Hans Christian Andersen
Der Improvisator
Hans Christian Andersen

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Poggio. Annunziata. Maria.

Poggio besuchte mich, scherzte über meine Verstimmtheit, aber ich konnte ihm den Grund nicht sagen, niemandem konnte ich ihn sagen.

»Du siehst ja aus, als bliese ein gefährlicher Scirocco! Geht dieser warme Luftzug vom Heizen aus? Der kleine Vogel in demselben könnte verbrennen, und da es kein Vogel Phönix ist, so ist er darauf nicht eingerichtet. Nein, er muß bisweilen ausfliegen, in die roten Beeren auf dem Felde und in die feinen Rosen auf den Balkonen picken, da muß er zulangen. Das thut mein Vogel und findet sich wohl dabei, hat einen vortrefflichen Humor, singt Fröhlichkeit in mein Blut, in mein ganzes Wesen hinein, und davon stammt die gute Laune, die ich habe. Die kannst du auch bekommen und mußt es! Gerade ein Dichter muß einen wirklichen Vogel in der Brust haben, einen Vogel, der sowohl Rosen wie Beeren kennt, die sauren wie die süßen, den Dunst der niederen Welt wie den reinen Aether!«

»Du hast eine schöne Idee von einem Dichter!« rief ich.

»Christus wurde Mensch wie wir andern, stieg sogar in die Hölle zu den Verdammten hinab. Das Göttliche muß sich mit dem Irdischen mischen, soll ein großartiges Produkt daraus entstehen –; aber da halte ich dir ja förmlich eine prächtige Vorlesung! Eine sollte ich dir ja freilich halten, darauf habe ich mein Versprechen abgegeben, aber sie sollte, wie ich glaube, ein anderes Thema behandeln. Was hat das zu bedeuten, daß der Herr plötzlich seine Freunde verläßt! Seit drei Tagen hat er sich nicht im Hause des Podesta sehen lassen. Das ist garstig, sehr garstig von ihm! Die Familie ist auch ärgerlich. Noch heute mußt du hin und wie ein zweiter Friedrich Barbarossa knieend die Steigbügel halten. Drei Tage nicht bei Podestas gewesen, wie ich von Signora Rosa höre! Was in aller Welt ist denn los?«

»Ich habe mich nicht wohl gefühlt, bin nicht ausgewesen!«

»Nein, lieber Freund, das weiß man besser! Neulich Abend hast du dir ja die Oper la Regina di Spagna angesehen, in der die kleine Aurelie als Ritter auftritt; sie ist ein kleiner Orlando furioso. Aber diese Eroberung kann dir keine grauen Haare machen, die ist nicht so schwierig. Was es nun auch sein mag, du begleitest mich heute Mittag zum Podesta; wir sind dort zu Tische eingeladen und ich habe meine Hand darauf gegeben, dich mitzubringen.«

»Poggio,« sagte ich ernst, »dir will ich den Grund sagen, weshalb ich nicht dagewesen bin, weshalb ich seltener hingehen will.« Ich erzählte ihm, was mir die Frau des Bankiers ins Ohr geflüstert, daß Venedig davon spräche, ich beabsichtigte, die schöne Maria zu gewinnen, die vermögend wäre und ein Gut in Kalabrien besäße.

»Ei nun!« rief Poggio, »das dürften sie sich von mir dreist erzählen! Und deshalb willst du nicht hinkommen? Ja freilich sagen es die Leute, ich glaube es sogar selbst, weil es so natürlich ist. Aber ob wir nun recht oder Anrecht haben, so ist es doch nicht billig, gegen die Familie unartig zu sein. Maria ist schön, sehr schön, hat Verstand und Gefühl, und du liebst sie auch, das habe ich allzu deutlich gesehen.«

»Nein, nein!« fiel ich ihm ins Wort, »mein Herz ist weit von Liebe entfernt! Maria hat eine gewisse Aehnlichkeit mit einem blinden Kinde, das ich einmal gesehen habe, einem Kinde, das mir wunderbar gefiel, wie eben nur Kinder gefallen können! Tiefe Aehnlichkeit hat mich bei Maria ergriffen und meinen Blick auf sie gezogen.«

»Maria ist ebenfalls blind gewesen,« erwiderte Poggio in einem ziemlich ernsten Tone; »sie kam noch blind aus Griechenland, ihr Onkel, jener Arzt in Neapel, hat sie operiert,«

»Meine Blinde war Maria nicht!« versetzte ich.

