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Erster Teil

Erstes Kapitel

1.

»Wenn ich auf die vergangenen Jahre zurückblicke«, sagte William French ein Jahr später an einem Frühlingsmorgen zu seiner Frau, »und auf die Entwicklung, die mein Leben genommen hat: wie merkwürdig hat sich doch alles gefügt … Daß wir zwei uns in jener Winternacht begegneten … daß du krank wurdest … und mehrere Wochen als Rekonvaleszentin nach der Lungenentzündung hier zubringen mußtest …«

»…; und daß ich meinen schlechten Geschmack dadurch bewies, daß ich mich in dich verliebte«, neckte sie ihn lächelnd.

»…; und wie deine Intelligenz so weit versagte, daß du mich sogar heiratetest,« gab er ihr zurück … »das ist doch alles wie ein einziges großes Märchen. Und es gibt noch Augenblicke, da ich mich – bildlich gesprochen – in den Arm kneifen möchte, um mich zu überzeugen, daß ich noch immer derselbe William French bin, der früher niemals verliebt war, und der durch viele schwere Jahre hindurch einen fast aussichtslosen Kampf geführt hat, um sich über Wasser zu halten: Heute ein restlos glücklicher Mann, ein berühmter Künstler, dazu Kapitalist und … Hausbesitzer in Park Lane …« Er lächelte knabenhaft. »Ehemals ein Einsamer, den niemand beachtete, ein kümmerlicher Mieter in einer noch kümmerlicheren Bude in dem armseligen Eastend. Ja: glaube mir, es war eine fürchterliche Umgebung, in der ich damals hausen mußte!«

Sie lächelte ihm zu und liebkoste kameradschaftlich seine Hand:

»Ich glaube es dir gern, Bill! Aber wohl immer noch nicht so schlimm wie die des armen Schluckers, den ich gestern da unten in Limehouse besuchte. Lady Greeple hatte mir seine Adresse gegeben. Das nenne ich Armut! Ein feuchtes Kellerloch, so groß wie ein Schweinestall, in dem fünf Familien zusammengepfercht sind. Glücklicherweise waren sie alle auf Arbeit gegangen, mit Ausnahme meines Schützlings: ein Chinese. Er hat einen putzig kleinen Sohn von vierzehn bis fünfzehn Jahren. Es gelang mir, Gott sei Dank, sie wenigstens in ein Zimmer im ersten Stock umzulogieren. Rührend war es, zu sehen, wie die beiden aneinanderhängen.«

»Und du bist wieder allein dorthin gegangen!« sagte Bill besorgt.

»Liebe kleine Elena, du weißt, wie ich im allgemeinen mit deinem Wohltätigkeitsdrang svmpathisiere, aber du mußt wirklich ein wenig mehr an dich selbst denken! Limehouse ist kein geeignetes Viertel für eine unbegleitete Dame, auch wenn sie nur dahin geht, um Gutes zu tun … Es hätte wohl jemand anderen gegeben, der dir diesen Gang abgenommen hätte.«

»Mit anderen Worten: ich soll nur leichte Arbeit übernehmen!«

Sie lächelte, immer noch scherzend, aber dann legte sich ein ernster Zug um ihre Lippen: »Nein, nein, Billy! Das geht nicht! Entweder hilft man, oder man läßt die Finger davon. Und was die Gegend betrifft, sie ist ja tagsüber nicht so gefährlich. Außerdem benutze ich ja immer ein Auto … So, bist du jetzt beruhigt?« Sie streichelte wieder seine Hand.

»Was ist das denn eigentlich für ein Kumpan?« fragte er, schon halbwegs umgestimmt.

»Es ist ein Mann, der offenbar bessere Tage gekannt hat. Gebildet im Reden wie im Denken. Seinen Namen habe ich natürlich nicht behalten können. Aber der Sohn heißt Yo …«

»Den scheinst du ja sehr in dein Herz geschlossen zu haben«, neckte Bill.

»Er ist so süß«, maulte sie treuherzig.

»Ein junger Mann von fünfzehn Jahren?« er drohte ihr im Spaß mit dem Finger.

»Oh, man gibt ihm nicht mehr als höchstens zehn, und was mich so sympathisch berührt, ist das ganz besonders nette Verhältnis, das zwischen Vater und Sohn herrscht.« Er strich ihr zärtlich über die Wangen und erhob sich. »Jetzt wäre es aber Zeit, an die Arbeit zu gehen, findest du nicht? Außerdem habe ich noch einen Brief zu beantworten.«

»Einen Brief, von wem?«

»Von der internationalen Ausstellung in Paris. Du weißt, sie soll in ein paar Monaten eröffnet werden, und das Komitee hat mir wieder nahegelegt, eine Arbeit einzureichen.«

»Und du willst nicht?«

»Ich kann es ja leider nicht! Du wirst ja nicht wollen, daß ich nur Skizzen oder halbvollendete Sachen hinschicke?«

In diesem Augenblick klopfte das Zimmermädchen an der Tür und brachte einen Brief mit einem prachtvollen Blumenstrauß, der in einer luxuriös ausgestatteten, länglichen Schachtel lag.

»Nein, sie sind nicht für die gnädige Frau«, lächelte Jane, als French ihr die Blumen abnehmen wollte, um sie Elena zu reichen. Sie machte einen graziösen Knicks und verließ das Zimmer.

Billy öffnete erstaunt den Brief, dem ein zarter Duft entströmte.

»Ach, er ist von Violet Strefford«, sagte er, halb ärgerlich, halb belustigt, indem er Elena den Brief gab.

»Lieber Billy!« lautete der Brief. »Ich habe die Wette verloren! Ihre Violet Strefford.«

»Was für eine Wette?« fragte sie und wurde gegen ihren Willen rot dabei. »Oder habt ihr vielleicht ein Geheimnis zusammen?«

»Nicht im geringsten! Es war neulich bei ihrer letzten Einladung. Ich weiß nicht, wo du gerade warst. Da hat sie mich unter den Arm genommen und in den Wintergarten gezogen …«

»Und dir ihr Herz geöffnet, nicht wahr? … Sie war natürlich, wie immer, unglücklich und unzufrieden mit ihrem Dasein?«

Elenas Stimme klang leicht spöttisch.

»Genau so war es.« Er blickte sie verwundert an. »Aber woher weißt du das?«

»Ja, gehorcht habe ich nicht!« lachte sie. »Aber ich bin doch Frau genug, um … Na, und sie hatte also das Leben wieder einmal satt bis dort hinaus?«

»Ja, sie war sterblich verliebt … und fürchtete, daß ihr Auserwählter ihre Liebe nicht erwidern könne … Du kannst dir vorstellen, wie peinlich das für mich war … da grub ich denn die alten Phrasen aus: daß sicher alles noch gut ausgehen würde … daß ich mich zu wetten traute … und so weiter.«

»Und dann hat sie dich beim Wort genommen und dir eine Wette vorgeschlagen?«

»Ja, das tat sie. Aber …« Er besann sich. »Was ich als Buße zu zahlen hatte, wenn ich verlor, blieb noch offen. Aber im anderen Falle wollte sie mir ein Blumenbukett schicken.«

»Und nun hat sie ihr Opfer also offenbar doch zur Strecke gebracht?«

»Ja, es scheint so. Es war natürlich eine dumme Wette.«

»Ich kann dir nicht widersprechen.«

»Du magst sie nicht leiden?« lächelte Billy.

»Nein.« Elena zerriß den Brief in lauter kleine Fetzen und warf sie ins Feuer, das im Kamin knisterte. »Sie liebt dich ja!«

Billy schüttelte belustigt den Kopf:

»Violet! Sie liebt überhaupt niemand als sich selbst! … Aber es ist trotzdem komisch, daß du das sagst, denn ihr Vater meinte nämlich einmal dasselbe … Es war zufällig in jener Nacht, als wir uns zum erstenmal trafen.«

»Da siehst du!« Sie kräuselte schmollend die Lippen.

»Übrigens gab er mir damals auf dem Heimwege sogar die Idee zu einer Arbeit, die mich das ganze Jahr über viel beschäftigt hat.«

»Strefford konnte dir eine Idee geben?«

»Ja, tatsächlich!«

»Da bin ich neugierig. Etwas Juristisches natürlich?«

»Nicht einmal! Sondern für eine Skulptur … wenn du dich noch so wunderst! Und diese Idee ist außerdem gar nicht so schlecht: Ein Denkmal der ›Isolation‹. Ein Monument des Selbstvertrauens – des Glaubens an sich selbst! Oder eine Darstellung des Glückes überhaupt!« Er fing an, ihr seine Gedanken näher auseinanderzusetzen. »Ich habe, wie gesagt, schon viel darüber nachgedacht; jetzt glaube ich beinahe zu wissen, wie ich die Idee gestalten soll. Aber eine Vorbedingung ist dabei, die unumgänglich ist – nämlich, daß du mir Modell stehst.«

»Danach brauchst du gar nicht zu fragen, Bill! Du weißt, daß du immer und in allem über mich verfügen kannst.«

Er dankte ihr mit einem Kuß.

»Und jetzt soll mich der Teufel holen, wenn ich nicht diesmal mein Meisterstück schaffe! Und dem guten Strefford will ich zeigen, daß ich wenigstens in diesem Falle genug Phantasie besitze … wenn er mich auch sonst für ein wenig trocken hält, er empfahl mir, mich durch eine Dosis ›Schnee‹ in Schwung zu bringen.«

»Schnee? Ja, davon gab es ja damals allerdings genug. Aber ich habe nie gehört …«

»Er dachte dabei wohl auch weniger an den Schnee, der vom Himmel fällt,« unterbrach er sie, »als an den – der in die Hölle führt!«

»Er wollte dich doch nicht zum Kokainisten machen?« Sie lächelte ungläubig.

»So ernst hat er es wohl kaum gemeint. Aber immerhin kenne ich jetzt das Mittel, das einem zu Phantasie verhilft, und hier in Old England ist es ja glücklicherweise noch leicht zu finden, leichter als etwa in Frankreich.«

»Wieso?«

»Ja, liest du denn nie eine Zeitung, du kleiner Faulpelz?«

»Aber doch nichts über Kokain!«

»Kokain ist der Weg, der – wie die Journalistik – zu allem führt«, scherzte er. »Siehst du: in Frankreich gibt es eine große Volksbewegung zur Ausrottung des Kokainlasters, und der Polizeidirektor Landru hat geschworen, daß er im Laufe eines Monats das ganze Land von diesem Gift befreit haben wird. Schon jetzt sind eine Menge Verhaftungen vorgenommen worden, namentlich Leute, die Kokain über die Grenze schmuggeln. Da, sieh nur selbst!« Er reichte ihr die »Times«. »Du wirst staunen über alle diese Namen!«

Sie fing an zu lesen.

»Ja, das ist ja unglaublich! und fast lauter prominente Leute.«

Sie setzte die Lektüre fort.

Bill schlenderte im Zimmer herum, eifrig rauchend und über seine neue Arbeit nachdenkend. Er hörte, wie die Zeitungsblätter zwischen ihren Fingern raschelten. Hörte es, und hörte es auch nicht! Mit einem Male drang aber doch ein Laut in sein Bewußtsein: ein leises Stöhnen. Er sah sich nach Elena um, gerade in dem Augenblick, als sie, totenblaß und mit der Zeitung in der Hand, ohnmächtig zu Boden sank.

2.

Mit einem Sprunge war er bei ihr, hob sie auf und trug sie zu einem der großen Sessel hin. Die Zeitung war ihr aus der Hand gefallen. Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Züge leer. Sie kam bald wieder zu Bewußtsein, blickte verwirrt um sich und strich sich mit der Hand über die Stirn:

»Ich wurde ja plötzlich krank«, sagte sie mit einem matten Lächeln.

»Ja, du machtest mir ordentlich bange.« Die überstandene Angst klang immer noch in Bills Stimme nach. »Stand denn etwas so Schreckliches in der Zeitung, daß …?«

»In der Zeitung? Nein, wieso?« wandte sie lebhaft ein.

»Ich meine, nachdem du …« Er langte nach dem Blatt, um es auf den Tisch zu legen, aber sie kam ihm zuvor und riß es an sich:

»Die dumme Zeitung!« Sie lachte gezwungen und schlug sie ihm leicht um den Kopf. Warf sie dann plötzlich in den Kamin, wo sie in Flammen aufging.

»Du verbrennst sie?« Er blickte sie betroffen an.

»Zur Strafe, ja!« sagte sie mit unnatürlicher Lustigkeit, »denn sie war vielleicht doch daran schuld, mit ihren Massenverhaftungen.«

»Ich habe sie ja noch gar nicht fertiggelesen«, warf er ein.

»Oh, es stand ohnehin nichts Besonderes darin … erzähle mir lieber noch etwas über deine Arbeitspläne, die mich viel mehr interessieren. Hast du noch weiter darüber nachgedacht?«

Bill war sofort Feuer und Flamme:

»Und ob ich darüber nachgedacht habe! … Elena, wenn du richtig lieb sein willst, dann gehst du sofort mit mir hinüber ins Atelier.«

»Aber natürlich, gern!« Sie nahm ihn fröhlich – vielleicht ein wenig übertrieben froh – unter den Arm und zog ihn lachend und plaudernd durch die Zimmer, die zum Atelier führten. »Du hast ja auch schon Ton kommen lassen«, lächelte sie, als ob sie ihn bei einem Bubenstreich ertappt hätte.

»Ja, ich habe eben darauf gehofft«, gab er mit schuldbewußter Miene zu.

»Ich muß mich wohl ausziehen?« fragte sie, gegen ihre Gewohnheit ein wenig kokett lächelnd.

»Ja, vollkommen!«

Sie rümpfte das Näschen:

»Du sagst das so … geschäftsmäßig!«

Er brach in ein herzerfrischendes Gelächter aus:

»Das werde ich mir merken … für mein nächstes Modell!«

»Ja, unterstehe dich!« drohte sie – und verschwand hinter dem Schirm.

French fing an, an dem Lehm herumzukneten, dessen klebrige Masse unter seinen geschickten Fingern bald zu einem Sockel mit einer Statue in rohen Umrissen emporwuchs. Er hatte seine unvermeidliche Pfeife im Munde und war in den Arbeitskittel geschlüpft.

»Also, nicht wahr, Elena! Alle Kleider herunter!« rief er ihr heiter zu. »Sonst kommt die Arbeit nicht richtig in Schwung! Weißt du noch, Liebste, wie du das erstemal als Modell vor mir standest?«

»Willst du wohl schweigen!«

»Gut, dann sprechen wir von etwas anderem.« Er war eben von der Leiter heruntergestiegen, um Holz auf das Feuer zu werfen. »Es ist schon herrlich warm. Dich wird sicher nicht frieren … Übrigens hast du wohl auch deinen Kimono bei dir?«

Sie trat hinter der Wand hervor.

Er nickte ihr glücklich zu:

»So ist's recht! Das hab' ich gern! … Ich habe da Kissen aufgestapelt, sei lieb und klettere hinauf … Na, was ist nun auf einmal los?«

Es hatte an der Tür geklopft; er ging hin und öffnete.

Es war Jane:

»Ein Knabe ist da, der mit der gnädigen Frau sprechen möchte.«

»Wer ist es, Jane?« fragte Elena.

»Ein kleiner gelber Knirps. Er heißt Yo Foo, sagt er.«

»Yo Foo! Lassen Sie ihn nur hereinkommen … Sein Vater ist der, von dem ich dir vorhin erzählte, Billy.«

»Der Mann von Limehouse?«

»Derselbe!« Elena steckte schnell die Füße in ein Paar Pantoffel.

»Guten Tag, Kleiner!« Sie ging ihm freundlich lächelnd entgegen. »Der Herr hier ist mein Mann«, stellte sie vor.

Yos Gesicht hellte sich in dankbarer Freude auf. Er war außergewöhnlich klein und schmächtig für sein Alter, aber sein gelbes Gesicht wurde von einem Paar kluger, wehmütig glänzender Augen beherrscht. Seine Haut war zart und weich, sein Kopf rassig und seine Stimme erinnerte an gedämpftes Kinderweinen an stillen Sommerabenden. Er war sehr betrübt und dem Weinen nahe, aber er unterdrückte seine Tränen.

Man zeigt fremden Leuten nicht gern seinen Kummer und Schmerz! Man gibt seine Gefühle überhaupt nicht preis!

Er verbeugte sich mehrmals vor Elena und heftete seine Blicke mit anbetender Verehrung auf sie. Er sprach ein erstaunlich reines Englisch, nur dann und wann mit etwas Akzent, dafür aber kam manchmal ein Satz, in dessen Worten Musik zitterte, und der – obwohl beinahe monoton – einem wundervollen und wehmütigen Gesang glich.

»Der Arzt hat mich gebeten, diesen Brief zu bringen.« Er reichte Elena einen Brief, der auf einem Stück Zeitung hingekratzt und in einen einfachen Umschlag gesteckt war. »Doktor hat ihn zu Haus bei uns geschrieben.«

Elena öffnete den Brief.

»Ich bin gestern doch etwas zu optimistisch gewesen«, stand darin zu lesen. »Der Mann hat eine sehr sorgfältige Pflege nötig. Das natürlichste wäre, ihn ins Krankenhaus zu transportieren, aber die Sache ist insofern etwas schwierig, als er sich dagegen weigert, von seinem Sohn getrennt zu werden. Soll aber der Kleine die Pflege übernehmen, so muß unter allen Umständen für dies und jenes gesorgt werden. Für alle Fälle lege ich eine Liste über das Notwendigste bei. Ich habe selbst alle Hände voll zu tun, so daß ich mir erlaube, mich auf diesem Zettel an Sie, gnädige Frau, zu wenden.

