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Zweiter Teil

Erstes Kapitel

1.

Es war an einem Vormittag, ungefähr Mitte Juli. Die Sonne spielte mit goldenen Flecken auf Elenas Scheitel und webte eine zarte Glorie um ihr Haupt. Bunte Reflexe blitzten in der silbernen Kette Monkeys, die er ständig klirrend mit sich schleppte. Er folgte Elena aus Schritt und Tritt und beobachtete interessiert alles, was sie tat. Sie war eben damit beschäftigt, ihre Pflanzen und Blumen zu betreuen, als Billy ihr aus dem Atelier entgegenkam. Schon von weitem winkte er lustig mit einem Brief:

»Es ist alles in bester Ordnung!« rief er freudestrahlend.

»Was ist in Ordnung?« fragte sie mit einem kleinen Lächeln und zupfte kokett den Saum ihres Morgenkleides zurecht, das ihr über die Schulter hinabgerutscht war. »Was hast du da, mit was wedelst du da herum?«

»Die Mitteilung von der Bank, daß das Geld deponiert und zur Auszahlung bereitliegt. Wer hat also recht gehabt? Du oder ich?«

»Wenn du von Dr. Capon sprichst, dann hast du allerdings recht bekommen«, gab sie fast etwas enttäuscht zu. »Aber es hat lang genug gedauert, ungefähr drei Wochen.«

»Auch das hat seine natürliche Erklärung. Capon war nämlich verreist. Li-Chang hat es mir bereits vor vierzehn Tagen erzählt. Aber ich habe es für mich behalten,« lächelte er verschmitzt, »aus Angst vor den Kommentaren einer gewissen kleinen Frau … Aber wie du jetzt siehst … An diesem Dr. Capon ist nichts auszusetzen. In wenigen Tagen wird er meine Statue von der Ausstellung abholen und in seine Villa bringen lassen. Mein ›Glück‹! Gut, daß es nur das gipserne ist!«

Er lachte froh und stahl ihr neckend einen Kuß von derselben Schulter, die soeben die löbliche Tendenz gezeigt hatte, ihm ihre weiße und harmonische Rundung zu offenbaren.

»Ja, du guckst mich an und findest mich vielleicht töricht! Aber die Sache mit Capon ist etwas ganz Besonderes. Er ist nicht nur Kritiker von Weltruf, sondern in seiner Sammlung sind sozusagen die Spitzenleistungen der zeitgenössischen Kunst vereint. – Und dann kommt noch die Affäre Li-Chang dazu. Es freut mich nämlich vor allem, daß er gerechtfertigt erscheint! … Und nun werden wir auch unser kleines Fest haben, heute noch! Wie ist seine Telephonnummer?«

Elena legte die Blumenschere leise nieder. Ihr Gesicht hatte auf einmal das Lächeln verloren. Dieses Diner hatte sie völlig vergessen.

»Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?«

»An die Telephonnummer?«

Sie schüttelte nicht ganz überzeugend den Kopf.

»Das ist ja gar nicht wahr, Elena! Jetzt sei lieb und sage sie mir! Er hat ja eine Geheimnummer.«

»Du kannst glauben, was du willst«, erwiderte sie trotzig. »Aber ich weiß sie nicht mehr.«

»Ja, dann muß ich eben versuchen, sie mir auf andere Weise zu verschaffen«, sagte er etwas gereizt. In ihrem Wesen lag deutliche Aggressivität.

»Und außerdem denkst du gar nicht daran,« warf sie triumphierend ein, »daß du Rice und dem Mädchen für heute abend Ausgang versprochen hast. Sie wollen doch in die ›Lustige Witwe‹ gehen, um die Massary zu sehen. Hast du das ganz vergessen?«

»Hm, aber sie brauchen ja erst nach halb acht zu gehen. Und wir könnten schon um sieben Uhr oder noch früher essen.«

»Warum wollen wir nicht allein feiern, wir zwei?« fragte sie schmeichelnd und lehnte sich an ihn. Er wurde einen Augenblick schwankend:

»Natürlich wäre das das Allerschönste.«

»Jetzt kein ›Aber‹ mehr …« Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und wollte ihm einen Kuß geben. Aber er hielt sie sanft zurück.

»Es läßt sich leider nicht machen. Ich ärgere mich an und für sich ebenso darüber wie du, obwohl es mich auch amüsiert, mit Li-Chang beisammen zu sein. Und da ich ihn nun einmal eingeladen habe, so …«

»Ja, ja!« Sie griff sich an den Kopf. »Dann mußt du ihn eben kommen lassen. Aber mich müßt ihr entschuldigen. Ich habe Kopfschmerzen, und du mußt allein mit Li-Chang speisen. Es wird ihm sicherlich auch so am besten gefallen. Und er ist ja gewöhnt, hier im Hause seinen Willen durchzusetzen.«

Billy stampfte zornig auf den Boden:

»Aber das ist doch albern von dir! Solche Romanmanieren anzunehmen! … Die Gräfin hat Migräne … Ihre Hoheit geruhen …!« spottete er und sah plötzlich sehr enttäuscht aus. »Daß du, Elena, so eine frische, ehrliche kleine Person, dich zu diesen Theaterkniffen herabwürdigst!«

»Wenn ich ihn nur losbringen kann, dann …«

»Aber das wirst du nicht!« Er stampfte wieder mit dem Fuße. »Du bist ungerecht gegen ihn, und schon deshalb fühle ich mich verpflichtet, ihn um so gerechter und freundlicher zu behandeln.«

Er drehte ihr den Rücken und stürmte hinaus, die Tür hinter sich zuwerfend. Der Bankbrief flog beinahe durch die Luft, so sauste er davon! …

Elena lächelte trotz ihres Kummers: Wenn er wüßte, ja, wenn er wüßte! Aber so war das Leben immer, diabolisch, man könnte beinahe sagen tragikomisch! … O dieser Li-Chang! dieser Li-Chang!

Ihr Kopf schmerzte sie wirklich. Es war nicht nur Romanlaune, wie Billy gemeint hatte. Sie wollte sich jetzt eine halbe Stunde hinlegen mit einem Schlafpulver.

Sie öffnete die Türe zum Kabinett, in dem das Arzneischränkchen stand, suchte das Glas mit dem Azetyl-Salizyl hervor und löste etwas davon im Wasser auf. Sie beobachtete kaum, daß ihre zitternde Hand dabei einige Körnchen des Pulvers verschüttete. Aber als sie trank, fiel ihr auf, daß sie immer noch ihre Blumenhandschuhe trug. Sie zog sie aus und legte sie neben Schere und Kanne …

In diesem Augenblick hörte sie, wie Billy nach ihr rief.

2.

»Elena, Elena!«

»Ja, was ist los?«

Sie hörte ihn die Türe zum Atelier zurückschieben und in den Salon treten. Im Atelier waren die Vorhänge geschlossen, sie bemerkte es, als sie ihm entgegenging. Es roch nach Magnesium; er hatte also scheinbar Platten entwickelt. Er trug auch ein Glas aus der Dunkelkammer in der Hand.

»Bitte?« fragte sie freundlich.

»Na ja, liebe Elena, ich sehe ein, daß es sehr unschön von mir war, was ich vorhin sagte.«

Er war offenbar selbst mit sich ins Gericht gegangen. Zärtlich nahm er sie um den Arm, so schlenderten sie zusammen durch den Salon ins Kabinett hinein, wo er in Gedanken das Glas auf den Tisch unterhalb des Medizinschränkchens und neben das andere mit dem Azetyl-Salizyl stellte:

»Denn du bist ja gar nicht so«, gestand er reumütig ein. »Aber ich bin ein grober Bengel und sollte einen ordentlichen Klaps dafür bekommen. Doch, ich verdiene es wirklich! Also sei so gut und gib mir einen!«

Er hielt ihr die Backe hin. »Doch, du sollst es wirklich tun!«

»Na, wenn es sein muß …! und bessere dich!«

»Aber das war ja fast eine Liebkosung«, erwiderte er und drückte sie an sich.

Sie fühlte eine kleine, winzige Träne in ihrem Augenwinkel und wischte sie schnell fort. Dann sah sie überrascht auf: ihr Mann war in ein schallendes Gelächter ausgebrochen!

»Monkey, Monkey!« rief er, »sieh nur das Tier an! So ein Affe!«

Monkey stand mitten im Zimmer und machte genau nach, was er soeben gesehen hatte. Er hatte ein Fleckchen erwischt und putzte sich mit gerunzelter Stirn die Augen.

»Hierher mit dem Deckchen!« kommandierte Elena. »Gib es her, Monkey, hörst du!«

Und der Affe lieferte das Deckchen sofort ab, während er sich, um sie zu begütigen, mit schuldbewußter Miene an ihren Beinen rieb.

»Du kleiner Schelm«, lachte sie, und die ganze Szene endete wie immer damit, daß sie ihm liebkosend das Fell streichelte.

»Hör mal zu, Elena,« fing Billy zögernd an, »das mit heute abend habe ich mir noch einmal überlegt. Versprechen bleibt Versprechen. Wenn du aber irgendeine Ausrede weißt, dann …«

Sie merkte ihm an, wie unangenehm ihm die Geschichte war. Offenbar wollte er auf sie Rücksicht nehmen.

»Mein Wort möchte ich natürlich nicht gern brechen, andererseits aber …«

»Das sollst du auch nicht«, fiel sie ihm lächelnd ins Wort.

»Ist das wirklich dein Ernst, Elena?« schon strahlte er wieder.

»Ja, ganz gewiß!«

»Und du willst selbst mit dabeisein?« sie nickte. »Und willst mir seine Telephonnummer sagen?« sie nickte wieder.

»Süße kleine Schlange!« und ausgelassen drehte er sie wie einen Kreisel herum. »Du bist wirklich die reizendste Frau der Erde, und wie Herodes sage ich: Du kannst dir von mir wünschen, was du willst, nur nicht gerade den Kopf Li-Changs auf einer Silberschüssel! Aber womöglich wünschst du dir gerade das … Übrigens solltest du dich noch ein wenig hinlegen, damit du heute abend frisch bist.«

»Erst muß ich noch mit dem Mädchen sprechen.« – »Na, schön, aber wenn das erledigt ist, dann hinauf ins Bett!«

Elena schlief länger, als sie vorgehabt hatte. Man hatte vergessen, sie zu wecken, und so blieb es schließlich Jane überlassen, Monkey zu füttern und zu Bett zu bringen.

»Aber vergessen Sie bitte ja nicht, ihn anzubinden!« Und während Elena sich ohne Janes Hilfe umkleidete, bekam der Affe seine Mahlzeit auf einem Teller serviert, einen Obstbrei, den er mit einem Teelöffel ungemein zierlich und manierlich verzehrte. Dann brachte ihn Jane zur Ruhe. Immer war sie gut und fürsorglich zu diesem Tier, und es war nicht ihre Schuld, daß sie diesmal von Mary weggerufen wurde, bevor sie alles wie sonst in Ordnung gebracht hatte. Aber Monkey seinerseits war höchst zufrieden damit, heute abend nicht einmal angekettet zu werden. Erst mehrere Stunden später erinnerte sich Jane seiner wieder.

3.

Ihr kleines Diner war kurz nach halb acht beendet, über der untergehenden Sonne sah man ein schweres Gewitter aufziehen, so daß Billy sich veranlaßt sah, Rice zur Eile zu mahnen:

»Wenn Sie setzt nicht bald gehen, werden Sie alle drei ins Theater schwimmen müssen. Außerdem ist es ja auch allmählich höchste Zeit.«

»Das sieht mir mehr nach einem kurzen Regenschauer aus«, meinte Elena.

»Da täuschest du dich aber sehr, Kind. Das gibt ein ganz gehöriges Gewitter. Es war ja auch den ganzen Nachmittag über unerträglich schwül.«

Rice setzte eine Karaffe mit Portwein auf den Tisch und trat zurück. »Nun machen Sie sich aber auf die Beine mit Ihren Damen!« nickte ihm Billy zu, »und viel Vergnügen!«

Rice verschwand mit einer korrekten Verbeugung. Die beiden Herren zündeten sich ihre Zigarren an; ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit blieb Elena am Tisch sitzen, Li-Chang beständig im Auge behaltend, jede seiner Bewegungen beobachtend und angespannt lauschend auf alles, was er sagte. Man kam auf die Statue zu sprechen, die in Paris großes Aufsehen gemacht hatte. Die Ausstellungsleitung hatte Dr. Capon gebeten, sie bis zum Schluß der Ausstellung stehenzulassen; aber Capon hatte nur in eine Verlängerung von ein paar Tagen gewilligt.

