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Nachwort

1.

Der Prozeß gegen die Kokainschmuggler war in London und in Paris noch im Gange. Er zog ständig weitere Kreise in allen Ländern und Berufsschichten. Gerüchtweise verlautete, daß man demnächst hinter verschlossenen Türen verhandeln werde.

Es erwies sich, daß die Affäre unter rein nationalistischer Flagge aufgemacht war, und wenngleich China ziemlich weitab lag, so wollte man doch aus verschiedenen Gründen die sensationellen Gesetzesübertretungen nicht mehr als notwendig an die große Glocke hängen.

»Und eines schönen Tages werden sie aus den Spalten der Zeitungen und aus der Erinnerung des Publikums überhaupt verschwinden«, vertraute Sir Arthur, der Polizeipräsident, Billy an, als sie sich eines Morgens in dem herbstlich geschmückten Hyde Park trafen. Billy als Rekonvaleszent zu Fuß, der Polizeipräsident zu Pferd.

»Ja, ich werde sie jedenfalls nicht vergessen – und meine Frau ebensowenig!« beteuerte Bill mit einem Lächeln, das noch nicht ganz überzeugend aussah.

»Es wird alles vergessen werden«, dozierte der Präsident, »und Sie sehen ja schon ganz frisch aus … auch Ihre Frau Gemahlin soll sich ja, wie ich erfreulicherweise höre, auf dem Wege der Besserung befinden. Aber natürlich war es eine schlimme Zeit für Sie beide!«

»Ja, das ist nicht zu leugnen!«

»Haben Sie übrigens gehört, daß Miß Violet gestern mit ihrem Vater eine Weltreise angetreten hat?«

Billy schüttelte den Kopf:

»Nein, ich habe Mr. Strefford nur ein einziges Mal seit jener Brandkatastrophe gesehen.«

»Das weiß ich!«

Sir Arthur lächelte vielsagend.

»Vielleicht von Miß Violet?« gab ihm Billy etwas ironisch zurück.

»Vielleicht, ja!« gestand der Präsident ein.

»Dann wissen Sie vielleicht auch, daß ich mir einen anderen Rechtsanwalt genommen habe?«

Sir Arthur nickte.

»Es gab gewisse Einzelheiten,« erklärte Bill, »über die wir uns nicht einigen konnten …«

»…; und dann hatte Mr. Strefford ja außerdem auch so viel zu tun«, ergänzte Sir Arthur den Satz lächelnd. »Sie wollten ihm nicht noch mehr Arbeit aufbürden.« Er lachte belustigt auf. »Ich glaube wahrhaftig, lieber Billy, Sie haben sich zum Diplomaten entwickelt. Übrigens sollen Sie, nach dem, was man mir erzählt – bei jener Zusammenkunft nicht gerade mit diesem Talente brilliert haben.«

Billy richtete sich aggressiv auf:

»Vielleicht könnten Sie sich deutlicher ausdrücken …«

»Sie sollen zum Beispiel gewisse Ansichten über seine hübsche Tochter, unsere gemeinsame Freundin, geäußert haben, die ihn veranlaßten, eine Entschuldigung von Ihnen zu verlangen.«

»Die er aber nicht erhielt.«

»So?«

»Ja, ich habe keine Lust, allzuviel Worte über die Sache zu verlieren, aber so viel kann ich Ihnen doch sagen, Sir Arthur, daß es nicht Violet Strefford zu verdanken war, wenn wir nicht alle drei bei dieser Gelegenheit als verkohlte Leichen aufgefunden wurden.«

Sir Arthur stutzte:

»Sie scheinen sich nichts daraus zu machen, lieber Bill, manchmal den Mund etwas voll zu nehmen.«

Billy lächelte bitter:

»Ich verstehe gut, daß es für Sie eine etwas starke Kost ist, so früh am Morgen. Aber es ist nichtsdestoweniger die reine Wahrheit!«

Sir Arthur hustete verlegen.