Ein besseres Papier war bei unserem gelben Freunde nicht aufzutreiben. Es sind selbstverständlich bedeutende Unkosten mit einem Krankenlager im Haus verbunden. Auch deswegen stelle ich Ihnen anheim, den endgültigen Entschluß selbst zu treffen. Der Aufenthalt in einem Krankenhause kommt natürlich billiger …«

»Will dein Vater lieber zu Hause bleiben?« fragte sie den Kleinen, der eifrig mit dem Kopf nickte und trotz aller Anstrengungen nur mit Mühe seine Tränen zurückhalten konnte.

»Es fällt uns so schwer, uns voneinander zu trennen«, erklärte er. »Ich bin daran gewöhnt, den Vater zu pflegen. Er ist schon oft krank gewesen.«

»Es ist schon recht, Kleiner!« Sie streichelte seine Wangen und klingelte Jane, der sie auftrug, dem Knaben Essen für den kranken Vater mitzugeben. »Und auch eine Flasche Wein; sagen Sie Rice, daß er Ihnen eine geben soll.« Sie holte auch etwas Schokolade und Obst und steckte es Yo zu, dessen Augen strahlten, so oft er sie anblickte.

»Was meinst du, Billy?« wandte sie sich ihrem Mann zu.

»Selbstverständlich werden wir deinem gelben Freund helfen«, sagte er. »Hier steht ja alles, was der Arzt für notwendig hält, und der kleine Mann kann wohl die Sachen auf dem Heimweg selbst einkaufen … Hier ist Geld! … Du fährst natürlich mit der Untergrundbahn bis Limehouse, nicht wahr, mein Junge?«

Der Knabe nickte.

»Und du heißt also Yo … und hast einen kranken Vater?« Billy betrachtete den Knaben mit großem Interesse. Er war ein schöner Junge, lebhaft, aufgeweckt und intelligent.

»Den besten Vater auf der ganzen Welt!« nickte Yo, und die Tränen kamen ihm dabei in die Augen.

Als Elena ihm wieder über die Backe fuhr, griff er nach ihrer Hand und küßte sie.

»Du magst Mrs. French sehr gut leiden«, lächelte Billy, gegen seinen Willen tief gerührt.

»Wir lieben sie, sowohl Vater wie ich!« stotterte der kleine Yo und schlug die Augen nieder. »Niemand ist so wie sie! Niemand so gut! Niemand so schön! Niemand so …« Er drehte verlegen den Hut in seinen mageren Händen.

»Das muß ich sagen,« lächelte Billy, »du verstehst dich auf das Komplimentemachen!«

Elena hatte sich impulsiv über den Knaben gebeugt und ihn auf die Stirn geküßt.

»Ich weine sonst nie, wenn es jemand sieht,« lächelte Yo beglückt, »aber hier bei schöner Lady und ihrem Mann …« Er sah sie verlegen an. »Es ist, als ob die Luft hier eine ganz andere wäre.«

Billy begleitete ihn hinaus:

»Besuche uns nur bald wieder, wenn du Zeit hast! Ich werde schon für deine Auslagen aufkommen. Und pflege jetzt deinen Vater recht gut. Wenn du es nicht alleine zuwege bringst, könnt ihr eine Krankenschwester bekommen … Und wenn du das nächstemal wieder kommst, wirst du staunen, was aus dem Lehm da drinnen im Atelier geworden ist … und jetzt hast du dir sofort ein Paar ordentliche Schuhe zu kaufen. Du mußt ja elend frieren mit den lumpigen Pantoffeln da an den Füßen.«

Als er zum Atelier zurückkehrte, hatte sich Elena oben auf den Kisten so zurechtgesetzt, wie er es gewünscht hatte; und er fing sofort an zu arbeiten.

»Ein kolossal netter Junge, dieser Yo«, sagte Bill und bearbeitete den Lehm eifrig mit den beiden Händen. »Richte dich bitte ein wenig mehr auf … so, das ist recht! … Danke schön, Liebste!«

»Du würdest sicher auch einen guten Vater abgeben für so einen!«

»Ich meine schon … aber er sollte doch lieber weiß sein! Du lachst? … Übrigens mußt du mir noch einmal versprechen, vorsichtiger bei deinen Exkursionen zu sein. Limehouse ist eben einmal kein Aufenthalt für eine Dame … Ja, du lachst immer noch! Stelle dir aber einmal vor, du würdest deinem geheimnisvollen Verehrer in dieser Umgebung begegnen! Was würdest du dann tun?«

»Na, ich bin ja nicht ganz allein. Da ist doch noch sowohl der Chauffeur wie …«

»Wenn du aber mit der Untergrundbahn fährst, was dann?«

»Und Yo und sein Vater! … Übrigens habe ich den Unbekannten schon mehrere Tage nicht mehr gesehen.«

»Was dir wohl sehr leid tut?« sagte er scherzend.

Sie wurde rot und machte einen schwachen Versuch, zu protestieren.

»Ich kenne euch! … Frauen sind und bleiben Frauen! … und ein Verehrer, auch wenn er …« Er betrachtete sie prüfend. »Bitte drehe deinen Oberkörper ein wenig nach links … so, jetzt hast du es … Danke dir! … und du hast sein Gesicht überhaupt nie genau gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf:

»Nein, aber ich glaube, es ist ein Chinese.«

French hob die Hand drohend empor, er hielt darin einen großen Klumpen Lehm:

»Wenn ich den Kerl einmal erwische, dann …« Er paffte eifrig an seiner Pfeife … »Mir wird es schon gelb vor den Augen, wenn ich nur an ihn denke«, lächelte er, halb böse, halb traurig.

»Ich werde ihn wahrscheinlich überhaupt nicht mehr sehen«, meinte Elena.

»Wer kann das wissen! Es geschieht ja so manches hier in London … Aber glücklicherweise ist gelb dieses Jahr nicht Modefarbe!«

Er bekam ein Kissen an den Kopf.

3.

Erst gegen Abend hielten sie mit dem Arbeiten inne. Elena war müde und wollte sich eine halbe Stunde hinlegen, und auch Billy hatte nichts gegen ein kleines Schläfchen einzuwenden. Er wollte nur zuvor einen Blick in die Nachmittagszeitung werfen, sonst wußte man ja gar nicht, was draußen in der Welt vorging.

Gott weiß, warum Elena vorhin die »Times« in den Kamin geworfen hatte? An keinem anderen Tag hätte er sie vermißt, aber gerade fehlte sie ihm. Es könnte ja gerade diesmal etwas Wichtiges darin stehen!

Er klingelte, und Rice kam:

»Verschaffen Sie mir bitte die ›Times‹ von heute morgen, Rice. Sie können sie ja von Jane holen lassen«, und bald danach war er in einem der tiefen Chesterfieldstühle im Salon vergraben und durchstöberte das Blatt Spalte für Spalte. Abgesehen von jenen Verhaftungen in Frankreich war eigentlich nichts Besonderes und Interessantes darin zu finden … Doch!! Hier stand in der Spalte nebenan ein Aufsatz, der vielleicht des Lesens wert war: Über eine Tänzerin, die in der großen Welt viel Furore gemacht hatte! Er hatte ihn scheinbar heute morgen übersehen, denn sonst hätte er ihn bestimmt gelesen, nachdem er an allem, was mit Tanzkunst zu tun hatte, starken Anteil nahm – solange niemand von ihm verlangte, sie selbst auszuüben.

Er las:

»Tanzinteressierte Londoner Kreise werden sich sicher daran erinnern, daß in dem kleinen Kabarett ›Das weiße Pferd‹ …«

Er hielt einen Augenblick inne: … das war doch der Name des Kabaretts, in dem Elena eine Zeitlang aufgetreten war!!!

Dann fuhr er fort:

»…; vor ein paar Jahren eine junge Tänzerin namens Margaret Hume engagiert war. Schon damals lenkte sie durch ihre exotischen Tänze die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, mit denen sie sich später emporgeschwungen und jetzt Weltruf erlangt hat.

Margaret Hume war eine Schülerin des vor dem Kriege so berühmt gewesenen Mr. Guy Ashow, der ein ebenso glänzender Tänzer und Impresario wie begabter Maler war, und der bekanntlich vor knapp einem Jahre in einer Winternacht bei einer Schlägerei in Limehouse den Tod fand. Der Täter wurde niemals ermittelt. Man weiß nur, daß ein chinesischer Kaufmann, als er des Morgens aus seinem Hause trat, die Leiche vor seiner Tür fand und bei der Polizei darüber Meldung erstattete.

Es hatte die ganze Nacht geschneit. Jede Spur war verweht. Die Nachforschungen führten zu keinem Resultat, als daß der Mörder mutmaßlich unter den gelben Einwohnern des Viertels zu suchen sei. Dagegen konnte die Identität des Toten sehr leicht festgestellt werden. Es war Guy Ashow. Er starb einsam und verarmt in einem verrufenen Viertel derselben Stadt, deren Liebling er als Tänzer wie als Arrangeur von Festlichkeiten eine Zeitlang gewesen war, und die er – last not least – in einigen äußerst talentierten, viel zuwenig bekannten Skizzen und Bildern verewigt hat.

Es war der Krieg, der diesen Mann, wie so manche andere lebensfrohe und hoffnungsvolle Jugend, geknickt hat. Er tötete ihn zwar nicht, aber er machte ihn zum Krüppel des Lebens. Sein unheilvoller Schatten lag über ihm und ließ ihn im Frost erstarren. Und um sich zu wärmen, griff er nach einem stimulierenden Gift und wurde der Sklave eines Lasters, das ihn rettungslos in die Tiefe zog …

Seine Schülerin aber steht nun im Begriffe, sich die Welt zu erobern und eine internationale Berühmtheit zu werden! … Die Würfel des Schicksals fallen verschieden und sind unerbittlich! …«

Billy war sehr müde, sonst wäre er wohl nicht unter dem Lesen eingeschlafen. Denn der Artikel an sich hatte ihn mächtig interessiert. Und noch im Schlafe verfolgte ihn der Name: Guy Ashow! Ein eigenartiger Name – der Familienname wenigstens!

Guy Ashow!!! …

Und der Schnee fiel. Das nächtliche Limehouse tauchte vor seiner Phantasie auf mit all seinen geschlossenen Fensterläden, Türen und Torgängen, mit seinen engen, finsteren Gäßchen. Alles ringsum war Schnee, nur Schnee! Und totenähnliche Stille herrschte! … in diesen Straßen, Gassen und Winkeln, in der Nähe der West-India-Docks!! …

Aber plötzlich entsteht irgendwo ein Geräusch, steigert sich, wälzt sich näher heran. Torkelnd, schwankend, in wildem Handgemenge verbissen, staut sich ein Haufen undeutlicher Gestalten vor dem kümmerlichen Kaufladen mit seinen wie in Abwehr verschlossenen Fenstern. Und jetzt verdichtet sich der Lärm zu vernehmbaren Lauten, flammt in grellen Schreien und Zischen auf, sinkt wieder in tiefes Stöhnen zurück …

Ein Mensch wird gewaltsam gegen die Tür geschleudert. Bill kann sein Gesicht nicht sehen, aber er fühlt die Entstellung seiner Züge, ihre wilde Verzweiflung, und sieht die äußerlichen Spuren körperlicher Mißhandlung: das Blut, das aus dem schmalen, verzerrten Mund läuft, den beschmutzten, losgerissenen Kragen, das zerfetzte Hemd … Doch jetzt sieht er auch das Gesicht und weiß, daß es Guy Ashow ist, obwohl er ihn niemals vorher gekannt noch ein Bild von ihm gesehen hat …

Aber im gleichen Augenblick saust eine geballte Faust in das Bild und zerreißt es. Er hört einen gellenden Schrei, dem ein schwaches Röcheln folgt; dann herrscht wieder Stille.

Der Mann fällt, versinkt durch Schnee und Erde und Leben … tief hinab in den Tod …

Guy Ashow! Guy Ashow! …

Er erwachte durch einen wilden Schrei. Elena stand vor ihm mit weitaufgerissenen Augen, als ob sie das verkörperte Entsetzen vor sich erblicke. Und er war es, den sie so anstarrte! Er!!!

Einen Augenblick saß er wie gelähmt:

Was war mit ihr geschehen? Dann fragte er, und seine Stimme klang heiser vor innerer Erregung:

»Warum starrst du mich so an, Elena?«

Erst dann wich allmählich das Entsetzen aus ihrem Gesicht.

»Und warum hast du geschrien?«

»Geschrien?« Sie überlegte einen Augenblick. Schüttelte dann den Kopf: »Das mußt du geträumt haben.«

»Aber du bist doch über irgend etwas erschrocken«, beharrte er und wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß sie seiner Frage auszuweichen versuchte.

Ein bleiches Lächeln huschte über ihr Gesicht:

»Ich ahnte nicht, daß du hier seist.«

»Und deswegen schriest du so laut auf?« Er sah sie fragend an; sie wagte nicht zu widersprechen. »Aber warum sagtest du dann soeben, daß du nicht geschrien habest?«

Sie lächelte hilflos und gezwungen:

»Frage mich nicht, denn ich kann dir keine Antwort geben. Ich war so überrascht, dich hier zu finden, und im selben Augenblick hast du irgend etwas gerufen.«

»Habe ich etwas gesagt?«

»Ja, aber du hast scheinbar im Schlafe gesprochen. Ich glaube, es war ein Name. Ein ganz eigentümlicher!«

Bill atmete erleichtert auf:

»Ach so! Das kommt wohl von dem dummen Artikel hier in der ›Times‹. Es war der Name eines Impresarios: Guy Ashow! Aber du hast recht – es ist ein ungewöhnlicher Name … Übrigens müßtest du ihn eigentlich kennen, denn er befaßte sich seinerzeit auch mit Engagements für das kleine Kabarett, in dem du früher gesungen hast.«

»Guy Ashow?« Sie besann sich, schüttelte dann aber den Kopf:

»Ich habe nie von ihm sprechen hören!! …«

Aber sie blieb sehr nachdenklich den ganzen Abend über.

Zweites Kapitel

1.

Einen Augenblick blieb sie drüben an der Ecke stehen und ließ einen Blick über Piccadilly Circus mit seinen Springbrunnen und den Verkaufsständen mit den tausenden bunten Blumen schweifen.

Sie war in Eile, und ihr Arm konnte kaum alle die Blumen umfangen, die sie wie im Vorjahr bei demselben Händler für Billys Geburtstag eingekauft hatte.

Ein Auto kam vorbei, und sie entschloß sich, es zu nehmen, um möglichst rasch nach Limehouse zu kommen, um noch einen Krankenbesuch bei Yos Vater machen zu können, der sich schon auf dem Wege der Besserung befand. Yo hatte sich in der Pflege ausgezeichnet bewährt. Er war überhaupt ein famoser kleiner Junge …

Im selben Augenblick hielt das Auto vor ihr an. Es kam ihr vor, als ob sie es schon vorhin auf ihrem Wege von Park Lane nach der City gesehen hätte. Es war jedenfalls auffallend elegant. Sie hatte zwar das Gesicht des Chauffeurs nicht genau sehen können, aber es schien ihr, als ob auch an ihm etwas Besonderes sei, und daß er überhaupt feiner aussah als der Durchschnittschauffeur …

Elena blickte durch das Fenster.

Von Piccadilly Circus waren sie durch die Regent Street, den Strand entlang und durch die Fleet Street gefahren, dann an der St.-Pauls-Kathedrale vorbei, immer ostwärts, durch die alten Straßen von Old-London, bis der Wagen jetzt in die breite Commercial Road einbog, die direkt nach Limehouse führte.

Sie hatte diesen Weg schon oft gemacht, auf ihren früheren Ausflügen hierher, oder wenn sie Yos Vater aufgesucht hatte. Armer Wing Foo! Wenn er sich ganz erholt hatte, mußte man versuchen, ihm auch Arbeit zu verschaffen. Bill würde ihn sicher irgendwo unterbringen können.

Bill selbst hatte in den letzten Wochen ordentlich geschuftet. Die Statue machte gute Fortschritte; sie saß ihm jeden Nachmittag einige Stunden dazu. Die letzten zwei Tage aber hatte sie Urlaub gehabt, weil er mit seinem Werk allein sein wollte! …

Der Wagen fuhr jetzt durch die grauen nüchternen Straßen von Limehouse. Die gelbschmutzigen, eintönigen Häuserreihen mit ihren dichtverhängten Fenstern, den langen, finsteren und feuchten Gängen starrten ihr trostlos entgegen.

Während des Tages schien alles hier tot und ausgestorben. Erst gegen Abend erwachte das Leben wieder – wie in einem Wald zur Dämmerung. Dann schlichen sich, wie Tiere des Waldes, die filzbeschuhten Söhne Chinas hervor, lautlos wie Schatten, vornübergeneigte Gestalten, die Hände frierend in den weiten Jackenärmeln verborgen, und gingen auf Jagd: nach einer Tasse Tee oder einer Pfeife Opium, nach etwas Eßbarem oder nach einem Mädchen …

In solcher Dämmerstunde konnte sich immerhin noch ein Hauch von Romantik über die engen, schmutzigen Gassen von Limehouse breiten. Aber jetzt, im grellen Licht des Tages, war alles nur unschön und grau, armselig, schmutzig und nüchtern …

Und doch wurde Elena plötzlich von einem Gefühl des Grauens überfallen. Sie wußte nicht warum, aber es war so. Wenn es nicht wegen des Besuches bei Wing Foo gewesen wäre, hätte sie einfach dem Chauffeur befohlen, umzukehren und nach Hause zu fahren. Aber so schämte sie sich, ihre zwei gelben Freunde im Stich zu lassen.

Übrigens war der Chauffeur auch ein Gelber. Sie hatte es bemerkt, als sie ihn vorhin nach etwas frug, und es hatte sie so eigentümlich beunruhigt. Natürlich lächerlich! Aber sie wurde das Gefühl nicht los.