»Er ist kolossal von ihr eingenommen«, erzählte Li-Chang und zeigte Billy einen Brief Capons, in dem dieser von der Statue in den überschwenglichsten Ausdrücken als »von der prachtvollsten Arbeit von Englands erstem Bildhauer« sprach. »Und über die Presse können Sie sich da auch nicht beklagen!«

»Nein, gewiß nicht, was die Leute schreiben, könnte mich größenwahnsinnig machen … aber – wie geht es übrigens Wing-Foo?« wandte er sich an Elena, die nur traurig den Kopf schüttelte:

»Ich verstehe das nicht,« sagte sie, »weder ist er beim Arzt gewesen, noch hat er sonst ein Lebenszeichen von sich gegeben.«

»Diesen Typus kenne ich,« warf Li-Chang dazwischen, »vagabundierende Naturen sind das.«

»Doch aber eigentlich recht traurig,« meinte Billy, »der Mann war schließlich wirklich krank und hatte ärztliche Behandlung nötig. Hat man ihn schon in seiner Wohnung gesucht?«

»Ja, aber er wohnt nicht mehr dort,« antwortete Elena, »der kleine Yo ist übrigens auch verschwunden.«

»Zu merkwürdig. Noch dazu ein so vorzüglicher …«

Die Unterhaltung wurde durch das Telephon unterbrochen. Elena erhob sich und ging hinaus.

»Es ist für dich, Bill. Smith und Hoggart sind am Apparat.«

Billy stand etwas unwillig auf: Er liebte es nicht, in seiner freien Zeit mit geschäftlichen Anrufen gestört zu werden. Smith und Hoggart, das waren die Kunsthändler, die mit der Reproduktion seiner Plastiken betraut waren. Sie stellten auch Kopien seiner kleineren Arbeiten her und verkauften sie. Am Telephon war Smith selbst:

»Lieber Billy, Sie müssen unbedingt sofort einen Sprung hereinkommen. Lord Arresdale ist heute nach London gekommen und will morgen früh mit dem ersten Zug wieder abreisen. Sie werden ihn ja vom Hörensagen kennen: Ein Original. Er kommt nur einmal im Jahr in die Stadt, bleibt vierundzwanzig Stunden hier und reist dann wieder nach seinen Besitzungen ab; steinreich bekanntlich … jetzt hat er sich in Ihre kleinen Sachen verliebt, will aber nichts kaufen, ohne Sie persönlich kennengelernt zu haben.«

»Ich kann aber unmöglich abkommen,« wehrte sich Billy, »Sie werden das doch selbst einsehen. Ich habe Gäste. Wir müssen Lord Arresdale einfach warten lassen.«

Er wollte das Gespräch abbrechen, aber Smith ließ nicht locker:

»Ich habe ihm bereits versprochen …« drängte er.

»Dann müssen Sie es eben rückgängig machen!«

»Jetzt kommt der Lord selbst an den Apparat …!«

»Aber ich habe nicht die geringste Lust, ihn zu sprechen.« Billy fühlte sich versucht, einzuhängen, aber der Lord war schon da. Und eine Minute später hatte Billy zugesagt zu kommen, worauf er einhing.

»Das scheint ein famoser Mann zu sein!« rief er begeistert aus. »Ja, jetzt glaubt ihr vielleicht, daß ich doch ein Snob geworden bin. Aber ihr hättet ihn fluchen hören sollen, als ich ihm ausweichen wollte – das waren Primaflüche, die ihm niemand so leicht nachmacht.«

Er nahm einen Schluck Portwein.

»Aber Sie bleiben doch natürlich, Li-Chang?«

»Wenn die gnädige Frau nichts dagegen hat.«

»In einer Stunde spätestens bin ich zurück. Ihr werdet schon die Zeit herumkriegen.« Er war schon bei der Tür.

»Bitte entschuldigen Sie auch mich einen Augenblick«, sagte Elena und öffnete die Tür zum Kabinett. »Wollen Sie vielleicht mittlerweile …«

Li-Chang verbeugte sich – und lächelte! …

Billy war im Begriff, in den Regenmantel zu schlüpfen:

»Na, da bist du!« lachte er und strich ihr über die Wange. »Ich zieh ihn nur zur Vorsicht an, falls es losgehen sollte, bevor ich einen Wagen finde … Also, leb wohl solange, Liebste!« Er stürzte zur Haustüre, aber Elena stellte sich ihm in den Weg:

»Ich habe noch etwas mit dir zu besprechen«, sagte sie ernst.

»Dann mußt du dich aber beeilen. Du kannst doch auch nicht Li-Chang solange allein lassen!«

»Ach, der ist mir ganz egal«, brach sie erregt los.

»Aber mir nicht. Er ist unser Gast und …« Er beugte sich vor und küßte sie lächelnd. »Du wirst jetzt brav hineingehen und eine scharmante Hausfrau sein.« Er wollte sie beiseiteschieben, aber sie schlang ihre Arme um seinen Hals:

»Billy, ich mag nicht hineingehen!«

»Aber Elena!« Er starrte sie an, wußte nicht, was er davon halten sollte. »Warum?« fragte er.

»Ich will nicht allein mit ihm sein! … Ach Gott, du kannst aber doch auch gar nichts verstehen.« Sie hatte ihre Arme wieder herabsinken lasten und sah ihn hilflos an.

»Ja, hat er dich denn jemals … belästigt?«

Elena überlegte:

Die Wahrheit, die volle Wahrheit traute sie sich nicht zu sagen. Wenigstens jetzt nicht! Aber einen Teil, einen ganz kleinen …!

»Denn, wenn das der Fall wäre,« fuhr Billy fort, »dann … Du verstehst mich doch! … Antworte mir deswegen ehrlich und aufrichtig: hat er dir jemals in Worten oder Benehmen Anlaß gegeben, dich verletzt zu fühlen?«

Elena hatte jetzt ihren Entschluß gefaßt:

»Es war Li-Chang, der mich seinerzeit verfolgt hat! So: nun weißt du es!«

Es gab Billy einen Ruck:

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

»Ach, es kam alles so plötzlich. Er half mir auch tatsächlich aus einer sehr schlimmen Situation heraus, und darum wollte ich nicht gleich schlecht von ihm sprechen.«

»Ich glaube trotzdem, daß deine Abneigung auf einem Mißverständnis beruht. Li-Chang ist nicht einer von denen, die einer Dame auf der Straße nachlaufen. Übrigens ging er doch auch damals nicht so weit, daß es dich kränken konnte … Also! … Und dann bin ich ja bald wieder da! Gehe jetzt bitte hinein und sei so liebenswürdig, als es dir möglich ist! Ich finde ihn nun einmal nett, den gelben Gauner!«

Er gab ihr einen Kuß: »Wenn etwas los sein sollte, mein Kind, dann kannst du ja immer anrufen. Ich bin innerhalb einer Viertelstunde bei Smith zu erreichen.«

Mit einem kurzen Gruß riß er die Türe auf, und fort war er! Unwillkürlich streckte sie die Arme nach ihm aus:

»Billy, Billy!« Aber er hörte es nicht mehr, seine Schritte verhallten in der hereinbrechenden Nacht. Und als der Wind das Gartentor mit aller Wucht zuwarf, war es ihr, als ob damit zugleich auch ihre letzte Hoffnung erschlagen würde. Dann wandte sie sich und ging langsam durch die Halle zurück ins Kabinett.

4.

Li-Chang blätterte in einem Buche, höflich legte er es zur Seite, als Elena wieder eintrat und sich äußerst konventionell entschuldigte.

»Gnädige Frau, ich habe nichts zu entschuldigen,« lächelte er, »namentlich nicht, da die Veranlassung ein so wichtiges Thema war, wie …« Er beendete den Satz nicht und lächelte sarkastisch.

»Ein so wichtiges Thema?« Elena sah ihn verständnislos an.

»Ja, wie meine Wenigkeit.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie kühl.

»Sollte es möglich sein, sollte ich mich geirrt haben? War ich es nicht, über den Sie sich draußen … unterhalten haben?«

Ihn sehr entschlossen ansehend, antwortete Elena: »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Allerdings, wir haben über Sie gesprochen!«

»Und Sie haben Ihren Herrn Gemahl gebeten, mich, wie man hierzulande so schön sagt, an die Luft zu setzen?«

»Ganz richtig!« Ihr Blick wurde böse.

»Aber er wollte nichts davon hören?« Li-Changs Lachen klang unangenehm sicher. Sie senkte den Kopf.

»Er fragte wohl nach den Gründen für einen solchen Schritt.«

»Ja, das tat er!«

»Und Sie konnten ihm keine angeben!« Er sagte es mit einem widerwärtigen Lächeln.

»Mehr als genug!«

»Aber Sie hatten nicht den Mut dazu!« Wieder lachte er sein böses Lachen. Da sagte sie mit eisiger Herablassung:

»Ich muß mich sehr über Sie wundern, Herr Li-Chang, Sie legen doch wahrscheinlich Wert darauf, als Gentleman zu gelten, nicht wahr?«

»Zu rechter Zeit, ja!« nickte er.

»Dann begreife ich nicht, daß Sie noch Lust haben, hierherzukommen, da Sie wissen, wie wenig sympathisch Sie mir sind!«

»Ach, solche Lappalien!« Er lächelte perfid. »Ich bin zwar feinfühlig, aber trotzdem keine Mimose! … Übrigens müssen sich die Mittel dem Zwecke beugen …«

»Und der ist?«

»Sie können ja versuchen, ihn zu erraten!«

Elena erhob sich erregt.

»Was haben Sie eigentlich mit meinem Manne vor?«

»Das ist das zweite Rätsel, das Sie lösen müssen«, lächelte Li-Chang; er schien sich köstlich zu amüsieren. Sie wandte sich mit zusammengebissenen Zähnen von ihm ab. Sie haßte ihn, oh, wie sie ihn haßte!

»Was habe ich Ihnen angetan, daß Sie mich in dieser Weise quälen und verfolgen?« wandte sie sich ihm wieder zu, halb außer sich vor Aufregung.

»Mir angetan?« spottete er. »Sie haben mir nicht das geringste getan! Übrigens sind Sie es ja auch gar nicht, sondern Ihr Mann, den ich mit meiner ›Verfolgung‹ beehre. Sie interessieren mich nicht um ein Haar mehr, wie dieses elende Buch!« Er klopfte mit der Hand darauf. » Er dagegen, er …! Wenn Sie Angst haben, können Sie sich ja von ihm scheiden lassen,« höhnte er weiter, »dann würden Sie für immer von mir befreit sein!«

»Aber dann müßte also er …« Sie starrte ihn erregt an.

»Sich gegen mich vergangen haben, meinen Sie?« setzte Li-Chang ihren Gedanken fort und lachte dabei laut auf. »Man merkt, daß Sie aus dem Abendlande sind. Ich habe auch gegen Ihren Mann nichts, absolut nichts; er ist nur ein Werkzeug für mich. Aber ich will Ihnen etwas sagen, gnädige Frau, bei uns geht die Sache über die Person!«

»Das ist gemein!« Sie stampfte mit dem Fuße. »Und das wagen Sie mir hier, in meinem eigenen Hause, ins Gesicht zu sagen.«

Er lächelte nur geringschätzig.

»Fort mit Ihnen!« schrie sie wie rasend. »Hinaus! Hören Sie!«

Er erhob sich langsam, aber immer noch lächelnd:

»Und welche Erklärung wollen Sie Ihrem Manne geben?«

»Das ist meine Sache …!«

Ein Klingeln an der Gangtür unterbrach sie.

Ein Gedanke sprang in ihr auf: Wenn jetzt Bekannte kämen, dann würde sich alles von selbst einrenken: Denn sie war sich wohl bewußt, wie schwer es sein würde, Billy eine auch nur annähernd plausible Erklärung zu geben … und sie wollte nicht weiter lügen, sie war dessen müde.

»Einen Augenblick.«

Er lächelte sarkastisch:

»Bitte sehr! Mit dem Hinauswerfen hat es ja später auch noch Zeit …«

Als sie öffnete, stand der Briefträger vor der Türe. Sie konnte ihn gerade noch in der Dämmerung erkennen. Es war aber nicht der gewöhnliche Postbote.

»Mein Kollege hat nämlich einen Hitzschlag erlitten«, erklärte er, »und wurde ins Spital gebracht. Da mußte ich denn seinen Bezirk mit übernehmen, und deshalb bin ich so spät daran.«

Er schnaufte vor Anstrengung, während er im Scheine seiner Taschenlampe einige Briefe herausklaubte, die Adressen noch einmal sorgfältig eine nach der anderen kontrollierte und sie Elena aushändigte. Darauf wischte er sich den Schweiß von der Stirn, grüßte und verschwand in der Nacht, die mit verhaltenem Atem auf das nahende Gewitter zu warten schien.

