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Vierter Teil

Erstes Kapitel

1.

In derselben Nacht, als Elena French verschwand, und ungefähr zur gleichen Stunde, war ein chinesischer Boy in der Schenkstube »Die weißen Reiher« damit beschäftigt, das letzte Ginglas zu säubern, stellte es mit den anderen zusammen an seinen Platz auf das Brett an der Wand und schickte sich an, sein Schlafzimmer aufzusuchen – ein elendes Loch unter der Treppe, die zum Boden hinaufführte, und gegenüber dem Eingang zu dem spartanischen »Rauchsalon« im ersten Stock des Hauses.

Yo Foo war, wie gesagt, für sein Alter klein und schwächlich, dafür aber war er willensstark und besaß eine unverhältnismäßig hohe Erfahrung. Zwei Dinge fürchtete er: Li-Chang und die Polizei!

Augenblicklich war er also als Mädchen für alles hier im »Weißen Reiher« angestellt. Sein Vater hatte es ihm selbst geraten, damals, als er die Gipsfigur zu William French gebracht hatte: »Ich muß meine eigenen Wege gehen«, hatte er gesagt, und der Knabe hatte ihm angesehen, daß er sich wegen irgend etwas schämte und daher Sorgen hatte. Und dann hatte er ihm noch von dem Mandarin und dem schlechten Einfluß erzählt, den dieser auf ihn ausübte. Eine der alltäglichen Geschichten von dem Manne, der in schlechte Gesellschaft gerät und Geschmack an unerlaubten Genüssen bekommt:

»Nach dem Tode deiner Mutter ist alles bei mir schief gegangen, Yo! Ich wollte überhaupt nicht mehr leben. Und wenn ich es trotzdem getragen habe, so geschah es anfangs nur dir zuliebe. Später um der Freuden willen, die ich mir erkaufen konnte in den schmutzigen Höhlen ringsum … die Wohltat der Vergangenheit! des Versinkens! … Ja. Du verstehst mich vielleicht noch nicht ganz … Aber jetzt soll endlich Schluß damit sein. Ich will wieder frei werden, und deshalb ist es nötig, daß wir uns trennen.«

Dann hatte er ihm etwas Geld gegeben, und am nächsten Tage war Yo aufgebrochen, um sich eine Stellung zu suchen, weit weg von dem Viertel, in dem sein Vater wohnte … dieser Vater, den er so innig liebte – und dem er entsagen mußte! Er wußte kaum warum! Und so war er hier im »Weißen Reiher« gelandet …

Yo Foo war sehr schläfrig. Seine Tätigkeit als Flaschenspüler verschlang sozusagen Tag und Nacht. Alle Lasten wurden ihm aufgebürdet, und er nahm sie auf sich, wie nur ein kleiner Chinesenboy solche Fügungen des Schicksals zu ertragen versteht. Außerdem lag irgend etwas über und in dem Hause selbst, das ihn stets nur halb schlafen ließ, das ihn immer wieder aufschreckte und aufhorchen machte. Es kamen nämlich manchmal eigentümliche mystische Dinge vor hier bei A Kooli, dem Wirt und Besitzer des Cafés und Rauchsalons. Er dachte dabei weniger an die Rauchzimmer selbst, obwohl er wußte, daß sie der finstere Schauplatz heimlicher Freuden und Schrecken waren. Nein, es gingen noch ganz andere und wahrscheinlich weit schlimmere Sachen vor sich, als daß ein Sohn des Ostens sich an dem Safte der Mohnkörner berauschte und in geiferndem Delirium durch den halbdunklen Raum torkelte, um schließlich irgendwie in der Gosse zu enden.

So war Yo Foo in mancher Nacht von schlürfenden Fußtritten aufgeweckt worden. Er wußte schon, daß es noch eine Hintertreppe gab, die in den Hof führte und auf der sich die nächtlichen Schritte bewegten: Vom Hof die Treppe hinauf und durch den Rauchsalon – aber wohin? Einmal war er ihnen nachgeschlichen. Im Rauchkabinett lag alles in tiefem Schlaf. Selbst der Pikkolo, der den müden Orientalen und den vereinzelten Abendländern die Pfeife zu bringen hatte.

Es waren zwei Männer. Sie waren den gewöhnlichen Weg heraufgekommen und, wie immer, in dem kleinen Hinterzimmer verschwunden, das dem länglichen Rauchsalon seinen Abschluß gab. Aber als er hineinguckte, waren sie vom Erdboden verschwunden!

Daran mußte er eben wieder denken und über das geheimnisvolle »Wohin« nachgrübeln, als er in dieser Nacht auf sein Lager unter der Treppe kroch. Wohin mochten die Männer verschwunden sein? Er hatte in seiner Kindheit hier in dem verrufenen Limehouse manche Erzählungen von Geheimtüren und unterirdischen Gängen, die zur Themse hinabführten, von Falltüren und dergleichen aufgeschnappt! Sollte er vielleicht hier auf die Spur ähnlicher Dinge gestoßen sein? Er war trotz allem soeben im Einschlafen, als auf einmal die Türe der Hintertreppe leise knarrte und er bald darauf hörte, wie sich jemand näherte: drei Männer und eine Frau! … Er verhielt sich mäuschenstill, lag mit geschlossenen Augen da und stellte sich schlafend.

Man hatte der Frau ein Tuch über das Gesicht geworfen, aber so, daß sie doch atmen und hören konnte. Übrigens schleppte sie sich nur mühsam dahin, wie krank oder halb bewußtlos … Gerade vor seinem Versteck blieben sie stehen, und er erkannte an der Stimme einen der Männer als den ohren- und nasenlosen Tai-Ling, einen Burschen, der nur von allerlei zweifelhaften Geschäften lebte und keine besondere Achtung in seiner Umgebung genoß.

Sein Ton, mit dem er einem der Leute befahl, »mit dem Schleier hierherzukommen«, fiel Yo Foo auf und gab ihm zu denken. Das klang plötzlich nach einer Sicherheit und Autorität, die von seinem sonstigen dämlichen Gehaben abstach. Auch seine Augen waren wie verwandelt. Yo fühlte ihren Blick scharf und durchdringend auf sich gerichtet. Früher war er leer und wäßrig gewesen.

»Der Junge schläft wohl«, flüsterte einer.

Tai-Ling nickte:

»Er schläft, sei unbesorgt. Machen wir, daß wir weiterkommen!«

Er selbst nahm die Frau unter den rechten, der Zweite unter den linken Arm, der Dritte folgte:

»Sie schläft noch,« grinste er, »aber rührt sich schon.«

»Halt's Maul!« zischte Tai-Ling und öffnete die Tür zum Rauchsalon. Nummer drei ließ sie hinter sich zufallen. Aber im selben Augenblick war auch der kleine Yo schon auf den Beinen und bei der Türe, die er wieder öffnete:

Er sah die drei Männer mit der Frau durch das Lokal gehen, das in einem blauvioletten Halbdunkel verschwamm. Da und dort glühte vereinzelt eine matte Lampe. In den Schlafnischen ruhten auf niedrigen Kisten Männer aller Nationen, hauptsächlich Gelbe, die sich hier in dem verschrobenen und verzerrten Winkel des Orients durch einige Opiumzüge kurze Stunden seligen Rausches erkauft hatten. Einige von ihnen spielten »Fantan«, um auszuknobeln, wer die Pfeife bezahlen mußte. Der Wirt A Kooli und die Kellner glitten wie Figuren in einem Schattenbilde lautlos von Polster zu Polster. Auf einem niedrigen Tische in der Mitte des Raumes saß der Musikant und entlockte seiner Pfeife eine Melodie aus wenigen, sich immer wiederholenden Tönen von eigentümlich suggestiver und sinnlich aufpeitschender Wirkung. Yo huschte geräuschlos hinein und mischte sich unter die Kellner. Am Ende des Lokals lag das bewußte Hinterzimmer mit der Filztüre – und da hinein begaben sie sich richtig wieder, die Männer mit der Frau. Diese hatte keinen Laut von sich gegeben und war steif und teilnahmslos zwischen ihnen dahingeschritten. Yo wurde gerade noch gewahr, wie A Kooli einen Blick und ein verständnisvolles Nicken mit Tai-Ling wechselte – der auch in seiner ganzen Haltung entschieden einen viel selbstbewußteren Eindruck machte als früher. Dann war die kleine Gruppe verschwunden.

Yo wartete einen Augenblick. Es war halbdunkel im Zimmer, niemand hatte ihn bemerkt. Er war vorsichtig an den Vorhängen der Schlafzellen entlang geschlichen. Aber jetzt lag der Weg vor ihm frei, solange es eben dauerte, und er nutzte die Chance aus. Ein paar Sekunden danach stand er im Hinterzimmer. Es war leer. Was er übrigens auch erwartet hatte. Er machte sich daran, es zu untersuchen. Da war zwar ein Fenster, das auf den Hof ging und dicht mit Filz beschlagen war. Aber durch dieses Fenster konnte man sich nur dann zwängen, wenn man so klein war wie Yo –, außerdem war es fest geschlossen, alle Verschlüsse unberührt und intakt. Wo in aller Welt waren also die Männer und die Frau geblieben? Er setzte seine Nachforschungen im Zimmer fort, dessen Beleuchtung ebenso schummerig und undeutlich war wie das im großen Rauchzimmer. Das Geheimnis reizte ihn mehr und mehr. Dann kam etwas Neues hinzu: Ein Duft im Raum, den er zu kennen glaubte. Und plötzlich bemerkte er ein Taschentuch, ein kleines, zierliches, mit Spitzen gesäumtes Tüchlein, dem dieser Duft entströmte.

Er nahm es auf, besah es und fand an einer Ecke die Buchstaben E. F.

Eine Erinnerung kam ihm: Elena French, die seinem Vater einen Krankenbesuch gemacht und dabei ihr Taschentuch liegengelassen hatte. Er hatte darin gelesen wie in einem Märchenbuch: diese weiße, hauchdünne Seide, dieser köstliche Geruch, in den er sich von Tag zu Tag mehr verliebt hatte! … Die prachtvoll gewirkten Spitzen! … Das kunstvolle Monogramm! Auch der Vater hatte sich darüber gefreut. Als sie das nächste Mal wiederkam, hatte es ihr Yo zurückgegeben, aber er hatte es sich gemerkt. Wie war das möglich? Konnte das wirklich sein »Engel« sein, den sie da vorbeigeführt hatten? Was hatte sie hier zu tun, wo man im allgemeinen keiner anständigen weißen Frau begegnete? Am wenigsten einer »Lady« … Was konnte sie mit Tai-Ling und seinen Spießgesellen zu schaffen haben? … Sollte sie unter irgendeinem Zwange stehen? Und trotzdem – dieser Duft! Und das Tuch!? Yo wußte nicht, was er glauben sollte – würde sich hüten, zu fragen. A Kooli haßte es, ausgefragt zu werden. Und Tai-Ling hatte so merkwürdig ausgesehen, einfach nicht wiederzuerkennen! Gott mochte wissen, was für eine plötzliche Wandlung mit ihm vorgegangen war!

Yo Foo begann zu horchen. Aber es war nicht das geringste hinter der Mauer zu hören. Nur eines war sicher: Vor kaum einer Viertelstunde waren vier Menschen hier in diesem Raum gewesen, und jetzt waren sie nicht mehr da! Es mußte also eine geheime Türe vorhanden sein, die mußte er finden!

Schon morgen mußte er sich Gewißheit verschaffen, ob Elena French, seine angebetete »Lyda« – der »Engel«, wie er und sein Vater sie unter sich getauft hatten – dabei im Spiele stand … ob sie zu Hause bei sich war oder …! Er steckte das Tuch ein und öffnete einen Spalt der Türe zum Rauchsalon: A Kooli war scheinbar schon schlafengegangen. Alle Gäste lagen in tiefem Schlummer, selbst der Musikant. Es schnarchte und stöhnte aus allen Ecken … irgend jemand weinte … es flüsterte ohne Unterlaß leise und wimmernd, wie im Höllenfeuer vorüberziehender Träume – und frohlockend, wie in Visionen einer Fata Morgan im brennenden Wüstensand. Von irgendwo klang es herüber, als ob auf dem Lager ein wilder Kampf ausgefochten würde. Aus einer anderen Nische langte eine schmutzige Hand heraus und tappte krampfartig an dem Vorhang herum, um bald darauf wieder kraftlos herabzusinken … Ein tiefes schmerzhaftes Seufzen erfüllte den ganzen Raum … Klein Yo überlief ein Frösteln: Diese Halbstille! Im Halbdunkel! Dieser Schlaf, der wie ein Leben hinter Teppichen war – animalischer ungestümer Lebensdrang!

Und plötzlich gellte ein lauter Schrei durch das Zimmer …!

»Vater, Vater!« flüsterte er unwillkürlich vor sich hin und … »lieber weißer Engel!«

*

In dieser Nacht schloß der kleine Yo kein Auge.

2.