Der Wagen fuhr jetzt durch eine außergewöhnlich schmale Gasse; die schmalste, die sie je in jenem Viertel gesehen hatte. Und auch die armseligste. Elena kannte dieses Elend. Manch armes Geschöpf hatte sie hier besucht, um ihm etwas zu essen zu bringen. Andere Hilfe war selten möglich. In diesem Viertel brach man eines Tages hilflos zusammen und blieb liegen, bis der Tod Erlösung brachte.

Plötzlich stoppte der Wagen mitten auf der Straße. Ein Menschenhaufen sperrte die Durchfahrt. Die Leute starrten alle durch ein enges Tor in einen kleinen Hof, in dem irgend etwas Schreckliches passierte.

Der Chauffeur fragte durch das Sprachrohr:

»Wünschen gnädige Frau, daß ich einen anderen Weg suchen soll – oder wollen Sie warten?«

»Was ist das überhaupt für ein Auflauf dort?«

Der Chauffeur hob die Schultern hoch:

»Es ist nur Tai-Ling …«

»Tai-Ling?« Sie warf einen ängstlichen Blick durch das Fenster. Sie fühlte sich unheimlich zumute bei dem Anblick all der häßlichen, farbigen Gesichter und Körper, die sich um das Auto zusammendrängten. »Tai-Ling?« wiederholte sie. »Was ist mit diesem Tai-Ling?«

Der Chauffeur brummte:

»Ach, er spielt nur mit seinem Affen.«

Im selben Augenblick war ein jämmerliches Heulen drinnen im Torgang zu hören, das von einer höhnischen Lachsalve der mitleidlosen Menschen begleitet wurde. Die Leute auf der Straße standen auf den Zehenspitzen, um ja nichts zu versäumen.

Elena öffnete die Wagentür:

»Was ist denn eigentlich los?« fragte sie eine alte Frau.

»Oh, es ist Tai-Ling, das Scheusal, der seinen Affen vorführt«, gab sie unwillig zur Antwort.

»Er tut doch wohl dem Tiere nichts zuleide?«

»Sie können ja selbst sehen«, sagte das Frauenzimmer hämisch. »Übrigens geht Sie das einen Dreck an.«

Wieder hörte man das klägliche Geheul, dann einen Schmerzensschrei und zuletzt ein fast menschenähnliches Wimmern.

»Noch einmal, noch einmal!« schrie die Menge durcheinander. »Das macht Spaß!!«

Elena durchlief es kalt und heiß. So ein Lump, der nichts anderes weiß als ein armes Tier zu quälen! Und was für schlechte Menschen: sich noch darüber lustig zu machen!!! …

Empört sprang sie aus dem Auto und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich unmittelbar hinter ihr wieder zusammenschloß.

2.

Wenn es überhaupt etwas gab, diesen Mob in dem Torgang zum Weichen zu bringen, so kann es nur eine elegante Dame sein. Noch dazu, wenn sie jung und hübsch ist! Männer wie Frauen verschlangen sie mit den Augen:

»Da schau nur, was die sich aufbläht …«

»…; und wie sie sich aufgetakelt hat …!«

»So eine Kapitalistenhure!!!«

Elena vernahm das alles hinter sich wie das Tosen einer Brandung. Aber sie spürte doch keine Angst. Sie wußte nur, daß hier etwas Schlechtes, eine Gemeinheit begangen wurde … daß man ein armes, wehrloses Tier mißhandelte und daß sie allein helfen konnte, oder vielmehr wollte. Also war keine Zeit mehr zu verlieren. Den großen Bengel, der sich ihr in den Weg stellen wollte, stieß sie einfach beiseite.

Im nächsten Augenblick befand sich Elena Aug in Aug mit Tai-Ling und seinem Affen. Es war unwillkürlich ein leerer Raum um sie entstanden. Die Menge war begierig, zu sehen, was sie sich wohl noch trauen würde … wie weit ihre Frechheit ging! Kein einziger hatte in diesem Augenblick noch einen Gedanken für das Tier übrig, außer Elena und Tai-Ling, der in Fetzen und offenbar betrunken dastand und sie aus einem entsetzlich entstellten nasen- und ohrenlosen Gesicht, mit leeren wasserblauen Augen, anglotzte.

Der Affe, den er momentan losgelassen hatte, verbarg sich mit leisem, gedämpftem Wimmern hinter ihrem Rock. Es war ein äußerst schäbiges und hageres, eingeschüchtertes Äffchen, das mit seinem menschenähnlichen Gesicht zu dem Seil hinüberschielte, das in Manneshöhe unter dem Gewölbe befestigt war und auf dem es hatte auf und ab klettern müssen, bis es so ermüdet war, daß es nicht mehr länger konnte. Aber das war eben der Moment, wo das Schauspiel erst interessant wurde für die andern. Tai-Ling nämlich hatte mit seinem Taschenmesser das Tier in die Höhe getrieben, immer und immer wieder … Die Steinplatten innen in dem Torbogen legten Zeugnis davon ab … sie waren blutüberspritzt, und das Tier war voller Wunden und Narben früherer Mißhandlungen.

Elena hatte es kurz entschlossen auf den Arm genommen und hielt es an sich gepreßt.

»Wie können Sie das arme Tier in dieser Weise quälen?« fuhr sie ihn an.

»Quälen?« Er zwang sich zu einem blöden Lächeln.

»Sie peinigen das Tier ja in unmenschlicher Weise!«

»Ich habe es nicht gepeinigt, ich habe nur mit ihm gespielt!«

Er schien zunächst ziemlich benommen und ängstlich: diese weißen Frauen, die so plötzlich hier auftauchen, um Wohltätigkeit zu üben … man konnte nie wissen, was noch an Bösem in ihrer Gefolgschaft nachkommen konnte! …

Aber die Haltung der Masse gab ihm Mut:

»Ich möchte wissen, was Sie mein Affe angeht!«

»Laß sie zuschauen!« grölte eine rohe Stimme aus der Menge.

»Nimm ihr das Tier und laß ihn noch einmal das Messer spüren!«

Tai-Ling lachte lallend auf, aber er schielte doch immer noch zaghaft nach ihr hinüber. Dann drehte er sich plötzlich um und rief dem Affen zu:

»Da geh her, du faules Luder! oder ich werde dir Beine machen!«

Er riß das Tier brutal aus Elenas Arm. Seine rot geschwollenen Augen flammten Haß und Grausamkeit.

Der Affe klagte angstvoll. Es klang, wie wenn ein kleines Kind weinte. Er machte einige unsichere Schritte an dem Seil und versuchte hinaufzuklettern. Aber er stürzte wieder herunter und direkt auf die Messerschneide. Er schrie vor Schmerz und sah Elena bittend und vorwurfsvoll an. Dann mußte er seinen Leidensweg, am ganzen Körper zitternd, von vorn beginnen.

Die Menge schrie und johlte wie ein Horde Wilder. Diesen Moment nützte Elena geschwind aus, um mit Aufbietung aller ihrer Kräfte die Menschenmauer zu durchbrechen und wieder zu dem Tiere zu gelangen. Mit einem raschen Griff riß sie die Schnur an sich und brachte den Affen in Sicherheit, den sie beschützend an sich hielt, während sie mit aller Kraft Tai-Ling einen Tritt gab, so daß ihm das Messer klirrend aus der Hand flog.

Jetzt kam Unruhe in den Haufen, der vom Eingang her nach innen drängte. Ein paar beherzte Männer halfen Tai-Ling wieder auf die Beine und hetzten ihn unter wütendem Johlen wieder auf die »feine Dame«.

»Dann soll sie klettern!« schrien sie roh.

»Auf das Seil mit ihr!« hohnlachten andere.

Elena wich rückwärts gehend in den Hof, Tai-Ling ihr nach. Seine wässerigen Augen waren blutunterlaufen, und das Messer, das er, ohne der Fußtritte zu achten, wieder unter den stampfenden Beinen herausgeklaubt hatte, blitzte in seiner Hand.

»Auf sie! auf sie!« schrien die Unmenschen. »Laßt sie klettern.«

Auch die Bewohner des Hinterhauses waren mittlerweile aus ihren Löchern herausgekrochen und versperrten grölend und schimpfend den Zugang zur Treppe. Ein paar Kerle stießen sie wieder Tai-Ling entgegen. Sie heulten vor Lachen, als sie ihre Angst sahen.

»Gib ihr zuerst einen Kuß, Tai-Ling!« brüllte der Haufen, »sonst flennt sie. Du mußt sie trösten, Tai … Mach sie glücklich …«

Elena hielt den Affen immer noch fest an sich gedrückt und versuchte, die tobende Menge zu beschwichtigen.

Ob sie denn nicht zugeben wollten, daß es eine Schande sei, ein armes Tier so zu quälen?

Und in einem Augenblick tiefster Ergriffenheit hielt sie den kleinen Affen mitten in einem plötzlich einbrechenden Sonnenstrahl hoch, so daß sein kleines ängstliches Gesicht mit den hübschen feuchten Augen und sein armseliges, mageres Körperchen allen sichtbar wurde.

Aber alles grölte nur um so ärger:

»Was geht er dich an!«

»Gehört der Affe vielleicht dir?«

»Kümmere dich um deine eigenen Sachen!«

Sie war nahe daran, ohnmächtig zu werden, aus Angst und Müdigkeit, Zorn und Hoffnungslosigkeit. Im gleichen Augenblick riß ihr Tai-Ling den Affen mit solcher Gewalt aus der Hand, daß sie strauchelte und nach hinten in die Arme eines Mannes fiel, der sie brutal wieder nach vorne stieß. Alles bog sich vor Lachen, man fing an, sie hin und her zu werfen. Es war ganz aussichtslos für sie, sich zur Wehr zu setzen; sie war wie ein Ball in ihren Händen. Man schnappte ihr die Tasche weg, man zerrte und zerriß ihr die Kleider. Einer wollte sie zu Boden werfen, ein anderer sie umarmen, ein dritter drängte sie gegen das Seil und verlangte, sie solle hinaufklettern.

Wie ein grauenvoller Traum lastete diese Orgie von Roheit und Haß auf ihr, der alle die ekelhaften, farbigen Grimassen entstellte, die Mäuler in Kloaken, die Hände in Krallen verwandelte. Einem war es endlich gelungen, sie zu dem Seil hinzuschleppen: eine Sekunde lang entstand eine erwartungsvolle Stille, dann brach der Sturm von neuem los … um sich aber plötzlich und unerwartet wieder zu legen.

Elena schloß die Augen und murmelte in Gedanken ein kindliches Gebet. Sie war auf das Schlimmste gefaßt.

Doch plötzlich ließen die vielen Hände von ihr los, so daß sie fast das Gleichgewicht verlor.

Noch traute sie sich nicht, die Augen zu öffnen. Aber sie hörte deutlich, wie die Menge vor jemand auswich, Platz machte, zuerst stumm, dann mit unterwürfigem Gemurmel!

Jetzt öffnete sie die Augen – langsam!

Ja, die Menge hatte von ihr abgelassen, und niemand hielt sie mehr fest. Sie sah lauter gesenkte Köpfe, gekreuzte Arme und gebeugte Rücken. Und plötzlich sah sie, wie durch einen leichten Nebel, einen hohen, schlanken, europäisch gekleideten Herrn – sah, wie er sich näherte … jetzt war er dicht an sie herangekommen … und jetzt bot er ihr den Arm!

Sie war sich – mitten in ihrem tiefen Erstaunen – gerade noch bewußt, daß sie vergebens versuchte, aufzustehen und ihm die Hand zu geben, aber daß ihr sowohl das eine wie das andere unmöglich war – und daß er sie deswegen in seine Arme nahm, sie durch die Menge hindurch zu ihrem Auto trug … Dann verlor sie die Besinnung …

Sie kam erst wieder zu sich, als sie bereits die Fleet Street erreicht hatten. Sie fühlte sich wieder belebt, und zugleich strömten die verschiedensten Gedanken auf sie ein. Sie wurde sich bewußt, daß sie mit knapper Not dem Tod entronnen – einem qualvollen Tode entgangen war. Die Erinnerung daran ließ sie zusammenschauern und in Tränen ausbrechen.

»Es war höchste Zeit, daß Ihr Chauffeur mich herbeiholte«, hörte sie den Herrn sagen.

Sie hatte ihn fast vergessen. Jetzt schämte sie sich darüber. Aber sie weinte trotzdem nicht weniger heftig. Es brachte ihr psychisch wie physisch Erleichterung. Sie fühlte sich wie neugeboren und reichte ihm dankbar lächelnd die Hand:

»Ich danke Ihnen«, schluchzte sie. Sie war vom Weinen so benommen, daß sie ihm die Hand einige Minuten überließ, bis sie es merkte und sie mit einem verlegenen Lächeln zurückzog. Dann trocknete sie ihre Augen und streckte ihm aufs neue die Hand hin, um ihm noch einmal zu danken.

Aber Worte und Lächeln erstarben auf ihren Lippen, als sie in ihrem Retter denselben Mann erkannte, der sie eine Zeitlang verfolgt hatte! Er war es und kein anderer!

3.

Billy war ganz außer sich, als er hörte, was vorgefallen war. Er kam soeben nach Haus, als der Fremde mit Unterstützung von Rice und Jane seine Frau mit größter Sorgfalt durch den Vorgarten in das Haus geleitete. Er wollte unter keinen Umständen zugeben, daß Li-Chang – so nannte sich der Retter – sie verlassen sollte, bevor er ihm nicht in aller Form seinen Dank ausgesprochen hatte.

»Ohne Ihre Hilfe wäre sie ja von dem entsetzlichen Pack in Stücke gerissen worden«, wiederholte er immer wieder. »Aber ich habe sie oft genug gewarnt, sich in dieses gefährliche Viertel zu wagen.«

Dem Chauffeur hatte er auch einen ordentlichen Rüffel erteilt, den dieser aber mit morgenländischer Ruhe über sich ergehen ließ.

»Ich tat, was ich konnte«, behauptete er. »Ich riet der gnädigen Frau davon ab, auszusteigen, aber sie wollte nicht hören. Und es war mir vollkommen unmöglich, ihr in den Durchgang zu folgen … Ganz zufällig entdeckte ich dann diesen Herrn« – er verbeugte sich tief vor Li-Chang – »und bat ihn, sich ihrer anzunehmen.«

»Ja, es war wirklich nur einem Zufalle zu verdanken, daß ich mich gerade in dem Viertel befand«, erklärte Li-Chang. »Ich wollte einige Antiquitäten aufstöbern, die in der Gegend zu haben sein sollen.«

»Dann muß ich Gott für diesen Zufall besonders danken!« Bill wußte kaum, wie er seinem Danke Ausdruck geben sollte. »Und ich sehe ein,« wandte er sich an den Chauffeur, »daß die Schuld nicht Ihnen zuzuschreiben ist.«

Der Chauffeur entfernte sich, nachdem er ein schönes Trinkgeld erhalten hatte.

»Aber du, mein liebes Kind.« Er kniete impulsiv vor dem Stuhle nieder, in welchen Elena gesetzt worden war. »Wie siehst du aus! … Wie haben dich die Tiere zugerichtet, Liebling!«

Jane hatte sich mittlerweile Elenas angenommen und wollte sie überreden, ins Bett zu gehen, aber sie schlug es kurzerhand ab:

»Ich fürchte mich, allein zu sein,« gestand sie, »dann taucht alles wieder vor mir auf. Übrigens geht es mir auch schon besser.«

Billy hatte ihr überall Kissen untergeschoben, um es ihr bequem zu machen, und im Kamin loderte ein freundliches Feuer, so daß sie es auch warm hatte. Jane wusch liebevoll die vielen Kratzer und Wunden aus und verband ihr die Hände. Billy kniete immer noch vor Elena und bedeckte sie mit seinen Küssen.

»Aber Billy, das geht doch nicht!« Sie warf dabei einen Blick auf ihren Gast.

Billy erhob sich.

Li-Chang hatte mit löblicher Diskretion begonnen, den Wandschmuck zu studieren. Er wandte sich lächelnd um, als Billy die Hand auf seine Schulter legte.

»Was ist, Mr. French?«

»Ich weiß gar nicht …« Bills Stimme zitterte vor Erregung …

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken kann.«

Li-Chang lächelte wieder, aber diesmal war es ein feines, wehmütiges Lächeln:

»Am besten dadurch, daß Sie weder daran denken, noch davon sprechen! Ich habe ja nichts anderes getan, als was ein jeder an meiner Stelle auch getan hätte …«

»Na, das weiß ich doch nicht! Sich in einen solchen Menschenhaufen hineinzuwagen, ist wirklich …!«

»…; für mich ganz ohne Gefahr«, versicherte der andere. »Das ganze gelbe Limehouse kennt mich ja und … und hat den nötigen Respekt vor mir. Und außerdem wissen die Abendländer gar nicht, welchen ungeheuren Einfluß die Lehren des Konfuzius auf unser alltägliches Leben ausüben.«

Einen Augenblick war es, als ob ein Funke aus seinen schiefen Augen sprühte.

Billy drückte ihm herzlich die Hand.

»Sie sind ein Gentleman durch und durch! Sie betrachteten vorhin so angelegentlich meine Bilder?«

»Ja, Sie haben ein schönes Heim«, nickte Li-Chang.