Elena kehrte langsam in das Kabinett zurück, wo sie die Leselampe anzündete, um die Briefe durchzusehen. Es waren deren sechs, alle an Billy. Als sie ins Zimmer trat, hatte sie Li-Chang am Fenster stehen gesehen. Aber jetzt hatte sie das Gefühl, daß er plötzlich hinter ihr stand – und drehte sich schnell um:

Ja, es war so! seine braunen Augen hingen wie hypnotisch gebannt an dem Briefe, der zuoberst lag, und im selben Augenblick fiel es ihr ein, daß sie die Schrift schon irgendwo einmal gesehen haben mußte.

Wenn sich Li-Chang nicht so auffallend benommen hätte, wäre es ihr kaum in den Sinn gekommen, sich dabei aufzuhalten. Aber, obwohl er mit vorgetäuschter Gleichgültigkeit zu einem Stuhle in der Nähe hinschlenderte und sich hineinwarf, konnte sie doch beobachten, daß er den Brief keinen Augenblick aus dem Auge ließ, und dadurch erregte er begreiflicherweise auch ihr besonderes Interesse. Aber öffnen wollte sie ihn nicht, er war ja nicht an sie adressiert.

»Ihr Gatte scheint eine große Korrespondenz zu haben«, sagte Li-Chang leichthin und streckte mit einer kleinen Verbeugung die Hand nach den Briefen aus. »Sie gestatten, ich beschäftige mich in meinen Mußestunden gern mit Graphologie!«

Elena tat, als ob sie seine Geste nicht bemerkt hätte:

»Das ist unterschiedlich«, antwortete sie und legte wie zufällig die Hand über die Briefe.

Im Bruchteil einer Sekunde sah sie ein unheimliches Licht in seinen Augen aufflackern, das sie die Briefe vergessen ließ und sie veranlaßte, nach dem Telephon zu langen, um Billy um jeden Preis nach Hause zu rufen.

Aber im selben Augenblick brach das Gewitter los! Ein alles übertönender Donnerschlag verschluckte ihren angstvollen Ruf nach der Zentrale, und sie wurde sich bewußt, daß für einige Zeit jegliche Verbindung ausgeschlossen war. Sie legte daher das Telephon mit einer müden, resignierten Miene zurück: Es war alles hoffnungslos!

»Sie haben vorgemerkt, jemand herbeizurufen«, bemerkte Li-Chang mit schlecht verhehltem Spott. »Ihren Mann vielleicht?«

Sie nickte und legte die Hand wieder schützend auf die Briefe.

»Aber jetzt ist jede Verbindung abgebrochen«, schloß er den Satz. In seinen Worten lag ein bewußter Doppelsinn, der ihren krankhaft angespannten Nerven nicht entging:

»Ja, jede!!«

Li-Chang hatte sich erhoben. Er beugte sich über den Schreibtisch:

»Ich bin Ihnen gewiß sehr unangenehm«, sagte er in eigenartig weichem Tone, während sich seine Hand, wie zufällig, dem Briefhaufen näherte, den sie aber um so eifriger beschützte.

»Allerdings, ja!« gestand sie, und wunderte sich selbst über ihre Ruhe. Seine Augen suchten die ihrigen:

»Wollen Sie meinen Worten Glauben schenken, wenn ich Ihnen versichere, daß ich mich entschlossen habe, von hier zu verschwinden?«

»Zu verschwinden?«

»Ja! Sie von meiner Gegenwart zu befreien! Mich künftig von Ihrem Hause fernzuhalten!«

»Wenn das wahr wäre!« Ihr Ausbruch war so echt, so voll von Ungläubigkeit, Hoffnung und offener Antipathie zugleich, daß er es vorübergehend wie ein physisches Unbehagen empfand. Trotz allem: er war doch ein Mann! Und er empfand als solcher die Demütigung, die darin lag, auf eine schöne Frau wie ein ekelhaftes Gewürm zu wirken.

Aber er beherrschte sich. Nur seine Stimme war um eine Nuance weniger weich, als er fortfuhr:

»Sie dürfen und können es mir glauben! Vorausgesetzt, daß Sie sich heute abend noch als mein Freund bewähren.«

»Als Ihr Freund?«

»Wie ich Ihnen sage, ja! …« Er blickte auf seine Uhr. »Nach einer Viertelstunde von jetzt ab werde ich mich dann aus dem Staube machen, und Sie sollen mich nie wieder zu Gesicht bekommen.«

»Und … mein Mann?«

»Auch ihn werde ich dann … in Frieden lassen«, lächelte er.

»Aber Ihre Mission … Ihr Ziel, wie Sie es genannt haben! … Ihre Pläne! Was ist mit denen?«

Seine Antwort war zunächst ein eindrucksvolles Schweigen.

»Denn ich kann Ihnen wohl kaum zutrauen, daß Sie sie mir zuliebe plötzlich aufgeben werden?«

»Sehr richtig, das habe ich auch nicht vor!«

»Aber wie soll ich dann das alles verstehen?« Er beugte sich gegen sie vor und flüsterte:

»Vielleicht sind sie schon verwirklicht und ausgeführt!«

»Schon ausgeführt?« Sie fühlte sich von einer beängstigenden Ahnung erschüttert.

5.

Li-Chang nickte geheimnisvoll. Elena faltete unwillkürlich die Hände und streckte sie, wie im Gebet, beschwörend gegen ihn aus:

»Sagen Sie mir doch, um was es sich handelt!« bettelte sie. »Sagen Sie es mir, bitte! Ich fürchte mich so entsetzlich!«

Der andere hatte nur ein Kopfschütteln zur Antwort.

»Gut denn!« Elena richtete sich auf und bat nicht länger. Sie sah ein, daß sie gegen diesen Felsblock nichts ausrichten konnte. »Dann haben wir zwei uns nichts mehr zu sagen.«

»Mit anderen Worten: Sie zeigen mir zum zweiten Male die Türe!« lächelte er scheinbar gelassen. Aber in seinen schiefen Augen lauerte wieder der Schein, der sie zur Wachsamkeit mahnte. Sie maß mit Sorgfalt und Überlegung die Entfernung zwischen sich und ihm. Keinen Augenblick zweifelte sie, daß er es auf den Brief abgesehen hatte. Daß er ihn unter allen Umständen haben wollte. Er lachte auch nicht länger, und plötzlich stieß er ungeduldig und zynisch zwischen den Zähnen hervor:

»Wollen wir jetzt nicht endlich die Komödie zum Abschluß bringen?«

»Komödie?«

»Na ja, Sie wissen doch schon lange, daß ich den Brief dort sehen will!«

»Welchen Brief?« fragte sie harmlos.

»Der obenauf liegt.«

»Und warum wollen Sie ihn sehen, wenn ich fragen darf?«

»Weil er mich interessiert!«

»Aber der Brief ist doch an meinen Mann, und nicht an Sie!«

»Stellen Sie sich nicht so dumm, gnädige Frau!« Es klang wie das Zischen einer Schlange.

»Wissen Sie denn, wer ihn geschrieben hat?« warf sie dazwischen.

»Ja, natürlich weiß ich das … Aber geben Sie ihn jetzt her!« Er wurde plötzlich unbeherrscht ungeduldig. »Mein Benehmen dürfte Ihnen beweisen, daß es absolut notwendig ist. Ich könnte Ihnen ja den Brief einfach entreißen. Denn was sind Sie anderes für mich, als was Sie immer gewesen sind: ein wehrloser Vogel, den ich nach Belieben töten oder verschonen kann. Oder glauben Sie vielleicht, daß es ein Zufall war, daß ich Ihnen damals in Limehouse zu Hilfe kam?«

Elena überlief es kalt vor Angst.

»Dann ist vielleicht das heute abend mit meinem Manne auch nur … Ihrer Regie … zuzuschreiben?«

»Nein, dafür kann ich nichts. Das ist nur ein glücklicher Zufall!«

»Sie wußten also auch nichts von dem Brief hier?«

»Nein, auch davon hatte ich keine Kenntnis.«

»Und Sie werden ihn mir bestimmt zurückgeben, wenn ich …? Nein, ich kann mich nicht überwinden, ihn herzugeben. Er gehört mir nicht, und außerdem traue ich Ihnen nicht!« … Wie ein Pfeil schoß sie durch das Zimmer, die Treppe hinauf und ihrem Schlafzimmer zu.

Jetzt hieß es biegen oder brechen!

Eine Sekunde stand er wie gelähmt. Dann wollte er ihr nachsetzen. Aber er hielt an:

Ein leises Knurren wurde hinter ihm laut.

Er drehte sich blitzschnell um:

Ach, das war ja nur das dumme Tier!

Er gab dem Affen einen wütenden Fußtritt, der ihn bis an die Tür zum Salon schleuderte, wo er heulend zusammenkroch und sich mit derselben Geste an den Kopf griff wie eine Dame, die an Kopfschmerzen leidet … Der Chinese beachtete ihn nicht weiter. Er hatte keinen anderen Gedanken als Elena und den Brief … diesen Brief, den er um jeden Preis haben mußte! Als er in die Diele hinauskam, hörte er, wie sie die Tür oben zuschlug – und bald danach auch diejenige zu Billys Schlafzimmer, das ebenfalls auf die Treppe mündete.

Es war stockfinster! Er drehte das Licht auf und begann an ihrer Türe zu trommeln, um das Gewitter zu übertönen, das sich mittlerweile zu einer Orgie von Getöse und Regen, von Blitz und Donner gesteigert hatte.

Aber sie gab nicht das geringste Lebenszeichen von sich.

Nun probierte er die Türe zu Billys Zimmer, die aber wie die andere verschlossen war und ihn stumm und leer angähnte.

Dann hämmerte er von neuem auf die erstere los:

»Können Sie mich hören?« rief er. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit. Wenn Sie bis dahin nicht geöffnet haben, wird etwas geschehen, was einzig und allein auf Ihren Mann zurückfallen wird. Ich halte sein Schicksal in meiner Hand, und ich werde ihn zermalmen, wenn Sie mir nicht gehorchen! … Also: spätestens in zehn Minuten!«

Er hörte ein halbersticktes Stöhnen hinter der Türe. Er zögerte noch einen Augenblick. Aber die Tür öffnete sich nicht. Noch nicht!

»Sie wird doch zuletzt klein beigeben«, dachte er triumphierend, als er langsam und unbekümmert die Treppe hinabstieg. »Die Drohung mit ihrem Mann hat gewirkt!« …

Er löschte das Licht in dem Kabinett, mit Ausnahme der kleinen Leselampe, aus und setzte sich in einen der tiefen Sessel. Die Türe zum Gang ließ er offenstehen, so daß er ihn überblicken konnte.

Er hatte ein leises Geräusch gehört, als er das Zimmer betrat, und stellte fest, daß es wieder von dem Affen herrührte, der sich soeben fluchtartig im Salon in Sicherheit brachte.

Dann legte er seine Uhr vor sich hin und wartete.

Die Strahlen der grünen Lampe fielen auf das weiße Zifferblatt und ihren ziselierten Rand. Sie waren die einzige Lichtquelle in dem Zimmer, dessen Halbdunkel nur dann und wann durch einen Blitz zerrissen wurde. Unheimliche Stille lag über dem Raume: mit dem schweigsamen Manne in dem tiefen Stuhl und der unaufhörlich tickenden Uhr.

Jetzt waren die zehn Minuten bald vorüber!

Zweites Kapitel

1.

Es war spät geworden. Es war zehn Uhr vorbei, als Billy nach Hause kam. Wegen des Gewitters war es ihm nicht möglich gewesen, zu telephonieren, und es hatte erst jetzt nachgelassen … um wahrscheinlich bald wieder aufzuleben! Er hatte nicht früher von Lord Arresdale loskommen können; dieser hatte ihm seine Kleinskulpturen bis auf die letzte abgekauft, und Bill hatte heilig und teuer versprechen müssen, ihn im Herbst mit Elena auf seinem Gut in Nordengland zu besuchen. Schließlich war es Billy doch gelungen, sich loszureißen. Es regnete immer noch, aber nur leise, und es war halbdunkel. Es wehte ihn eine eigenartig wehmütige Stimmung aus Park Lane an, mit seinen menschenleeren Gärten und dunklen Fenstern. Warum stand wohl das Gartentor offen? Er hatte es doch vorher hinter sich geschloffen, als er nach der Stadt ging. Na! Vielleicht war ein Besuch gekommen. Oder auch der Postbote! Erst jetzt erinnerte er sich daran, daß ja die Abendpost ausgeblieben war. Ja, so würde es sich wahrscheinlich verhalten! Besuche konnten kaum in Betracht kommen, denn sonst müßte entweder im Salon oder im Atelier Licht sein. Aber es konnte ja auch sein, daß Li-Chang schon weggegangen war!