Niemand im Hause A Koolis wußte, daß sich eine xte Nummer der »Daily Mail« vom einundzwanzigsten Juli Nacht für Nacht in Yos Bett befand. Man hatte wohl darüber geflucht, daß sie spurlos aus dem Schanklokal verschwunden war. Aber niemand kam auf den Gedanken, Yo zu verdächtigen. Er hatte aus ihr zweierlei erfahren: Einmal den Tod Li-Changs und daß Elena French verschwunden war: entführt auf eine, und wie die Blätter es darstellten, romanhafte Weise, direkt vor der Nase zweier der besten Detektive von Scotland Yard weg. Sie, die schönste und reinste aller Frauen! Yos angebeteter »weißer Engel«!

Yo hatte ein weiches Herz, wie sein Vater, dessen Leben eine Kette guter – aber fast nie ausgeführter – Entschlüsse war. Aber Yo war ein festerer Charakter, den starken Willen mußte seine verstorbene Mutter ihm hinterlassen haben:

Yo weinte nicht und verlor nicht den Mut. Er ging seinen Pflichten womöglich noch gewissenhafter als vorher nach. Und zu gleicher Zeit arbeitete sein Gehirn, um einen Ausweg zu finden. An die Polizei traute er sich nicht heran. Er hatte hier in Causeway zuviel davon gehört, wie man sie an der Nase herumführen müßte, wenn sie in gewissen Fällen zu neugierig wurde. Das gab gewöhnlich einen Toten, der von der Polizei gerade gesucht wurde und gerettet werden sollte. Nichts leichter, als einen Menschen zu beseitigen hier in dieser Unterwelt von Kellern und Spelunken, Gängen und Kanälen, die zum nahen, schweigsamen Fluß führten … Nein, die Polizei wollte er lieber aus dem Spiele lassen, schon weil er selbst, wie alle anderen Hausbewohner, das Objekt systematischer Bewachung war. Er hatte wenigstens die Leute davon flüstern hören, und er zweifelte nicht, daß es damit auch seine Richtigkeit hatte …

Tai-Ling war mit einem Male groß geworden – wie ein Riesenpilz nach einer Regennacht! Li-Changs Tod hatte für ihn die Erhebung bedeutet: »Die Seele des Mandarinen war in ihn gefahren«, behauptete er, »und verlange nach Rache!« Niemand fand den Mut, gegen den früheren Vagabunden aufzutreten, dessen ganzes Sein und Wesen sich geändert hatte und der, selbst nach Ansicht der intimen Freunde Li-Changs, in mehr wie einer Richtung dem Verstorbenen ähnlich geworden war. Man konnte es beinahe glauben, daß Li-Changs Geist tatsächlich nun in den Körper dieses Bummlers und Nichtstuers gefahren sei. Seine Sprache hatte sich veredelt, seine Gesten waren gebieterisch geworden, seine Gedanken und seine Haltung hatten ein gut Teil der Kraft und Sicherheit des Verstorbenen angenommen. Auch äußerlich war er nicht mehr der Alte. So wie er jetzt daherkam, fein und zierlich, in einem neuen Anzug, geschniegelt und gebügelt, war aus ihm – so unglaublich es auch schien – plötzlich ein Gentleman geworden! In einer einzigen Nacht!

So hatte er auf alle gewirkt, seit er in jener Nacht, da Li-Chang starb, seine telephonischen Befehle wegen des Überfalles auf den Polizeiwagen hierher in A Koolis Haus gesandt hatte. Er hatte es sehr gut verstanden, seine Macht auch später aufrechtzuerhalten, immer mehr zu befestigen. Tai-Ling hatte Helfer überall – und traute niemand! Man war zugleich Spitzel und Opfer seines Spionagesystems. Das war so sein Prinzip, und die Praxis ging damit Hand in Hand … Aus diesen Überlegungen heraus wagte Yo es ebensowenig, sich an William French zu wenden, ein Brief aber konnte in unrichtige Hände fallen! Nein, er mußte schon versuchen, selbst den Knäuel zu entwirren und eigenhändig einzugreifen oder andere Bundesgenossen zu gewinnen – wenn es unbedingt notwendig würde oder wenn sich eine besondere Chance bot. Es galt vor allem: Immer wach und auf dem Posten zu sein! Niemals schwach und müde zu werden! … Und er ließ es nicht allein bei dem Entschluß bleiben:

Sowie er mit seiner Arbeit in der Schenke fertig war – nachdem er den Honoratioren ihre Lieblingsgerichte vorgesetzt und einen Haufen von Tassen und sonstigem Geschirr abgespült hatte … schlenderte er langsam und gähnend davon und tat, als ob er zu Bett gehen wollte. Aber schon auf der Treppe fiel merkwürdigerweise seine Schläfrigkeit von ihm ab, und er war immer bereit, im Rauchsalon hilfreiche Hand zu leisten, wenn er darum angegangen wurde. Niemand merkte, daß er wiederholt ins Nebenzimmer entschlüpfte, dessen geheime Türe ihm immer noch verborgen war. Es dauerte nicht lang, bis er erkannte, daß die Sache auf andere Weise anzupacken sei – und bis er sich deshalb auf Tai-Ling warf, bei dem er sich geschmeidig, klug und gefällig, mit tausend Mitteln einzuschmeicheln verstand!

In der Wirtsstube sprang er geschäftig um ihn her, kam allen seinen Befehlen zuvor und lernte, ihm allmählich seine Wünsche von den Augen abzulesen. Wenn er eine Besorgung zu machen hatte, stellte sich Yo sofort zur Verfügung. Die Türe öffnete und schloß sich wie durch Zauber, sowie Tai-Ling kam oder ging. Und überall strahlte dem neugebackenen Herrscher ein aufgewecktes Knabengesicht entgegen, aus dem Tai-Ling außerdem ein nie erlöschendes tief interessiertes Horchen und Bewundern herauslesen konnte. So fing denn der nasen- und ohrenlose Chinese nach und nach an, für Koolis Glas- und Flaschengroom Interesse zu gewinnen.

»Ein munterer kleiner Kerl! Ein kluges Gesicht!« sagte er oft zu A Kooli, »schuftet wie ein Roß.«

A Kooli nickte stumpf. Er konnte Yo nicht leiden, traute sich aber nicht, Tai-Ling zu widersprechen.

*

An einem Abend, an dem nur wenige Gäste in der Stube waren, zog Tai-Ling den kleinen Yo zu sich und fing an, ihm von seiner Kindheit zu erzählen, von den Zeiten, da Limehouse nach Trachten, Sitten und Gebräuchen noch ein richtiges Stück China gewesen war.

»Es waren Straßen mit ›Teppichen‹ – nämlich von Küchenabfällen und noch schlimmeren Dingen!«

Tai-Ling lachte widerlich auf.

»Und die Höfe gähnten wie dunkle Schächte, lang und tief, weitab von Sonne, Luft und Himmel! ein Morast von Spülwasser. Zur Nachtzeit flackerten kleine Laternen durch den Nebel. Auch eine Messerklinge konnte manchmal aufflammen – ein gellender Schrei – Blut – ein stummer Mund und ein stillestehendes Herz! Aber nach der Polizei wurde nie gerufen. Man war sich selbst genug hier in Limehouse; ein Stück chinesischen Armenlebens, mitten in der Weltstadt. Ja, das war damals!«

Und Yo beobachtete, wie es in den Augen des häßlichen Mannes aufblitzte, wenn er von jenen Zeiten sprach, die jetzt erst, nach seiner neuen Inkarnation – Kern Li-Changs in der Schale Tai-Lings – in seiner Vorstellung vor ihm erstanden. Aber es waren nicht nur traurige Erinnerungen! Oft hatte sich auch ganz Causeway, vom West India Dock Road bis zu den öden Wassern auf der anderen Seite, in der Nacht mit bunten Lampions geschmückt, und leises gedämpftes Klagen von Flöten drang aus den Kaffeehäusern.

Die hellblaue Laterne flimmerte über dem Eingang der himmlischen Hölle, indem man eine Pfeife » chandn« oder ein anderes Stimulans haben konnte. Ja, so war es damals, aber jetzt …! Tai-Ling blickte verächtlich um sich: An der Türe saßen ein paar Malayen und andere Farbige. Tai-Ling haßte sie, wie sie ihn: »Farbiges Gesindel!« fluchte er. A Kooli wagte es sogar diesmal, ihn besänftigen zu wollen. Aber Tai-Ling bemerkte es gar nicht. Seine Gedanken hatten das nebelige, fahle Limehouse verlassen und die weite Reise zu seinem großen Heimatlande angetreten, von dem er nun Yo Foo zu erzählen begann.

»Und du bist niemals dort gewesen?« fragte Yo.

»Niemals!« Tai-Ling schüttelte den Kopf. Eine tiefe, schwere Sehnsucht klang aus dem einzigen Wort.

»Wie ist es dir dann möglich, es so zu schildern?«

Tai-Ling lächelte: »Er hat es mir gegeben – er, dessen Seele ich in mir trage!«

»Li-Chang?«

Er nickte: »Der große Li-Chang, ja!« Er schwieg mit gesenktem Kopf. Plötzlich sprang er in die Höhe, seine Züge verzerrten sich, die gelben Hände ballten sich wie Klauen.

»Tod über den, der ihn gemordet hat! Tod, Tod! Aber ein langsamer! Voller Leid und Qual! ein Tod, der wahnsinnig macht!«

A Kooli versuchte nochmals, ihn zu beschwichtigen. Neue Gäste, ein paar Spanier, waren in das Lokal gekommen, es war ihm darum zu tun, einen Skandal zu vermeiden. Denn es war ein offenes Geheimnis, daß man – das heißt Scotland Yard – nach Tai-Ling, »dem Manne ohne Nase und Ohren«, wie ihn die Sensationspresse nannte, auf der Jagd war …

*

Noch am selben Abend ereignete sich folgendes:

Tai-Ling hatte in A Koolis Privatwohnung eine lange Besprechung mit einigen russischen Sowjetleuten gehabt, die auch sehr oft die »Weißen Reiher« frequentierten. Es war am fünfundzwanzigsten Juli. Die Russen hatten eben sichtlich niedergeschlagen das Lokal verlassen, als auf der Straße die Abendblätter ausgerufen wurden:

»Entlarvung einer Monster-Kokainschmugglerbande Paris-London!«

Tai-Ling klappte zusammen wie ein Taschenmesser; so blieb er eine volle Stunde regungslos auf A Koolis Bett liegen. Dann trat er in die Schenke. Es ging wie Todeskälte von ihm aus. Yo fühlte es.

Spät am Abend fand noch eine zweite Versammlung statt, aber von lauter Gelben. Und Yo, der sich in der Nähe aufhielt, konnte wiederholt hören, wie die Stimme Tai-Lings das Geschnatter der anderen metallisch durchschnitt. Plötzlich trat tiefe Stille ein.

»Seid ihr also einverstanden?« Tai-Lings Worte fielen wie Hammerschläge. Ein einstimmiges »Nein!«, entschlossen und doch verzweifelt, schlug ihm entgegen. Tai-Ling riß die Türe auf, so daß Yo sich mit Mühe und Not noch dünnmachen konnte. Mit dem Rücken nach der Treppe rief er ins Zimmer zurück: »Ich werde euch schon noch Gehorsam beibringen! In drei Teufels Namen … Ihr werdet es tun!«

*

Das war es, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Eine Niederlage Tai-Lings! …

Genau eine Woche später entschädigte er sich dafür. Es war am ersten August, ungefähr zur selben Tageszeit, und die Wogen der Verhandlung gingen so hoch, daß sich A Kooli veranlaßt sah, Yo zu ihnen hineinzuschicken mit der Bitte, etwas ruhiger zu sein. Ihre Flüche waren bis hinunter in das Lokal vernehmbar. Diesmal hatte Tai-Ling offenbar gesiegt. Die anderen sahen verängstigt und niedergeschlagen drein. Als sie ein wenig später die Wohnung A Koolis verließen, sagte einer zu ihm:

»Es wird also so geschehen, wie du willst, Tai-Ling. Aber erinnere dich daran: Wir haben durch alle Instanzen protestiert. Du hast uns dazu gezwungen, du mußt allein die Verantwortung tragen.«

Tai-Ling nickte nur mit bösem Lächeln. Bald darauf ging er in den Rauchsalon, aus dem er erst spät in der Nacht wieder herauskam. Er, der früher ein leidenschaftlicher »Smoker« gewesen war, rührte jetzt überhaupt keine Pfeife an. Deswegen stand es außer Zweifel, daß er mittlerweile durch die Tapetentür des Hinterzimmers dem unbewohnten Nachbarhaus einen Besuch abgestattet haben mußte. Das letztemal, als Yo ihn dahinein verschwinden gesehen hatte, war einige Abende vorher gewesen, als Yo sich in der Opiumhöhle aufhielt, in die auch plötzlich William French eintrat und den Nasenlosen für eine Sekunde zu Gesicht bekommen hatte. Diese Erscheinung hatte Yo wie ein Blitzschlag gerührt, und er hatte alle Geistesgegenwart aufbieten müssen, um dem Manne seiner geliebten »Lady« nicht sofort in die Arme zu laufen und ihm zuzurufen:

»Dadrinnen im Hause nebenan halten sie deinen schönen »Engel« gefangen. Komm und laß uns nach ihm suchen!«

Er hatte sich im Gegenteil sogar vor ihm versteckt, damit ihn Billy nicht sehen und verraten konnte, daß sie sich kennen. So war es gekommen, daß Tai-Ling damals Billy entschlüpfte und daß er auch keine Gelegenheit bekam, mit Yo zu sprechen. Yo hatte aber kurz darauf gehört, wie Billy und Rice in eine fürchterliche Schlägerei verwickelt wurden und mußte mit ansehen, wie sie in derselben Weise, wie man das in diesem Viertel mit Betrunkenen zu tun pflegte, weggeschafft wurden. Zwei vermummte Chinesen hatten einfach je einen von ihnen unter den Arm gepackt und sie in ein bereitstehendes Auto geworfen. Was dann aus ihnen geworden war, wußte Yo nicht. Als aber die Zeitungen nichts weiter berichteten, hatte man sie wohl diesmal noch verschont … Das alles ging Yo an diesem Abend wieder durch den Kopf, als er grübelnd auf seiner Schlafstelle lag, von wo er sah, wie die Tür vom Rauchzimmer behutsam geöffnet wurde und Tai-Ling in das schlecht beleuchtete Treppenhaus hinaustrat. Tai-Ling war im Begriff, hinunterzugehen, schien sich aber anders zu besinnen und warf plötzlich einen Blick nach Yos Lager:

»Schläfst du?« flüsterte er. Yo streckte seinen Kopf hervor:

»Nein, ich kann nicht schlafen,« sagte er, »mir ist so unheimlich.«

Tai-Ling nickte verständnisvoll:

»Das liegt in der Luft!« Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und sprach wie zu sich selbst:

»Jetzt ist es geschehen!«

Yo fühlte es wie Eiseskälte über seinen Körper laufen:

Allmächtiger Gott! Hatte er wirklich Elena French getötet, der Unmensch?!

»Was ist geschehen?« stammelte er.

»Wenn Strafe allein überhaupt genügt«, setzte Tai-Ling seinen Gedankengang fort.

»Wer ist es denn, den du bestraft hast?« fragte Yo außer sich vor Verzweiflung. Aber auch jetzt antwortete Tai-Ling ihm nicht direkt. Er starrte vielmehr mit merkwürdig klarem, beinahe visionärem Blick vor sich hin:

»Ein Mann ist gemordet worden,« flüsterte er sichtlich leidend, »ein echter Sohn Chinas, hochherzig, edel und klug! Eine blühende Hoffnung!«

»Ist es Li-Chang, von dem du sprichst?« fragte Yo leise.

Der andere nickte.

»Und sein Mörder?«

»Er ist es, den ich bestrafen will!«

»Und wer ist es?« lispelte Yo. Eine fürchterliche Ahnung überkam ihn. Wenn es Elena French wäre, die Li-Chang getötet hatte!

Tai-Ling lächelte grausam:

»Ein Mensch! Was tut der Name? … Und wenn es meine eigne Mutter wäre, ich würde sie auch dafür bestrafen.«

»Ist es denn … eine Frau?«

Tai-Ling nickte. Er blickte Yo nicht an, sondern vor sich hin, wie in ein Land, das nur er allein kannte.

»Und sie ist hier im Haus?« wagte Yo zu fragen.

»Hier in der Nähe«, nickte Tai-Ling.

»Und habt Ihr sie erst heute nacht festgenommen?«

Tai-Ling schüttelte den Kopf:

»Seit mehr als einer Woche ist sie schon unsere Gefangene. Aber erst heute abend habe ich die anderen dazu überredet, der Vergeltung zuzustimmen. Sie sprachen von Geld …« Er lachte geringschätzig. »O ja, Geld ist gut … aber Rache ist noch besser!«

» Wenn so etwas überhaupt gerächt werden kann«, ging Yo auf seinen Gedankengang ein. Tai-Ling griff nach seinem Arm:

»Da sprichst du genau das aus, was mich selber immer peinigt und quält: Gibt es überhaupt eine Rache dafür? … Bei einem Manne wie er!«

»Kanntest du ihn sehr gut?«

Tai-Ling schüttelte den Kopf:

»Wie kannst du fragen? Ich war ja nur ein einfacher Kuli und er der hochgeborene Mandarin. Sein Hund war ich, aber weiter nichts. Aber als ich sie ihn töten sah … oder so gut wie das sah … da ging die Wandlung in mir vor. Da nahm sein Geist von mir Besitz! Und er wird in mir tätig bleiben, bis er gerächt ist. Danach wird Tai-Ling wieder aufs neue der armselige Kerl werden, dem jeder einen Fußtritt geben darf … Aber noch fühle ich ihn in meinem Körper, und ich liebe ihn wie keinen anderen. Mächtig war er! über alles und über alle! Und jetzt ist er tot!«

»Bist du auch ganz sicher, daß sie es getan hat?«

»Sicher?« Es war, als ob Tai-Ling zu einem kalten grauen Alltag erwachte. – »Ich habe sie dabei ertappt.«

»Als sie ihn umbrachte?«

Tai-Ling nickte:

»Durch einen Zufall, verstehst du. Ich sollte eigentlich einem anderen aufpassen, dem wir mißtrauten – sein Name ist gleichgültig – und ich sah, wie er einen Brief in den Briefkasten warf. Li-Chang hatte mir befohlen, ihn sofort davon zu unterrichten, wenn dieser Mann etwas Verdächtiges tun sollte. Aber ich konnte ihn nicht erreichen, bis ich später am Abend erfuhr, daß er sich im Hause eines Engländers befand … und dort wurde ich also sozusagen Zeuge davon, daß sie es tat!«

»Dann hat sie es wohl auch eingestanden?« Yo stellte die Frage wie ein Automat. Er war wie zu Eis erstarrt vor Angst. Denn er war immer noch nicht im klaren, ob der Mensch neben ihm seine Rache wirklich schon vollendet hatte oder nicht. Tai-Ling zog unwillig die Schulter hoch:

»Noch nicht. Aber das ist auch ohne Belang. Denn jetzt ist die Strafe schon in Gang.«

Yo zuckte zusammen.

»Frierst du?« Tai-Ling beobachtete ihn aufmerksam. »Du bist ja ganz blaß, du kleiner Dummkopf.« Er zog sein Gesicht ins Licht. »Die Zähne klappern dir ja im Munde.« Wie im Spaß legte er seine Krallen um Yos Hals.

»Der Tod ist ja nichts Schlimmes!« Er drückte leicht zu. »Nur ein einziger Griff – und du bist nicht mehr – aber erwachst zu seliger Freude.« Er warf ihn wieder zurück auf das Bett.

»Aber so leicht wird sie nicht davonkommen – und sie erwartet keine Seligkeit …!«

»Ich meine auch,« bezwang sich Yo hervorzustottern, »daß der Tod allein als Strafe für ihre Tat nicht genügt.«

Tai-Lings häßliches Gesicht erhellte sich:

»Da sieh mal einer … Du bist ja gar nicht so zimperlich! Ein Junge – aber der Junge eines Löwen! Vielleicht steckt in dir das Zeug zu einem Richter …!«

Er lachte widerlich auf.

»Laß mich sie sehen«, bettelte Yo außer sich. Das war ja immer sein Ziel gewesen. Sonst war jede Hoffnung vorbei.

»Sie sehen?!«

Yo preßte bittend seine Hand.

»Ja, bitte, bitte! Ich werde sie vom ersten Augenblick an hassen – sie hassen! Bitte führe mich zu ihr.«

Tai-Ling lachte diabolisch:

»Morgen vielleicht! Drei oder vier Tage denke ich wird sie es noch aushalten … Morgen vielleicht!«

Er stand auf, wandte sich zum Gehen und sagte zischend durch die Zähne:

»Aber Gott sei dir gnädig, wenn du irgend jemand eine Silbe davon verrätst!« Yo nickte nur.

»Ja, morgen darfst du sie sehen. Wir geben ihr jeden Tag Wasser und Brot; nicht viel, nur um sie gerade noch am Leben zu erhalten.«

Er lachte häßlich, nickte Yo noch einmal kurz zu und schlich sich die Treppen hinunter. Yo weinte vor Aufregung, vor Angst und Freude zugleich. Sie war also wenigstens noch am Leben! Er faltete seine Hände und betete das Gebet, das ihm sowohl sein Vater, wie Mrs. Elena gelehrt hatte:

»Vater unser: Der Du bist im Himmel! Geheiliget werde Dein Name!«

3.

Es war stockfinster in diesem Raum. Ein offenes Grab in einer schachtähnlichen Zelle, mit feucht triefenden Wänden und einem Bodenbelag, dessen holpriges Pflaster unverkennbar nach der nahen Themse roch! Kein Laut drang von außen herein. Nur das ununterbrochene Tropfen des Wassers …

In dieser Gruft war eine Art von Galgen aufgerichtet … ein Instrument für die langwierigste und entsetzlichste aller Todesarten, die je ein spitzfindiges gelbes Gehirn hat ausbrüten können. Der Apparat hatte Ähnlichkeit mit einem hohen Dreifuß mit auseinandergepreßten Beinen. Ganz oben war ein eiserner Kragen, der dazu bestimmt war, um den Hals des Opfers zusammengeschlossen zu werden. Man nannte diesen Apparat »Den chinesischen Stuhl« …

*

Und in diesem fand der kleine Yo Elena French wieder, als er in der folgenden Nacht von Tai-Ling in das unbewohnte Nachbarhaus geführt wurde …

Es waren nur wenige Gäste in der Schenkstube gewesen an diesem Abend. Ein paar Italiener, die sich in ihre Makkaroni vertieften, und ein englischer Heizer, der sich mit Whisky vollpumpte. Tai-Ling glitt herein, lautlos und plötzlich, wie immer. Er nickte Kooli zu und blinzelte nach Yo, der hinter dem Schenktisch seine Gläser putzte.

Yo näherte sich ihm voller Erwartung: Würde Tai-Ling wohl Wort halten und ihn Elena French sehen lassen?

»Komm denn!« flüsterte der Nasenlose, und Yo nickte aufgeregt und folgte ihm. A Kooli hatte mit einer stummen Gebärde seine Erlaubnis dazu erteilt. »Du hast mich ja selbst darum gebeten«, wandte sich Tai-Ling an ihn, als sie auf die Treppe gekommen waren, und betrachtete ihn mit einem durchbohrenden Blick.

»Ja!« nickte Yo leise. Sein Herz hämmerte.

Dann wandte sich Tai-Ling von ihm ab und ging voraus durch den Rauchsalon in das hintere Zimmer. Hier drehte er sich noch einmal um:

»Du selbst hast es gewollt,« wiederholte er, »erinnere dich daran … Nichts ist sicher in dieser Welt – außer dem Tod! Es kann mißlingen, was wir vorhaben, und dann werden wir, sowohl du wie wir andern, vom Arm des Gesetzes, dem Gesetz der Weißen, getroffen … Noch kannst du umkehren.«

Aber Yo schüttelte den Kopf:

»Ich habe keine Angst!«

Dann öffnete der andere die Tür in der Tapete. Äußerst einfach. Aber trotzdem verstand Yo sofort, warum er die Feder nicht hatte finden können, denn sie war oberhalb des Türrahmens angebracht, unter der Zimmerdecke: er dagegen hatte sie immer in der Höhe eines normalen Schlosses gesucht. Außerdem hätte er überhaupt niemals da hinauflangen können. Es gab in dem Raum keinerlei Stühle, sondern nur ein paar Polster. Jetzt merkte er sich genau, wo die Feder saß. Tai-Ling konnte sie gerade noch erreichen. Auch alle anderen Einzelheiten prägte er sich bis aufs kleinste ein, als er nun mit seinem Freund in dem unbewohnten Hause stand. Die staubigen und nach Moder riechenden Korridore führten übrigens direkt zu einer Treppe, wie alle anderen, die ebenso alltäglich in einen Kellergang mündeten, an dessen Ende das Verlies lag, in dem Elena French schmachtete. Eine einsame Gasflamme erleuchtete notdürftig den unterirdischen Gang, in dessen Wand sich eine nischenähnliche Aushöhlung fand, welcher Tai-Ling jetzt etwas Wasser und Brot entnahm und es Yo reichte.

Sie standen ziemlich weit von der Lampe entfernt und konnten sich gerade noch gegenseitig unterscheiden, nicht mehr! Yo fühlte die kolossale innere Erregung seines Begleiters. Tai-Ling hatte bis jetzt kein Wort gesprochen. Auch sein Gang war ruhig, sein Körper schleichend, aber beherrscht. Als er Yo das Brot reichte, verzog sich kein Muskel seines Gesichtes … und als er ihn endlich ansprach, war nicht das leiseste Zittern in seiner Stimme. Trotzdem brannte eine maßlose Aufregung in Tai-Lings Seele. In diesem Augenblick begriff Yo den anderen ganz … das Heilige, das Tai-Ling bei seiner Rache vorschwebte:

Nicht um das Gold der ganzen Welt oder um persönliche Vorteile irgendwelcher Art würde er von diesem Werk ablassen.