»Und ich kann es jederzeit beweisen!«

Sir Arthur blickte vor sich nieder:

»Ja, sie war eine merkwürdige Frau, diese Miß Strefford«, nickte er gedankenvoll und lächelte dann plötzlich. »Aber hübsch und voll Scharm, und auch klug! Vielleicht auch ein wenig dämonisch in ihrer Art! … Guten Morgen, lieber Billy!«

*

Es war jetzt ein Monat seit jener Begegnung verlaufen. Die Prophezeiungen des Präsidenten hatten sich erfüllt: Über die Kokainaffäre war bereits Gras gewachsen. Um so mehr aber debattierte man über Violet Strefford. Sie hatte an der Riviera einen reichen Maharadja kennengelernt, der sich bis über die Ohren in sie verliebte.

»Gott gebe, daß er sie heiraten möge«, dachte Billy, indem er sich an jene böse Stunde erinnerte. »Sie macht eine gute Partie, und dann liegt Indien auch so herrlich weit weg!«

Es war Lady Greeple, die ihm die Neuigkeit erzählte. Er hatte sie zufällig getroffen, als er auf dem Wege zu Yo war, den er bei einem ihm warm empfohlenen Pädagogen der modernen Schule untergebracht hatte. Dieser Mann war außerordentlich zufrieden mit seinem kleinen Schüler, und Yo strahlte – und entwickelte sich sehr gut.

»Ich werde Ihnen und der gnädigen Frau niemals meine Schuld abzahlen können«, behauptete er. Er sagte nie mehr »weiße Lady«.

Aber Billy war anderer Meinung:

» Wir sind es, die für alle Zeiten deine Schuldner bleiben werden … Und nun wollen wir nicht mehr darüber sprechen!«

*

Mit Elenas Gesundheit ging es nur langsam vorwärts. Aber immerhin vorwärts. Sie war unmittelbar nach ihrer Rettung in die Privatklinik Dr. Lansings gebracht worden, und da lag sie lange Zeit mit schwerem Fieber und phantasierte von gelben Teufeln und Folterwerkzeugen, von Ratten, Rauch und Feuersbrünsten. Dr. Lansing war sehr besorgt – und Billy nicht aus dem Krankenzimmer zu bringen:

»Ich denke doch in drei Teufels Namen, daß es meine Frau ist!« fluchte er und sah dabei so todunglücklich aus, daß Dr. Lansing ihm seinen Willen ließ. Nach und nach ging das Fieber herunter, und eines Tages – es war der schönste seines Lebens, schwor Billy – konnte der Arzt für das Leben seiner Patientin wieder garantieren.

»Vorausgesetzt, daß nicht unvorhergesehene Komplikationen eintreten … Und nun wollen Sie vielleicht, lieber Billy, so freundlich sein, Ihre Residenz wieder nach Park Lane zu verlegen – und ein wenig schnell, wenn ich bitten darf!«

Nach einem kleinen Boxkampf hatte sich Billy gefügt:

»Denn wenn ich nicht einmal so einen Knirps wie Sie, lieber Lansing, ›out knocken‹ kann, dann muß es schlecht um mich bestellt sein; ich eigne mich nicht länger zum Krankenpfleger!«

Lansing lächelte:

»Nein. Ich glaube auch, daß Sie vielmehr selbst fürs Krankenlager reif sind. Hier sind einige Schlaftropfen, die werden Ihnen gut tun.«

Billy schlief zweimal vierundzwanzig Stunden darauf.

Und ungefähr drei Wochen später – als er wieder imstande war, Dr. Lansing niederzuboxen – empfing er durch das Telephon die freudige Botschaft, daß seine Frau nun wieder ganz geheilt sei:

»Am Dienstag dürfen Sie sie nach Hause holen. Aber seien Sie vernünftig und laden Sie nicht gleich ganz London ein, wenn Sie ihre Genesung feiern werden!«

2.

Der letzte Strahl eines goldenen Sonnenunterganges lag auf den Büschen und Blumen des Gartens, die sich in der elften Stunde des Herbstes verfärbten und verbluteten. Der Rasen und die Fußwege froren unter einer Decke verwelkten Laubes. Kein grüner Halm, kein Kieselstein schaute darunter hervor. Und während auf den entblätterten Ästen und auf den nackten Zweigen der Sträucher die kleinen Knallerbsen blasser und blasser wurden, röteten sich zwischen behaarten Blättern – die in allen Farben von goldigem Gelb bis sattem Grün spielten – die ziegelroten Früchte der Heckenrose. Park Lane lag in herbstlicher Verlassenheit. Aber aus William Frenchs Villa klangen frohe Stimmen, das Klirren von Geschirr und das helle Klappern von Tafelsilber. Das kristallene Singen von Glas, das gegen Glas gestoßen wird! Und dröhnende Hoch! Hoch! …

Bill war überglücklich und stand neben Elena Hand in Hand mit ihr. Es war ihre Heimkehr, die gefeiert wurde. Da wollte er alle Freunde um sich sehen, die er und sie gerne hatten.