Billy holte seine Schlüssel aus der Tasche hervor, um aufzusperren, entdeckte aber zu seinem Erstaunen, daß die Entreetüre nicht geschlossen, sondern nur angelehnt war. Merkwürdig! Er ließ sie jetzt hinter sich ins Schloß fallen.

»Elena!« rief er, als er in die Halle kam.

Aber niemand antwortete.

Er rief noch lauter:

»Elena! Elena!«

Doch keine Antwort kam!

Na, vielleicht war sie schon zu Bett gegangen! Aber so früh? Und ohne vorher zugesperrt zu haben? Etwas, was sie sonst nie versäumte! Im Hause war sie auf alle Fälle, das konnte er feststellen, nachdem er das Licht in der Halle aufgedreht hatte.

Und Li-Chang ebenfalls! Auch er mußte noch da sein!

Es gab ihm unwillkürlich einen Ruck, als er das konstatierte: ihre Überkleider hingen ja da nebeneinander. Ihr Pelzmantel und neuer Hut – und auch sein eleganter Paletot.

Aber was konnten sie dann zum Teufel im Sinne haben, daß sie nicht antworteten, wenn er rief? Sollte es am Ende ein Spaß sein? Das hielt er für ziemlich unwahrscheinlich. Dazu wäre ein freundschaftlicheres Verhältnis, als wie es zwischen den beiden bestand, notwendig gewesen.

Er rief noch einmal:

»Hallo Elena! Hallo Li-Chang!«

Aber auch jetzt erhielt er keine Antwort. Ihm wurde unheimlich.

Er warf seinen Überzieher auf einen Stuhl und stürzte durch die Halle in das Kabinett hinein. In diesem Raume brannte übrigens doch ein Licht. Er hatte es nur vom Garten aus nicht sehen können. Die kleine grünbeschirmte Stehlampe verbreitete ja nur wenig Helligkeit um sich. Aber keine Spur von Li-Chang und Elena! Weder im Salon noch im Atelier oder in irgendeinem anderen Zimmer hier unten. Und oben konnten sie natürlich erst recht nicht sein. Was sollten sie dort? Aber vielleicht waren sie in das Souterrain gegangen? Dort hatte er einige Flaschen Wein liegen, die sein ganzer Stolz waren, und Li-Chang war ein großer Weinkenner. Vielleicht hatte ihm Elena – um die Zeit zu vertreiben – vorgeschlagen, dem Weinkeller einen Besuch abzustatten. Sehr wahrscheinlich war das zwar nicht, doch irgendwo mußten sie ja stecken, und die Kleider draußen in der Halle bewiesen deutlich, daß sie beide noch hier im Hause sein mußten.

Im Keller fand er sie auch nicht, obwohl er alle Räume untersuchte, bis auf einen einzigen, in dem das Obst aufbewahrt wurde und wozu scheinbar die Mädchen den Schlüssel hatten. Die Tür war wenigstens zugesperrt.

Er verstand nicht, was dies alles zu bedeuten hatte und wurde ernstlich nervös: wo zum Teufel hatten sie sich versteckt – oder vielmehr, wo konnten sie sein? Denn selbstverständlich konnte es sich in Wirklichkeit nicht um ein »Versteckspielen« handeln.

Er zündete das Licht überall an – eine Lampe nach der anderen. Aber das Licht machte ihm womöglich noch unheimlicher zumute. Es stellte ihn irgendwie bloß – lieferte ihn irgendeiner Gefahr aus, die ihm drohte. Aber welcher? Unsinn! Es war ja lächerlich!

Das Gefühl ließ sich jedoch nicht verscheuchen, soviel er auch versuchte, dagegen anzukämpfen: es schwebte ihm etwas vor, die Ahnung von irgend etwas Schrecklichem, was plötzlich hervorspringen könnte. Er erschrak sogar über den scharfen Schatten, den er selbst warf, und begann das Licht wieder auszulöschen. Als er auf seinem Weg durch die Halle wieder am Kabinett vorbeikam, dessen Türe er hatte offenstehen lassen, durchrieselte ihn eine plötzliche Kälte – als würde er von den schwarzen Flügeln des Unheils gestreift. Er spürte sie fast materiell und blieb wie festgenagelt auf dem dicken Teppich stehen. Es dauerte nur einige Sekunden, bis er seine Haltung wiedergewann, und doch zögerte er unwillkürlich, bevor er die Türe ganz öffnete … so daß er das Zimmer vollständig überblicken konnte.

Im selben Augenblick war es wieder, als ob ihm ein Luftzug entgegenwehe, ein merkwürdiger, beklemmender Hauch, der seinen Mut lähmte und ihn durch seine Unheimlichkeit hypnotisierte!

Um's Himmels willen, was war das nur?!

Er ballte die Fäuste und stieß einen Fluch aus – und schrak gleich darauf selbst darüber zusammen. Der brutale Ton schien eine Antwort zu verlangen – eine Antwort, die er fröstelnd erwartete, die aber nicht kam. Trotzdem schien sie überall in der Luft zu lauern; und mit ihr zusammen die Offenbarung irgendeines geheimnisvollen Grauens.

Nimm dich jetzt einmal zusammen, und sei nicht hysterisch wie ein altes Weib, ermahnte er sich selbst und fing an, von seinem Standort in der Türöffnung aus das Zimmer systematisch zu untersuchen, Stuhl für Stuhl, Tisch für Tisch, Bild für Bild!

Die kleine Lampe brannte unangefochten weiter. Selbstverständlich tat sie das! Aber zum Teufel nein! nicht einmal das war so! »selbstverständlich«. Auch über ihr lag etwas Absonderliches. Sie erschien ihm in ihrer Unbefangenheit geradezu mißtrauenerweckend. Diese ganze Ruhe überhaupt! Daß nicht alles zitterte und eingeschüchtert war wie er unter der Wirkung desselben Alpdrucks und nervösen Ahnungen!

Ach was! Nichts als Dummheiten!

Diesmal aber fluchte er nicht laut. Er fürchtete sich zu sehr vor einer Antwort … die Antwort, die immer noch fehlte, aber doch einmal kommen mußte!

Er war also wirklich hysterisch geworden – er lachte sich selbst aus.

Und warum eigentlich? Daß weder Li-Chang noch Elena zu finden waren, obwohl ihre Kleider in der Halle hingen, war allerdings merkwürdig. Aber warum sofort den Teufel an die Wand malen und das Schlimmste befürchten? Es konnte ja so manches vor sich gegangen sein, ohne daß es deswegen gleich etwas Schreckliches zu sein brauchte. Aber hier in dem Kabinett war jedenfalls niemand zu sehen, soviel war klar, weder am Tisch noch sonstwo. Das Zimmer war menschenleer … wie das ganze Haus!

Li-Chang und Elena mußten also aus irgendeinem ihm momentan unerklärlichen Grunde doch das Haus verlassen haben. Vielleicht in einem Auto. Das würde zum Beispiel zur Genüge erklären, daß sie ihre Mäntel zurückgelassen hatten. Vielleicht hatten sie Eile gehabt. Wie konnte er das wissen! Es gab Gründe genug, und er wollte sich den Kopf nicht länger darüber zerbrechen. Soviel war sicher: Sie waren nicht hier.

Aber alle seine Vernunftgründe wurden bald wieder von dem eigenartigen Gruseln über den Haufen geworfen, welches jede Ecke des Hauses auszuatmen schien. Besonders auffallend strömte es ihm aus dem Zimmer hier entgegen. Er konnte auch auf die Dauer nicht umhin, sich die Unhaltbarkeit seiner Hypothese einzugestehen, daß sie so mir nichts, dir nichts aus dem Hause gegangen wären, ohne ihm auch nur eine Zeile zu hinterlassen!

Aber vielleicht würde er oben irgendeine Nachricht finden. Der Gedanke war an und für sich unwahrscheinlich, aber das Ganze war überhaupt von so ungewöhnlicher Art, daß er sich nicht mehr zurechtfand. Immerhin mußte er einmal nachschauen!

Er riß sich gewaltsam von der geheimnisvollen Macht los, die ihn hier unten fesselte, und stürmte mit zitternden Knien die Treppe empor.

Es mußte doch irgend etwas geschehen sein, packte es ihn plötzlich, etwas Ernstliches! Er vermochte nicht länger mit seinen eigenen Gedanken und Befürchtungen Versteck zu spielen:

Es mußte ein Unglück geschehen sein! Aber welches?

Die Tür zu Elenas Schlafzimmer war angelehnt. Er wagte es kaum, sie ganz aufzumachen. Seine Phantasie spiegelte ihm im voraus das entsetzliche Bild vor, das ihn beim Öffnen der Türe erwarten könnte: Die Leiche derjenigen, die er über alles in der Welt liebte! Als er aber mit einem raschen Fußtritt die Türe aufgestoßen hatte, konnte er erleichtert aufatmen:

Hier war sie auf alle Fälle auch nicht! Hier war alles in bester Ordnung. Alles stand und lag auf seinem gewöhnlichen Platze.

Und ebenso in seinem eigenen Schlafzimmer. Er konstatierte nur mit Erstaunen, daß die Türe zum Gang zugeriegelt war. Als er wegging, war das nicht der Fall gewesen. Wer hatte sie also dann zugeschlossen? Und warum? Na, das würde er vielleicht später erfahren.

Er ging wieder in Elenas Zimmer zurück. Und jetzt bemerkte er einen Geruch, als ob irgend etwas verbrannt worden wäre. Er sah auch, daß das Kamingitter offenstand, und als er hineinguckte, fand er einen Rest verkohlter Papiere. Sonst war der Ofen vollkommen ausgeräumt.

Was konnte Elena wohl hier verbrannt haben? Sollte es ein Brief gewesen sein?

Er sah sich im Zimmer um, und sein Blick traf das Nachttischchen. Darauf lagen einige Briefe. Er stürzte darauf zu: es waren derer fünf, von auswärts, und alle an ihn adressiert!

Warum hatte sie die Briefe aber hier heraufgetragen?

Vorläufig mußte er darauf verzichten, alle die Rätsel zu lösen. Dagegen untersuchte er der Sicherheit halber noch die Zimmer der beiden Mädchen. Auch die Bodenkammer durchstöberte er. Dann ging er wieder die Treppe hinunter. Sein Gehirn hämmerte und seine Augen brannten, und je näher er an das Kabinett kam, desto intensiver drang das von vorhin wieder auf ihn ein: dieses Ahnen einer lauernden Gefahr … dieses Drohen eines Geheimnisses.

Und der Gedanke packte ihn aufs neue: Warum hatte keines von ihnen einen Bescheid für ihn hinterlassen? Er eilte in das Kabinett zurück und fing an, alles, was auf dem Schreibtisch lag, genau zu untersuchen. Aber er fand nichts, absolut nichts von Bedeutung. Mutlos ließ er sich in einen Stuhl fallen und blieb, den Kopf in die Hände vergraben, grübelnd und sinnend sitzen. Plötzlich fiel ihm ein, wie töricht er sich eigentlich benahm. Warum hatte er nicht sofort Li-Changs Wohnung angerufen! Er eilte zum Telephon, suchte hastig nach der Nummer, rief an, erwischte aber nur Li-Changs Diener, der die Auskunft gab, sein Herr sei zum Diner bei dem Bildhauer William French eingeladen.

»Ja doch, Sie sprechen eben mit French selbst,« sagte Billy, »aber Herr Li-Chang ist nicht mehr hier … hat er nicht vielleicht mittlerweile nach Hause telephoniert?« Der Diener verneinte und konnte keinen weiteren Bescheid geben. Billy hängte ab. Er überlegte, ob er die Polizei verständigen solle. Möglich immerhin, daß man dort etwas wußte, aber in dem Augenblick, da er wieder nach dem Telephon griff, fühlte er sich plötzlich wieder wie gelähmt. Ihm war, als wenn irgend jemand im Zimmer ihn fortwährend anstarre.