Doch war seine Stimme merkwürdig fest und sicher, als er jetzt auf die niedrige, schwere Kellertüre deutete und sagte:

»Da drinnen ist sie – die Li-Chang getötet hat! Nun geh hinein und sieh!«

*

Elena schrak zusammen, als die Tür geöffnet wurde. Der scharfe Lichtkegel der Lampe ließ sie die Augen schließen. So blieb sie stehen, todesmüde, in stummer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Sie wußte, um was es sich handelte, und hörte, wie jemand auf fast lautlosen Filzpantoffeln näherkam, das Wasser im Krug auffüllte und das Brot auf einen Absatz des Marterstuhls legte, wo sie es gerade erreichte. Sie griff gierig danach, zog aber sofort ihre Hand wieder zurück. Sie wollte diesen gelben Unmenschen nicht zeigen, daß sie litt. Sie schloß ihre Augen noch fester und richtete sich mit allen Kräften auf. Nur ein Zittern durchlief ihren Körper …

Yo stand wie gelähmt: Wie entsetzlich dieser Anblick war! Viel, viel entsetzlicher als er es sich je ausgedacht hatte! …

Er haßte Tai-Ling in diesem Augenblicke so leidenschaftlich, daß er sich mit aller Gewalt dazu zwingen mußte, ruhig stehenzubleiben, in diesem unheimlichen Gelaß, die Augen auf den Boden gerichtet und mit krampfhaft geballten Fäusten. Wenn er seinem Triebe freien Lauf gegeben hätte, würde er …! Aber damit hätte er alle Chancen verdorben. Die Tränen kamen ihm. Er fühlte den Drang, die beschmutzten Kleider seines »Engels« zu küssen, ihre Füße zu liebkosen und ihre armen kleinen Hände zu berühren, die kalt, wie ersterbend, über ihm hingen. Er ahnte Tai-Ling mehr hinter sich als er ihn hörte. Mit zitternder Hand hob er die Laterne, so daß der Schein um ihre Füße spielte. Er selbst blieb im Schatten. Nicht Tai-Ling hatte es ihm befohlen. Er tat es instinktiv. Aber der andere nickte, beugte sich ein wenig vor – und nahm den obersten Stein weg … Durch den Körper der Frau ging ein gewaltiger Ruck. Aber sie öffnete die Augen nicht. Tai-Ling lachte roh, betrachtete sie prüfend und warf den Stein in eine Ecke des Kellers:

»Komm nun«, befahl er Yo, der ihm lautlos und entmutigt folgte: Elena French hatte ihn nicht einmal angesehen! …

*

Am nächsten Tag vollzog sich alles in derselben Weise, und am übernächsten wieder. Je fürchterlicher ihre Lage wurde, desto mehr schien sie sich in sich selbst zu verschließen. Yo glaubte zu erkennen, daß sie den Tod ersehnte, die Erlösung herbeiwünschte:

Wieder ein Tag näher am Ende, an dem erlösenden »Vorbei«! Sie sehnte den Tod mit Ungeduld herbei wie einen guten Freund. Nur die Erinnerung an Billy machte sie traurig … Sie fror, und in ihren Ohren bohrte das ewige Tak-tak der niederfallenden Tropfen. Hoffnungslos! Wie war sie nur hierhergekommen? Wohl zum hundertsten Male in diesen Tagen durchblätterte sie im Geiste die dunklen Seiten in dem Bilderbuche ihrer Erinnerungen, von dem Augenblick an, da sie Bill und McMurton entrissen wurde und halb betäubt in einem anderen Auto durch das tobende Gewitter jagte … dann ein kurzer Aufenthalt in einem finsteren Hof in strömendem Regen … ihre Ankunft hier im Hause … oder nebenan, eine unheimliche Opiumhöhle … das lila Zimmer … eine Tapetentür … muffige Gänge … der vergitterte Raum, in dem sie zuerst eingesperrt war und von dem aus sie Tag um Tag zu einem peinlichen Verhör geschleppt worden war: Um sie herum vermummte Gestalten mit Filzpantoffeln in seidenen Kutten, alle mit dem goldenen Drachen verziert. Und dann fragte sie der nasen- und ohrenlose Tai-Ling aus – der selbe, den sie damals in Limehouse ins Gesicht geschlagen hatte als er den armen Monkey mißhandelte! Jetzt konnte er Rache üben. Aber er sprach niemals von jenem Vorfall. Alle seine Fragen drehten sich nur um die Tötung von Li-Chang, den er offenbar tief verehrte und liebte. Sie hörte noch seine Worte:

»Sie gestehen also, daß Sie den Verstorbenen nicht leiden mochten? Auch, daß er ein Geheimnis wußte, dessen Verrat Sie befürchteten, wenn Sie ihm nicht blindlings gehorchten?«

»Ja!«

»Daß Sie der letzte Mensch waren, der sich bei ihm befand?«

»Ja!«

»Daß Sie nichts dagegen hatten, wenn er starb?«

»Ja!«

»Daß es Ihnen außerdem ein leichtes, gewesen wäre, Zyankali in sein Glas zu schütten – vorausgesetzt, daß Sie daran gedacht hätten, was Sie ja aber bestreiten?«

»Ja!«

Er hatte bei jedem neuen Ja gelächelt, seine Augen halten vor Haß gelodert. Alle anderen aber schienen gegen ihn zu sein. Sie sprachen von dem Gericht der Weißen, von dem sie bedroht würden, wenn die Sache aufkäme … von dem schlechten Geschäft, das es überhaupt war. Warum sollte man sie nicht einfach in eines der Bordelle schicken? Sie sei hübsch, würde sicher gefallen. Das andere würde nur Mühe und Gefahr mit sich bringen.

Sie ahnte gar nicht, was sie mit dem »anderen« meinten – bis jetzt!

Einer von ihnen hatte auch vorgeschlagen, ein Lösegeld von ihrem Manne zu erpressen: Es läßt sich sicher so arrangieren, daß die Polizei überhaupt nichts davon erfährt!

Aber Tai-Ling wollte davon nichts hören. Er blieb bei seinem Standpunkt und verstand es in teuflischer Weise, den Funken von persönlichem und Rassenhaß, der in ihren Herzen glimmte, zu hellem Feuer anzufachen. Schließlich trug er den Sieg davon. Er verschwendete mehrere Stunden der Nacht damit, ihr auseinanderzusetzen, was ihr bevorstand, indem er ihr alle Folterqualen des chinesischen Stuhles vormalte.

Und nun stand sie schon dreimal vierundzwanzig Stunden hier! Drei Tage in immerwährender körperlicher und seelischer Not und Pein!

Aber heute abend würde es ja, so Gott will, zu Ende gehen!

*

Sie war eingeschlummert. Ein Schauder weckte sie. Draußen im Gang hörte sie die schleichenden Schritte Tai-Lings und sein asthmatisches Keuchen. Die Schlüssel rasselten, einer wurde ins Schloß gesteckt und umgedreht – aber die Türe ging nicht auf! Sie hörte, wie er fluchte und es mit anderen versuchte. Aber keiner paßte … Dann rief er nach jemandem. Einen ihr nicht verständlichen Namen! Bald darauf kam ein anderer Mann, und neue Schlüssel wurden probiert.

»Da soll doch der Satan kreuzweise …!« hörte sie ihn fluchen. »Er hat doch bis jetzt gepaßt. Er muß verhext sein! … Schafft mir den verdammten Jungen her!«

Es entstand ein Laufen und Rumoren draußen im Gang. Eine Flut von Flüchen – immer neue Schlüssel wurden herbeigebracht. Elena fühlte jedes Wort und jeden Fluch wie einen Peitschenschlag.

Plötzlich fing jemand an, auf die Türe einzuhämmern, zuerst mit stumpfen Instrumenten und dann offenbar mit einem scharfen Beil. Dabei ließ das Geschrei nicht nach; es wurde im Gegenteil weitergeflucht und getobt wie nie zuvor! Und Tai-Lings Stimme übertönte alle anderen. Es mußte irgend etwas los sein, was ihn ganz außer sich brachte.

Er schrie ein um das andere Mal:

»Wenn ich den Knirps unter die Finger bekomme, dann soll er …! Der Spion! … Der Verräter! … Laßt mich ihn nur erwischen …!«

Er gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Sie verstand es nicht! Von wem sprach er? Der Betreffende hatte ihr vielleicht helfen wollen!

»O Gott, o Gott! Hilf mir, rette mich!«

Sie schluchzte laut auf. Sie bekam neue Hoffnung.

»Mein Gott, mein Gott! Rette mich! Ich will nicht sterben! Ich will leben! …«

In diesem Augenblick brach die Türfüllung entzwei.

Tai-Lings verzerrte Fratze! Weiß vor Haß und Mordlust! Jetzt sprang der Tod sie an – ein grausamer Tod!

Zweites Kapitel

1.

Bill war bis auf die Haut naß geworden in dem einen Augenblick, den er brauchte, um die kurze Entfernung zwischen der Haustüre und dem in höchster Hast heraneilenden rätselhaften Besucher zurückzulegen – der sich als der kleine Yo entpuppte. Er zog ihn schnell ins Haus.

Der Knabe war halb ohnmächtig vor Ermattung, so war er gelaufen. Nur eine seiner Hände ballte sich krampfhaft um einen Gegenstand, den Bill als einen Schlüssel erkannte. Als er diesen berührte, fuhr Yo in plötzlichem Erwachen auf.

»Rasch, rasch, Herr!« stieß er atemlos heraus und versuchte selbst, auf die Beine zu kommen, was ihm jedoch nur schwer gelang. »Sonst stirbt sie!«

Bill packte ihn an der Schulter:

»Weißt du, wo sie ist?« keuchte er in höchster Erregung.

Yo nickte und schaute verstohlen Jane und Violet Strefford an, die auch herbeigekommen waren.

»Aber wir müssen uns beeilen, Herr … und ein Auto nehmen … und ganz allein hinunterfahren … sonst werden sie die Arme sicherlich sofort töten! … Die Polizei soll erst nachher kommen … etwas später …«

»Und der Schlüssel …!«

»…; gehört zu dem Raum, in dem sie eingesperrt ist. Ich habe ihn Tai-Ling gestohlen.«

»Tai-Ling!« fluchte Bill wild auf. »So war es also doch dieser Schuft, der das Ganze inszeniert hat. Tai-Ling!« wiederholte er.

Yo nickte:

»Sie kennen ihn, Herr?«

Bill lächelte bitter:

»Ich glaube schon … Aber wo ist sie denn eigentlich?«

»In Sun-Teens Haus, Causeway, Limehouse … Das Haus neben dem, in welchem Sie neulich überfallen wurden … Ich habe sie schon gesehen, Sir …«, nickte Yo. »Es stößt unmittelbar an A Koolis Wirtshaus ›Die weißen Reiher‹, wo ich angestellt bin – und es gibt eine heimliche Verbindung zwischen den beiden Häusern.«

»Wie hast du das alles entdeckt?«

Yo erzählte es in wenigen Worten.

»Und wie hast du den Schlüssel bekommen?« Bill, der einen Revolver eingesteckt hatte, suchte fieberhaft nach seinem Überzieher. Auch Yo war aufgeregt und schielte die ganze Zeit nach der Türe.

»Hast du Angst, daß man dich verfolgt?« fragte Billy.

Yo zog leicht die Schulter empor:

»Es ist gerade die Zeit, zu der Tai-Ling mich gewöhnlich abholt, um hinüberzugehen in Sun-Teens Haus. Und nun bin ich nicht da! Wenn er die Türe zum Gefängnis öffnen will, wird er entdecken, daß der Schlüssel vertauscht ist … Tai-Ling ist nicht dumm. Er wird sofort an mich denken. Denn heute abend soll es geschehen … weißer Engel muß sterben … Laß uns eilen, Herr! Jede Minute ist kostbar! Ich kann ja unterwegs weitererzählen …«

Bill nickte:

»All right!«

»Aber rufen Sie zuerst die Polizei an,« bat der Knabe, »und schärfen Sie ihr die größte Vorsicht ein, daß sie nicht zu schnell erkannt wird. Tai-Ling hat eine Menge Spitzel aufgestellt, und die sind flink im Handeln … Sagen Sie, daß die Polizei sich nicht zeigen darf, bevor wir beide im Haus sind.«

»Bitte, wollen Sie das nicht übernehmen, Violet!« bat Bill, der keine Sekunde mehr verlieren wollte.

Violet nickte:

»Causeway, Limehouse, A Koolis Kneipe ›Die weißen Reiher‹, memorierte sie.

»Aber tun Sie es sofort, nicht wahr!« ermahnte sie Billy noch einmal und war schon an der Türe.