»Interessieren Sie sich für Kunst? … Aber natürlich, das müssen Sie ja tun, da Sie vorhin auf der Jagd nach Antiquitäten waren!«

Elena lauschte mit größter Spannung der Konversation. Dieser Mann erregte natürlicherweise in ungewöhnlichem Grade ihre Aufmerksamkeit. Denn sie war nun vollkommen davon überzeugt, daß er derselbe war, der sie vor einigen Wochen wie ein Schatten überallhin verfolgte. Auf der andern Seite schien er gar nichts mit jener Kategorie von Männern gemein zu haben, die fremden Damen auf der Straße nachlaufen. Im Gegenteil! Es lag über seinen Bewegungen wie über seinen Worten und seinem Lächeln eine reservierte, wenn auch sympathische Würde. Warum aber hatte er sie verfolgt? Und welchem Umstande hatte sie den sehr merkwürdigen Zufall zu verdanken, daß er auch heute in ihrer Nähe gewesen war! Ja, so unmittelbar nahe, daß er sie aus dieser gefährlichen Situation retten konnte. Sie wußte nicht warum, aber sie glaubte nicht an seine Erklärung mit den Antiquitäten. Aber vielleicht konnte sie jetzt etwas Aufklärendes erfahren.

Li-Chang stand versunken in der Betrachtung eines alten holländischen Stiches:

»Ich liebe die Kunst«, sagte er. »Ich bin Kunsthistoriker und bin seinerzeit im Auftrage meiner Regierung viel herumgereist, um für sie Einkäufe zu machen. Wir Chinesen sind fast alle eifrige Sammler, übrigens meist von europäischen Sachen«, lächelte er sarkastisch. »Und diese sind nicht immer gleich geschmackvoll. Ich kann Ihnen jedoch die beruhigende Erklärung geben, daß ich immer nach Möglichkeit den größten Kitsch unter den sogenannten Altertümern vermieden habe, die sich bei den reichen Leuten in China besonderer Beliebtheit erfreuen.«

Billy überlegte einen Augenblick, sandte seiner Frau einen sondierenden Blick zu und wandte sich dann wieder Li-Chang zu:

»Haben Sie vielleicht Lust, meine neueste Arbeit zu sehen? … ich mache Sie aber ausdrücklich darauf aufmerksam, daß ich Ihnen damit …« – er lächelte etwas einlenkend … – »eine ganz besondere Auszeichnung erweise. Niemand hat sie in ihrem gegenwärtigen Stadium gesehen. Nicht einmal meine Frau!« Er lächelte Elena zu: »Du darfst natürlich auch dabei sein, Elena!«

Li-Chang verbeugte sich geschmeichelt:

»Es wird mir eine große Ehre sein«, sagte er ernst.

Billy stand schon an der Flügeltüre zum Atelier. Er schob sie beiseite mit einem höflichen: »Bitte schön!« und ließ seinem Gast den Vortritt. Dann bot er Elena, die die Statue in den letzten Tagen nicht mehr gesehen hatte, den Arm und führte sie bis zur Türöffnung, wo sie beide stehenblieben. Li-Chang war schon eingetreten.

»Na, was sagst du dazu?« fragte er Elena mit beinahe kindlicher Erwartung.

Sie stand einige Sekunden sprachlos, dann lehnte sie sich, ohne ihn anzublicken, in einer zarten und zugleich ehrfürchtigen Liebkosung an seine Brust. Sagte aber immer noch nichts.

In der späten Dämmerstunde stand seine nur halb vollendete Statue »Das Glück« vor ihnen, mitten in dem großen Atelier. Ein junges, nacktes Weib, jungfräulich leuchtend, von eigenartiger zarter Anmut, wie auf einem Felsblock weit draußen am Meer ruhend. Allein, tausend Meilen vom Land entfernt, von schäumenden, gierig verlangenden Wellen beleckt, von Winden umbraust und von den Stürmen eines wildzerrissenen Himmels bedroht, den man zwar nicht sah, aber instinktiv fühlte.

Und alle stritten sich um ihren Besitz:

Die Wellen wollten sie in ihre grüne Tiefe hinunterziehen!

Die Stürme sie mit ihrer brutalen Verfolgung zu Tode hetzen!

Das Gewitter sie mit seinen Blitzen peitschen!

Die Einsamkeit sie toll vor Angst machen!

Und trotzdem saß sie unberührt da, mit gefalteten Händen, mit einem Lächeln um den Mund. Und wenn sie bat, war es, um für ihr Glück zu danken. Wenn sie lächelte, lag darin ein Übermaß von abgeklärter Freude. Wenn sie weinte, geschah es aus dem Gefühl unendlichen dankbaren Jubels.

Die Welt konnte zusammenstürzen und die Elemente sich gegen sie verschwören, der Tod konnte seine knöcherne Hand nach ihr ausstrecken … Das alles berührte sie nicht, sie fürchtete nichts, sie glaubte nichts von alledem, was die Menschen sich sonst unter diesen Dingen vorstellen.

Nur eines wußte sie, sie war über alle Maßen glücklich …!!

»O Billy!« Elena brach plötzlich in Weinen aus. »Wie wunderschön ist das! …«

»Ja, findest du?« Auch seine Augen waren feucht geworden. »Ich bin auch selbst ganz zufrieden damit« – er räusperte sich gerührt –, »und außerdem finde ich, daß es einmal eine Symbolik ist, die wirklich zutrifft. Denn so ist das Glück tatsächlich: wenn sich auch alles dagegen verbündet, es bleibt doch unbehelligt davon. Es ist unverwundbar – aus Glück!«

Sie schwiegen einige Minuten. Auch Li-Chang war stumm, aber seine Augen strahlten.

»Und wenn man dann daran denkt, daß ausgerechnet Strefford mir die Idee dazu eingegeben hat!« lachte Billy. »Strefford ist mein Rechtsanwalt«, erklärte er Li-Chang, der aber, ganz von der Statue erfüllt, nur in Gedanken verloren nickte. »Aber du warst es, Liebste,« flüsterte er, »die mir das Vorbild dazu gegeben hat. Was wäre aus dem Ganzen geworden ohne dich!«

Und Elena nickte ihm zu. Es lag ein beinahe seliges Lächeln um ihren Mund. Denn diese Statue schien ihr wie eine einzige große Liebkosung von ihm. Mit der Behutsamkeit und Kraft eines Geliebten hatte er ihre zierlichen schlanken Glieder geformt … den Ausdruck ihrer Hände, den Fall ihrer Haare! Und welche Anmut hatte er in ihre Züge gelegt! welche Feinheit, wieviel Seele und vollendete klassische Ruhe! … Sie hatten sich alle drei der Statue genähert. Billy erklärte mit großer Lebhaftigkeit: So und so hätte er sich das Ganze gedacht! ob sie nicht auch der Meinung wären, daß ihm die Wellen auf dem Sockel gut gelungen seien? Ob sie bemerkt hätten, daß er auch in sie eine gewisse Symbolik hineingelegt habe? Ob sie sähen, daß es sich nicht nur um gewöhnliche Wellen handelte, sondern daß sie gierig und begehrlich, haßerfüllt und taumelnd nach ihr griffen, wie Menschenhände nach allem Großem und Erhabenem zu greifen pflegen?

Li-Chang nickte sichtlich bewegt. Aber Elena warf sich wieder an seine Brust:

»Ich finde, daß sie herrlich ist!« brach sie begeistert aus.

Ein Klopfen an der Türe unterbrach sie. Es war Jane mit einem prachtvollen Blumenstrauß in einem mächtigen Korb.

Elena klatschte in die Hände:

»Aber wie wundervoll! sind sie wieder für Herrn French«, sie sandte Billy einen schelmischen Blick, »oder für mich?«

Jane knickste:

»Für die gnädige Frau« und reichte Elena eine Visitenkarte.

*

Li-Chang warf der Statue einen letzten Blick zu und trat dann leise in den Salon hinaus. Obwohl es schon Anfang Juni war, mit blauem Himmel und Sonnenschein, war es doch verhältnismäßig kalt, weshalb auch ein freundliches Feuer im Kamin brannte. Aber trotzdem fror er, wie er immer zu frieren pflegte hier in diesem nördlichen Lande, wo alles kalt und das ganze Leben so farblos war. Er mußte manchmal über sich selbst lachen – aber wie oft hatte er sich nicht in einer solchen Stunde zurückgesehnt in die warmen, prächtigen Seidengewänder der Kindheit, die mit schweren, goldenen Stickereien besetzt waren … in jene farbenfreudigen Kunstwerke, die noch über drei bis vier dicken Mänteln getragen wurden und die wie jene aus purer Seide und mit Eiderdaunen wattiert waren! Das waren noch Kleidungsstücke, die wirkliche Wärme spendeten! Im Winter hatte er über den Seidenrock noch eine etwas kürzere und an den Handgelenken verbrämte Pelzjacke gezogen, die ebenfalls mit mandschurischen Daunen gefüttert war … Auf dem Kopf die Pelzmütze, ein kleines spitzes Ding, dessen Knöpfe aus Juwelen bestanden, wie überhaupt seine ganze kleine Person mit Perlen und Smaragden behängt gewesen war. Sogar auf den dicken, wattierten Schuhen saßen wertvolle Edelsteine …

Sun-Ling-Chang lächelte – in schmerzlicher, hoffnungsloser Sehnsucht!

Er haßte diese Länder der Ungläubigen mit ihrem ständigen Regen und Nebel und ihren kalten Wohnungen. Es schrie in ihm nach Farben und Wärme! Wie schön war nicht der Winter im Palast seines Vaters, des mächtigen Mandarins, gewesen, wo in den geschnitzten Nischen die Wachskerzen brannten, heiß und duftend, wie sie es seit Generationen getan hatten – und wo die Erinnerungstafeln seiner Ahnen hingen. Oh, diese Winter dort!! Über hundert Kerzen brannten manchmal in einem einzigen Zimmer und verbreiteten köstlichen Duft in allen Ecken und Winkeln.

O goldene Kinderzeit!!!!

Wie an ein unsagbar schönes und zugleich fernes Märchen erinnerte er sich an das alles. Man hatte ihn vergöttert und vor jeder Gefahr behütet und beschützt. Trotzdem hatte er seine Freiheit genießen können und durfte mit anderen Kindern spielen und sie mit parfümierten Zuckerblumen und anderen Schleckereien vollpfropfen. Er hatte sich mit ihnen gefreut, mit ihnen gegessen und gelacht. Aber im Innern des Palastes war er wie ein kleiner König behandelt worden. Da spielte er weder Federball noch ließ er Drachen steigen, wie er es draußen mit den Knaben tat. Da war er der Sohn des Herrschers, der Popanz der Dienerschaft. Aber auch da gab es manchmal zu lachen.

Ja, damals war Zeit gewesen zum Spielen und zum Lernen!

Schon mit zehn Jahren hatte er sich zu der nationalen Prüfung melden können, wozu man das uralte Ritualbuch auswendig wissen, Verse machen und die Geschichte des chinesischen Volkes kennen mußte. Auch die chinesischen Schriftzeichen hatte er bereits malen können und war ein für sein Alter ebenso gewandter Boxer und Fechter wie angehender Schachspieler gewesen!

Wie gering schienen ihm dagegen die Kenntnisse, über welche die Kinder der Abendländer in solchem Alter verfügen! Selbst in den besten Familien. Er verachtete sie, ebenso wie ihre Eltern, diese weißen Hunde. Aber nie ließ er sich das merken. Nie, daß er ein Wort darüber äußerte. Er war ein Meister in der Kunst der Beherrschung. Er hatte eine ernste Mission vor sich, der er sich schon jahrelang widmete und deren Abschluß nicht in Frage gestellt werden durfte. Aber die Zeit war noch nicht reif. Deswegen trug er immer ein Lächeln und würdigen Gleichmut zur Schau, lernte, was er lernen konnte – und ließ im übrigen die anderen in dem Glauben, daß er ein liebenswürdiger und harmloser Mensch sei …

Elena hatte den Umschlag geöffnet und ihm die Visitenkarte entnommen. »Sun-Ling-Chang!« stand darauf.

Sie blickte von der Karte zu den Blumen und von den Blumen wieder zur Karte zurück. Warf dann einen Blick zu ihrem Gaste hinüber. Was sollte sie tun? Sie traute ihm nicht – im Gegenteil, sie hegte ein starkes Vorurteil gegen ihn. Auf der anderen Seite hatte sie ja allen Grund, ihm dankbar zu sein. Es wäre wohl eine Beleidigung, die Annahme der Blumen zu verweigern. Und doch …!

Sie reichte Billy die Karte.

»Aber lieber Mr. Chang!« Billy sah ihn erstaunt an. »Sie überschütten uns ja geradezu mit Ihren Freundlichkeiten.«

»Ja, es ist wirklich zuviel«, pflichtete Elena bei.

Li-Chang wehrte lächelnd ab:

»Es soll nur ein geringes Zeichen meines Dankes sein für das Glück, daß Ihre Frau Gemahlin sich meine Hilfe gefallen ließ.«

»Sie reden weiß Gott wie in einem französischen Konversationsstück«, lachte Billy hell auf. »Es wird ja noch soweit kommen, daß Sie uns danken müssen, weil wir Ihnen überhaupt Gelegenheit gegeben haben, meine Frau retten und ihr Blumen schenken zu dürfen! … Oder können Sie sich dabei vielleicht auch wieder auf Ihren Konfuzius berufen …?«

»Ja, er hat für alles eine Antwort,« lächelte Li-Chang, »und er ist immer er selbst, wie nur die am höchsten Stehenden – und die am tiefsten Gefallenen …!«

Elena hatte sich über die Blumen gebeugt. Sie liebte Blumen über alles. Es waren Orchideen, duftlos, aber von einer seltsamen Schönheit. Sie nickte Li-Chang lächelnd zu:

»Eines verstehe ich aber nicht«, sagte sie und hielt die Blumen an sich gepreßt.

»Und Sie glauben, gnädige Frau, daß ich es Ihnen erklären könnte?«

»Sie und kein anderer, ja! … Es ist mir nämlich unverständlich, wann Sie Zeit gehabt haben, diese Blumen zu bestellen … Sie trugen mich doch vorhin direkt zum Wagen, ohne sich einen Augenblick aufzuhalten. Da war keine Minute Zeit, um jemand darnach wegzuschicken. Und von hier aus haben Sie doch auch nicht telephoniert.«

Billy sah Elena mit wachsendem Erstaunen an:

»Aber Elena, du …«

Li-Chang zeigte sein stereotypes Lächeln.

»Trotz allem habe ich aber eben doch Zeit gefunden, einen meiner Leute zu beauftragen. Wie ich schon vorhin Ihrem Herrn Gemahl sagte. Ich betrachte es als keine Heldentat, daß ich Ihnen zu Hilfe geeilt bin. Ich kenne diese Leute alle, und sie gehorchen mir. Ohne daß Sie deswegen zu fürchten brauchen, daß ich ein Räuberhauptmann oder politischer Konspirateur wäre«, fügte er heiter hinzu. »Aber wir Gelben sind ja doch gewissermaßen ein Staat im Staate – trotz allem!«

Elena senkte den Kopf. Er hatte ihr Mißtrauen nicht zerstreut. Aber …

»Ja, dann bleibt mir nichts übrig, als Ihnen eben noch einmal zu danken, Mr. Li-Chang, auch hierfür!« Und sie hob den großen Strauß ganz aus dem Korb heraus – und schrie zugleich leicht auf.

4.

Die zwei Herren, die wieder nach dem Atelier zugeschlendert waren, drehten sich überrascht um. Billy ein wenig erschrocken, Li-Chang mit erwartungsvollem Ausdruck in seinem halbhundertjährigen Gesicht. Aber schon kam von Elena her ein kurzes befreiendes Auflachen.

»Nein, wie ist er doch lieb!« Und sie zog einen kleinen Affen aus dem Körbchen, der ganz unter den Blumen verborgen gewesen war, festlich geschmückt mit einem putzigen Kleidchen.

»Ja, es ist derselbe, für den Sie vor einigen Stunden Ihr Leben und Ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt haben«, schmunzelte der Chinese. »Ich ließ ihn durch den Mann mit den Blumen seinem Besitzer abkaufen.«

Elena ließ das Tierchen los:

»Ich glaube trotzdem …« begann sie und wollte soeben Korb wie Blumen Li-Chang wieder zuschieben – als im gleichen Augenblick der Affe ängstlich und in liebevoller Zärtlichkeit seine mageren Ärmchen um ihren Hals legte und ihr mit dem rauhen Pfötchen bittend über die Wangen strich. Gut also: sie wollte ihn nicht verstoßen! Und mit impulsiver Zärtlichkeit drückte sie ihn an sich.

»Ich will ihn behalten, und ich danke Ihnen«, nickte sie, ohne Li-Chang anzublicken. »Ich werde ihn Monkey nennen. Das ist leicht zu merken! … Wie melancholisch er aussieht, der arme Kleine! Aber jetzt soll es ihm um so besser gehen!«

Sie sprach ihm zu und streichelte ihn wie ein kleines Kind. Rice hatte mittlerweile Whisky und Soda gebracht. Billy bot Li-Chang eine Zigarette an:

»Wir dürfen Sie doch zum Essen dabehalten?«

»Wenn ich nicht störe«, bedankte sich Li-Chang.

»Niemand könnte uns willkommener sein als Sie«, versicherte Billy und schüttelte ihm die Hand. Li-Chang verbeugte sich. Elena betrachtete ihn verstohlen. Er hatte kalte, abgemessene Bewegungen, die aber von einer gewissen natürlichen Schönheit und Harmonie waren, und obwohl er im Anfang der Fünfziger stand, sah er weit jünger aus, war schlank und geschmeidig und von straffer Haltung.

Sie wollte zusammen mit Jane, die Monkey auch sofort ins Herz geschlossen hatte, eine Schlafstelle für das Tierchen aussuchen und entfernte sich daher mit einer lächelnden Entschuldigung gegen die beiden Herren. Billy machte überall Licht, um seinem Gast sein Heim zu zeigen … Als sie aufs neue das Atelier passierten, zu dem die Tür noch offen war, stand Li-Chang still. Der Mond warf auf die Statue einen leichten Schimmer, der den Sockel im Schatten ließ, die junge weibliche Gestalt dagegen um so deutlicher und verlockender hervorhob.