»Zum Donnerwetter noch einmal!« er schlug ungeduldig mit der Faust auf den Tisch. Die Geschichte wurde ihm zu dumm. Das war ja auf die Dauer nicht mehr auszuhalten. Was war denn nur eigentlich los – dahinten, hinter seinem Rücken. Blitzschnell wandte er sich um und wurde plötzlich sehend: mit unwiderstehlicher, fast magnetischer Kraft wurde sein Blick von dem Stuhl neben dem kleinen Tisch mit der Karaffe und dem halb geleerten Glas darauf angezogen. Ihm war zunächst nicht klar, warum, bis sich in dem Halbdunkel des Zimmers, wie ausdrücklich und mit Bosheit hingelegt, die Umrisse einer Hand, einer ganz blassen Hand auf der Armlehne des Stuhles zeigten. Er starrte gelähmt und erschüttert auf diese im Halbdunkel geradezu leuchtende Hand. Schrittweise und noch immer wie im Traum ging er auf den Stuhl zu, bis er die Hand dicht vor sich sah: eine schlanke, gepflegte Hand mit länglichen Fingern und spitzen polierten Nägeln: Er erkannte sie sofort: Das war die Hand seines Gastes und Freundes, erstarrt und wie eine Kralle um die Armlehne gekrampft.

Li-Changs Hand!

Die nächste Wirkung dieser Erkenntnis war, daß er wieder zu klarem Denken kam, das Angstgefühl vor einem irgendwo verborgenen, unsichtbaren Feind wich von ihm, er griff entschlossen nach dem Stuhl und drehte ihn gegen das Licht.

Und da saß Sun-Li-Chang, der Mandarin, der seine Frau gerettet hatte, sein eigener Gast und Freund! steif, bewegungslos! Um seine schmalen Lippen der Widerschein eines Lächelns … aber mit starrem Blick und offenen Augen … tot, tot!!

Obwohl er etwas dergleichen halb und halb erwartet hatte, prallte er doch zurück und wäre dabei fast auf ein Glas getreten, das am Boden lag und das bis jetzt seinem Blick entgangen war. Die Wirklichkeit traf ihn wie ein Donnerschlag! Einige Sekunden starrte er unverwandt in das Unbegreifliche: was war hier geschehen?

Dann barg er das Gesicht in seinen Händen, und so blieb er stehen, minutenlang, allein mit dem Toten, außerstande, einen Entschluß zu fassen oder etwas anderes zu denken als immer wieder: Wie? Wie? …

Das Gewitter hatte sich verzogen … wie ein Taifun hatte es an diesem Abend über der Stadt gewütet … er hörte nur noch, wie der Regen gegen die Fenster prasselte … dann das leise Ticken einer Uhr … den Schlag seines Herzens … und die schweren stoßweisen Atemzüge seiner eigenen Brust! Aber plötzlich mischte sich in diesen Vierklang noch ein fünfter Laut, der sich wieder in anderen Geräuschen verlor: zuerst ein Gleiten, dann ein Schlürfen, und zuletzt ein Plumps!

Er drehte sich schwerfällig um und sah, gegen das Fenster gepreßt, das Gesicht eines Mannes, ein gelbes, schiefäugiges Gesicht, grauenhaft deformiert, ohne Nase und ohne Ohren! Das Zerrbild eines menschlichen Antlitzes, doppelt unheimlich durch seine tote und zugleich wachsame Ausdruckslosigkeit. Bill stand zunächst wie angenagelt. Dann riß er sich zusammen, lief ans Fenster und riß es auf. Beinahe hätte er die Blumenvase umgestoßen, die auf dem Fensterbrett stand, aber es gelang ihm im letzten Augenblick, sie aufzufangen. Es hatte ihn nur eine Sekunde in Anspruch genommen, aber als er in den Garten blickte, war er menschenleer. Der Mann war fort! Wenigstens schien es so.

Aber wenn es überhaupt ein Mensch von Fleisch und Blut und kein Gespenst war – konnte er natürlich auch schnell um die Ecke gelaufen sein und sich im Hintergrund verborgen halten.

Bill wollte das auf alle Fälle klären. Er warf das Fenster zu und lief schnell durch das Zimmer in die Halle. Als er die Hand auf die Klinke der Entreetüre legte, hörte er ein neues Geräusch, das ihn stutzig machte. Ein ganz ungeniertes Trampeln auf dem Steinpflaster des Gartenweges, was nicht gerade nach einer Flucht klang! Schritte, die sich im Gegenteil dem Hause näherten, und – als sie nur noch durch die Tür von ihm getrennt waren – plötzlich innehielten. Worauf die Türglocke ganz gewöhnlich zu läuten begann.

Außer sich vor Erstaunen riß Bill die Tür auf; draußen im Regen stand ein patrouillierender Schutzmann in strammer, dienstlicher Haltung, der ihn um Entschuldigung wegen der Störung bat:

»Ich sah im Garten einen Kerl herumschleichen und durch die Fenster spionieren.«

2.

»Ich wollte ihn soeben stellen«, sagte Billy. »Haben Sie ihn genau gesehen?«

»Nein, ich sah nur, daß er herumlungerte. Aber als er mich hörte, lief er davon. Übrigens habe ich ihn schon bei meiner ersten Runde bemerkt, als ich an Ihrer Villa vorbeikam, Sir.«

Billy schloß die Tür ab.

»Wir wollen den Garten durchsuchen«, schlug er vor. »Nachher habe ich Ihnen aber auch noch etwas anderes zu zeigen – da drinnen im Haus.«

Es war, wie zu erwarten, niemand im Garten zu finden. Nachdem aber alle Türen versperrt und alle Fenster mit massiven Riegeln verschlossen waren, schien es ebenso unmöglich, daß der Mann Unterschlupf im Haus hätte finden können – wenn er nicht im Besitze eines Schlüssels war.

»Den werden wir wohl nicht mehr kriegen«, meinte der Schutzmann.

»Dann folgen Sie mir bitte in das Haus«, bat Billy. »Ich glaube, daß ein Verbrechen geschehen ist. Wenigstens liegt ein toter Mann oben in meinem Zimmer.«

Der Schutzmann fuhr zusammen:

»Ein Toter! Verflucht noch mal!«

Bill sperrte die Türe auf, und wenige Minuten später stand der Schutzmann in dem hellerleuchteten Kabinett der Leiche Li-Changs gegenüber – Li-Changs, der auch im Tode noch sein immer erstauntes Lächeln hatte.

»Da muß ich gleich telephonieren«, entschied der Schutzmann.

Bill deutete auf den Apparat und gab ihm noch eine kurze Darstellung über das, was sich vor seiner unheimlichen Entdeckung zugetragen hatte.

Als bald darauf die Kriminalpolizei anrückte, die von einem Photographen und einem Experten vom Erkennungsdienst begleitet war, mußte er die ganze Erzählung noch einmal von vorn beginnen. Und der Inspektor McMurton, der die Feststellung des Tatbestandes leitete und ein besonders geschickter Fragesteller war, wußte im Laufe von knapp einer Viertelstunde über Elena genau Bescheid, unter anderem auch von ihrer unüberwindlichen Antipathie gegen Li-Chang. Denn Bill hatte absichtlich mit nichts hinter dem Berge gehalten.

*

Mittlerweile hatte sich auch der Polizeiarzt zur Stelle gemeldet, und die Herren begannen angelegentlich miteinander zu konferieren.

»Auf den ersten Blick hat der Fall gewisse Ähnlichkeit mit einer Herzlähmung«, erklärte der Arzt Billy. »Aber eine sichere Diagnose kann ich natürlich noch nicht geben. Das wird Sache der gerichtsärztlichen Untersuchung sein.«

Einer der Beamten, den McMurton vorhin weggeschickt hatte, als Bill von den verkohlt aufgefundenen Papierresten erzählte, kehrte jetzt wieder zurück.

»Ich habe den Hilfsbriefträger zu Hause in seiner Wohnung getroffen«, referierte er. »Er erklärte, daß er so um acht Uhr ungefähr dagewesen sei und sechs Briefe abgegeben hätte, die alle an den Bildhauer William French adressiert waren.«

»Hier sind aber nur fünf«, zählte Billy die Briefe nach, die er von oben mit heruntergenommen hatte.

»Es ist also anzunehmen, daß Ihre Frau Gemahlin den sechsten geöffnet, ihn gelesen und dann aus irgendeinem Grunde vernichtet hat,« kombinierte McMurton. »Ich habe bereits einen meiner Leute beauftragt, den Brief aus den Resten, soweit es möglich ist, zu rekonstruieren. Er wird bald damit fertig sein.«

Der Mann meldete sich auch wirklich bald darauf:

»Hier ist vorläufig einmal der Umschlag!« Er reichte McMurton ein zusammengestückeltes Papier. Der Inspektor ließ es an Billy weitergeben.

»Eine sehr eigentümliche Schrift!« bemerkte er. »Ist sie Ihnen bekannt?«

Billy studierte sie einige Sekunden. Wo hatte er diese Schrift schon einmal gesehen? Dann kam ihm plötzlich die Erinnerung. Er öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und suchte den Ablieferungsschein über den Transport seiner Statue hervor.

»Hier bitte! Das ist dieselbe Handschrift«, sagte er, indem er McMurton den Zettel zeigte.

»Ja, da ist kein Zweifel«, nickte der Inspektor und ließ ihn zur Sicherheit auch von den anderen mit dem Umschlag vergleichen. Sie waren alle derselben Ansicht. »Und wer hat nun diesen Zettel geschrieben? Den Namen kann ich nämlich beim besten Willen nicht entziffern.«

Bill schloß die Schublade wieder zu:

»Ein Chinese, namens Wing Foo. Er hat in Limehouse gewohnt. Aber jetzt ist er nicht mehr dort.«

»Warum? Ist er ausgezogen?«

Bill nickte.

»Und seine jetzige Adresse kennen Sie nicht?«

»Leider nein! Er ist seit einiger Zeit mit seinem Sohne, einem kleinen tüchtigen Jungen von vierzehn bis fünfzehn Jahren verschwunden.«

In diesem Augenblick drang von der Straße her das Hupen eines Autos herein.

Billy sprang wie eine Feder in die Höhe.

»Vielleicht ist es meine Frau?«

Aber McMurton schüttelte den Kopf:

»Nein, es ist das Auto des gerichtsärztlichen Instituts. Vielleicht wollen Sie solange mit mir in ein anderes Zimmer gehen, bitte?« Er gab seinen Leuten einige Befehle und entfernte sich mit Billy durch den Salon in das Atelier.

Billy hörte ein Klingeln und das Auf- und Zuwerfen von Türen, dann eilige Schritte, die sich näherten, um sich nach wenigen Minuten in umgekehrter Richtung wieder zu entfernen. Dann noch einmal das Zuschlagen einer Türe – der Gangtüre – und neues Autotuten.

»So, nun hat man die Leiche fortgetragen«, sagte McMurton, der sich eine Zigarre angesteckt hatte. »Wir haben auch das Glas mitgegeben – das am Boden lag – und noch einige Kleinigkeiten außerdem. Jetzt wollen wir sehen, zu welchem Urteil man dort gelangen wird.«

»Sie scheinen nicht so ganz davon überzeugt zu sein, daß es sich um einen Unglücksfall handelt«, fragte Billy und fühlte sich merkwürdig unbehaglich dabei.

»Offen gestanden, nein!« antwortete McMurton. »Aber es ist immerhin zu hoffen.«

»Und meine Frau hat noch immer nichts von sich hören lassen«, flüsterte Billy mit abgewandtem Gesicht.

»Wir haben auch hier getan, was wir konnten: an alle Polizeistationen und Krankenhäuser telephoniert, mit anderen Worten: unser ganzer Apparat ist in Bewegung gesetzt. Sie müssen nur noch etwas Geduld … Herein!«

Es war der Beamte, der den Brief zusammenzusetzen hatte. Er reichte ihn dem Inspektor.

»Na, hier ist also der Brief«, murmelte McMurton und begann, sich in seinen Inhalt zu vertiefen. »Hm, ich dachte es mir doch! Anonym. Und eine regelrechte Warnung.«

Er gab Billy den Brief. Es waren nur Bruchstücke des ursprünglichen Textes übrig, die sich aber ohne Mühe ergänzen ließen. Er lautete ungefähr:

 

»Sehr geehrter Herr!

Nehmen Sie sich vor Li-Chang in acht! Er ist ein schlechter Mensch, der Böses gegen Sie im Schilde führt. Ich traue mich nicht, weder meinen Namen zu nennen, noch persönlich zu Ihnen zu kommen. Es wäre zu gefährlich für mich. Trotzdem bitte ich Sie, mir glauben zu schenken und meinen Rat zu befolgen: lassen Sie sich nie mehr überreden, noch einmal eine Ihrer Arbeiten an Dr. Capon – oder überhaupt irgend etwas auf Empfehlung Li-Changs nach Frankreich zu verkaufen. Brechen Sie jede Verbindung mit Li-Chang ab. Aber lassen Sie ihn nicht erfahren, daß Sie einen Brief bekommen haben. Und hüten Sie sich noch mehr, ihn den Brief sehen zu lassen. Verbrennen Sie ihn, sobald Sie ihn gelesen haben – und erinnern Sie sich immer daran, was ich Ihnen gesagt habe.