»Und ich kann ja den Brief nach Scotland Yard tragen«, erbot sich Jane. »Mary wird mich begleiten.«

Billy nickte dankbar und drückte Violet die Hand, ohne daß es ihm auffiel, wie kalt sie sich anfühlte.

»Also dann rufen Sie sofort an, Violet! …«

Einen Augenblick später war er mit Yo draußen im Gewitter auf der Suche nach einem Wagen.

»Sie hätten lieber selbst anrufen sollen, Herr«, stotterte Yo in merkwürdiger Erregung. »Wenn wir nicht rechtzeitig Hilfe bekommen, dann …«

»Aber du hast doch gehört, daß die fremde Dame versprach, es jetzt gleich zu tun!«

Yo hob die Schultern.

»Kannst du nicht hören, was ich sage, Yo?«

»Doch, Herr!«

»Warum antwortest du denn nicht?« Bill wandte sich ärgerlich von ihm ab. Sie passierten soeben eines der wenigen öffentlichen Gebäude, die in Park Lane liegen. Ein »Bobby« hatte sich dort unter dem vorspringenden Dach des Portals untergestellt, um gegen den Regen geschützt zu sein. Sein nasser Gummimantel glitzerte durch das Dunkel.

»Da steht ein Schutzmann«, sagte Yo und hakte sich in Billys Arm. Sein Ton klang beinahe flehentlich.

»Ja, was geht er uns an?« Bill war sichtlich erstaunt. Seine Frage verriet deutlich das Unbehagen und die zornige Ungeduld über Yos Einwurf.

»Ich bitte Sie trotzdem, es ihm zu sagen, Herr … um sicher zu gehen!«

Bill schüttelte ihn unwillig ab:

»Das ist ja lächerlich. Tu nicht so wichtig. Die Hauptsache ist jetzt, daß wir so rasch als möglich einen Wagen finden.«

Er hörte im selben Augenblick weiter vorn ein Auto hupen und lief ihm entgegen. Als er es erreicht und zum Stehen gebracht hatte, war aber der Knabe nicht mehr da.

»Zum Teufel noch einmal!«

Es wurde ihm heiß. Allein konnte er ja gar nichts machen. Wo war er denn nur geblieben? Er rief nach ihm, lauter und lauter:

»Yo! Wo bist du? So eile dich doch!«

Aber kein Yo war zu sehen. Erst als er schon im Begriff war, trotz allem einzusteigen, kam Yo endlich auf ihn zugestürmt.

»Wo hast du dich so lange herumgetrieben?!« schimpfte Bill und zog ihn rasch in den Wagen.

»Ich bin gefallen und habe mir weh getan«, log Yo. »Aber Sie haben es nicht bemerkt, Herr.«

Billy fühlte sich selbst ganz krank vor Spannung und Aufregung. Was konnte unter Umständen nicht diese eine Minute für Folgen haben, die er durch die dumme Verzögerung verloren hatte! Und in welchem Schneckentempo das Auto fuhr! Er feuerte den Chauffeur an, aber dieser gab ihm zur Antwort:

»Wir dürfen nicht schneller fahren, Herr!«

»Tun Sie es trotzdem; ich verantworte es.«

Dann gab der Chauffeur Gas – aber Billy fand immer noch, daß es viel zu langsam ging.

»Und wie kamst du nun eigentlich zum Schlüssel?« fragte er Yo, um die Zeit rascher vergehen zu lassen und seine Nerven zu beruhigen.

Yo holte mühsam Atem zu seinem Bericht:

»Die einzige Möglichkeit war, den Schlüssel mit einem anderen zu vertauschen – mit einem, der ihm so ähnelte, daß es Tai-Ling nicht sofort bemerken konnte.«

»Und dann suchtest du also …«, hörte sich Billy selbst wie im Traume fragen.

Yo nickte:

»Oben auf dem Boden fand ich einen, der mir geeignet schien, und ich putzte ihn blank, bis er so neu aussah wie der richtige.«

Und dann hatte er im Laufe des Nachmittags – als Tai-Ling wie gewöhnlich, bevor er sich hinlegte, einen » drink« mit A Kooli nahm – seinen Plan ausgeführt, und der Zufall hatte ihm dabei eine helfende Hand hingestreckt:

Tai-Ling hatte nämlich ein Glas umgeworfen und ihn daher an seinen Tisch gewinkt, um sich einen Gin einschenken zu lassen. Tai-Ling hatte häßlich gelacht und ihm dabei zugeflüstert:

»Heute abend wird es aus sein!«

Aber im gleichen Augenblick hatte ihm Yo den ganzen Inhalt der Karaffe über seinen seidenen Rock gegossen, so daß er durch und durch naß wurde …

»Und was meinte er dazu?«

Bill staunte abermals darüber, sich reden zu hören. Denn es war doch wohl er selbst? wer konnte es sonst sein, der Mann weit hinten in dem Schandexemplar von einem sogenannten Kraftwagen? der mit seiner Stimme sprach, in seinem Anzug steckte und ihm glich wie ein Spiegelbild? …

»Und was sagte er also?« wiederholte – sein Doppelgänger.

Yo hob seine hageren Schultern:

»Selbstverständlich wurde er wütend – womit ich auch gerechnet hatte. Er ist nämlich sehr peinlich mit seinen Kleidern; ebenso zimperlich und pedantisch jetzt, wie er früher schlampig und zerfetzt ging … Aber ich ließ ihn ruhig schimpfen. Als er fertig war, half ich ihm aus der Jacke und versprach ihm, sie in einer halben Stunde gewaschen, getrocknet und gebügelt wieder zurückzubringen … Ich glaube, er hat sich damit vollkommen überrumpeln lassen, sonst hätte er gewiß dagegen protestiert, daß ich mich so mir nichts, dir nichts damit entfernte. Er rief mich auch gleich darauf wegen des Schlüssels zurück. Aber ich tat, als hörte ich es nicht, und sowie ich auf der Treppe war, nahm ich rasch den Tausch vor. Als ich eben damit fertig war, stand er auch schon in der Tür, schimpfte und riß mir den Rock aus den Händen. Ich bin überzeugt, daß er in diesem Moment Verdacht hegte. Aber die beiden Schlüssel waren ähnlich … und vielleicht wollte er auch keine große Szene machen. Er begnügte sich damit, mir einen Fußtritt zu geben und den Schlüssel zu sich zu stecken …«

Yos Erzählung war ein wenig stockend.

»Und dann …!« Er wollte weiterfahren, als ihn Bill plötzlich ganz blaß und außer sich anbrüllte:

»Aber so schweig doch endlich in Teufels Namen! … Der verfluchte Karren …! Sollen wir denn niemals ankommen?«

Yo starrte ihn entgeistert an. Aber dann sah er Billy wieder in den Sitz zurückfallen, ganz erledigt, den Kopf in zitternden Händen verbergend und tränenlos aufschluchzend.

»Armer Herr!« Yo streckte die Hand aus und berührte seine Knie. Und Bill spürte den Strom von Sympathie, der ihm entgegenschlug. Er fühlte sich etwas beruhigt und entfernte die Hände von seinem Gesicht.

»Du bist ein famoser kleiner Kerl, Yo, und du sollst es auch nicht umsonst getan haben.«

»Ich habe es wegen weißer Lady getan«, flüsterte Yo halb für sich selbst.

»Nun sind wir da, Herr!«

Sie waren in der Nebenstraße von A Koolis Spelunke angelangt.

»Soll ich warten?« fragte der Chauffeur.

Bill steckte ihm einen größeren Geldschein zu:

»Nein, fahren Sie nur los!«

Und bald darauf war er, den kleinen Yo hinter sich herziehend, in dem Regengusse verschwunden …

Limehouse sah an diesem Abend noch grauer und unheimlicher aus als sonst. Da und dort brannten zwar vor den Teehäusern und Opiumhöhlen Laternen unter stark kolorierten Gläsern. Aber selbst die satten Rot, Grün und Gelb waren immer nur als leichtgefärbte Nebelflecke zu erkennen.

»Wo liegt das Haus?«

»Wir sind bald da«, stöhnte Yo.

»Welchen Weg? Durch das Lokal oder über die Hintertreppe, von der du erzählt hast?«

»Über die Treppe, Herr. Durch das Lokal würden wir niemals hinaufkommen, wenn meine Flucht entdeckt ist. Sie haben ein Signalsystem, das ich noch nicht kenne. Aber es wird immer signalisiert, wenn was Besonderes los ist.«

»Gut, dann nehmen wir die Hintertreppe«, rief Billy, der durchnäßt war und beinahe schreien mußte, um sich durch den Sturm verständlich zu machen.

Die Straßen waren fast menschenleer, sie nahmen die kürzesten Wege. Deswegen erreichten sie ziemlich schnell das Gäßchen, in dem A Koolis Teehaus lag. Es ging in aller Hast durch den feuchten und finsteren Torgang und in den Hof, der sich lang und dunkel bis zum Fluß dehnte …

»Hierher, Herr!« rief Yo und öffnete die Tür zu einem Schuppen, der am Haus angebaut war. »Hier geht es zur Treppe!«

Sie hielten beide einen Augenblick an als sie drinnen waren, um zu verschnaufen. Hier waren sie geschützt. Die schmale, schmutzige Treppe lag vor ihnen, nur spärlich von einer flackernden Gasflamme erleuchtet.

»Wir werden hoffentlich niemandem in die Arme laufen?« fragte Billy nach hinten. Er war schon dabei, die Stufen emporzuschleichen.

Yo schüttelte beruhigend den Kopf:

»Der Weg wird nur von Tai-Ling und seinen Vertrauten benützt, und die sind sicher jetzt anderswo beschäftigt …«

Die Worte waren ihm entschlüpft, ohne daß er es sich überlegt hatte.

Billy blieb unvermittelt stehen:

»Du meinst: bei meiner Frau?«

»Bei weißer Lady, ja!« nickte Yo.

Bill war aschgrau geworden. Sein Atem ging schwer. Die grausige Wirklichkeit, die durch die Fahrt und das Gewitter für kurze Minuten in den Hintergrund gedrängt worden war, drohte ihn zu überwältigen.

»Aber du hast ja den Schlüssel zu ihrem Kerker bei dir!«

Yo nickte wieder.

»Sie können nicht zu ihr hinein, wenn sie nicht …« Billy langte resolut in die Tasche nach seinem Revolver. »Also vorwärts.«

Yo griff warnend nach seinem Arm:

»Wir müssen sehr vorsichtig sein, Herr.«

Seine Stimme klang flehend. »Wenn man uns hört, können sie die Tür zum Rauchzimmer abschließen und uns fangen wie Ratten in einer Falle. Es sind immer eine Menge Chinesen da, und sie halten zusammen wie die Kletten.«

»Aber was sollen wir denn dann tun? So antworte doch in Teufels Namen!« Billy fühlte sich schwach vor Aufregung.

»Lassen Sie mich voraus,« schlug Yo vor, »um zu sehen, ob jemand auf dem Vorplatz ist …«

»Und während du das tust, werden die Bestien die Türe zu meiner Frau einschlagen und …«

Yo blickte ihn beschwörend an:

»Leise, Herr! Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen,« wiederholte er. »Sonst ist alles verloren! Wir müssen über sie herfallen – wie der Schlaf in der Nacht! … Lassen Sie mich vor, Herr, bitte, bitte.«

Er bettelte, als ob es sich um eine Gunst handelte.

»Na also, lauf in Gottes Namen!«

Bill erkannte sich selbst nicht wieder. Er war in diesem Augenblick in zwei Individuen gespalten: der alte Bill! – und ein Teufel, ein wilder Dämon, der nur von einem Gedanken und gegen ein Ziel getrieben wurde: nicht zu spät zu kommen, wenn er auch die ganze Welt überrennen mußte … nur vorwärts, vorwärts … dem Endziel entgegen!

Yo war sofort hinaufgestürmt, zeigte sich aber bald darauf oben auf dem Treppenabsatz und winkte Billy ungestüm, heraufzukommen.

Der Gang vor dem Rauchsalon war leer. Um so mehr überraschte es Bill, plötzlich auf Yos schmutziges Bett geworfen zu werden, mit dem Knaben selbst über sich. Kein Zweifel, daß es Yo selber war, der ihn mit Anspannung aller seiner Kräfte dorthin gedrängt hatte. Was sollte das bedeuten! Bill wollte soeben den Knaben mit einem Fluche zur Seite stoßen, als er mit einem Male alles verstand: die Türe zum Rauchsalon war lautlos geöffnet worden, jetzt zeigte sich dicht vor der Schlafstelle ein häßliches gelbes Gesicht. Seine stechenden Augen hefteten sich vielsagend auf Yo, der Bill in aller Haft mit den schmutzigen Lumpen seines Lagers zugedeckt hatte, soweit es eben möglich war. Billy erkannte den Mann sofort nach Yos Beschreibung:

Es war A Kooli, der Wirt der Kneipe, der Inhaber der Rauchhöhle!

