsten irdischen Güter, ›Liebe und Gesundheit‹, geschenkt.

In ihrem Testament hatte Fräulein Müller Wally und Marga die Hälfte ihres bedeutenden Vermögens und das hübsche Besitztum mit allem Zubehör vermacht. Die andere Hälfte des Geldes hatte sie für arme, alleinstehende Frauen und Mädchen im Orte bestimmt.

»Hätten wir wohl ahnen können, daß das bescheidene Sträußchen, Wallys kleine Liebesgabe, uns allen so viel Glück bringen würde?« sagte die Mutter zu ihren Töchtern, als der Duft der Veilchen im Garten sie an jenen Tag erinnerte. »Wie oft wird die kleinste gute Tat zum Segen für unser ganzes Leben!«

»Ach, und ich habe unsere mitleidige Wally so getadelt und ihr gutes Herz so lange verkannt,« sagte Marga, sich mit Betrübnis an ihre Lieblosigkeit erinnernd. »Aber jetzt verstehen wir uns auch um so besser! Nicht wahr, mein Schwesterchen?!«


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