»Sie ist wunderschön!« brach Li-Chang aus, voll echter Begeisterung.

Billy lächelte glücklich in sich hinein, während seine Augen sein Werk liebkosend umfingen. Es entging ihm deswegen ganz, daß sich in dem Gesicht seines Gastes eine Wandlung von ehrlicher Bewunderung bis zu kalter geschäftsmäßiger Nüchternheit abspielte. Es wunderte ihn zwar, daß Li-Chang – jetzt ebenso wie vorhin – ein besonderes Interesse für den Sockel zu haben schien, aber er maß dem keine größere Bedeutung bei. Eine kleine Pause entstand. Dann fragte Li-Chang:

»Sie werden in Paris ausstellen?«

Billy hob die Schulter:

»Ich bin dazu eingeladen, sogar zweimal. Aber ich habe zur Zeit nichts, was ich einschicken könnte.«

»Sie haben nichts?« Li-Chang sah ihn überrascht an; machte dann eine Geste gegen die Statue: »Na, und das?«

»Eine kaum halbfertige Arbeit … Ich habe übrigens hier, was eine Seltenheit bei mir ist – eine Art Duplikat davon stehen.« Er ging zurück in den hinteren Teil des Ateliers und deckte eine Lehmfigur auf, die dort stand. »Ich brachte es nicht über mein Herz, sie zu zerstören, obwohl sie mich nicht befriedigte … Wie Sie sehen, ist die Sockelpartie hier etwas mehr ausgearbeitet als bei der anderen.«

»Aber die andere ist weit schöner,« behauptete Li-Chang, »so schön, daß ich Ihnen im voraus einen Käufer garantieren könnte, und zwar einen, dem die Künstler der ganzen Welt ihre Werke sehr gern überlassen.«

Billy stutzte.

»Und wer wäre das?«

»Wie gesagt: Ein Weltmann im weitesten Sinne des Wortes.«

»Ja, aber wer?«

»Dr. Capon. Der Schriftsteller und Kunstkritiker.«

»Mein einziger wirklicher Feind in Frankreich?!« Billy betrachtete ihn sehr skeptisch. »Warum sollte er sich nicht bekehren lassen? Und wie können Sie vermuten, daß er eine Arbeit von mir kauft, die er nicht einmal gesehen hat?«

Li-Chang lächelte geheimnisvoll: »Ich vermute es nicht, sondern ich weiß es.«

»Ich will nicht gleichgültig oder ungebildet erscheinen«, sagte er. »Ich möchte Dr. Capon selbstverständlich lieber zu meinen Freunden als zu meinen Feinden zählen und würde es außerordentlich schätzen, in seiner Sammlung repräsentiert zu sein. Trotzdem kann diesmal nichts daraus werden. Erstens weil die Statue ja noch nicht vollendet ist, und dann könnte sie selbst für den Fall, daß sie fertig wäre – auch vorerst nicht gegossen werden. Ich sprach schon vor ein paar Tagen mit meinem Gipsarbeiter darüber, er hat eine Reihe von Aufträgen, die seine Zeit mindestens einen Monat in Anspruch nehmen werden.«

»Aber ich kann Ihnen mit einem neuen, erstklassigen Mann aushelfen, einem hervorragend tüchtigen Arbeiter … Es trifft sich wirklich sehr merkwürdig,« Li-Chang lächelte, »der arme Kerl hat mich vor kurzem aufgesucht und mich gebeten, ihm zu irgendeiner Arbeit zu verhelfen. Er ist seit mehreren Monaten arbeitslos. Er könnte sich also vollkommen zu Ihrer Verfügung stellen, wann Sie wollen.«

»Ja, ja, das ist alles ganz schön,« nickte Billy, ein wenig in Verlegenheit gebracht, »aber ich kann mich trotzdem nicht entschließen.«

»Unter keinen Umständen?«

»Nein, unter keinen Umständen!«

»Auch dann nicht, wenn ich Sie beim Wort nähme: wenn ich meinen Konfuzius verleugne und Sie darum bitten würde, gleichsam als Gegendienst für die Hilfe, die ich in der glücklichen Lage war, Ihrer Frau Gemahlin leisten zu können?«

Bill betrachtete ihn äußerst erstaunt.

»Ja, Sie sehen mich an«, lächelte Li-Chang, »und wundern sich darüber, daß ich mich in so hohem Maße für Ihr Werk interessiere. Aber ich habe nun einmal meine Launen oder, um ein vulgäres Wort zu verwenden, auch hier und da einen Vogel! Und momentan ist es der, Ihre Statue in der Pariser Ausstellung zu sehen. Ich finde, daß sie dahingehört und möchte es durchsetzen.«

Billy hob abermals dir Schultern hoch, ein wenig peinlich berührt.

»Es tut mir aufrichtig leid, aber ich … kann Ihnen nicht helfen … Ich bedauere es, aber …«

Es entstand eine kleine Pause.

5.

In diesem Augenblick kam Elena wieder zurück. Sie hatte einen Schal über die Schultern geworfen:

»Jetzt haben wir das Kind zu Bett gebracht,« erzählte sie vergnügt, »willst du nicht auch einmal hineingehen, Bill, um ihm gute Nacht zu sagen?«

»Aber gerne …«, er nickte erleichtert auf, fühlte sich aber gleich darauf wieder gedrückt. Li-Chang war so auffallend schweigsam geworden. Elena blickte erstaunt von dem einen zum andern:

»Über was haben denn die Herren mittlerweile geplaudert? Über Kunst vermutlich?«

»Ja, über Kunst!« Li-Chang nickte und schien wieder aufzuleben. »Ihr ganzes Heim ist ja …«

»Nennen Sie es um Gottes willen nicht ein Museum«, wehrte Billy ab.

»Nein, das nicht, aber eine Pflegestätte der Kunst,« lächelte der Chinese, »Sie haben so viele schöne und alte Sachen hier beisammen, lauter Kunstwerke, die gelebt haben und schon ihre eigene Geschichte besitzen. In meiner Heimat findet man so wenig dergleichen.«

»In Ihren Wohnungen drüben in China – haben Sie nicht auch …?«

»Ja, wir wohnen auch nicht mehr so wie früher, in der Fremde schon gar nicht. Wir sind Europäer geworden!« Es klang wie ein Seufzer.

»Und warum eigentlich?« Sie blickte ihn beinahe teilnahmsvoll an.

»Warum?!«

»Ja, ich meine, warum sind Sie eigentlich von zu Hause weg?«

Li-Chang kräuselte die Lippen:

»Politik! … Ich bin kein Flüchtling … und bin es doch. Aber das führt zu weit. Übrigens, gnädige Frau, ich muß noch etwas mit Ihnen besprechen. Ich möchte Sie bitten, mir behilflich zu sein.«

»Behilflich?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Ja, es handelt sich um die Statue. Er will sie nicht nach Paris schicken, aber ich meine, er soll es tun.«

»Wenn er nun aber nicht will, dann …« Elena machte eine bedauernde Geste.

»Aber das ist ja Unsinn!« Li-Chang sprach äußerlich ganz ruhig, aber hinter seinen Worten verbarg sich eine Aufregung, die ihr nicht entging.

»Ich persönlich bin derselben Meinung«, gestand sie.

»Dann müssen wir ihn eben dazu überreden. Oder richtiger: Sie müssen Ihren Einfluß dahin geltend machen.«

»Das kann ich nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Aber Sie müssen

»Warum muß ich?« Sie sah ihn betroffen an.

»Seines Ruhmes wegen zum Beispiel.«

»Seines Ruhmes? Ich verstehe nicht, warum sein Ruhm gerade Ihnen so am Herzen liegt. Sie kennen ihn doch erst seit wenigen Stunden.« Ihr ganzes Mißtrauen gegen ihn begann aufs neue aufzuleben.

»…; die mir aber vollkommen genügt haben«, lächelte Li-Chang. »Oder sollten Sie sich vielleicht darüber wundern? … Und außerdem habe ich die Statue doch mit eigenen Augen gesehen.«

Elena fixierte ihn scharf:

»Ich weiß, daß es mehr als ungezogen klingt, aber ich muß es trotzdem aussprechen: Ich habe kein Vertrauen zu Ihnen, ich habe keinen Beweis gegen Sie, aber ich bilde mir ein, daß bei der ganzen Sache irgend etwas faul ist … In erster Linie hätte ich meinem Manne sagen müssen, daß Sie derselbe sind, der mich tagein, tagaus bis vor wenigen Wochen verfolgt hat …«

»Aber Sie haben es unterlassen?« lächelte Li-Chang, der seine alte Selbstsicherheit zurückgewonnen hatte.

»Ja, weil ich mich Ihnen einigermaßen dadurch verpflichtet fühlte, daß Sie mir vorhin das Leben gerettet haben.«

»Und jetzt haben Sie dieses Gefühl nicht mehr?«

»Ich bin nicht mehr so ganz sicher!«

»Sei dem wie es sei … aber in dieser Angelegenheit müssen Sie mir helfen.«

Elenas Augen wichen nicht von den seinen:

»Sie müssen sehr schwerwiegende Gründe haben, Mr. Li-Chang, sich persönlich so auffallend dafür einzusetzen.«

»Warum sagen Sie nicht gleich – so zudringlich zu sein?«

»Gut, sagen wir – zudringlich!«

»Vielleicht habe ich tatsächlich solche Gründe,« gestand er halb und halb ein, »aber sie sind auf keinen Fall derart, daß sie Ihnen oder Ihrem Manne Schaden bringen könnten.«

Elena verzog ungläubig die Lippen. Auf einen zufälligen Zuhörer hätte ihr Gespräch nur den Eindruck einer freundschaftlichen Konversation gemacht, obwohl es allmählich den Charakter eines gegenseitigen Geplänkels annahm:

»Ich bin leider nicht davon überzeugt, Mr. Li-Chang, daß Sie die volle Wahrheit sprechen … Für mich steht jedenfalls fest, daß ich Ihnen in der Sache nicht helfen kann.«

Es entstand eine momentane peinliche Pause.

Dann sagte Li-Chang mit derselben Gelassenheit wie vorher:

»Erinnern Sie sich vielleicht an eine Winternacht vor ungefähr einundeinhalb Jahren? – Ende Februar war's?«

»Ja, ich entsinne mich natürlich an verschiedene Winternächte im vergangenen Jahre«, erwiderte sie mit fingierter Überlegenheit, aber großer innerlicher Beklemmung. Wo wollte er damit hinaus?

»Ich meine eine ganz spezielle«, sagte Li-Chang leise. »Sind Sie jetzt vielleicht besser im Bilde?«

Elena schüttelte den Kopf.

»Nein, ich kann mir nicht denken, worauf Sie anspielen.«

»Dann habe ich scheinbar ein besseres Gedächtnis als Sie«, spottete er. »Ich habe auch den Namen behalten … Guy Ashow hieß er …«

Elena schrak zusammen, als ob er sie ins Gesicht geschlagen hätte:

»Was wissen Sie von ihm?« stieß sie atemlos hervor und starrte ihn an, als sei er das personifizierte Entsetzen selbst.

»Ich kann Ihnen einen Gruß von ihm überbringen«, lächelte er in seiner unveränderlichen Ironie.

»Einen Gruß?! Er ist ja doch tot!« Sie war leichenblaß geworden.

»Tot oder nicht!« Li-Chang machte eine geringschätzige Bewegung und lächelte boshaft, »ich darf Ihnen vielleicht eine kleine Geschichte erzählen, die Ihnen wahrscheinlich neu sein wird?«

Elena nickte. Es war ihr unmöglich, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen.

»In der Nacht, von der wir sprechen, kam ein junger Mann – ich werde es vermeiden, seinen Namen zu nennen – nach Limehouse, um sich eine Portion jenes berauschenden Schnees zu ergattern, dessen Genuß Wonne und Vergessenheit bereitet. Er hatte es sich schon früher verschiedentlich aus derselben Quelle verschafft und behauptete, Geld genug zu haben, um es bezahlen zu können. Er sah aber so schäbig und armselig aus, daß der Verkäufer ihm nichts geben wollte, bevor das Geld auf dem Tische lag. Und da stellte sich heraus, daß er keines hatte! … Ein paar Stunden später kam er noch einmal. Jetzt besitze er das Geld, sagte er, und möchte das Entsprechende dafür haben. Aber mein guter Freund, der Kaufmann, hegte immer noch Zweifel – und es zeigte sich abermals, daß Mr. Ashow – na, jetzt ist mir der Name doch entschlüpft – leere Taschen hatte. Weswegen man ihm einfach die Türe wies …«

Li-Chang ließ eine kleine Kunstpause eintreten!

»Der Mensch muß jedoch vollkommen von Sinnen gewesen sein,« fuhr er fort; »denn in dem Augenblick, wo der andere ihm den Rücken kehrte, überfiel er den Händler, und versuchte, ihn niederzuschlagen! … Mein gelber Freund jedoch kam ihm zuvor, und so war es Ashow und nicht er, der zuletzt ins Gras beißen mußte … Man trug ihn in eine andere Straße und vor ein anderes Haus, wo er am nächsten Morgen steifgefroren und mit gebrochenem Genick gefunden wurde. Es hat sich niemals aufgeklärt, wie sich die Sache eigentlich zugetragen hatte. Niemand wußte etwas davon. ›Man‹ weiß ja manchmal erstaunlich wenig – oder merkwürdig viel – dort unten bei den Gelben in Limehouse«, lächelte er diabolisch.

Elena richtete sich unwillkürlich auf. Eigentlich war ja in seiner ganzen Erzählung nichts, was sie persönlich anging … und sie sagte es ihm:

»Und außerdem muß ich hinzufügen, daß ich mich über Ihre Dreistigkeit wundere. Ich habe Guy Ashow zwar gekannt – er hat mir unter anderem einmal ein Engagement bei einem Kabarett verschafft …«

»Im ›Weißen Pferd‹! … Ja, das weiß ich auch.«

»…; aber sonst …! Wir standen einander eigentlich ziemlich fremd gegenüber! … Und nun sitzen Sie hier und verraten mir, daß Sie sich gegen die Gesetze vergangen haben, indem Sie bei seiner Verschleppung beteiligt waren und daß Sie der Polizei falsches Zeugnis abgelegt – oder doch wenigstens nichts dazu getan haben, um die vorhandene falsche Meinung zu berichtigen. Und wenn nicht Sie selbst, so doch zumindesten Ihr Freund … Ich könnte Sie jetzt jeden Augenblick bei der Polizei denunzieren und Ihnen die größten Unannehmlichkeiten bereiten. Ich verstehe daher nicht recht, was Sie mit Ihrer Erzählung wollen.«

»Aber ich bin auch noch gar nicht damit fertig«, beschwichtigte sie Li-Chang lächelnd.

»Noch nicht fertig?«

»Nein! … Als Guy Ashow den ersten Besuch bei meinem Freund machte, hat er ihm nämlich eine äußerst interessante Sache erzählt, über die Sie wohl nicht ununterrichtet sein dürften. Er nannte jedenfalls Ihren Namen, um seiner Erzählung eine feste Unterlage zu geben. – Es war, wie gesagt, eine sehr interessante Geschichte.«

Elena überlegte einen Augenblick. Sie fühlte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Aber ihre Stimme zitterte trotzdem vor verhaltener Energie, als sie erwiderte:

»Was Guy Ashow Ihrem Freund in jener Nacht auch erzählt haben mag, geht allein auf seine eigene Rechnung. Ich wußte überhaupt nichts davon, daß er dem Kokain verfallen war. In solchem Zustande sagt man bekanntlich bedeutend mehr, als man verantworten kann. Auch wird sich Ihr ›Gewährsmann‹ wohl hüten, so ohne weiteres mit seinen Enthüllungen hervorzutreten. Und etwas Geschriebenes hat ihm Guy Ashow wohl sicherlich nicht hinterlassen.«

Ihr Ton war zuletzt spitz und höhnisch geworden.

»Selbstverständlich nicht!« Es lag eine beunruhigende Schwüle in der Art und Weise, wie Li-Chang diese Worte aussprach, die ihr Angst einflößte.

»Dann können wir ja wohl unsere Aussprache als beendet betrachten.« Sie wollte sich erheben, aber er hielt sie zurück.

»Nur noch einen Augenblick.« Er zog sein Portefeuille aus der Tasche. »Ich habe hier noch etwas, was Sie am Ende doch interessieren könnte. Aber ganz gleich, was Sie auch davon meinen werden, in meinen Augen ist es jedenfalls ein Beweisstück von größter Wichtigkeit.« Er reichte ihr einen zerknitterten, über und über beschmutzten Brief, dem man ansah, daß er länger in Regen oder Schnee gelegen hatte. »Man fand ihn in Guy Ashows Tasche, als er weggetragen wurde.«

Elenas Hände zitterten, als sie den Umschlag öffnete.

»Du lieber Gott!« Sie starrte einen Augenblick vor sich hin und rang schwer nach Atem. »Der Brief, mein Brief!«

6.

Li-Chang nahm den Brief sofort wieder an sich, sowie sie ihn gelesen hatte:

»Es freut mich, zu sehen, daß sich nun auch bei Ihnen die Erinnerung wieder eingestellt hat,« spottete er, »und ich schöpfe daraus die Hoffnung, daß wir uns nun besser verstehen werden.«

Elena gab keine Antwort. Sie schien wie vom Blitz gerührt. Sie saß mit geschlossenen Augen und bleichem Gesicht regungslos da. Aber ihr Gehirn arbeitete fieberhaft, um einen Ausweg zu finden. Was konnte sie tun? Welche Taktik sollte sie anwenden? Und hatte es überhaupt einen Zweck, den Kampf fortzusetzen? Nach und nach bekam sie wieder Gewalt über sich:

»Uns verstehen?« wiederholte sie.