»Na, da bist du ja, Bursche«, grinste er Yo an. »Tai-Ling möchte dich schon lange sprechen.« Er zerrte Yo auf den Gang hinaus. »Und wo hast du denn gesteckt?«

Yo schüttelte den Kopf:

»Nirgends … ich bin nur ein wenig draußen gewesen … hier im Viertel … Es war so heiß!«

»So, es war so heiß!« A Kooli lachte boshaft. »Es wird dir noch heißer werden bei Tai-Ling!«

Er entdeckte auf einmal den Schlüssel in Yos Tasche. »Na, einen Schlüssel hast du auch bei dir!« Er schnappte ihn weg und hielt ihn triumphierend vor sich hin. »Auch das wird Tai-Ling interessieren.«

Er lachte widerlich, stieß die Tür auf und zog den Jungen mit sich in das Rauchzimmer. Yo fand gerade noch Zeit, Billy einen verzweifelten Blick zuzuwerfen.

Bill zögerte einige Sekunden, riß sich schnell den Kragen vom Hals und warf ihn unter Yos Bett. Dann zog er den Hut in die Stirne, öffnete lallend, als ob er betrunken sei, die Türe nach dem Rauchsalon und überflog mit einem Blick den in halber Dämmerung liegenden Raum. Dann torkelte er durch den Salon, ohne, daß jemand Miene machte, ihn aufzuhalten. Hier kamen ja so viele Betrunkene herein. Vor sich sah er immer noch A Kooli und Yo, der dem anderen folgte wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Der Chinese wollte eben die Filztür des Nebenzimmers hinter sich schließen, als Bill, immer noch in der Rolle des Betrunkenen, seinen Fuß dazwischenstellte und hineinplumpste.

A Kooli lächelte abweisend:

»Das ist ein Privatzimmer, Herr!«

»So, ist es das!« sagte Bill scharf und warf endlich die Maske ab. Schnell schob er den Riegel von innen vor. Im selben Augenblick griff A Kooli nach seiner Pfeife. Aber Yo hatte es rechtzeitig bemerkt und sich mit seinem ganzen Gewicht an seinen Arm gehängt. Ein Faustschlag Billys gab ihm den Rest. Sie rissen einen der Vorhänge herunter und knebelten und schnürten ihn damit zusammen.

»Und nun rasch in das Haus hinüber!« rief Bill. »Hier, steig auf meine Schulter und such die Feder!«

Yo saß sofort auf seinem Rücken und suchte mit fieberhafter Eile nach dem Knopf, den er Tai-Ling hatte eindrücken sehen.

»Beeile dich! Schnell! Schnell!« ächzte Bill ungeduldig. Aber plötzlich hörten sie A Koolis Stimme hinter sich durch das Rauchzimmer schreien:

»Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Bestürzt wandten sie sich um: Der gelbe Fuchs hatte es, geschmeidig wie er war, verstanden, Bills Fesseln abzustreifen und den Knebel aus dem Munde zu entfernen. Die Türe zum Rauchzimmer stand wieder weit offen. Sie sahen und hörten wie es dort lebendig wurde, und ein Getümmel und Gerufe entstand. Die Treppen hallten von hastigen Schritten wider, und laute Rufe gellten in allen Sprachen und Tönen durch das Haus. Der Wirt hatte sich außerdem wie ein Panther auf Billy gestürzt, der ihn seinerseits mit einem kräftigen Fußtritt durch die Türe auf den Teppich des Rauchsalons geschleudert hatte.

Seinen Platz zu verlassen traute er sich jedoch nicht, solange Yo die verfluchte Feder noch nicht gefunden hatte. A Kooli, der rasch wieder auf die Beine gekommen war, fuhr inzwischen mit seinen Hilferufen fort. Sie griffen wie ein Steppenbrand um sich, und das ganze Orchester wirr durcheinanderklingender Stimmen näherte sich, ständig anschwellend, mit Windeseile wie ein drohender Orkan.

»Schnell, schnell, Yo!« schrie Bill wieder – und in dieser Sekunde endlich schnappte die Feder auf, und sie fielen beinahe in den sich öffnenden Gang des Nachbarhauses hinüber.

Es war ihnen jedoch nicht möglich, die Tapetentüre wieder zuzumachen. Der Raum hinter ihnen hatte sich mittlerweile schon mit Menschen aller Rassen angefüllt, und alle schrien sie und drängten sie nach vorn!

»Spione der Polizei! Packt sie! Schlagt sie tot!«

Allein Billys Revolver hielt sie vorläufig in Schach – aber wie lange …? und er wußte vor allem kein Mittel, um die Türe zu schließen und geschlossen zu halten. A Kooli war ja mitten unter den anderen, und er kannte natürlich das Geheimnis. Was würden sie beide überhaupt ausrichten können mit diesem Schwarm zum Äußersten entschlossener Gestalten in ihrem Rücken?

Ein Zwerg von einem Burschen drang in diesem Augenblick auf ihn ein. Seine Augen flammten raubtierartig in seinem gelben Gesicht, und um seine nackten Schultern lagen die Muskeln wie Seile von Stahl. Er schwang ein Messer in der Hand, und A Kooli hetzte ihn auf Billy wie einen Hund auf das Wild.

Billy überlegte einen Moment, dann gab er Feuer. Der Mann brüllte auf, griff sich nach der Schulter, wo er getroffen war, ließ das Messer fallen und stürzte nach rückwärts zu Boden. Im gleichen Augenblick entstand in der Menge eine Bewegung, die – wie es Billy berechnet hatte – A Kooli gegen die Türe drängte und ihn in seine Arme warf. Mit einem Fluch packte er ihn an der Brust, zog ihn an sich, in den Gang hinein, und schleuderte die Türe dröhnend ins Schloß!

»Und nun vorwärts!«

Bill lief durch den Korridor, den Yo ihm vorhin beschrieben hatte, und schleppte A Kooli hinter sich nach. Als sie sich dem Treppenabsatz näherten, riß er sein Opfer, das er immer noch am Kragen hielt, empor und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf, der es bewußtlos niederstreckte.

»Mach die Türe dort auf!« Er deutete auf ein Zimmer – es war dasselbe, in welchem Elena zuerst untergebracht worden war –, Yo öffnete er. Billy warf A Kooli hinein, drehte den Schlüssel, der außen steckte, um und zog ihn ab.

»So, jetzt wird er vorerst nicht mehr herauskommen!« murmelte er und war schon auf dem Wege nach unten. Yo folgte ihm, ganz verblüfft.

Es war eine merkwürdige Verwandlung mit diesem weißen Manne vor sich gegangen. Er, der sonst die Güte selbst war! Er glich jetzt einem rasenden Riesen in zerrissenen Kleidern, blutend und verwundet, mit einer Faust wie ein Hammer, mit einem Gesicht, so grau, hart und gefühllos wie Stein. Kein Lachen und kein Seufzen mehr! Wie ein Hagelsturm fegte er dahin und warf alles, was sich ihm in den Weg stellte, über den Haufen.

Bald darauf waren sie im Keller angelangt.

Dort starrte ihnen eine gelbe Fratze unter einer vereinzelten roten Gasflamme entgegen. Billy schlug den Kerl mit dem Griffe seines Revolvers zu Boden. Weiter hinten begegnete ihnen noch ein anderer, der zu schreien begann. Aber Bill sprang ihm mit beiden Händen an die Gurgel. Der Mann röchelte. Dann wechselte Bill seinen Griff. Ließ ihn mit der einen Faust los, hob ihn empor und schmetterte ihn an die Wand. Er fiel wie tot hin.

Yo schauderte es – aber er begriff.

Schon jetzt hörten sie weiter vorn Johlen und Schreien, ein Krachen von splitterndem Holz, ein metallisches Singen, wie wenn Stahl auf Stahl gehämmert würde – dann einen fürchterlichen Schlag, als ob ein zentnerschwerer Gegenstand auf die Erde fiele und dröhnend auseinanderbarst, begleitet von einem ohrenzerreißenden Lärm menschlicher Stimmen, kreischend, gröhlend – ein Höllenkonzert brüllender Teufel.

Bill lief nicht – er flog! und Yo hinter ihm drein, stöhnend und zitternd.

Würden sie noch rechtzeitig kommen? oder würde alles vergebens sein? War die weiße Lady schon tot, erwürgt, ermordet, wenn sie bis zu ihr gelangten?

Jetzt bogen sie um die Ecke, wo der Gang direkt auf Elenas Kerker zulief – Yo stolperte und fiel nach links an die Wand. Griff vor sich hin: er stieß an eine alte, verstaubte, niedrige Türe, die in einer Art von Nische ganz in ihren Angeln zurückgeschlagen war. Er hatte sie früher nie beobachtet. Und er vergaß sie auch gleich wieder. Er war viel zu sehr von dem erfüllt, was da vorn vor sich ging, um noch Gedanken für etwas anderes übrig zu haben.

Die Tür zu Elenas Zimmer war gesprengt, und die häßliche Nacktheit des Raumes wurde noch deutlicher durch die flackernden Kerzen, die sich um den Stuhl, in dem sie saß, und um die gehässigen, von Raubgier verzerrten Gesichter Tai-Lings und seiner Helfershelfer gruppierten.

Für Bill war Elena jedoch die einzige da drinnen … sein armes kleines Mädchen … seine geliebte Frau … seine kleine Elena, die diese Tiere in solch unmenschlicher Weise zu mißhandeln gewagt hatten! –

Billy jagte eine Kugel hinein: Tai-Ling riß sich mit einem Schrei herum – um im selben Moment erschreckt zurückzufahren: Tai-Ling begann zu zittern; denn war nicht etwas Übermenschliches in diesem Manne! Und jetzt tanzte ihnen sein Revolver vor der Nase herum! Billy war von unnatürlicher Ruhe und Sicherheit: »die Schlüssel«, rief er. »Den Schlüssel zu dem Marterapparat dort!« er deutete auf den Chinesischen Stuhl. »Heraus damit, aber etwas plötzlich!«

Einer der Gelben kroch unterwürfig heran.

»Öffne den Halskragen«, befahl Billy und dirigierte ihn mit dem Revolver, ohne jedoch die anderen auch nur den Bruchteil einer Sekunde aus dem Auge zu lassen.

Der Mann gehorchte. Er trug die halb bewußtlose Elena zu Bill und legte sie behutsam vor seinen Füßen nieder. Billy beugte sich über sie:

»Elena, Liebste!«

Doch plötzlich war tiefe Finsternis um ihn! Sie hatten alle nur auf diesen Augenblick gewartet, wo sich die Aufmerksamkeit des Mannes auf seine Frau konzentrieren würde – um die Lichter auszulöschen.

In diesem Augenblick erschallte draußen ein Dröhnen, als ob eine schwere Türe zugeworfen würde. Ein Chor von schadenfrohem Gelächter wurde damit gleichsam auseinandergeschnitten und erstarb plötzlich.

»Was war das für ein Spektakel?«

Yo zögerte mit der Antwort:

»Sie haben uns eingesperrt, Herr!« sagte er kleinlaut und zog seine schmächtigen Schultern empor:

»Es gibt nur den einen Weg hier. Es wird nicht leicht sein, herauszukommen!«

Billy klopfte prüfend an die Türe. Sie war alt und niedrig, aber stark wie Stein. Sie hatte keine Klinke. Er mußte der bitteren Wahrheit ins Auge schauen, daß ihnen der Weg versperrt war, und daß es keinen anderen gab …

Wenn er sich noch so sehr wehrte, er konnte nicht darum herumkommen: Sie waren lebendig begraben!

2.

Schutzmann 777, Smith, starrte in den Regen, ein wenig überrumpelt und verwirrt. Er hatte sich wieder in seinen geschützten Winkel zurückgezogen, aus dem Yo ihn für einige Sekunden herausgelockt hatte – und ging jetzt mit sich zu Rate:

Verflucht nochmal, daß er den gelben Knirps nicht beim Kragen genommen hatte! Aber er war ihm wie ein Traumbild erschienen, wie aus dem Boden vor ihm herausgewachsen. Trotzdem hatte er vollkommen glaubwürdig auf ihn gewirkt. Und dann war er wieder verschwunden – ebenso plötzlich! Was sollte er nun machen?

Die Affäre als solche war ja wichtig genug! Ganz London und nicht zum mindesten die Polizei wußte davon. Man sprach fast von nichts anderem. Es war keine Lüge oder Erfindung. Und wenn das, was der Knabe soeben erzählte, zu Recht bestand – und warum sollte er ihm etwas vorgelogen haben –, so war Gefahr im Verzuge, und es war notwendig, Scotland Yard oder eine andere Station zu alarmieren … am besten wohl Scotland, wo die meisten Leute zur Verfügung waren. Er hatte seine Entscheidung getroffen und trabte entschlossen hinaus in die glitschigen, überschwemmten Straßen. Das Haus von William French lag ja ganz in der Nähe, das wußte er zufällig. Wenn er dorthin ging, konnte er sich am raschesten vergewissern, ob der Knabe wahr gesprochen hatte oder nicht.