Das Gericht hatte übrigens jede Anklage gegen Elena fallen lassen, weil nach seiner Ansicht ihre Nichtschuld an Li-Changs Tod durch das Geschehnis mit dem armen Monkey zur Genüge erhärtet war.

»Und jetzt habe ich eine kleine Überraschung für Sie, meine Damen und Herren«, sagte Bill, als Elena, die etwas bleich, aber trotzdem reizend wie immer aussah, die Tafel aufgehoben hatte. »Wollen Sie mir bitte den Gefallen erweisen, Ihre Zigarren und den Portwein einige Minuten im Stich zu lassen und mit mir hinüber ins Atelier zu gehen, denn dort wartet eine Überraschung auf Sie.«

Rice, der auch wiederhergestellt war, öffnete die Flügeltüren.

»Ich bin, wie Sie mich wohl alle kennen,« fuhr Billy fort, »im allgemeinen kein Romantiker und kein Freund von großen Gesten. Aber trotzdem haben Elena und ich diesmal gemeint, die Banalität wagen zu dürfen, Ihnen dieses Ding da …«, er deutete auf eine verhüllte Statue, um welche sich die Gäste allmählich gruppiert hatten, »als, hm …! … sagen wir … als eine Art geistiges Dessert vorzusetzen! Ja, der Ausdruck ist gewiß etwas kitschig, aber ich hoffe, daß Sie die Figur dafür um so besser finden werden.«

Er trat mit einem Schritt zur Seite und riß mit einem raschen Ruck die Decke herunter – und zum zweitenmal in diesem Jahre wurde in diesem Raum ein William Frenchsches »Glück« enthüllt, das sowohl in der Tiefe der Auffassung wie in der Form klassisch zu nennen war … Ein abgeklärter Ausdruck für eine ganze Welt von Gefühlen … Alles stand tiefergriffen und in schweigender Andacht. Dr. Lansing war der erste, der die Sprache wiederfand:

»Mein Gott, Billy, Sie sind ja der reinste Hexenmeister, daß Sie solche Schönheit hervorzaubern können! Sie kommen ja unserem Schöpfer selbst ins Gehege!«

Dann lachten alle erleichtert auf und brachen in einen Beifallssturm aus. Billy ging von Arm zu Arm, von Hand zu Hand. Er war ganz irr vor Glück und wußte kaum, was er sagte. Bis er zuletzt bei Elena anlangte – der Jane einen leichten Mantel um die Schultern geworfen hatte – und die ihn mit einem glücklichen Lächeln daran erinnerte, daß er versprochen hatte, ihr etwas im Garten zu zeigen.

»Aber vielleicht hast du's überhaupt vergessen?«

Billy wurde mit einem Male ernst:

»Nein, Liebste, gewiß nicht«, sagte er und klinkte in aller Stille und Vorsicht die Verandatüre auf. »Jetzt schleichen wir uns ganz sachte hinaus, ohne daß es die anderen merken.« Er machte die Türe behutsam hinter ihnen zu. Niemand hatte es beobachtet.

Billy guckte verstohlen zu Elena hinab. Seine ihm wiedergeschenkte Frau – seine junge Liebe! die für sein ganzes Leben seine Braut bleiben würde! Ein wenig überschlank war sie geworden und etwas ernster; und um ihren Mund hatten sich einige Fältchen eingegraben. Aber es schien ihm, als ob die Leiden und das Krankenlager ihren Zügen einen gewissen Adel verliehen hätten … Und er war der Überzeugung, daß ihr mädchenhafter Liebreiz, ihr Duft und ihr Scharm unverändert frischgeblieben waren.

»Wer war es übrigens, der vorhin an der Tür läutete … unmittelbar bevor unsere Gäste kamen?« fragte sie.