»Ja, in erster Linie in bezug auf die Statue.«

»Und was wollen Sie eigentlich damit? Welchen Zweck verfolgen Sie damit, daß …«

Er unterbrach sie lächelnd:

»Welchen Zweck? Na, ich erlaube mir eben – wie ich vorhin schon Ihrem Manne gesagt habe – manchmal meine Launen zu haben. Und ich habe mir jetzt in den Kopf gesetzt, diese Statue auf die Internationale Kunstausstellung nach Paris zu bringen und meinem alten Freund, Dr. Capon, den Ankauf derselben zu vermitteln. Nebenbei möchte ich damit auch noch einem armen braven Gipser zu einer Arbeit verhelfen …«

Elena schüttelte den Kopf:

»Ich glaube Ihnen immer noch nicht! Und wenn ich mich nun trotz allem weigern würde, Sie bei Ihrem Plane zu unterstützen?«

Der andere behielt seinen ironischen Ton bei:

»Das würde mir sehr leid tun, in erster Linie um Ihretwillen.«

Elena gab sich den Anschein vollkommener Verständnislosigkeit.

»Wieso … um meinetwegen?«

Er deutete diskret auf die Stelle seines Rockes, wo er die Brieftasche trug:

»Mit anderen Worten, Sie würden sich des Briefes als Druckmittel bedienen …?«

»Ja, ich würde mich leider dazu gezwungen sehen. Und Sie dürfen überzeugt sein, daß dies in wirkungsvollster Weise geschehen würde.«

»Sie würden also meinem Manne davon erzählen …?«

»Ja, ihm sowohl, wie anderen«, nickte der Chinese bejahend.

Elena seufzte tief auf:

»Die Sache muß schon von ganz außergewöhnlicher Bedeutung für Sie sein.«

»Ja, ich lasse mich, wie gesagt, manchmal von meinen Launen beherrschen. Und man könnte sich auch in solchen Fällen an einen Spruch des Konfuzius erinnern, den er einmal über die Schönheit der Frauen gebraucht hat, nämlich, daß er noch keinen getroffen habe, der nicht ihr zuliebe gern auf die Moral verzichten würde … Übrigens ist es leicht möglich, daß Sie das Interesse – und die Gefühle, die ich für Sie und Ihren Mann hege, überschätzen.«

Er lächelte höflich, aber boshaft.

Elena nickte.

»Ich verstehe Sie jetzt: Wir beide, mein Mann und ich, bedeuten für Sie soviel wie nichts!«

»So ungefähr ist es, ja! … Aber Sie werden mir also helfen, nicht wahr?«

Elena überlegte einen Augenblick. War es zweckmäßig, ihm noch länger die Spitze zu bieten? Gewalt gegen Gewalt zu setzen? Es war purer Wahnsinn. Aber im stillen gelobte sie sich, die Augen offenzuhalten und die erste beste Chance auszunützen … Sie nickte daher beistimmend:

»Ja und der Brief?«

»Er gehört Ihnen, sowie Sie Ihren Verpflichtungen nachgekommen sind …!«

In diesem Augenblick kam Billy zurück.

»So, jetzt schläft er«, sagte er und war von diesem Ereignis so erfüllt, daß er weder bemerkte, wie steif sich Elena verhielt noch wie schweigsam sie war.

Li-Chang seinerseits entfaltete eine liebenswürdige und charmierende Gesprächigkeit, die Bill aufs neue ganz von ihm gefangen nahm. Er schien sehr vertraut mit dem künstlerischen Leben der Zeit und war offenbar ein hervorragender, wenn auch schonungsloser Kritiker. Nebenbei war er viel gereift, hatte verstanden, die gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten und sich davon anzueignen, was ihm gut dünkte. Sie fühlten beide keine Langeweile bei seinen Erzählungen, und es war spät am Abend, als er endlich von ihnen Abschied nahm. Bill betrachtete es als angenehme Pflicht, ihm soviel Freundlichkeit als möglich zu erweisen und lud ihn ein, sie öfters zu besuchen.

»Wir pflegen keine große Geselligkeit, aber Sie werden uns immer willkommen sein, Mr. Li-Chang!«

Li-Chang dankte. Es würde ihm eine große Freude sein.

»Und überlegen Sie sich das wegen Ihrer Statue noch einmal«, ermahnte er Billy beim Abschied. »Im Laufe einiger Tage werde ich Ihnen schwarz auf weiß zeigen, daß Sie sie jederzeit in die mit Recht berühmte Sammlung des Dr. Capon einreihen können.«

Billy nickte nur leichthin. »Das haben wir ja schon zur Genüge erörtert … Aber kommen Sie nur bald wieder. Und nochmals, tausend Dank für Ihre ritterliche Hilfe!«

*

Als Bill wieder ins Haus zurückkam, fand er Elena im Atelier in Betrachtung vor der Statue versunken.

»Warum willst du sie eigentlich nicht nach Paris schicken?« fragte sie unvermittelt.

»Weil sie nicht fertig ist und auch nicht rechtzeitig fertig werden kann!«

»Li-Chang war offenbar anderer Ansicht darüber.«

»Ja, es schien so.«

»Aber du legst keinen Wert auf seine Meinung?«

»Doch, gewiß.«

»Und er könnte dir doch einen guten Arbeiter für den Guß verschaffen, hat er gesagt, nicht wahr?«

»Ja, er behauptet es!«

»Dann verstehe ich eigentlich nicht …!« Sie hörte, daß sie das alles selbst aussprach, aber die Worte kamen nur widerstrebend über ihre Lippen. Sie empfand unwillkürlich einen gewissen Ekel gegen sich selbst darüber. »Meinst du vielleicht, daß die Statue als solche nicht gut genug ist?«

Er starrte sie an, wie vom Himmel gefallen: »Das ist eine merkwürdige Frage. Ich halte sie für das Beste, was ich je geschaffen habe …!!«

»Dann wird es mir immer unverständlicher …«

»Daß ich sie nicht fortschicken will?«

»Ja!«

»Würde es dir denn Freude machen?«

»Wie kannst du noch danach fragen!«

»Und warum gerade diese Statue?«

»Billy, du bist wirklich manchmal zu dumm!!! Du kannst dir doch denken, daß ich schon allein deswegen besonders an dieser Figur hänge, weil ich dir dazu gesessen habe«, warf sie errötend ein.

»Ja, du hast recht. Ich bin wirklich zu naiv gewesen«, lachte er verlegen und küßte sie stürmisch. »Ich werde mir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, versprach er. »Übrigens habe ich dir einen Gruß von Violet Strefford auszurichten«, fiel ihm plötzlich ein. »Sie wollte bald herkommen, sagte sie, um sich nach dir umzusehen. Sie meinte, du seiest viel zu hübsch für mich. Du weißt ja, wie sie immer schwätzt! … Ach so, da habe ich dir ja ein etwas verunglücktes Kompliment gemacht, aber du verstehst schon, wie ich es meine. Nicht? … Vielleicht können wir sie gelegentlich mit unserem neuen Freund zusammen einladen!«

»Um Gottes willen, nur das nicht!«

Elena hielt bestürzt inne. Es war ihr, als ob sie die ganze Zeit neben sich selbst stünde und alles kritisiere, was sie tat und redete. Sie war selbst darüber erschreckt, wie leicht es ihr gefallen war, zu lügen! Denn es war ja eigentlich Lug und Trug – obwohl sie auch objektiv der Meinung war, daß er die Statue ausstellen sollte …!

Aber vor Violet Strefford fürchtete sie sich. Frauen sehen so vieles, was dem Blick eines Mannes entgeht. Wenigstens Männern von der Art Billys. Es hatte sich wie ein Angstruf angehört, als sie sich vorhin gegen eine Zusammenführung der beiden ausgesprochen hatte.

»Es war nicht so ernst gemeint«, versuchte sie diesen Eindruck abzuschwächen. »Du mußt entschuldigen, aber ich fühle mich so merkwürdig heute abend, fast ein wenig hysterisch, glaube ich.«

»Das ist auch kein Wunder, Liebes«, er streichelte sie liebkosend über die Haare … »Ich muß aber schon sagen, daß du dir in Li-Chang einen ganz besonders angenehmen Retter ausgesucht hast.«

»Ausgesucht?« Sie starrte ihn ganz erschrocken an. Brach dann mit einemmal schluchzend zusammen.

»Aber Elena, warum weinst du?« Er versuchte sie zu trösten und wußte nicht, was er daraus machen wollte.

»Oh, dieser Fremde ist schuld daran«, gestand sie nach langem Zögern ein.

»Was ist mit ihm?«

»Du mußt mir versprechen, Billy, ihn nicht zu oft einzuladen. Ich weiß, daß ich dir undankbar erscheine, aber er hat etwas an sich, was ich nicht mag.«

»Und so sprichst du von einem Mann, der dich soeben aus einer Situation befreit hat, die man ohne Übertreibung lebensgefährlich nennen kann!?«

»Ja, ich weiß, daß es merkwürdig klingt, aber er ist kein guter Mensch!«

»Und woher weißt du das?«

Sie machte eine hoffnungslos müde und resignierte Geste …

»Selbstverständlich weiß ich nichts Bestimmtes. Aber mein Gefühl sagt mir, daß er schlecht ist!«

»Hast du denn gar kein Dankbarkeitsgefühl, Kind?«

»Doch, Bill, aber das andere ist das Stärkere.« Sie sah von ihm weg.

Billy zuckte die Achseln, aber antwortete nicht. Was sollte er auch zu solchen Marotten sagen? Er schlenderte zu der Tür, die zum Garten führte und öffnete sie … Draußen lag der Mondschein voll und breit auf den Bäumen und Büschen, auf den darin versteckten Skulpturen und auf seinen Blumen, die er mit liebender Hand pflegte. Trotz der kühlen Temperatur schien alles im Zustand sommerlichen Sprossens, und es lag ein weihevoller Friede über der ganzen Natur.

Nur in Billys Herzen war heute kein Friede, sondern nagende Unruhe. Er war sich ihrer nicht voll bewußt. Aber es quälte etwas ihn wie eine leise Ahnung, daß mit den Ereignissen des heutigen Tages Neues in sein Leben eingetreten – und daß es nichts Gutes sei.

Drittes Kapitel

1.

»Es ist etwas Eigentümliches mit diesem Manne«, sagte Bill kaum einen Monat später, als sie über Li-Chang sprachen. »Ich kenne ihn doch erst seit wenigen Wochen und ich bin gar nicht so sicher, ob er als Mensch besonders wertvoll ist. Aber ich habe ihn trotz allem gern.«

Sie saßen beim Lunch. In einer Ecke des Zimmers plapperte der Affe und rasselte mit seiner silbernen Kette. Er war das Hätschelkind ihrer Ehe geworden; sie hatten täglich ihren Spaß mit ihm. Sooft Jane sich zeigte, riß und zerrte er vor lauter Freude an der Kette; sein Mundwerk ging unaufhörlich, wie ein Wasserfall. Er hatte eine hohe Fistelstimme und schwätzte dem Teufel ein Loch in den Leib. Er hatte sich übrigens glänzend erholt in den vier Wochen, seit sie ihn hatten und gab soeben seiner Zufriedenheit durch ein lautes Geheule Ausdruck. Das »Elternpaar« betrachtete ihn in heller Freude.

»Wie drollig er ist,« sagte Elena, »und was für eine lebhafte Mimik er hat!«

Sie hatten dieselbe Bemerkung schon hundertmal gemacht, seit Monkey bei ihnen war. Aber weder ihr noch Billy schien es aufzufallen. Alles, was mit dem Affen zusammenhing, besaß immer noch den Reiz des Neuen und Interessanten für sie beide.

»Er sollte eigentlich zum Film gehen«, sagte Billy mit vollem Munde und in strahlender Laune. »Obwohl gerade dort schon Affen genug herumlaufen … So, jetzt rasselt er uns wieder eins vor:

»Kleine Kette, klirre – lei!
Zweie sehen mehr wie drei …«

zitierte er.

Elena gab ihm einen Klaps mit der Serviette:

»Was du wieder für einen Unsinn redest, Billy!«

Aber sie mochte ihn trotzdem lieber so haben als damals, in den entsetzlichen Tagen, die dem ersten Besuche Li-Changs folgten, da er stumm und seelisch unausgeglichen herumgelaufen war. Er, dessen Charakter sonst einem Felsen, einem von der Sonne beschienenen, glich!

Es hatte, gottlob, nicht allzulange gedauert, bis er wieder der alte, der gute alte war! Besonders, nachdem sie ihn zuletzt zu überreden vermocht hatte, die Statue ihr zu Gefallen nach Paris zu schicken. Da war es wie eine Erlösung über ihn gekommen, und Arbeitsfreude und Zuversicht auf den kommenden Erfolg waren plötzlich wieder bei ihm eingekehrt. Er hatte geschuftet wie ein Roß, oft vierzehn bis fünfzehn Stunden im Tag – und doch war er immer frisch und fröhlich dabei gewesen. Er würde es schon schaffen, sie rechtzeitig zu vollenden und über den Kanal zu bringen!

»Und nachher werde ich sie einfach ein zweites Mal machen«, vertraute er ihr an. »Denn ich bin viel zu verliebt in sie, als daß ich mich auf Zeit und Ewigkeit von ihr trennen könnte. Und dieselbe Form noch einmal zu verwenden, davon kann ja leider keine Rede sein. Denn das hat sich Dr. Capon ausdrücklich als Voraussetzung für das Zustandekommen des Geschäfts ausbedungen … Also müssen wir die Form zerschlagen und uns an die Variante halten, wenn ich sie, wohlverstanden, für gut genug finde.«

Elena selbst war im Anfang auch sehr angegriffen gewesen. Es war das erstemal, seit sie Billy kannte, daß sie nicht ganz aufrichtig gegen ihn war und etwas hinter seinem Rücken getan hatte … oder genauer gesagt, dazu gezwungen gewesen war! Und außerdem trug sie immer die große Angst mit sich herum … die Angst, was Li-Chang eigentlich im Schilde führte.

Aber nach und nach hatte auch sie sich wieder beruhigt. Tatsächlich konnte das mit der Ausstellung ja nur zu Bills Bestem führen, und es hatte nicht den Anschein, als ob Li-Chang noch andere Forderungen an sie stellen würde. Auch war das Wetter heute so wunderbar, daß man sich unwillkürlich schon deswegen leicht und lebensfroh fühlte. Und Monkey war einfach unwiderstehlich. Elena war zu ihm hingetreten und hatte ihn von der Kette befreit. Im Nu saß er auf ihrem Arm und preßte sich an sie wie ein kleines Kind. Bald darauf ringelte er auch seinen langen dürren Arm um ihren Hals und tätschelte sie mit seiner rauhen, trockenen Hand auf der Wange. Dabei stellte er das Plaudern ein und stieß nur manchmal einen liebkosenden Ton aus, während er sie unaufhaltsam mit zärtlich hingebenden Blicken betrachtete.

»Muß er übrigens nichts zu essen bekommen?« fragte Billy.

»Aber freilich! Jane hat seine Bananen offenbar vergessen …«

Sie kettete ihn wieder an und klingelte nach Jane, die aber mit dem Obst schon unterwegs war. Monkey begann sofort die Bananen nach Menschenart zu schälen und daran herumzuknabbern. Es war ein Schauspiel für sich, ihm dabei zuzusehen – und dieses Theater hatten sie jeden Tag umsonst!

*

Bald darauf meldete der Diener:

»Mr. Li-Chang!«

Der Chinese trat ein, elegant und dezent zugleich in seiner Kleidung wie im Wesen. Er hatte soeben den Wagen mit dem Gipsabguß von Billys »Glück« auf der Straße überholt. Er mußte im Augenblick dasein. Bill forderte ihn auf, an ihrer Mahlzeit teilzunehmen, aber Li-Chang schlug es dankend aus:

»Ich habe schon geluncht, bevor ich von zu Hause wegging. Übrigens habe ich Nachricht von Dr. Capon, der sich sehr auf die bevorstehende Bereicherung seiner Sammlung freut.«

Bill nickte geschmeichelt.

»Denken Sie sich nur, meine Frau hält den Dr. Capon beinahe für eine Mythe. Nicht wahr?« wandte er sich neckend an Elena. »Sie zweifelt überhaupt daran, glaube ich, daß er die Statue wirklich kaufen wird, wenn es einmal soweit ist.«

Li-Chang ging auf den Scherz Billys ein und erwiderte lachend:

»Dann muß ich mich wohl auf die Beine machen, um Dr. Capon zu realisieren. Ich werde dafür sorgen, daß der Betrag, über den Sie sich mit ihm geeinigt haben, sofort auf Ihre Bank überwiesen wird … Doch, doch, das macht ja nicht die geringsten Schwierigkeiten und kann für beide Parteien nur angenehm sein.«

»Na ja, wenn Sie es unbedingt wollen, dann … Aber es ist tatsächlich vollkommen überflüssig.«

Elena hatte sich mit einem kurzen Beugen des Kopfes erhoben und öffnete das Fenster, das auf den Garten ging, der von Tag zu Tag schöner wurde. Mit tiefem Wohlbehagen atmete sie die reine würzige Juliluft ein. Sie hatte die Einbildung, als ob sich mit Li-Chang zugleich jedesmal auch eine ungesunde Luft in das Zimmer einschliche … wie ein psychisches Gift, das sich auch physisch bemerkbar machte.

Sie hörte, wie Billy aufstand und wie Jane begann, den Tisch abzuräumen. Die beiden Herren sprachen, wie immer, über die Statue. Es klingelte an der Haustüre.

»Es wird wohl der Wagen sein«, hörte sie Bill zu Li-Chang sagen.