Jane öffnete ihm auf sein Läuten die Tür.

»Kann ich Mr. French sprechen, bitte!«

Sie schüttelte weinend den Kopf. Und jetzt bemerkte Schutzmann 777, Smith, daß sie ein kleines totes Äffchen auf dem Arme trug.

»Herr French ist soeben fortgegangen«, erklärte sie, indem sie das Tierchen zärtlich an sich drückte.

»Ich komme wegen einer Meldung«, sagte Smith, als Violet Strefford sich gerade auf der Schwelle zeigte – und bei seinem Anblick leise zusammenschrak.

»Ich bin Miß Strefford«, nickte sie, »eine Mr. und Mrs. French nahestehende Freundin. Um was handelt es sich?« Und sich zu Jane umdrehend, gab sie ihr die Weisung: »Legen Sie das Tier lieber ins Badezimmer, bis Mr. French wieder nach Hause kommt.«

Jane nickte weinend und verschwand.

»Man hat mich darum gebeten, nach Scotland Yard zu telephonieren,« erklärte Smith, »daß man einige Leute nach Limehouse schickt … in ein Wirtshaus von einem gewissen A Kooli, Causeway … Es sei sehr dringlich, wurde gesagt … Ich weiß nicht, ob Sie, gnädiges Fräulein …«

»Ich verstehe nicht recht«, unterbrach ihn Violet in hartem Ton. »Wer hat Sie gebeten, diesen Bescheid weiterzugeben?«

»Ein kleiner, gelber Bursche. Yo Foo nannte er sich. Er bat um möglichste Beschleunigung – es gelte, Mr. French zur Hilfe zu kommen, sagte er – und damit war er wie von der Erde verschluckt.«

Violet biß sich auf die Lippe:

»Ich begreife es immer noch nicht. Mr. French hat mich doch darum gebeten, und ich habe auch schon angeläutet, jedoch keine Verbindung bekommen. Ich versuchte es soeben zum zweitenmal, als Sie kamen.«

»Aber dann ist ja alles in bester Ordnung!« Smith salutierte kavaliermäßig. »Sollte das gnädige Fräulein mich brauchen, ich patrouilliere hier in diesem Viertel bis zwei Uhr nachts.«

Violet nickte, wieder besänftigt, und machte die Türe hinter ihm zu. Als sie in das Zimmer trat, erwarteten sie Jane und Mary.

»Monkey liegt jetzt im Badezimmer«, sagte Jane, immer noch mit unterdrückten Tränen.

Violet nickte:

»Es ist gut! Sie können jetzt beide zu Bett gehen.«

»Ich werde nicht schlafen können,« schluchzte Jane auf, »solange ich nicht weiß, was aus der gnädigen Frau geworden ist. Wenn Sie nichts dagegen haben, dann möchte ich …«

Violet Strefford fertigte sie kurz ab:

»Legen Sie sich jetzt schlafen, wie ich Ihnen gesagt habe. Wenn sich irgend etwas ereignen sollte, werde ich Sie wecken.«

»Aber ich habe Herrn French versprochen, den Brief nach Scotland Yard zu tragen.«

»Das hat keine Eile … Übrigens können Sie ihn auch mir geben.«

»Ich habe es aber doch versprochen …«

Violet Strefford sandte ihr einen eisigen Blick:

»Sie sollen ihn mir geben, haben Sie nicht gehört!«

Jane, die den Brief unter ihren Schürzenlatz gesteckt hatte, war schon dabei, sich überreden zu lassen und Violet den Brief zu reichen, als sie es sich zuletzt doch noch anders überlegte:

»Nein, ich habe einmal versprochen, es noch heute abend zu tun, und darum werde ich es auch halten.«

»Du hast zu tun, was ich dir befehle!« Violet stampfte zornig mit dem Fuß:

»Gib ihn her, hörst du!«

Aber jetzt mischte sich auch die Köchin ein:

»Jane hat ganz recht: wenn sie es versprochen hat, dann trägt sie ihn auch selbst hin. Außerdem sind Sie ja gar nicht die Herrin hier im Hause.«

»Na, meinetwegen, ich werde es Mr. French schon erzählen.«

»Aber dann gehen wir auch sofort, Mary und ich«, schloß Jane trotzig und von der höhnischen Kälte der anderen gereizt.

»Ja, geht nur …!«

*

Als Violet Strefford bald darauf hörte, wie die beiden Mädchen das Haus verließen, zündete sie sich eine Zigarette an und ging fieberhaft auf und ab. Das Gewitter hatte noch nicht nachgelassen, und wahrscheinlich würde man nur schwer ein Auto bekommen. Es würde demnach mindestens eine Stunde dauern, bis die zwei Dummköpfe Scotland Yard erreichen konnten.

Und bis dahin …

Es schauderte ihr bei dem Gedanken. Aber sie hatte ihren Entschluß gefaßt. Jedesmal, wenn sie am Telephon vorbeikam, blickte sie absichtlich zur Seite. Sie hatte heute abend eine schmähliche Niederlage erlitten; lieber wollte sie ihre Tage in einem Gefängnis enden, als die beiden – Elena und ihn – wieder glücklich vereint zu wissen.

Zuletzt hielt sie es in dem Zimmer mit dem Telephon nicht mehr aus. Es war, als ob der Apparat die ganze Zeit nach ihr riefe. Sie schlenderte ins Atelier, nachdem sie sich einen Whisky eingeschenkt hatte, den sie »trocken« hinunterschüttete. In einem Gefühl des Triumphs, in dem sich jedoch auch Angst und Schmerz mischten, streifte sie mit ihrem Blick die zugedeckte Statue, sein neues »Glück«. Nein, es sollte ihm gewiß kein neues Glück mehr erblühen. Er hatte sie, Violet Strefford, eine der umschwärmtesten und begehrtesten Frauen der Londoner Gesellschaft, zurückgewiesen. Und lief jetzt dem kleinen und unbedeutenden Weibchen Elena nach! Oh, es sollte ihm gewiß gegönnt sein, zu laufen! – direkt hinein in den Rachen des Löwen … um von ihm gefressen zu werden. Sie lachte zynisch auf. Stellte sich dann vor die Statue hin, deren Hülle sie wegriß – von jäh aufloderndem Haß beseelt. Wie es in ihr brannte, dieses Werk zu zerstören! Je mehr sie die Figur betrachtete, desto mehr steigerte sich ihr Haß. Wie wäre es, wenn …

Von einer momentanen Zerstörungswut ergriffen, sah sie sich nach einem Gegenstand um, mit dem sie die Statue umwerfen und herunterreißen konnte. Aber es war, als würde sie von irgend etwas zurückgehalten – mit einemmal wurde sie von einer inneren Angst überwältigt. Als ob sich der Raum plötzlich bevölkerte mit ihm und ihr – der anderen – in endloser Wiederholung – als ob die beiden überall an den Wänden herumständen und sie mit entsetzten Blicken verfolgten. Sie versuchte die Halluzination mit einem Lachen abzuschütteln, aber sie vermochte es nicht. Natürlich war es lächerlich, aber trotzdem …!

Und immer wieder schlug ihr die Frage entgegen:

»Was willst du hier?«

Von überall rief es:

»Was hast du hier zu tun?«

Sie fühlte sich aus dem Zimmer gewiesen, hinausgejagt von stummen Blicken, unausgesprochenen Worten – und Gefühlen, die sie nur allzu gut verstand …

In dem Kabinett mußte sie wieder an dem Telephon vorbei, das immer noch auf sie zu warten schien. Aber sie wich ihm aus. Sie wollte nicht anrufen, nein, sie wollte es nicht! An die Folgen mochte sie nicht denken. Nun hieß es biegen oder brechen!

Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung:

Jane hatte doch wohl, wie sie befohlen hatte, das Äffchen in den Baderaum gebracht. Dieses freche Ding! Daß sie es gewagt hatte, ihr den Brief vorzuenthalten. Na, daran wollte sie jetzt weiter nicht mehr denken. Aber der Affe …! Das war vielleicht ganz interessant …

Sie wollte sich nicht länger selbst belügen: sie suchte ja nur nach irgendeinem Mittel, um den Gedanken an die Konsequenzen ihrer Handlungsweise zu verscheuchen – um fort aus den Zimmern hier unten zu kommen, sowohl aus dem Kabinett wie aus dem Atelier. Auch der Salon war ihr unerträglich, wo die lächerlich vielen Photographien von Elena standen.

Nur weg! Und vor allem: ihre Gedanken ablenken!

Nachher wollte sie dann Scotland Yard anrufen, aber den Hörer wieder einhängen, sowie das Amt die Verbindung hergestellt hatte. Sie würde ja dann später mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit behaupten können, daß eine Störung eingetreten wäre. Denn irgendeine Erklärung mußte sie ja geben …!

Sie öffnete die Türe zum Badezimmer. Doch, Monkey lag wirklich da auf einer der Bänke, mit einer Art von Kinderbettuch zugedeckt. Unter dem weißen Leinen zeichneten sich die Umrisse des kleinen erstarrten Körpers ab. Ja, wenn er nicht gewesen wäre, dann … Sie fühlte eine plötzliche Lust, das Tuch zu lüften, um das Gesicht zu betrachten.

Das Tier war zwar der Liebling der anderen – Elenas – gewesen und hatte doch ihr – Violet Strefford – einen riesigen Dienst erwiesen: es hatte den furchtbaren Verdacht auf Elena French gelenkt! Und dadurch überhaupt die ganze Affäre angezettelt!

Wenn Monkey in Tai-Lings Obhut oder irgendwo sonst in dem gelben Limehouse geblieben wäre, dann würden Billy und seine Frau heute noch ihr idyllisches Liebesleben ungestört weiterleben, in ungetrübter Harmonie.

Ja, sie hatte dem kleinen Monkey viel zu danken …

Sie hob behutsam das weiße Tuch. Hier im Badezimmer selbst hatte sie kein Licht angezündet, aber draußen im Treppenhaus brannte der Kandelaber.

Monkeys Augen waren offen! Sie streichelte leise seinen Kopf, schrak aber dabei zusammen: wie kalt er war! Oder waren es vielleicht nur die Augen, die sie frieren machten? Trotz ihrer Unbeweglichkeit waren sie merkwürdig sprechend in ihrem blicklosen Starren! Sie zogen sie unwiderstehlich in ihren Bann, übten einen direkten Zwang auf sie aus. Sie mußte hineinsehen, ob sie wollte oder nicht …

Mit Gewalt riß sie sich los und strich sich über die Stirne, wie um sich von einem bösen Traum zu befreien. Dann ließ sie das Tuch wieder auf den kleinen Körper zurückfallen, schloß die Tür und ging hinunter ins Erdgeschoß. Sie mußte das mit Scotland Yard endlich erledigen. Mit leise zitternder Stimme verlangte sie das Amt. Dieses meldete sich und stellte die Verbindung her. In diesem Moment hängte sie wieder ein. So, jetzt war es getan!

Sie erhob sich. Nahm eine Zigarette und einen Schluck Whisky und schlenderte gemächlich zum Fenster.

Aber da tönte die Glocke des Telephons hinter ihr. Sie drehte sich erschrocken um. Was sollte sie tun? Sie wußte sehr gut, daß die Polizei noch eine spezielle Leitung zum Hauptamt hatte, so daß sie jederzeit Anschluß an eine Nummer bekommen konnte, wenn ein Gespräch aus irgendeinem Grunde auf dem allgemeinen Draht nicht zustande gekommen war.

Wenn es nun Scotland Yard war, das anrief? Und wenn sie das Gespräch aufnahm?

In diesem Falle würde sie nicht gut darum herumkommen, die Polizei zu alarmieren. Woraus wieder folgte, daß Billy und Elena … Allein bei ihrem Namen stieg der Haß wieder in ihr auf. Nicht um alles in der Welt wollte sie …

In ihrer Erregung vergaß sie ganz, daß Jane und Mary ja in die Stadt gefahren waren, und daß sie sich also allein im Hause befand. Sie hatte nur die eine Überlegung, daß niemand das Läuten des Telephons hören durfte – und jetzt klingelte es schon wieder!

In aller Eile schleppte sie einige Kissen herbei, um den Apparat darunter zu ersticken. So, jetzt konnte er läuten, soviel er wollte! Niemand würde ihn hören …

Erst jetzt kam ihr die Erinnerung an die beiden Mädchen, aber sie ließ es dabei wie es war. Sie konnte selbst das Gebimmel nicht mehr aushalten. Ihre Nerven ertrugen es nicht länger. Wenn sie die Mädchen zurückkommen hörte, würde sie die Kissen wieder entfernen. Nicht früher! Keine Minute früher!

Sie ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Dann und wann unwillkürlich nach dem kleinen Hügel schielend, darunter der Apparat begraben lag. Es war immer noch ein dumpfes Murren zu vernehmen. Man rief sie offenbar ununterbrochen an. Sie steckte sich die Finger in die Ohren und blieb vielleicht für fünf Minuten so stehen. Dann nahm sie sie wieder weg und horchte: Jetzt war es still. Man hatte es aufgegeben, in Verbindung mit ihr zu kommen!