Ein treuergebener Freund.«

 

»Li-Chang hat also den Brief haben wollen«, folgerte McMurton. »Soviel ist sicher! … Wenn nur Ihre Frau hier wäre.«

Billy antwortete nicht. Er lehnte sich, mit dem Rücken gegen den Inspektor, an die Flügeltüre, die zum Garten führte, seine fieberheiße Stirn an den kalten Glasscheiben kühlend; die brennenden Augen fest geschlossen. Er vernahm die Worte McMurtons nur wie ein fernes, leises Murmeln. Es begann wieder zu stürmen und zu regnen draußen; der Himmel hatte sich von neuem dicht überzogen und hing wie eine Sintflut, blauschwarz und drohend, über der Erde.

Und doch kam es ihm plötzlich vor, als ob sich die Szene von vorhin wiederholte, als man die irdische Hülle des Mandarinen durch das Haus getragen hatte … wieder klappten Türen auf und zu … verhaltene Rufe wurden laut … und eilige Schritte nahten … dann ein dringliches Klopfen an der Türe zum Atelier, und zuletzt McMurtons schnarrendes:

»Herein!«

Billy wandte sich unwillkürlich um. Ein Schutzmann war ins Zimmer getreten. Atemlos, aber mit beinahe triumphierendem Lachen.

»Was ist, Wilson?«

»Wir haben Mrs. French gefunden!!«

Billy sprang auf, seine Augen suchten angstvoll diejenigen des Schutzmanns:

»Sie ist doch nicht …?«

»Nein, es ist nichts von Bedeutung,« beruhigte er ihn, »die gnädige Frau ist nur etwas alteriert … ein wenig aufgeregt …«

»Wo haben Sie sie denn gefunden«, unterbrach ihn McMurton.

»Ja, wir glaubten doch, das ganze Haus von oben bis unten durchsucht zu haben. Da war nur noch der kleine Raum im Keller übrig, der zugesperrt war und den Herr French als Obstkammer bezeichnet hatte. Aber wir teilten alle seine Meinung, daß die gnädige Frau unmöglich da drinnen sein konnte … Vor ein paar Minuten hörten wir nun jemand rufen … und ausgerechnet aus diesem Raume … da schlugen wir dann die Türe ein … und fanden Mrs. French …«

»Und warum hat sie sich denn nicht schon früher bemerkbar gemacht?« fragte McMurton.

»Die gnädige Frau meint, daß sie ohnmächtig gewesen sei«, erklärte Wilson. »Sie ist, wie gesagt …«

Er blickte sich verwundert nach Billy um, der ihn ohne Umstände zur Seite schob und durch die Zimmer auf die Halle stürzte. Dort fand er Elena, mühsam auf das Treppengeländer gestützt, umgeben und getröstet von Jane und Mary, die mit Rice soeben vom Theater zurückgekommen waren …

Aber Wilson hatte doch nicht ganz die Wahrheit getroffen: Elena war schon mehr als ein wenig aufgeregt, so wie sie dastand, mit fliegenden wilden Haaren, entsetzten Augen, und mit Händen, deren Finger sich in ununterbrochener Nervosität bewegten.

Bill dämpfte unwillkürlich seine Stimme, als er sie anrief: »Elena, liebe kleine Elena!« und sie an sich zog. Und erst dann erkannte sie ihn wieder. Ein zartes Licht erhellte ihre Augen, und ihr verstörtes Angesicht begann wie eine Blume aufzublühen: es war nur ein mattes Lächeln zunächst, und sie kämpfte mit den Tränen, aber es war immerhin ein Lächeln. Und die Bewegung, mit der sie ihre Hand in die seinige legte, drückte tiefen Schmerz und jauchzende Freude aus: sie fühlte sich wieder geborgen – jetzt war sie wieder zu Hause … Und doch …!

Billy wollte sie am Arm nehmen, um sie zu ihrem Schlafzimmer zu führen. Aber nach ein paar Schritten brach sie zusammen. Er nahm sie entschlossen auf die Arme:

»Jetzt muß sie sich zuerst etwas erholen«, sagte er zu McMurton, der gern sofort mit ihr gesprochen hätte. »Sie sehen doch, daß sie krank ist.«

Aber Elena widersprach merkwürdigerweise selbst: sie sei nur ein wenig müde.

»Wenn ich mich eine Viertelstunde ausgeruht habe, stehe ich gerne zu Ihrer Verfügung«, sagte sie – und lächelte Billy freundlich und aufmunternd zu.

*

Als die drei Herren – Billy, McMurton und der Detektiv Burke, McMurtons bevorzugter Assistent – eine halbe Stunde später in Elenas Ankleidezimmer traten, fühlte sie sich schon bedeutend besser. Sie war zwar noch matt und hatte sich auf ihrem Ruhebett ausgestreckt. Billy setzte sich an ihre Seite. Er nahm ihre Hände in die seinen und liebkoste sie. Sie kamen ihm in solchen Momenten vor wie zwei arme, kleine Vögelchen, voll Lebhaftigkeit, aber scheu und wehrlos. Ab und zu blickte sie lächelnd, wie dankbar, zu ihm empor … aus einer Müdigkeit, die nicht nur körperlicher Art war.

»Wir möchten Sie also bitten, gnädige Frau,« leitete McMurton das Gespräch ein, »uns zu erzählen, was heute abend vor sich gegangen ist. Von dem Moment an, da Ihr Herr Gemahl Sie verließ, bis Sie sich in den Kellerraum einsperrten.«

Sie nickte und wollte sofort mit ihrer Erzählung anfangen; zögerte jedoch einen Augenblick, und es war, als ob sie die Worte nur mit größter Mühe über die Lippen brächte, als sie fragte:

»Wir hatten heute abend einen Gast bei uns … Mr. Li-Chang … Wie verhält es sich mit ihm?«

Auch der Inspektor zögerte mit seiner Antwort … dann sagte er:

»Er ist tot, gnädige Frau. Es ist hauptsächlich wegen dieser Angelegenheit, daß wir …«

»Ich verstehe«, nickte sie und atmete beinahe erleichtert auf … Dann erzählte sie der Reihe nach, was vorgefallen war, alle äußeren Vorkommnisse … alles, was sie erzählen konnte:

Von dem Briefe! Von ihrer Flucht ins Schlafzimmer! Von den Attacken Li-Changs gegen ihre Türe. Wie sie den Brief verbrannte und so weiter.

»Warum weigerten Sie sich, dem Verstorbenen den Brief auszuhändigen?« fragte McMurton, so, als ob er sie nicht ganz verstanden hätte.

»Weil ich, wie ich schon sagte, der Überzeugung war, daß er den Brief öffnen und lesen würde, ohne mich um Erlaubnis zu fragen – und ohne mir den Brief wieder zurückzugeben. Als ich ihn nachher selbst las, verstand ich, daß er allen Grund hatte, ihn haben zu wollen.«

»Ja, wir kennen den Inhalt ebenfalls«, nickte McMurton. »Glauben Sie, gnädige Frau, daß etwas Wahres dran ist?«

»Ganz bestimmt, ja!«

»Haben Sie eine Ahnung davon, was mit den Bemerkungen von der Statue und Dr. Capon gemeint ist und was die Warnung des Schreibers vor jedem Verkauf nach Frankreich durch Vermittlung des Verstorbenen bedeuten soll?«

Elena schüttelte den Kopf:

»Nein, das ist mir alles unverständlich«, sagte sie. »Aber es muß ja irgend etwas Fragwürdiges mit der Statue im Spiele sein.«

»Und nachdem Sie den Brief verbrannt hatten, was geschah dann, gnädige Frau?«

»Erst horchte ich angespannt, ob er noch auf der Treppe sei. Aber als ich keinen Ton hörte, sperrte ich die Türe auf. Es war mir natürlich unheimlich zumute, denn er hatte sich doch äußerst seltsam benommen. Noch dazu wußte ich jetzt bestimmt, daß er uns feindlich gesinnt war – und er seinerseits mußte gemerkt haben, daß ich mir darüber klargeworden war. Ich war aber auch entschlossen, nicht mehr Skandal zu machen, als unbedingt notwendig war. Der Brief war ja verbrannt – an den konnte er nicht mehr kommen. Ich faßte daher den Entschluß, hinunterzugehen und ihn einfach zu bitten, das Haus zu verlassen. Nachher wollte ich meinem Manne bei seiner Heimkehr alles auseinandersetzen.«

»Und dann gingen Sie also auch tatsächlich hinunter?« fragte McMurton.

Elena nickte, sah zur Seite und wurde blaß. Sie schloß die Augen für einen Augenblick.

»Und was dann?« Der Kriminalbeamte betrachtete sie mit angespannter Aufmerksamkeit.

Elena machte einige nervöse Schluckbewegungen:

»Zuerst konnte ich ihn überhaupt nicht finden!«

»So ging es mir auch«, sekundierte Billy.

»Bei einem grellen Blitz sah ich plötzlich seine Hand auf der Armlehne des Stuhles hängen. Ich rief ihn bei seinem Namen, aber als er keine Antwort gab und sich auch nicht bewegte, schlich ich mich zu dem Fauteuil hin – und sah ihn darin liegen – starr und tot!«

Sie barg schaudernd das Gesicht in ihren Händen. Eine Weile danach fuhr sie fort:

»Ich war außer mir vor Angst. Sie müssen bedenken, daß ich mutterseelenallein im ganzen Hause war. Und draußen tobte das Gewitter mit Blitz und Donnerwetter, und der Regen stürzte in Strömen hernieder. Es war nicht möglich, zu telephonieren, niemand konnte mich rufen hören. Wir sind ja im Sommer ohnehin fast die einzigen Menschen in der Gegend … Ich wurde halb wahnsinnig vor Entsetzen. Nur eines war mir klar: ich mußte fort. Fort aus dem Banne dieses entsetzlichen Grauens, das aus jedem Winkel des Hauses kroch …! Gleichviel wohin … Hinaus in den Regen, in das Gewitter … Um jeden Preis fort, fort …! Und dann stürzte ich durch die Zimmer, durch die Halle, zur Türe hinaus. Keinen Augenblick kam mir der Gedanke, Hut und Mantel mitzunehmen, obwohl das Wetter so schrecklich war. Nur weg von hier, das war das einzige, was ich zu denken vermochte. Ich habe wahrscheinlich fürchterlich ausgesehen,« lächelte sie matt bei der Erinnerung, »wie eine Furie … als ich die Tür drunten öffnete. Sonst hätte ich wohl kaum so auf ihn wirken können, daß er auf und davon lief, als ob ihm Gespenster auf den Fersen wären.«

»Welcher Er?« fragten Bill und McMurton wie aus einem Munde.

»Der Mann mit dem Affen … Der Chinese, von dem ich dir damals erzählte, Billy.«

»Ach, er war es? Ja, weiß Gott, jetzt, wo ich mir's überlege; so sah ja auch mein Freund von vorhin aus! … Aber was konnte er hier wollen?«

Elena zuckte die Achseln:

»Ich kann es mir nicht denken – wenn nicht vielleicht irgendeine geheime Verbindung zwischen ihm und Li-Chang bestanden haben sollte. Ich erschrak dermaßen vor ihm, daß ich sofort kehrtmachte und in den Keller hinunterlief. Die Türe zur Obstkammer stand nur angelehnt, der Schlüssel steckte von innen. Ich warf die Tür zu und sperrte sie ab, muß aber in meiner Aufregung den Schlüssel herausgerissen haben. Das letzte, was ich hörte, war, wie er klirrend zu Boden fiel. Dann verlor ich das Bewußtsein … und kann mich auf nichts mehr erinnern.«

»Und Sie dachten nicht daran, gnädige Frau, Ihrem Gaste Hilfe zu holen?«

»Nein, ich hatte keinen anderen Gedanken als zu fliehen.«

»Obwohl Sie nicht einmal mit Bestimmtheit wußten, ob er wirklich tot sei?«

Elena fixierte McMurton mit einem eigenartigen Lächeln:

»So etwas weiß man immer, wenn man dem Tod gegenübersteht!«

»Sie fragten doch vorhin danach?«

»Aber nur, um es noch einmal bestätigt zu hören. Das hätte ja auch alles ein böser Traum sein können!«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Gespräch. Es war der Diener:

»McMurton werden ans Telephon gewünscht. Ich habe den Apparat nach hier oben umgestellt.«

»Danke!«

McMurton nahm den Hörer. Die anderen verhielten sich schweigend, solange er sprach, konnten aber aus seinen einsilbigen Worten weiter keine Schlüsse ziehen. Es vergingen einige Minuten. Dann legte er den Hörer zurück. Vergebens versuchte er seine Aufregung zu verbergen, als er, zu Elena gewendet, sagte:

»Es war der Gerichtsarzt. Haben Sie, gnädige Frau, vielleicht das Glas bemerkt, das auf dem Boden neben dem Stuhle lag und das wahrscheinlich von dem Verstorbenen umgeworfen worden war?«

»Nein, das habe ich nicht gesehen. Sie müssen bedenken, daß es halb dunkel im Zimmer war und in welcher Aufregung ich mich außerdem befand.«

»War es wegen dieses Glases, daß man Sie angerufen hat?« fragte Billy.