»Deine Blinde!« wiederholte Poggio lustig; »jenes blinde Kind muß in der That ein wunderliches Persönchen sein, daß es dir die Begierde einflößt, Maria anzustarren und eine Aehnlichkeit mit demselben aufzusuchen. Bildlich gesprochen, hast du mit dem kleinen blinden Amor einst in höchst eigener Person Bekanntschaft gemacht und er zwingt dich nun, Maria anzublicken. Jetzt gestehst du es ja selber ein! Ehe wir uns dessen versehen, giebt's Hochzeit und ihr zieht von Venezia fort,«

»Nein, Poggio!« rief ich, »du erzürnst mich mit solchen Reden, ich verheirate mich nie! Mein Liebestraum ist vorbei, ich träume ihn nie wieder, kann es nicht! Bei dem ewigen Gott und allen Heiligen, nie will oder kann ich – –«

»Still, still! Schwöre nicht darauf!« unterbrach mich Poggio; »ich will dir glauben und allen Leuten widersprechen, welche behaupten, du liebest Maria und ihr würdet einmal ein Paar werden, aber schwöre nicht darauf, dich nie zu verheiraten! Vielleicht ist die Hochzeit näher als du meinst, vielleicht noch in diesem Jahre, es ist ja möglich,«

»Deine vielleicht,« erwiderte ich, »aber meine niemals!«

»Wie kannst du nur glauben, daß ich mich verheiraten könnte!« versetzte Poggio; »nein, lieber Freund, ich habe keine Mittel dazu, mir eine Frau zu halten, das ist mir ein zu kostspieliges Vergnügen.«

»Deine Hochzeit geht der meinigen vorher,« entgegnete ich; »vielleicht wird die schöne Maria selbst dein eigen, und während Venedig sagt, ich werde ihr die Hand reichen, bist du es, dem sie die ihrige reicht.«

»Das wäre ein schlimmer Streich!« sagte er und lachte; »nein, da gönne ich ihr doch einen besseren Mann als mich. Wollen wir wetten,« fuhr er fort, »du verheiratest dich, sei es mit Maria oder mit einer anderen Dame, du wirst ein Ehemann und ich bleibe Junggeselle. Zwei Flaschen Champagner wollen wir wetten,« fuhr er fort, »welche an deinem Hochzeitstage getrunken werden.«

»Eine solche Wette wage ich anzunehmen,« erklärte ich lächelnd. Darauf mußte ich ihn zum Podesta begleiten. Die alte Rosa zankte mich aus und der Podesta gleichfalls. Maria verhielt sich schweigend, mein Auge ruhte auf ihr, sagte doch Venedig, daß sie meine Braut wäre. Rosa stieß mit mir an.

»Keine Dame darf auf die Gesundheit des Improvisators trinken,« sagte Poggio; »er hat dem schönen Geschlecht einen ewigen Haß geschworen; er will sich nie verheiraten.«

»Ewigen Haß?« erwiderte ich. »Wenn ich auch nicht heirate, kann ich ja doch wohl das Schöne des Geschlechts gebührend verehren und schätzen, welches alle Verhältnisse des Lebens am meisten erheitert und mildert.«

»Nicht heiraten!« rief der Podesta; »das wäre der schlimmste Gedanke, der bis jetzt Ihrem Genie entsprungen ist! Aber,« sagte er scherzend zu Poggio, »hübsch ist es von einem Freunde auch nicht, ihn auszuplaudern!«

»Es geschieht nur, um ihn an den Pranger zu stellen,« versetzte Poggio, »er könnte sich sonst leicht in diesen seinen einzigen schlechten Gedanken verlieben und ihn, weil er so außerordentlich glänzend ist, für originell ansehen und an demselben festhalten.« Man scherzte mit mir, zog mich auf, und ich mußte wieder munter sein. Köstliche Gerichte und herrliche Weine wurden aufgetragen. – Ich dachte an Annunziatas Armut, dachte, ob sie wohl hungern mochte. »Sie haben versprochen uns Silvio Pellicos Werke vorzulesen,« sagte Rosa beim Abschiede, »vergessen Sie es nicht und kommen Sie hübsch täglich zu uns, Sie haben uns daran gewöhnt, und niemand in Venedig vermag diesen Freundschaftsbeweis höher zu würdigen als wir.«