Sie atmete erleichtert auf und trat in den Erker. Es regnete und stürmte immer noch, aber Blitz und Donner hatten aufgehört. Sie war dabei, die Stores wieder zuzuziehen, als auf einmal irgend etwas draußen am Horizonte ihre Aufmerksamkeit erregte, ein rosiger Schimmer in dem Grau des Himmels. Ein beginnendes Glühen, das sich mehr und mehr ausbreitete. Sie öffnete das Fenster:

Der Feuerschein wuchs, wurde röter und röter. Aber lag nicht hinter Hyde Park. Es war nur der Reflex eines im Entstehen begriffenen Riesenbrandes, der sein Licht an den Himmel warf. Jetzt hörte sie auch das Läuten und Tuten von Wagen und Autos, die von allen Seiten durch die Nacht rasten und sich immer weiter entfernten.

Die Feuerwehr war alarmiert worden!

Sie schlug das Fenster wieder zu und zog schleunigst den Vorhang wieder vor. Lief dann ans Telephon. Sie war von einer plötzlichen, wenn auch unwahrscheinlichen Ahnung erfüllt:

Konnte der Herd des Feuers nicht in Limehouse liegen?

Sie fror und brannte zugleich in ihrem Innern. Aber sie wollte Gewißheit haben. Sie griff daher nach dem Apparat und rief eine Redaktion an, lange Zeit vergebens. Aber endlich erhielt sie Verbindung.

Ja, es brannte in Limehouse, Causeway! Zwei Häuser, Sun Teens und A Koolis, standen bereits in hellen Flammen, und mehrere in der Nachbarschaft waren von dem Feuer, das immer mehr um sich griff, gefährdet.

Sie stöhnte laut auf, als sie das Mikrophon niederlegte. Ihre Züge waren angstverzerrt und in ihr schrie es auf, daß es Mord war, glatter Mord! Aber sie wollte es nicht hören, sie wollte stark sein, wollte Rache haben! Und weder ihre Hand noch ihre Stimme zitterten, als sie, mit dem Hörer gegen das Ohr gepreßt, nach Scotland Yard verlangte.

»Wir haben schon Bescheid bekommen«, antwortete man ihr. »Soeben in diesem Augenblick von Mr. Frenchs Zimmermädchen … Wir haben übrigens mehrmals versucht, Sie anzurufen, aber vergeblich … So, Ihr Telephon war nicht in Ordnung …? Aber jetzt schicken wir sofort Leute hinunter und hoffen nur das eine: daß es nicht zu spät ist!«

»Es wird aber zu spät sein!« lachte sie boshaft, als sie das Gespräch beendet hatte. »Ihr werdet zu spät kommen – und Gott sei gelobt dafür!«

Und plötzlich brach sie zusammen, zitternd am ganzen Körper, tränenlos aufschluchzend, mit einer brennenden Hölle im Inneren:

»Billy, Billy! Ich liebe dich ja so!«

3.

Billy richtete sich entmutigt auf. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seit er den Rauch bemerkt hatte, der sich immer mehr verdichtete. Wie lange würde es wohl dauern, bis alles vorbei war? Bevor sie der Rauch erstickt hatte? Ja, selbst wenn die Polizei noch kommen sollte, was konnte sie überhaupt noch ausrichten? In dieser Umgebung, wo sie sich nicht auskannte! In diesem Rauch, der alles einhüllte! Gegen die Flammen, die sich knisternd und unaufhaltsam näherten?

Nein, Tai-Ling war der Gescheitere gewesen:

Wenn Yo starb, hatte er keinen Zeugen von Bedeutung mehr zu fürchten. Wenn er sich nach der Brandstiftung nicht überhaupt schon aus dem Staube gemacht hatte.

Billy wich unwillkürlich zurück. Der Rauch zwang ihn dazu. Er konnte in der beklemmenden Stille vernehmen, wie das Feuer sich langsam vorwärtsfraß. Und das Glucksen des Flusses gab eine seltsame, unheimliche Begleitung dazu!

Wie lange würde die Türe da noch Widerstand leisten?

Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er durch eine Spalte bemerkte, wie der grelle Feuerschein hinter der Türe sich nach unten ausbreitete, immer wieder neu auflodernd und abwärts strebend! Es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis die Türe ganz in Flammen stand. Und dann …!

Billy sprang in die Höhe:

Jetzt galt es Leben oder Tod im wahren Sinne des Wortes! Nun mußte gehandelt werden, und zwar sofort! Wenn sie sich in Elenas Zelle zurückzogen und einschlossen, würden sie wenigstens noch für einige Zeit den Rauch und das Feuer isolieren können. Und währenddessen konnte vielleicht noch Hilfe eintreffen. Die Hauptsache war jetzt, Zeit zu gewinnen!

Er lief zurück und warf die Tür zu. Der äußere Gang war in diesem Augenblick schon taghell. Die Nischentür brannte lichterloh. Aber in dem Kerkerraum herrschte Grabesdunkel, nachdem die Türe geschlossen war. Wie lange diese Türe noch standhalten würde, war eine andere Frage. Elena war zwar jetzt bei vollem Bewußtsein, aber natürlich stark geschwächt. Der Schock war für ihre überspannten Nerven allzu stark gewesen.

»Ist denn gar keine Hoffnung mehr vorhanden, Billy?« flüsterte sie und tastete nach seinen Händen.

»Doch, gewiß!« Er gab seiner Stimme Festigkeit und Vertrauen. »Die Polizei muß ja jeden Augenblick dasein.«

»Die Polizei! Du hast die Polizei verständigt?« Elena lebte sichtlich wieder auf. »Oh, Gott sei gepriesen! Tatest du das, bevor du das Haus verließest?«

Billy zögerte mit der Antwort.

»Ich rief nicht selbst an«, gestand er endlich. »Violet Strefford war bei mir. Sie besuchte mich, geschäftlich«, fügte er unsicher hinzu.

»Violet Strefford!« hauchte Elena mit erlöschender Stimme. Er spürte instinktiv ihre Hoffnungslosigkeit. »Sie hast du damit beauftragt?«

»Ja, das habe ich … schenkst du ihr so wenig Vertrauen?«

»Vertrauen? einer Violet Strefford? Aber Billy …!«

Yo räusperte sich verlegen:

»Ich habe es noch dem Schutzmann gesagt, Herr,« gestand er, »unmittelbar, bevor wir hierher fuhren.«

»Gott sei Dank,« schluchzte Elena, »dann kann noch alles gut werden!«

»Trautest du ihr denn auch nicht?« fragte Billy Yo und fühlte sich plötzlich auch von neuem Lebensmut durchströmt.

»Ich sah ihre Augen,« antwortete der Knabe, »und die waren nicht gut.«

»Aber warum sind sie dann eigentlich noch nicht da?« warf Billy ein, der immer nervöser wurde. »Wo bleiben sie nur …? Und was ist das für ein Licht?«

Er ließ unwillkürlich Elenas Hand fallen und starrte gegen die Tür, über deren Rahmen sich eine feuerige Kontur abzeichnete. Kein Zweifel: das Feuer war durchgebrochen!

Und zwar mit einer solchen Intensität, daß jede Hoffnung zu Asche wurde. Vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten würden sie es noch aushalten können. Aber dann …

Billy war aufgesprungen und starrte stumpf in den Feuerstreifen, der breiter und breiter wurde. Jetzt war die Luft auch hier von beizendem Rauch erfüllt. Sein Kopf schmerzte, er fühlte eine tödliche Müdigkeit in den Gliedern. Ein Kind hätte ihn in diesem Augenblick umblasen können. Plötzlich merkte er wieder Elenas Hand, die nach der seinen suchte:

»Ja, ja, Elena!« Er beugte sich über sie und liebkoste ihre Haare. »Nur Mut, mein Kind!«

Sie drückte seine Hand an ihre Wange:

»Erzähle mir, wie du hierher gefunden hast«, bat sie leise. »Es beruhigt mich und tut mir gut.«

Bill fing an zu erzählen. Aber seine Gedanken waren keine Sekunde bei dem, was er sprach:

»So weißt du also jetzt, was in meinem Tagebuch steht?« fragte sie leise.

Bill nickte.

»Und verachtest mich trotzdem nicht?«

»Dich verachten!« Er umarmte sie stürmisch. »Ich liebe dich! Kleine geliebte Elena!«

Er traute sich nicht, sie anzublicken. Aber trotzdem wußte er, daß ihre mageren, gequälten Züge durch ein glückliches Lächeln aufgehellt wurden.

»Das macht alles viel leichtere, sagte sie still, und es lag eine unendliche Weichheit und eigenartige Süße in ihrer Stimme.

»Leichter … das Ganze?« Billy fuhr auf. Der Selbsterhaltungstrieb regte sich in ihm mit ungeheurer Gewalt. »Du denkst doch nicht, daß wir in dieser Mausefalle untergehen sollen?«

Sie sah leise lächelnd zu ihm empor, und es war jetzt so hell von dem Feuerschein an der Türe, daß er in tiefster Wehmut einen fast überirdischen Zug um ihre Lippen erkennen konnte. Bill hob sie inbrünstig auf und bedeckte sie mit heißen Küssen.

»Jetzt müssen wir eine letzte Anstrengung machen, irgendwie herauszukommen.«

Er war nur mehr potenzierte Energie, verkörperter Wille – er wollte das Schicksal meistern! Und die Decke mußte doch irgendwie durchzubrechen sein!

Mit Anspannung aller seiner Kräfte rückte er den Stuhl in die Ecke der Zelle, schichtete die Steine auf und begann die Decke zu bearbeiten. Die Lage dieser Decke hatte er genau überlegt: Man müßte ins Freie kommen, wenn es gelänge, durchzubrechen. Außerdem waren Häuser wie diese meist nicht solid gebaut. Also konnte er hoffen, zum Ziele zu kommen, vorausgesetzt, daß das Feuer und der Rauch ihm die nötige Zeit lassen würden. Aber diese beiden Feinde rückten ihm zusehends mehr und mehr auf den Leib. Und er mußte immer wieder in seiner Arbeit innehalten, um nach Luft zu schnappen und um ein Kleidungsstück nach dem andern abzuwerfen. Auch mußte er in dem dichten Rauch wie ein Blinder drauflosschlagen. Seine Schläge wurden immer schwächer und unsicherer. Plötzlich hörte er durch das Knistern und Zischen der Flammen einen grellen Pfiff; dann ein schwaches Echo von vielen Stimmen gerade über seinem Kopf oder vielmehr ein paar Meter seitwärts; einen Augenblick später das Tuten von Autos und hastige Kommandorufe. Er hämmerte wieder wie ein Verrückter drauflos. Mörtel, Steine und Holz flogen um ihn herum. Dann plötzlich hörte er das Rauschen eines Wasserschlauches. Das Brodeln von Flammen, die bekämpft werden und im Wasser ersticken …! Dann neue Kommandos … Autohupen … in unendlicher Wiederholung … in schwindelndem Wirrwarr, der ihm bange machte. Kaum wußte er noch, was er überhaupt tat. Seine Lungen waren mit Rauch erfüllt. Die Flammen, die jetzt im Innern ihres Kerkers brannten, züngelten nach ihm, dann und wann hörte er sich selbst vor Schmerz aufschreien. Aber alles versank in einem wilden Durcheinander von phantastischen, abenteuerlichen Unwahrscheinlichkeiten. In einem Abenteuer grausamster Art … Dann mit einem Male verspürte er Luft über sich! Ein Stück Mauerwerk stürzte polternd hinunter, er fühlte Regen, gesegnetes Naß der Freiheit, dessen Tropfen ihm erquickend über das verbrannte Antlitz sickerten!

Mit lallender Stimme drehte er sich gegen Yo, der selbst nach Luft ringend sich Mühe gab, Elena aufrechtzuerhalten. Sie war dem Ersticken nahe.

»Gib mir ihre Hände herauf!«

Yo gelang es gerade noch, Billy ihre Arme entgegenzuheben – dann stürzte er lautlos zu Boden.

»Hier! Hier!«

Billy schrie heiser, unartikuliert, wie ein Tier in Todesangst, und zwängte Elenas Körper durch das Loch, das sich über ihm geöffnet hatte, hinaus. Nachdem er gesehen hatte, daß sich eine Hand nach ihr entgegenstreckte, um sie ganz hinaufzuziehen, ließ er sich keuchend noch einmal auf den Boden hinabsinken, lud Yo auf seine Schultern und beförderte ihn auf demselben Weg ins Freie. Schon hatte das Feuer seine Füße erreicht. Die Flammen leckten gierig an dem Marterstuhle empor. Er schrie und klammerte sich an der Mauerkante fest, die in Höhe seiner Brust lag. Der Regen klatschte ihm ins Gesicht. Lärm und Getöse umgaben ihn. Dann sah er, wie jemand auf ihn zustürzte. Mit letzter Energie riß er sich hoch, dann wurde es Nacht um ihn …


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