McMurton nickte mit schwerwiegender Geste.

»Und zu welchem Urteil ist man darüber gekommen?«

»Daß – Zyankali in dem Weine war!«

»Zyankali?« Billy und Elena starrten einander in höchster Bestürzung an. »Eines der fürchterlichsten Gifte, die es gibt – das auf der Stelle tödlich wirkt!«

»Sie haben recht«, nickte McMurton. »Und besonders dann, wenn es, wie hier, in reinem Portwein eingenommen wird. Sagen Sie, haben Sie Zyankali im Hause?«

»Ja, ich benötige es dann und wann für photographische Zwecke«, antwortete Billy.

»Und wo heben Sie es auf, wenn ich fragen darf?«

»In einem besonderen Schrank im Atelier.«

»So, daß es jedermann zugänglich ist?«

Es war Billy nicht entgangen, daß McMurtons Stimme plötzlich eine andere geworden war. Man konnte fast eine Anklage heraushören – was ihn stutzig machte.

»Nein, der Schrank ist selbstverständlich immer abgesperrt,« erklärte er, »und da ich den Schlüssel selbst aufbewahre, kann natürlich nicht jeder dazu kommen, wie Sie anzunehmen beliebten.«

»Sie sind also der Überzeugung, daß niemand das Gift aus Ihrem Schranke hat herausnehmen können?«

»Absolut!« Billy schüttelte den Kopf mit wachsendem Ärger: wie man nur so etwas Einfältiges fragen konnte!

Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte McMurton – und seine Worte fielen wie Hammerschläge nieder:

»Und nichtsdestoweniger befinden Sie sich doch im Irrtum!«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Gläschen steht nämlich augenblicklich offen in Ihrem Kabinett. Und wahrscheinlich hat es auch schon mehrere Stunden dort gestanden.«

»Ja, aber wie kann es dorthin gekommen sein?« rief Billy in ungläubigem Erstaunen.

»Ich weiß es nicht«, sagte McMurton achselzuckend. Seine grauen Augen hatten einen stechenden Blick angenommen, seine ganze Haltung war nicht mehr so höflich wie vorher. »Vielleicht hat es Ihre Frau dorthin gestellt?«

»Nein – dann muß ich es wohl selbst vergessen haben«, warf Billy ein. »Ich habe tatsächlich heute morgen photographiert, war jedoch in gutem Glauben, es wieder an seinem Platz verwahrt zu haben.«

»Was Sie aber nicht getan haben können; vorausgesetzt, daß es nicht mehrere solcher Gläser mit Zyankali in Ihrem Hause gibt … so, das ist also nicht der Fall! … Dann erlauben Sie noch die eine Frage: sind heute vielleicht noch andere Gäste außer Li-Chang bei Ihnen gewesen?«

»Nein.«

»Und die gnädige Frau hat uns auch nichts mehr über das Giftglas zu erzählen?«

»Nein. Aber jetzt, wo die Rede davon ist, fällt auch mir ein, daß mein Mann heute früh damit hantiert hat. Daß er es aber stehenließ, habe ich nicht beobachtet.«

McMurtons Stimme klang plötzlich lauernd und heimtückisch, als er ihr unvermittelt die Frage entgegenwarf:

»Und Sie selbst haben es nicht berührt … oder etwas von dem Gifte herausgenommen?«

3.

Sie starrten ihm beide wie entgeistert ins Gesicht. Sie – von dem Gift genommen?? Wo wollte er mit der Frage hinaus??

McMurton betrachtete Elena mit kalter Sachlichkeit:

»Sie wundern sich, gnädige Frau, daß ich diese Frage an Sie richte?«

»Aber selbstverständlich wundert sich meine Frau darüber, und mit Recht!« mischte sich Billy aufgeregt in das Gespräch. »Was sollte sie mit Zyankali anfangen?«

McMurtons Züge waren undurchdringlich:

»Und trotzdem haben sich auf den Handschuhen Ihrer Frau Gemahlin Spuren davon vorgefunden … Ja! Die Handschuhe lagen nämlich in der Halle auf dem Fußboden. Es wurde konstatiert, daß irgendein weißes Pulver daran haftete. Wir gaben sie daher zusammen mit den anderen Sachen zur Untersuchung an das Laboratorium weiter. Es war zunächst nur eine Vorsichtsmaßregel. Aber das Pulver entpuppte sich als von derselben Substanz, wie einige Körnchen auf dem Tisch und neben dem Stuhl, in welchem Mr. Li-Chang aufgefunden wurde.«

»Und das Institut behauptet allen Ernstes, daß auf dem Handschuh meiner Frau Zyankali gewesen sei?«

»Ja!« McMurton gab sich keine Mühe mehr, den verletzenden Ton seiner Stimme zu dämpfen. »Und es wurde des weiteren festgestellt, daß dieselben Handschuhe der gnädigen Frau sogar in Berührung mit dem Glase gekommen sein müssen; und zwar so intim, daß sie einen deutlichen Abdruck darauf hinterließen, der übrigens nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Nase wahrgenommen werden konnte. Die Handschuhe haben nämlich, was ihre Frau wird bestätigen können, einen sehr ausgeprägten Geruch an sich.«

»Wenn meine Frau aber bestreitet, das Glas berührt zu haben … von dem Zyankali gar nicht zu reden …?«

»Dann bedauere ich, daß die Indizien dem widersprechen.«

»Aber Sie werden meiner Frau doch nicht zutrauen, daß sie in einem so wichtigen Punkte die Unwahrheit sagen würde?«

McMurton lenkte ein:

»Es wäre ja immerhin noch die Möglichkeit offen, daß die Handschuhe von einem Unbefugten benutzt worden waren.«

»Wie meinen Sie das …?«

»Ja – daß nicht Sie, Mrs. French, sondern zum Beispiel eines der Mädchen …«

Elena hatte schweigend zugehört und war über die Wendung, die das Gespräch nahm, in steigende Besorgnis geraten. Aber nun flog ein feines Lächeln über ihre Lippen. Sie war nicht umsonst eine Frau – und dazu eine mit einer nicht nur sehr schönen, sondern auch sehr kleinen Hand:

»Sie würden sicher keinem von ihnen passen!« Sie hielt McMurton ihre Hand entgegen. »Ich kann nur Kindergröße tragen«, erklärte sie und lächelte von neuem.

»Und es ist doch sicher,« fragte der Inspektor noch einmal, »daß Sie keinen anderen Gast als den Verstorbenen bei sich im Hause gehabt haben? Keine Dame zum Beispiel?«

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Elena.

»Und Sie, Mr. French, haben Sie vielleicht heute ein weibliches Modell gehabt?« wandte sich McMurton an Billy.

»Nein, ich arbeite zur Zeit ganz ohne Modell.«

Der Inspektor räusperte sich resolut.

»Dann bleibt nichts anderes übrig, als daß sich die gnädige Frau mit nach Scotland Yard bemüht und ihre Erklärung dort zu Protokoll gibt … Bis setzt war ja unsere Unterhaltung nur als ein Privatgespräch zu unser aller Bestem aufzufassen, und ich glaube kaum, daß wir damit dem Geheimnis noch näher auf den Grund kommen werden, auch wenn wir es noch länger fortsetzen.«

Er erhob sich.

»Li-Chang ist also entweder vergiftet worden, oder er hat sich selbst vergiftet?« fragte Billy.

»Eines von beiden, ja!« McMurton blickte auf die Uhr. »Aber nun möchte ich gern nach einem Wagen telephonieren, wenn die gnädige Frau gestattet.«

Elena nickte.

»Aber du bist doch gar nicht imstande …«, sagte Billy, dem es merkwürdig schwül zumute war.

»Oh, so viele Kräfte habe ich schon noch,« lächelte sie ihm beruhigend zu, »um zu wiederholen, was ich hier gesagt habe. Vielleicht werden die Herren so lange hier warten, bis ich angezogen bin. Sie können auch von unten aus telephonieren, Herr Inspektor.«

McMurton verbeugte sich höflich und öffnete die Türe zum Treppenhaus. Draußen vor dem Hause krachte es, als ob eine riesige Welle gegen die Mauer geschleudert würde. In der Ferne rollte der Donner. Der Regen strömte noch immer. »Verfluchtes Wetter!« murmelte er vor sich hin.

Billy ging gleich hinter dem Inspektor. Dann erst folgte der Detektiv Burke. McMurton gab diesem ein stummes Zeichen, und als sie unten an der Türe zum Kabinett angelangt waren, zog er sich gewandt zurück – um wieder die Treppe emporzuschleichen und sich in dem Gang vor Elenas Schlafzimmer zu postieren …

»Ich werde meine Frau selbstverständlich nach Scotland Yard begleiten«, sagte Billy zu McMurton, als dieser das Auto bestellt hatte. Jane ging in dem Augenblick gerade durch das Zimmer. »Bitte, gehen Sie hinauf, Jane, und helfen Sie der gnädigen Frau.«

Das Mädchen verschwand mit einem kleinen Knicks.

Burke, der angespannt horchend vor Elenas Türe Wache hielt, hatte kaum Zeit, sich hinter einem Schrank zu verstecken, als sie in großer Hast und mit verweinten Augen die Treppe heraufstürmte.

»Aber was haben Sie denn?« hörte er Elena sie fragen, bevor die Tür zufiel.

Jane wollte gar nicht mit der Sprache heraus.

»Na, Sie müssen doch wissen, warum Sie weinen, Jane«, sprach ihr Elena zu. Und nun hörte er, wie das Mädchen laut aufschluchzte und Elena sie zu trösten versuchte: »Aber Jane, was ist nur mit Ihnen?«

»Ach, es ist halt wegen der gnädigen Frau!« sagte sie weinerlich. »Ich bin so traurig! Ich habe die Gnädige immer so gern gehabt, und wenn Sie jetzt fortmüssen, dann …«

»Fortmüssen?«

»Ja, wenn man die gnädige Frau nicht mehr fortläßt … auf der Polizei, meine ich …!«

»Aber Jane, was denken Sie eigentlich!« Elena lachte hellauf, wenn es auch ein wenig gekünstelt klang. »Warum sollte mich die Polizei dortbehalten? Ich bin in wenigen Stunden wieder zurück.«

»Das glauben die Gnädige, jawohl!« schnupfte Jane. »Lady Arrick hat es auch geglaubt. Man hat sie auch in zuvorkommendster Weise aufgefordert, wegen einer ganz unbedeutenden Sache nach Scotland Yard zu kommen. Aber das Ende vom Lied war doch, daß sie eingesperrt wurde.«

»Das ist schon möglich. Aber Lady Arrick hatte sich auch gegen das Gesetz vergangen, sich mit gefälschten Rezepten Kokain verschafft. So etwas habe ich nicht getan«, lächelte Elena.

»Nein, aber sie wurde auch unter einem harmlosen Vorwand geholt«, beharrte die Zofe. »Die Polizei versteht es, so spitzfindige Fragen zu stellen, daß man gezwungen wird, sein ganzes Inneres freizulegen. Und dann haken sie an den unschuldigsten Dingen ein. Und welcher Mensch hätte nicht in seinem Leben einmal irgend etwas getan, was nicht das volle Tageslicht verträgt?«

Elena zuckte etwas zusammen. Etwas Wahres war an dem, was das Mädchen sagte: Wer konnte von sich sagen, niemals etwas getan zu haben, was …?