Einen Augenblick später erschien Rice auf der Schwelle und meldete ihn.

»Ich springe schnell hinüber ins Atelier,« rief Bill, »Sie haben wohl den Leuten gesagt, Rice, daß sie den Gartenweg rechts hinauffahren sollen?«

»Jawohl, Herr!«

Dann verschwand er, ebenso wie Rice und Jane. Elena und Li-Chang waren allein. Sie stand immer noch am Fenster, mit dem Rücken gegen ihn gewandt, aber sie spürte, daß er sich ihr näherte … Sie fühlte auch den stechenden Blick seiner Augen, obwohl seine Stimme weich und gedämpft, ja beinahe liebkosend klang:

»Ich muß Sie um eines bitten,« sagte er, »und das ist, daß Sie sich nicht in diese Affäre einmischen.«

Sie wandte sich langsam nach ihm um:

»Wieso nicht hineinmischen? Ich verstehe Sie nicht.«

»Oh, Sie verstehen mich sehr gut! Oder waren Sie es vielleicht nicht, die Ihrem Manne wegen des Dr. Capon einen Floh ins Ohr gesetzt hat?«

»Ja … Sie wollen mich aber doch wohl nicht hindern, ihn vor einem Manne zu warnen, an den ich nicht recht glaube.«

Li-Chang lächelte nur:

»Sie wissen, ich bin kein Freund von vielen Worten. Deswegen nur so viel: Lassen Sie die Hände weg! wie man sich so schön in Ihrer reizenden Sprache ausdrückt.«

»Ja, Konfuzius hätte dafür natürlich blumenreichere Worte gefunden«, nickte sie sarkastisch. »Übrigens dachte ich, wir hätten uns über diese Sache schon genügend ausgesprochen. Ich habe Ihnen dazu verholfen, daß die Statue auf die Ausstellung kommt. Das war mein Anteil an der Arbeit, zu mehr habe ich mich nicht verpflichtet.«

»Das ist möglich! Aber heute fordere ich eben etwas mehr. Und jetzt habe ich Sie gewarnt. Der Brief befindet sich immer noch in meinem Besitz. Vergessen Sie das nicht!«

Elena richtete sich auf: »Ich wünsche nicht, weitere Befehle von Ihnen entgegenzunehmen, Mr. Li-Chang. Und wenn Sie mir nicht sagen wollen, was das Endziel Ihrer … Transaktionen … ist, so werde ich meinem Manne alles sagen.«

2.

Li-Chang lächelte zynisch:

»Damit haben Sie mir schon früher gedroht. Aber Sie werden ja doch nicht Ernst machen«, sagte er kopfschüttelnd und mit einer pointierten Sicherheit, die Elena reizen sollte. »Und selbst wenn Sie es täten und er seinerseits so dumm wäre, Ihnen zu verzeihen, so würde es trotzdem zu Ihrem Nachteil sein, oder was glauben Sie, was die Welt dazu sagen würde, wenn sie erführe, daß …?«

Sie raffte sich mit aller Gewalt zusammen:

»Was die Welt sagen würde? Meinen Sie wirklich, daß mein Mann so naiv sein würde, es in alle Winde hinauszuposaunen?«

»Er nicht, natürlich!« lächelte Li-Chang wieder.

»Aber wer sonst?«

»Ich, oder vielmehr meine Freunde!«

Sie lachte verächtlich:

»Ich hatte bis jetzt geglaubt, daß Sie, wenigstens auf Ihre Weise, ein Gentleman seien!«

»Und ich möchte Sie bitten, das auch fernerhin zu glauben«, drohte er mit einem Anflug von Heftigkeit in seiner weichen Stimme. »Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß wir uns im Kriegszustand befinden, in einem Kampfe, dessen letzte Ziele Sie nicht kennen … Ich habe Sie wiederholt gewarnt. Glauben Sie ja nicht, daß Sie und Ihr Mann einen leichten Stand haben werden, wenn die Sache wirklich durchsickern sollte …

Ich bin kosmopolitisch genug, um Sie von einem überlegenen Standpunkt aus beurteilen zu können. Aber die Engländer leiden bekanntlich nicht gerade an diesem Fehler. Sie werden die Nadelstiche der gesellschaftlichen Isolierung zu spüren bekommen und die öffentliche Meinung wird sich darüber aufregen, wenn Ihr Mann trotz allem zu Ihnen halten würde. Man mag in dieser Gemeinschaft keine Männer, deren Frauen sich soweit vorgewagt haben wie Sie. Man verliert nicht nur das Vertrauen zu ihnen, nein, man meidet sie sogar. Und dem werden Sie ihn wohl nicht aussetzen wollen? Und sollten Sie einmal Kinder bekommen, so werden auch diese erfahren, was für eine Frau ihre Mutter gewesen ist … und auf welche Weise sie ihren Vater kennengelernt hat …«

Er lächelte still und klopfte sie leicht auf den Arm:

»Deswegen rate ich Ihnen, seien Sie vorsichtig! Denn wir sind zwei …, die es Ihrem Manne erzählen können. Und ich bin nicht immer so verträglich, wie ich es bis jetzt gewesen bin … Doch, wollen wir jetzt ins Atelier hinübergehen?«

Er bot ihr den Arm, aber sie bemerkte es nicht.

»Warum hassen Sie uns so?« fragte sie leise. »Doch, das tun Sie.«

Li-Chang warf einen Moment die Maske ab. Eine unsagbare Bitterkeit beherrschte seine Züge. Er sagte nichts. Aber man konnte ihm von der Stirne ablesen, daß er in ein abgrundtiefes Meer schmerzlicher Erinnerungen hinabtauchte.

Er dachte an seine Mutter, die stolze liebevolle Frau. Sie hatte ihre Kinder selbst gestillt und war jede dritte Stunde, auf den Arm einer Dienerin gestützt, zu der kleinen Ah-Wong, seinem Schwesterchen, hineingehumpelt. Ihre Füße waren ja so klein und nicht zum Gehen zu gebrauchen. Außerhalb des Hauses wurde sie nur in der Sänfte getragen.

Li-Chang seufzte:

Wie herrlich war es in seiner Heimat, im Park seines Vaterhauses gewesen.

Aber da kam ein Tag, wo alles in Grau erblaßte. Der See wurde zu einem großen Schlund, der zornige Wellen ans Ufer spie … von den Pagoden läutete es wie Todesglocken … Der Blumenduft hatte seine Süße verloren und stank nach Moder und Fäulnis, wie die Fieberdünste des Sumpfes … und über dem Garten jagten die schwarzgrauen Wolken eines wehmütigen Himmels …

Ah-Wong, seine kleine Schwester, war geflohen! Mit dem weißen Manne, der sich unter der Maske der Freundschaft in ihr Heim eingeschlichen hatte. Geflohen, mit einem Ungläubigen, einem Barbaren! … Seit diesem Tage hatte Li-Chang keine Schwester mehr gehabt. Das Vaterhaus war für ihn öde und leer geworden. Er warf sich auf die Politik. Und eines Tages verließ er seine Heimat in einer Mission auf lange Sicht. Nach außen korrekt und ruhig wie ein Engländer, in seinem Innern aber glühte der nie erloschene Haß gegen die Weißen weiter, gegen diese weißen Hunde.

Haß! ewiger Haß …

Elena beobachtete ihn mit wachsendem Erstaunen. Er stand starr, wie eine Statue, schweigsam und unbeweglich!

»Sie geben mir ja gar keine Antwort!«

Es war, wie wenn er aus einem Traum erwache:

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu antworten«, sagte er tonlos, aber im nächsten Augenblick hatte er wieder sein altes Lächeln gefunden:

»Gehen wir!«

*

Als sie das Atelier betraten, waren der Gießer und der Kutscher damit beschäftigt, die Statue auf die Zementrampe emporzuheben, die speziell zu diesen Zwecken angelegt war. Die beiden Flügeltüren standen sperrangelweit offen, und Billy war bereit, die Kiste oben in Empfang zu nehmen. Auch Rice war da, sehr würdevoll, mit Hammer und Meißel bewaffnet. Man hatte die Kiste auf einen niedrigen Rollkarren gelegt und darauf festgebunden; es blieb jetzt nur noch übrig, ihn in das Atelier hinaufzuschieben:

A – hoi! … A – hoi! …

Sie verschnauften einen Augenblick. Den Gipser schien die Arbeit am meisten anzustrengen. Elena kam näher, um ihn mit einigen freundlichen Worten aufzumuntern, aber sie sah, wie er plötzlich die Augen von ihr abwandte und wegsah.

»Aber das ist ja Wing-Foo!«

»Wing-Foo? Dein gelber Freund aus Limehouse?« Billy blickte sie erstaunt an. »Aber nein, du mußt dich irren! Er heißt Cheng-Kip. Nicht wahr?« wandte er sich zu dem Mann, der wortlos dastand und vor sich auf den Boden blickte.

Aber jetzt mischte sich Li-Chang in das Gespräch:

»Ihre Frau Gemahlin, hat recht. Sein richtiger Name ist Wing-Foo. Aber zu arbeiten pflegt er unter dem anderen. Es ist sozusagen sein ›Künstlername‹.«

»Aber ich wußte gar nicht, daß Sie schon wieder arbeiten dürfen«, sagte Elena freundlich zu ihm. »Haben Sie sich auch wirklich wieder ganz erholt?«

Er nickte scheu. Es war, als ob er sich schäme. Elena hatte in den letzten vierzehn Tagen keine Zeit gehabt, nach dem Kranken zu sehen. Aber nachdem sie nichts mehr von dem Arzt gehört hatte, war sie der Meinung gewesen, daß alles allright sei.

»Also Sie haben die Statue meines Mannes gegossen«, fuhr sie fort – aber sie bekam wieder nur ein verlegenes Nicken zur Antwort. Sie wunderte sich, wie Wing-Foo sich verändert hatte. Er, der sonst immer ein so natürliches und mitteilsames, wenn auch etwas wehmütiges Wesen gezeigt hatte.

»Na, fangen wir wieder an«, unterbrach der Kutscher die Unterhaltung. Und Elena zog sich zurück.

»Nein, denk' nur Billy, wie merkwürdig, daß ich dir schon so oft von Wing-Foo erzählt habe, ohne zu wissen, daß du ihn selbst kennst,« lächelte sie, »den Vater des kleinen Yo.«

»Gnädige Frau kennen ihn schon länger?«

»Ja, als ich ihn zuletzt sah, war er noch krank, wenn auch schon Rekonvaleszent. Aber jetzt scheint er ja wieder ganz hergestellt zu sein.«

»Soll ich nicht auch ein wenig mithelfen?« bot Billy den beiden Männern an. Er hatte bereits alles zur Seite geschoben, um für die Kiste Platz zu machen.

»Wir schaffen es schon allein«, meinte der Kutscher.

»Gut, dann kann ich mir ja meine Kräfte sparen«, nickte Bill, der seine unvermeidliche Pfeife in Brand gesteckt hatte.

Wing-Foo oder Cheng-Kip, oder wie man ihn nennen wollte, sah allerdings etwas schwächlich aus, aber es würde schon gehen. Er warf sich in einen der Korbsessel im Atelier. Draußen schien die Sonne und die Vögel zwitscherten. »Der heutige Tag ist ja wie geschaffen dafür, unser ›Glück‹ ins Haus zu lassen«, rief er freudestrahlend den anderen zu. »Und was für ein herrlicher Blumenduft!«

Elena und Li-Chang gingen im Atelier auf und ab, an der niedrigen Bank vor dem Fenster vorbei, an dem großen Grabmal und an der Rollwand mit den unzähligen Kissen vorüber, hinter der sich die Modelle zu entkleiden pflegten. Von den Wänden leuchteten eine Menge farbenfroher Skizzen und Gemälde, und auf dem Sims wimmelte es von antiken und modernen Gipsabdrücken.

Li-Chang erkundigte sich noch einmal nach Wing-Foo, und wie sie ihn kennengelernt habe? Er wußte nur so viel von ihm, daß er ein armer Bursche war. Aber was wußte sie über ihn? etwa von seinem Leben in der allerletzten Zeit? … Nichts! … Von einem Sohne hatte Li-Chang nie etwas gehört und ihn auch nie zu sehen bekommen!

Sie waren vor dem ersten Entwurf des ›Glücks‹ stehengeblieben. Er erreichte nicht ganz die Meisterschaft des fertigen Werkes, hatte aber auch glänzende Einzelheiten.

»Namentlich den Sockel finde ich vorzüglich,« bemerkte Li-Chang, »es ist, als ob in dieser Auffassung mehr Bosheit und Bitterkeit läge als in der anderen … Darf ich mir schmeicheln, daß es dem Auftreten meiner Wenigkeit zuzuschreiben ist, wenn sich die Meinung Ihres Mannes plötzlich über die Menschen so gemildert hat?« fragte er mit bewußter Zweideutigkeit und wandte sich im selben Augenblick erschrocken um.

Elena tat dasselbe.

Wing-Foo hatte einen Schrei ausgestoßen:

»Sie fällt, sie fällt!« schrie er.

Und tatsächlich sah man, wie die Kiste umkippte und auf die Seite von Wing-Foo zu fallen drohte. Der Kutscher arbeitete aus Leibeskräften, um sie wieder aufzurichten. Er war sich, wie alle anderen, darüber klar, daß es Wing-Foo das Leben kosten könnte, wenn sie wirklich niederstürzte. Sie würde ihn einfach zerquetschen! Und lange konnte es nicht mehr dauern, denn Wing-Foo zitterte am ganzen Körper vor Angst und Entkräftung.

Er konnte sich immer noch in Sicherheit bringen, wenn er zur Seite springen würde, aber daran schien er offenbar nicht zu denken: In diesem Fall wäre es ja unvermeidlich, daß die Statue in Stücke ging! Und es war vielleicht die Furcht vor dieser Möglichkeit, die ihn wie festgenagelt an der Stelle hielt. Oder sollte er am Ende den Tod absichtlich suchen? Denn trotz seiner Angst trug sein Gesicht einen Zug verzweifelter Entschlossenheit.

Elena fühlte es wie Blei in ihren Knien. Rice war kreideweiß geworden, und die Werkzeuge klirrten in seinen Händen. Doch Billy stand bereits neben der Kiste. Er hatte seinen Rock abgeworfen und Wing-Foo irgend etwas zugerufen, was dieser zwar offenbar verstanden hatte, wogegen er aber heftig protestierte. Bill sprang jedoch direkt auf den Chinesen zu, schleuderte ihn mit aller Gewalt in den Garten und nahm selbst seinen Platz ein, so daß nun die Kiste beinahe mit ihrem ganzen Gewicht auf seinen Schultern ruhte … Und obwohl sein Leben auf dem Spiele stand, hielt er doch aus und nahm den gefährlichen Kampf mit dem Koloß auf.

»Obacht! … Wegspringen!« schrie der Kutscher, »sonst ist es aus!«

Aber Bill rührte sich nicht. Wenn er losließ, würde seine ganze Arbeit ja nur noch ein Haufen Gipsbrocken sein.

Doch nun war der Kutscher am Ende seiner Kräfte. Die Kiste entglitt seinem Griff, und während er einen lauten Fluch ausstieß, stürzte sie mit voller Wucht nach Billys Seite.

3.

Elena schrie laut auf. Rice ächzte und jammerte. Li-Chang hatte sie am Arm gepackt, aber sie riß sich los und stürzte in die Türöffnung:

»Helft ihm doch!« rief sie dem Kutscher und ihrem Diener zu, die beide mit angstverzerrter Miene danebenstanden. »Lauft hin und greift doch zu!«

Aber beide schienen wie angewachsen. Auch Wing-Foo rührte sich nicht vom Fleck! Und alle folgten sie atemlos dem gigantischen Kampfe zwischen dem Menschen und der Materie, der sich vor ihren Augen abspielte.

Dann mit einem Male begann sich die Kiste wieder langsam aufzurichten. Und einen Augenblick später stand sie aufrecht auf dem Karren, so sicher und stabil wie je, so daß dieser nun von Billy und dem Kutscher, der sich wieder erholt hatte, ohne Schwierigkeit die Rampe hinaufgerollt werden konnte. Dort wurde die Kiste umgekippt, und Bill machte sich mit größter Seelenruhe daran, zusammen mit dem immer noch ganz verstört dreinblickenden Rice, die Holzwände entzweizuschlagen …

»O Billy, Billy!« Elena zitterte vor Aufregung. Dann fiel sie ihm weinend um den Hals.

»Liebe kleine Elena!« Er lachte, etwas außer Atem. »Das ist doch kein Grund, zu weinen … So, es ist ja alles gut abgelaufen.«

Auch Wing-Foo war mittlerweile angekommen. Er sah weder Li-Chang noch einen der anderen an und sah krank aus. Er schämte sich:

»Verzeihen Sie mir, Sir. Ich habe mich in der letzten Zeit gar nicht wohl gefühlt und bin noch nicht wieder ganz bei Kräften. Sie haben mir soeben das Leben gerettet!« Er hüstelte hohl.

Aber Bill schüttelte ihm die Hand:

»Sprechen wir nicht mehr davon. Die kleine Hilfe hätte Ihnen doch jeder andere auch geleistet. Abgesehen davon, daß es galt, mein eigenes Werk zu retten!« Er lachte munter auf, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich verstehe aber wirklich nicht, daß Ihnen der Arzt eine so schwere Arbeit gestattet, ehe Sie wieder ganz auf dem Damm sind …«

»Er hat sie mir eigentlich auch verboten«, gestand Wing-Foo ein. »Aber sie interessierte mich. Und dann war ja doch auch etwas zu verdienen dabei, und ich war ja solange arbeitslos. Deswegen habe ich diese Chance hinter seinem Rücken ausgenutzt …«

»Aber Sie waren doch immer zu Hause, wenn ich zu Ihnen kam«, warf Elena ein.