»Ach, nichts von Bedeutung«, lenkte er ab.

»Doch, doch …«

»Na, wenn du es unbedingt wissen willst,« sagte er mit offen, barem Sträuben, »dann …«

Sie unterbrach ihn:

»Du hast gar nicht nötig, mehr zu sagen. Ich weiß jetzt, was es war: sie haben ihn immer noch nicht!«

»Nein, leider nicht! Übrigens meinte McMurton auch, daß man ihn wohl überhaupt niemals erwischen wird. Es sind ja verschiedene von dem Pack bei dem Brande ums Leben gekommen.«

Sie schüttelte den Kopf:

»Aber er nicht!«

»Na, das kannst du doch nicht mit solcher Bestimmtheit wissen!«

»Nein, aber ich fühle es!« Sie fuhr leicht fröstelnd zusammen. Er zog den Mantel fester um sie:

»Jetzt lassen wir Tai-Ling in Ruhe und wollen uns nicht mehr um ihn kümmern, nicht wahr?«

Sie nickte zustimmend.

»Er ist natürlich nach China verduftet. Hier wäre er ja zu leicht zu identifizieren – mit der Visage, mit der er herumläuft!«

Sie gingen einige Sekunden schweigsam nebeneinander.

»Und was wolltest du mir nun eigentlich hier zeigen, Bill?«

Bill küßte sie, wie um einen Kontakt mit dem Kommenden herzustellen:

»Monkey,« sagte er still, »den kleinen Monkey – sein Grab.«

Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Die Geschichte mit Monkey hatte sie sehr mitgenommen:

»Und zu denken, daß ich ganz vergessen habe, dich nach ihm zu fragen! … Liegt er da?«

Er nickte leise und hielt vor einem winzigen Erdhügel, der mit lauter weißen Astern bepflanzt war:

»Hier ist es, ich betreue sein Grab selbst. Findest du es nicht ganz hübsch?«

Sie gab nicht sofort Antwort, sondern nickte nur und schien in Gedanken verloren. Dann sah er, wie sie sich über die schneeweißen Kelche beugte und einen zarten Kuß darauf hauchte. Es lag eine solche Impulsivität und Echtheit in ihrer Bewegung, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, wie theatralisch die ganze Szene unter anderen Umständen vielleicht gewirkt hätte …

»Unser guter, kleiner Kamerad«, flüsterte sie und trocknete sich die Augen. Die Tränen saßen ihr so locker nach allem, was sie in den letzten Monaten durchgemacht hatte … »Ist es nicht zu verwundern, Billy,« sagte sie bald darauf, als sie wieder neben ihm stand, »er hing an uns, wie ein Kind an seinen Eltern hängt … Er hing an uns, ich möchte beinahe sagen, so wie ich an dir hänge …«

»Na, na, so ganz wollen wir das doch nicht gleichsetzen«, protestierte Billy prosaisch.

»Vielleicht nicht ganz!« gab sie zu.

»So wie ein Kind, will ich meinetwegen gelten lassen«, lächelte er.

»…; und doch hat er uns soviel Schmerz und Unheil gebracht – ohne daß er es wollte, natürlich!«

»Wie Kinder eben sooft ihren Eltern wehtun, ohne es zu wissen«, lächelte Billy wieder.

»Kinder, ja!« Sie stand wie träumend, mit geschlossenen Augen da.

»Du sagtest das so merkwürdig, Elena!«

Plötzlich warf sie sich freudig errötend an seine Brust:

»Möchtest du immer noch gerne ein Kind haben, Billy?« flüsterte sie.

»Du lieber Gott!« Billy blickte sie tiefbewegt an. »Wie konntest du das nur fragen

»Ach, ich wußte nicht recht – nach all dem Schweren …« Sie blickte auf die Seite.

»Sollen wir am Ende eines bekommen?« Billys Stimme war nahe daran, vor Glückseligkeit umzuschlagen. Sie nickte und blickte vor sich nieder.

»Und du konntest darüber im unklaren sein?«

Er umarmte sie, wie wahnsinnig vor Freude:

»Ein Kind, ein kleines Kind!« jubelte er.

Dann endlich lachte auch sie froh und schmiegte sich innig in seinen Arm:

»Mein großer, großer Billy! Wie lieb und gut du bist!«

 


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