»Aber beunruhigen Sie sich nicht meinetwegen, liebe Jane. Das wird alles nicht so schlimm werden. Wie lieb von Ihnen, daß Sie so anhänglich sind. Gehen Sie nur jetzt. Ich werde läuten, wenn ich Sie noch brauche.«

Jane konnte vor Schluchzen nicht antworten. Sie war so verweint, daß sie Burke nicht sah, als sie an ihm vorüberging. Der stand im nächsten Augenblick schon wieder auf seinem Posten vor der Tür und horchte angespannt: Was tat Elena French jetzt in ihrem Zimmer …? Vielleicht horchte auch sie: Es war jedenfalls totenstill – doch nein: jetzt hörte er, wie sie sich bewegte, wie sie den Kamin öffnete. Es raschelte, wie wenn eine Zeitung zusammengeknüllt würde. Und alles geschah offenbar in fieberhafter Hast. Dann wieder Stille. Dann das Geräusch vom Öffnen einer Schublade. Überstürzt und nervös wurde Wäsche durcheinandergewühlt, als suche sie etwas. Dann das deutliche Blättern in einem Buche oder Hefte, wieder Stille, als ob sie läse. Eine Uhr schlug, die auch sie offenbar hörte: Zuklappen des Buches und ein Seufzer, dann wieder das Rascheln im Kamin, dann wieder Hantieren an der Wäsche, alles schnell, hastig, nervös, und als er eine Zündholzschachtel in ihren Händen zu hören glaubte, entschloß er sich, anzuklopfen. Zuerst keine Antwort. Er klopfte nochmals und trat einfach ein.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich wollte nur melden, daß der Wagen unten wartet.« »Gut, ich komme sofort«, nickte sie etwas verlegen. Er bemerkte, daß sie sich fortwährend verfärbte und mit allen Mitteln versuchte, seinen Blick vom Kamin wegzulocken.

»Bitte, sagen Sie unten, daß ich sofort kommen werde.« Aber Burke rührte sich nicht vom Fleck und sagte mit einer Verbeugung:

»Ich habe versprechen müssen, die gnädige Frau selbst hinunterzuführen. Die Herren fürchteten einen neuen Ohnmachtsanfall.«

Auf keinen Fall wollte er sie allein lassen angesichts des mit Papier vollgestopften Kamins, den sie eben hatte anzünden wollen. Im Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke: Sie sah sofort ein, daß ihr nichts übrigblieb als nachzugeben. »Also schön, gehen wir«, sagte sie eisig.

»Wenn gnädige Frau übrigens noch etwas verbrennen wollen …«

»Etwas verbrennen?« sie wurde blaß. »Wie kommen Sie darauf?«

»Sie haben die Zündhölzer ja noch in der Hand. Aber vielleicht haben Sie die Zeitungen gar nicht selbst in den Kamin geworfen.«

»Nein, das wird wohl eines der Mädchen gewesen sein,« sagte sie leichthin, »aber nun lassen Sie uns gehen.«

»Und Sie sind auch sicher, daß von Unbefugten nichts aus dem Zimmer entfernt wurde?« er sagte es ganz beiläufig und hilfsbereit, öffnete aber zugleich die Schubladen der Frisiertoilette und stellte fest, daß durch eine hastige Durchsuchung offenbar alles eben erst durcheinandergeworfen worden war.

»Nein, ich vermisse nicht das geringste«, sagte Elena kalt.

»Dann …«, er bot ihr den Arm und führte sie hinunter. Aber in seinem Gehirn schwirrten die Fragen wild durcheinander: was hatte sie aus dem Weg räumen wollen, und wo befand sich jetzt dieser Gegenstand.

*

Als sie alle schon im Wagen Platz genommen hatten, bat Burke noch einen Augenblick um Entschuldigung: er habe etwas vergessen! er werde aber sofort wieder da sein!

»Beeilen Sie sich, bitte«, rief ihm McMurton nach, der abermals ein Zeichen mit ihm gewechselt hatte. Die anderen Detektive, abgesehen von denen, die rings um das Haus aufgestellt waren, waren bereits vorausgefahren. Das Wetter war fürchterlich, und alle sehnten sich danach, endlich fortzukommen …

»Es war umsonst«, zwinkerte ihm Burke verstohlen zu, als er bald darauf zurückkam. Er hatte noch rasch Monkeys Bett durchwühlt.

»Dann fahren wir los«, kommandierte McMurton, und der Chauffeur ließ den Motor an … Das Gewitter tobte um sie herum und wurde schlimmer. Wenn der Wagen zufällig durch einen Blitz erhellt wurde, hingen Billys Augen sorgenvoll an Elenas bleichem Gesicht:

»Wärest du lieber im Bett geblieben, Kind«, wiederholte er des öfteren. »Man braucht kein Arzt zu sein, um zu sehen, daß du krank bist.«

»Ich fühle mich allerdings nicht sehr wohl«, gestand sie. »Aber mit ein paar Tropfen würde es sicher bald vorbei sein. Sei so gut und bitte den Inspektor, daß wir einen Augenblick vor Peersons Apotheke halten. Ich weiß zufällig, daß sie heute Nachtdienst hat.«

»Ist es nicht möglich, daß sich die gnädige Frau noch ein paar Minuten geduldet?« schlug McMurton vor.

»Wenn Sie es nicht tun,« sagte Billy in drohendem Tone, »werde ich selbst den Wagen halten lassen und meine Frau nach Hause ins Bett bringen, wählen Sie!«

»Gott bewahre! wenn es sein muß!« fügte sich McMurton, und bald danach hielt das Auto vor der gewünschten Apotheke an.

Billy wollte sie hineinbegleiten, aber sie wehrte ab:

»Ich kann ganz gut allein gehen.«

Der immer gegenwärtige Burke war aber schon aus dem Wagen gesprungen und hatte den Schlag geöffnet: »Erlauben Sie, gnädige Frau«, sagte er und bot ihr den Arm. Sie wollte ablehnen, gab aber nach und beschränkte sich auf ein sarkastisches Lächeln: »Wenn Sie es für unbedingt notwendig halten …«

An seinem Arm betrat sie die Apotheke. Zuvorkommend erkundigte sich der Provisor nach ihrem Befinden.

»Oh, danke, nur eine momentane Unpäßlichkeit. Geben Sie mir doch bitte ein paar Tropfen und einen Schluck Wasser … Herr Burke, lassen Sie sich die Sachen bitte geben und bringen Sie sie mir hierher.« Damit ließ sie sich müde in das Sofa neben dem Eingang fallen. Burke überlegte: Bis jetzt hatte er sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ganz offenbar war auch diese Unpäßlichkeit nur eine Finte, mit der eine ganz bestimmte Absicht verfolgt wurde … wahrscheinlich, um Gelegenheit zu haben, sich des bewußten Gegenstandes zu entledigen, den sie schon im Hause hatte auf die Seite bringen wollen. Er ließ sich die Tropfen und das Wasser geben. Kaum zehn Sekunden hatte er ihr den Rücken zugewandt und war um so mehr frappiert, sie wesentlich frischer zu finden, als er wieder auf sie zuging.

»Na, Gott sei Dank, gnädige Frau, Sie sehen ja schon viel besser aus.«

»Ja, ich fühle mich auch entschieden wohler«, und nahm mit einem freundlichen »ich danke Ihnen« die Medizin aus Burkes Hand entgegen.

»Gnädige Frau sind wohl auf dem Weg zum Theater?« fragte der Apotheker, der an die Tür geeilt war.

»Ganz recht«, nickte sie grüßend. »Gute Nacht« … Und schon sauste das Auto wieder die Park Lane entlang, noch immer in strömendem Regen und absoluter Finsternis. Burke und McMurton hatten sich auch diesmal stumm verständigt, als Elena den Wagen bestieg. Aber Burke hatte nur kaum merklich den Kopf geschüttelt: Nichts Neues! …

Sie verhielten sich alle vier schweigend. Billy hatte Elenas Hand in die seinige genommen. Er streichelte und liebkoste sie, und sie nickte und lächelte ihm dann und wann dankbar zu. Die beiden Detektive sahen durch die Fenster hinaus in den Hydepark, der aufrauschte unter diesem Wolkenbruch.

Sie kamen, bei völliger Finsternis, an eine Stelle, die, ohnehin schon schmal, durch Straßenarbeiten noch mehr verengert worden war, so daß tatsächlich nur eine ganz enge Fahrbahn unter den Bäumen auf der Parkseite übrigblieb: Nicht breiter, als daß zwei Autos gerade noch aneinander vorbeikonnten. Der Chauffeur fuhr in der Mitte, wohl weil er annahm, daß ihm bei diesem Hundewetter niemand begegnen würde. Aber er fuhr sehr vorsichtig, und so gelang es ihm, seinen Wagen noch im letzten Augenblick nach links hinüberzuwerfen, als ein entgegenkommendes Auto wie ein Gespenst plötzlich aus dem Dunkel mit starken Scheinwerfern auftauchte. Die Lage war einen Moment höchst kritisch. Aber auch der andere Chauffeur zeigte sich der Situation gewachsen, und so fuhren die beiden Wagen schließlich ganz dicht aneinander vorbei. Man atmete schon erleichtert auf, als es plötzlich laut knallte. Das klang wie ein Revolverschuß, das Auto schleuderte. Allen war sofort klar, was geschehen war: Einer der Hinterreifen war geplatzt. Der Chauffeur stoppte sofort, meldete den Unfall McMurton, der unbeherrscht zu fluchen anfing und Burke mit der Handlaterne hinausschickte. Die Ursache der Panne war schnell festgestellt: ein großer eiserner Rechen lag quer über der Fahrbahn, mit den Zähnen nach oben. Kein Auto hätte ihm entgehen können, wenn es, wie hier, plötzlich auf die linke Straßenseite hinausgedrängt wurde.

»Ich muß Sie leider bitten, auszusteigen«, rief der Chauffeur in den Wagen. »Herr Burke wird mir behilflich sein. Wir müssen den Wagen heben und das Rad auswechseln.«

McMurton fluchte: »Ausgerechnet bei diesem Schweinewetter!«

»Stellen wir uns unter, dort unter diesen Baum«, schlug Bill vor. »Ich glaube, wir werden dort noch am geschütztesten sein.« Er deutete auf einen der alten mächtigen Bäume des Hydeparks, der ein gutes Stück der Straße überdachte. Alle drei liefen hinüber: McMurton, Bill und Elena, die er unter den Arm genommen, und der er seinen Regenmantel umgeworfen hatte. Burke und der Chauffeur machten sich an das Auswechseln des Rades. Nach etwa zehn Minuten waren sie fertig. In der Dunkelheit rief er zu den anderen hinüber:

»Herr Inspektor, wir sind fertig.« Merkwürdigerweise bekam er keine Antwort. Nichts rührte sich da drüben. Burke eilte hinüber an den Baum. Was war nun jetzt wieder los. Sie konnten doch nicht eingeschlafen sein. Entsetzt blieb er stehen: Mitten in den Pfützen der Straße lagen die beiden Herren und rührten sich nicht.

Und wo war Elena??

Burke überlief es heiß und kalt. Er rief die Herren noch einmal laut bei ihren Namen, aber keiner gab auch nur ein Lebenszeichen von sich. Schließlich rüttelte und schüttelte er den Inspektor, der auch allmählich zu sich kam.

»Was machen Sie da, um Himmels willen? Warum liegen Sie hier am Boden?« schrie Burke außer sich. »Wo ist Frau French?«

McMurton starrte ihn zunächst verständnislos an, strich sich dann über die Stirn, langte nach dem Hals und fing an, erbärmlich zu stöhnen.

»Ich verstehe von Ihrer Brüllerei kein Wort. Ich kann vorläufig überhaupt nichts hören. Mir dröhnt der Kopf nur so. Was sagen Sie …? Sind Sie verrückt …?«

Nach und nach wurde er klarer und fluchte auf den geplatzten Reifen.

»Aber was zum Donnerwetter ist denn eigentlich geschehen!?« Schwankend und von Burke gestützt stellte sich McMurton allmählich wieder auf die Beine.

»Man hat uns regelrecht niedergeschlagen – mit einem Gummiknüppel – ich danke bestens, ich kenne das, das habe ich schon einmal erlebt, da täusche ich mich nicht.« Vor Schmerzen krümmte er sich.

»Und da liegt auch Herr French … Aber wo ist denn seine Frau hingekommen.« Elenas Verschwinden fuhr ihm als fürchterlicher Schreck in die Glieder.

»Zum Donnerwetter, ja, wo ist seine Frau?«

Etwas boshaft lächelte Burke: »Nicht ich, sondern Sie selbst haben sie hierher geleitet, Herr Inspektor! Aber so viel steht jedenfalls fest, daß sie davongelaufen ist … Oder vielleicht ist sie gezwungen worden, ›freiwillig‹ mitzugehen. Daß sie diesen Überfall selbst arrangiert hat, ist eigentlich kaum anzunehmen. Sie hätte dann schließlich ihren Mann geschont. Ich möchte glauben, daß diese ganze Geschichte auf den Kerl ohne Nase und Ohren zurückzuführen ist. Vorbereitet war der Überfall ganz sicher, das bezeugt auch der Rechen, das bezeugen Ihre Kopfschmerzen und die verschwundene Dame! nicht wahr?«


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