Wing-Foo lächelte schuldbewußt:

»Die gnädige Frau kam ja immer zu derselben Stunde.«

»Und der Arzt ist auch nicht dahintergekommen?«

»Doch, aber ich versprach ihm, sofort aufzuhören, wenn er mich nur nicht bei der gnädigen Frau verraten würde.«

»Ich glaube nicht, daß wir Wing-Foos Krankheit so ernst zu nehmen brauchen«, mischte sich Li-Chang ein. »Nicht wahr, Wing-Foo? … Er ist zwar noch etwas schlapp, aber von da bis zu einer ernsten Krankheit ist es noch weit.«

Wing-Foo nickte unterwürfig, ohne seine Augen zu ihm zu erheben.

Nur Elena fiel es sofort auf: Trotz seines beherrschten Tones war doch etwas Aufgeregtes an Li-Chang zu bemerken. Es schien zwischen diesen beiden Männern, dem mächtigen Mandarin und dem armen kranken Arbeiter, offenbar etwas Besonderes vorzugehen!

Sie hatte auch vorhin schon, als Wing-Foo in Gefahr war, die überraschende Beobachtung gemacht, daß Li-Chang seine Blicke keinen Augenblick auf den Menschen, sondern ausschließlich auf die Kiste geheftet hatte! Und zwar mit solcher Spannung, daß man nicht im Zweifel sein konnte, seine Sorge galt einzig und allein der Kiste und ihrem Inhalt.

Worin lag wohl für ihn tatsächlich die Bedeutung dieses Kunstwerkes? Welches Geheimnis verbarg sich hinter seinem offenkundigen tiefen Interesse dafür? Er mußte entschieden einer der wichtigsten Ecksteine seiner weitausgedehnten Pläne sein.

Wenn sie es wüßte! Wenn sie dahinterkommen könnte.

»Na, krank sieht er schon aus«, widersprach Bill und wandte sich an seine Frau. »Ich glaube, du mußt dich seiner wieder annehmen und ihn diesmal unter strengerer Aufsicht halten!«

»Ja, ich werde heute noch mit dem Arzt darüber sprechen,« stimmte sie ihm bei, »aber dann muß uns Wing-Foo auch versprechen, folgsamer zu sein und keine Seitensprünge mehr zu machen?«

Wing-Foo nickte scheu. Bill arbeitete, daß ihm die Holzsplitter um die Ohren flogen:

»Sagen Sie Jane, sie soll eine Flasche Wein bringen, Rice … Halt! Sekt soll es sein«, rief er ihm nach. »Nein, Sie müssen hierbleiben, Wing-Foo!« Der hatte sich mit dem Kutscher entfernen wollen. »Sie müssen unbedingt ein Glas mittrinken, wo Sie doch den Guß ausgeführt haben.«

Wing-Foo wehrte sich:

»Sie haben gewiß keine Veranlassung, mir das anzubieten, Mr. French. Im Gegenteil!«

»Aber freilich habe ich das.« Bill hatte nach und nach die Bretter entfernt, so daß die Statue nun in leuchtender Weiße und in ihrer ganzen Schönheit dastand. »Ist sie nicht prachtvoll!«

Er trat mit Elena einen Schritt zurück, um sie richtig genießen zu können. Als er sich zufällig wandte, sah er zu seinem Erstaunen, wie sich Li-Chang zu Wing-Foo niederbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Aber er tat, als ob er es nicht bemerke:

»Hören Sie, Li-Chang! ich bin Ihnen nun doch sehr dankbar, daß Sie mich veranlaßt haben, die Sache fertigzumachen und meine Chance auszunutzen.«

»Richten Sie lieber Ihren Dank an Ihre Frau Gemahlin«, lächelte Li-Chang und verbeugte sich dabei galant vor Elena.

»Ja, da haben Sie auch recht!« Bill hielt einen Augenblick inne, als ob ihm plötzlich irgend etwas einfiele. Jane reichte den Wein herum. Wing-Foo wollte abermals dankend ablehnen. Aber Billy nötigte ihn, ein Glas zu nehmen: »Das fehlte nur noch, daß Sie nicht dabeisein sollten! Sie sind doch als Gußmeister auch eine der Hauptpersonen gewesen!«

Als Wing-Foo bald darnach aufbrach, bemerkte Elena, daß ihm die Tränen in den Augen standen. Auch seine Stimme zitterte, als er sprach. Und er hatte immer noch den scheuen, demütigen Ausdruck an sich, als ob er sich über irgend etwas zu schämen hätte und als ob er sich unbehaglich fühlte, überhaupt da zu sein. Er sah sichtbar erleichtert drein, als er seinen Lieferzettel endlich gegen eine Empfangsquittung ausgetauscht hatte, die ihm Billy zugleich mit einem größeren Geldscheine in die Hand drückte:

»Und jetzt keine Streiche mehr!« drohte Billy scherzend. »Wir wollen schauen, daß Sie bald wieder in die Höhe kommen, und zwar ein bißchen plötzlich. Ich werde Ihnen schon nachher Arbeit verschaffen.«

Elena steckte ihm etwas Schokolade und Obst zu: »Das ist für meinen kleinen Freund Yo«, flüsterte sie. »Und sagen Sie ihm, daß er bald einmal vorbeikommen soll.«

Wing-Foo war schon halb an der Türe. Er hatte ihnen mit niedergeschlagenen Augen gedankt – Li-Chang mit einer demütigen Verbeugung gegrüßt.

»Ein sonderbarer Mensch«, bemerkte Bill, als er verschwunden war. »Aber ein hervorragender Arbeiter!« Er blickte zufällig auf den Lieferschein, der Wing-Foos Unterschrift trug. »Und schreiben kann er auch!« Er legte den Zettel auf den Schreibtisch. »Ich finde übrigens, Li-Chang, daß Sie ein wenig hart mit ihm waren, als Sie vorhin über seine Krankheit sprachen.«

Li-Chang zuckte mit den Achseln:

»Das ist meine Art, diesen Leuten gegenüber. Man kann den Pöbel dazu bringen, richtig zu handeln, aber niemals das Richtige in ihren Handlungen zu erkennen!« zitierte er. »Sie sind große Kinder und bleiben es!«

»Vielleicht haben Sie recht! Auf mich machte er aber nicht den Eindruck, als ob er zum Plebs gehörte – aus dem ich übrigens selbst hervorgegangen bin! –, und seine Arbeit hier …« er deutete auf die Statue … »ist, offen gesagt, das Werk eines ganzen Mannes!«

Er lachte glücklich auf und fuhr fort:

»Und an dem Tage, an welchem Sie mir – ganz gegen meinen Willen – das Geld von Dr. Capon aufgenötigt haben werden, lasse ich ein kleines Diner springen … Es soll niemand anders dabeisein als wir drei.« Er sandte Elena einen beinahe bettelnden Blick zu. »Nur wir drei! Abgemacht, nicht wahr?«

Li-Chang verbeugte sich:

»Was mich betrifft, mit großer Freude!«

»Auch ich nehme dankend an«, lächelte Elena, die noch ganz in Bewunderung der Statue versunken war …

Als Elena etwas später am Tage durch die Zimmer ging, sah sie auf dem Schreibtisch ihres Mannes einen Zettel liegen. Sie warf einen Blick darauf. Es war nur der Lieferschein Wing-Foos. Was für eine merkwürdige Schrift der Mann hatte! Nichts als Kritzer und Schnörkel. Was wohl ein Graphologe dazu sagen würde? Jetzt durfte sie aber nicht vergessen, den Arzt wegen Wing-Foo anzurufen. Er war ja tatsächlich noch nicht gesund, und es mußte einmal etwas Entscheidendes geschehen. Sie konnte sich aber augenblicklich nicht an seine Nummer erinnern und wollte deswegen im Telephonbuch nachsehen. Sollte es Bill am Ende mit sich genommen haben?

Sie guckte ins Atelier, aber er war nicht dort. Es ging jetzt in den Nachmittag hinein. Zu dieser Stunde pflegte der ganze Raum im Sommer von hellem Sonnenschein durchflutet zu sein. Auch jetzt war es so. Aber mitten darin lag ein tiefer, schwarzer Schatten! Und obwohl sie sah und auch wußte, daß er von der Statue geworfen wurde, konnte sie sich weder eines leisen Schauers erwehren, noch von einer dumpfen Ahnung befreien, daß dieses »Glück« auch einen Schatten über ihr und Billys Leben ausgebreitet habe …

»Aber das ist ja purer Unsinn?«

Sie wollte sich diesen Gedanken aus dem Sinn schlagen und sprach deshalb die Worte laut vor sich hin.

»Was ist Unsinn?«

Sie fuhr herum – es war Bill, der in der Türe stand:

»Hast du vielleicht den Konfuzius in die Hand bekommen?«

»Den Konfuzius?«

Billy schmunzelte verlegen:

»Ja, ich habe mir das Buch neulich angeschafft – um gelegentlich Li-Chang mit eigener Münze zurückzahlen zu können. Es ist famos, wie es einen aufrappelt, so einen alten klugen Herrn im Rückhalt zu haben.«

»Du bist doch ein großes Kind«, lachte sie fröhlich, als ob sie von irgend etwas, sie wußte selbst nicht was, befreit worden wäre.

»Weißt du übrigens, ob Wing-Foo dem Li-Chang intim bekannt ist?«

»Nein, warum?«

»Weil es mir auffiel, daß er mit ihm hinter unserem Rücken flüsterte. Aber das hat wohl weiter nichts zu bedeuten.«

»Sag lieber, es hat sehr viel zu bedeuten! Und vergiß es nicht, wenn es dir darauf ankommt, die Wahrheit über Li-Chang zu ergründen.«

»Die Wahrheit?« Bill war in rosigster Laune. »Was ist Wahrheit überhaupt?«

»Was sagt Konfuzius darüber?« lächelte sie, halb und halb die Waffen streckend.

»Irgendeine Weisheit verzapft er natürlich auch darüber.«

Bill holte das Buch hervor und blätterte darin. »Ja, hier haben wir es …« Er zitierte mit Pathos »Die Menschen können die Wahrheit verherrlichen, aber die Wahrheit verherrlicht nur selten die Menschen! … Ach, Gott, wie recht der Mann hat!«

»Und doch willst du nicht die Folgerungen daraus ziehen!«

4.

Es kam ein neuer, beinahe forschender Ausdruck in Bills Augen.

»Da ist in der letzten Zeit irgend etwas in deinem Wesen, Elena, das ich nicht verstehe. Du sprichst doch sicherlich im allgemeinen nicht schlecht über deine Mitmenschen. Du machst aus deinen Gefühlen gewiß kein Hehl. Wenn es aber Li-Chang angeht, so ergreifst du jede Gelegenheit, um ihm schlechte Beweggründe unterzuschieben. Ich habe dich schon öfter gefragt und wiederhole es heute noch einmal: Weißt du irgend etwas positiv Ungünstiges über ihn?«

Elena überlegte einen Augenblick. Wenn sie ihm jetzt die Wahrheit sagte!? Sie sah wohl die Konsequenzen voraus, wenn es Li-Chang erfahren würde. Denn er hatte sicher mit seinen Drohungen nicht übertrieben. Aber es wäre ja auch denkbar, daß Billy ihre Beichte bei sich behalten würde. Und sie verstand! Ganz sicher aber war sie indessen nicht! Unter allen Umständen würde es ihm einen tiefen Schmerz bereiten. Er war auch nicht der Mann, Freundlichkeit gegenüber Li-Chang zu heucheln, wenn er alle Zusammenhänge kannte. Li-Chang würde sofort herausfühlen, was vor sich gegangen war. Und was ihr eigenes gegenseitiges Verhältnis betraf: bestand da nicht die Gefahr, daß durch die Aussprache der Keim zu Sorgen und – was noch schlimmer wäre – zu Mißtrauen gesät würde? Ach, wenn sie nur wüßte, was das Richtige war! Bill betrachtete sie aufmerksam:

»Wenn du wirklich etwas weißt, dann sag es mir doch«, drängte er noch einmal.

Sie rührte sich nicht vom Fleck und schwieg. Ihr Gehirn arbeitete. Was sollte sie tun?

»Ja, dann …« Er hob ärgerlich die Schultern und ging langsam zu seiner Statue. Sie spürte deutlich, daß er verstimmt war. Sie faßte daher einen plötzlichen Entschluß, ging ihm nach und schob ihren Arm unter den seinen:

»Ich habe dir etwas zu beichten«, sagte sie.

»Na, was denn?« Er war sofort wieder gut und streichelte ihr zärtlich über die Wangen.

»Ich habe nur ein wenig Kopfweh!«

»Und was war es nun, was du mir sagen wolltest?«

Sie gingen Arm in Arm durch das Atelier.

»Es hängt mit der Nacht damals zusammen, in der wir uns kennenlernten.«

»Die gesegnete Nacht!« Er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte sie in tiefem Ernste. »Ich liebe dich, Elena, ja ich liebe dich, du kleines Biest«, er rüttelte und schüttelte sie lustig, »zum Fressen! … Na, also, was war damals los?«

»Ich war nicht ganz offen zu dir.«

»Nicht offen! Dazu warst du auch gar nicht verpflichtet«, verteidigte er sie, ein wenig im Widerspruch zu seinen eigenen Theorien.

»Ich weiß doch nicht recht! Wir Menschen haben wohl immer die Pflicht, aufrichtig gegeneinander zu sein.«

»Menschen, die so zueinander stehen, wie du und ich jetzt, ja! Aber sonst! … Und außerdem, wir kannten uns doch damals noch gar nicht.«

»Ich fühlte mich trotzdem als … eine Betrügerin! Und was noch weit schlimmer ist, ich habe auch heute noch dasselbe Gefühl!«

»Betrügerin?! Wieso hast du mich ›betrogen‹?«

Elena sah vor sich nieder:

»Da war doch ein anderer Mann, den ich …«

»Das hast du mir schon damals gestanden.«

»Ja, aber ich habe dir nicht alles erzählt … Nicht das Schlimmste.« Es wurde ihr kalt vor Angst bei dem Gedanken, was sie ihm nun beichten sollte. Aber er zog sie an sich:

»Jetzt sprechen wir von etwas anderem«, sagte er. »Was vor meiner Zeit passiert ist, geht mich nichts an. Hab' ich dir das nicht schon oft genug gesagt?«

»Doch, aber …« sie nahm noch einmal einen Anlauf.

»Und ich betrachte jene ganze Nacht als noch ›vor meiner Zeit‹ gelegen«, lächelte er. »Ein paar Tage davor wenigstens, nicht wahr?«

Sie war dem Weinen nahe. Er machte es ihr so schwer. Und zugleich so leicht, durchzuschlüpfen.

»Du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen.«

»Nein, wozu auch? … Wenn du mich betrogen hättest, seitdem wir uns lieben, das wäre was anderes, aber das traue ich dir nicht zu. Oder am Ende doch, kleine Schlange …«

Er kniff sie scherzend am Ohr.

»Aber Billy, das glaubst du ja selbst nicht«, sagte sie zwischen Lachen und Weinen.

»Natürlich glaube ich das nicht, Dummerchen«, lachte er hellauf. »Meinst du, ich schätze mich selbst so gering ein? Nein, Kind, ich habe auch meinen Stolz, daß du es nur weißt!«

Sie fühlte sich mit einem Male vollkommen entwaffnet und mutlos.

»Ach, es ist mir manchmal so bange, Billy!« Sie schrak fröstelnd zusammen. Es war ja aussichtslos, sie war viel zu schwach.

»Bange? Wovor?«

»Daß du eines Tages aufhören könntest, mich zu lieben.«

»Du bist wirklich ein kleiner Narr! Wenn einer von uns beiden ›aufhören‹ sollte, dann müßtest schon du es sein!«

Sie schmiegte sich eng an ihn an.

»Willst du mir versprechen, mich immer zu lieben … mag kommen, was will?«

»Ja, was sollte denn kommen«, lächelte er. »Hast du immer noch diese Nacht im Kopf?«

Sie nickte wortlos. Er wurde ernst:

»Wollen wir uns jetzt beide ein für allemal geloben, liebe Elena, mit keinem Wort mehr auf diese Nacht zurückzukommen. Ich weiß, daß du jetzt treu und gut zu mir bist, und das genügt mir!«

»Dann versprichst du also …« Sie wußte kaum, was sie sagte.

»Mein Eigen!« Er nahm sie in seine Arme. »Ich liebe dich doch! Was sollen alle diese Fragen und Beteuerungen?«

Sie fing plötzlich an zu weinen.

»Ich hätte dir trotzdem lieber einmal mein Herz ausgeschüttet«, flüsterte sie. »Die Welt ist so schlecht, und niemand weiß sich sicher … Am wenigsten im Besitze seines Glückes.«

»Nein, niemand kann sich glücklich nennen, bevor er tot ist, wie der alte Schwätzer Solon gesagt hat. Wenn ich etwas früher zur Welt gekommen wäre, hätte ich nach Kräften versucht, ihn eines Besseren zu belehren … Nein, da lobe ich mir meinen Konfuzius. Er ist ein viel vernünftigerer alter Herr! … Und du, frage nur deinen Freund Li-Chang. Er wird sicher imstande sein, dir einige Kilometerweisheiten über das Glück zu dozieren. Denn er ist noch besser bei ihm zu Hause als ich … Auf diesem speziellen Gebiete jedoch«, er lächelte beglückt, »bin ich vielleicht sogar dem alten Konfuzius über. Was meinst du?«

Sie drückte sich wieder an ihn und überließ sich ganz dem Augenblick.

»Ich meine gar nichts … und weiß auch nichts … ich fühle nur, daß ich unendlich glücklich bin – und das macht mich bange, bange!«


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