Ich kam, ich kam recht häufig, denn ich fühlte, wie lieb ich ihnen war. Ungefähr ein Monat war seit meinem letzten Gespräche mit Poggio verstrichen, nicht das Geringste hatte ich hinsichtlich Annunziatas ermitteln können, ich mußte mich auf den Zufall verlassen, der den zerrissenen Faden einst vielleicht wieder anknüpfen würde. Als ich mich eines Abends beim Podesta befand, schien mir Maria merkwürdig gedankenvoll; ein lebhafter Schmerz prägte sich in ihren Zügen aus. Ich hatte ihr und Rosa vorgelesen, und selbst währenddessen war sie mir zerstreut vorgekommen. Rosa verließ das Zimmer; noch nie war ich mit Maria allein gewesen; eine sonderbare unerklärliche Ahnung, daß mir irgend etwas Uebles bevorstand, erfüllte meine Brust. Ich suchte ein Gespräch über Silvio Pellico, über die Einwirkung des politischen Lebens auf seinen Dichtergeist zu beginnen.

»Herr Abbate!« unterbrach sie mich und schien nicht ein einziges Wort meiner Rede gehört zu haben, alle ihre Gedanken schienen vielmehr auf einen einzigen Gegenstand gerichtet zu sein. »Antonio!« fuhr sie mit bebender Stimme fort und das Blut stieg ihr in die Wangen, »ich muß mit Ihnen reden, einer Sterbenden habe ich die Hand darauf gereicht, daß ich es thun wollte.«

Sie stockte; von den wenigen Worten seltsam ergriffen, stand ich schweigend da.

»Wir sind einander doch nicht so fremd,« sagte sie, »und gleichwohl ist mir dieser Augenblick so schrecklich.« Sie wurde leichenblaß.

»Gott im Himmel!« rief ich, »was ist denn geschehen?«

»Gottes wunderbare Lenkung zieht mich in Ihre Lebensschicksale hinein, hat mich in ein Geheimnis, in ein Verhältnis eingeweiht, welches kein Fremder wissen sollte. Aber meine Lippen sind stumm, was ich der Toten versprach, weiß niemand, nicht einmal der guten Rosa habe ich es anvertraut.« Sie zog ein kleines Päckchen hervor. »Das ist für Sie, es wird Ihnen gewiß alles sagen können. Ich habe gelobt, es Ihren Händen zu überliefern. Zwei Tage lang habe ich es verwahrt; ich wußte nicht, wie ich mein Versprechen erfüllen sollte; nun ist es gelöst. Seien Sie still, wie ich es sein werde.«

»Von wem kommt es?« fragte ich. »Darf ich es nicht wissen?«

»Ewiger Gott!« rief sie und verließ das Zimmer. Ich eilte nach Hause und öffnete das kleine Briefpaket, Einige lose Briefe lagen darin. Das erste, was ich sah, war meine eigene Schrift, ein kleiner mit Bleistift geschriebener Vers, aber unten mit Tinte drei schwarze Kreuze, als wenn es eine Grabschrift wäre. Es war das Gedicht, welches ich einst Annunziata zuwarf, als ich sie zum erstenmal sah. »Annunziata!« seufzte ich tief; »ewige Mutter Gottes, es kommt von ihr!« Unter den Papieren lag ein versiegelter Zettel mit der Aufschrift: »An Antonio!« Ich riß ihn auf – ja, es war von ihr. Die Hälfte war, wie ich sah, in der auf meinen abendlichen Besuch folgenden Nacht geschrieben. Die untersten Reihen schienen neueren Datums; sie waren wunderbar blaß und zitternd geschrieben. Ich las.

»Ich habe dich gesehen, Antonio, dich noch einmal gesehen! Dies war mein einziger Wunsch, und doch fürchtete ich mich vor dem Augenblicke, wie man sich vor dem Tode fürchtet, der doch Glück bringt. Es sind erst wenige Stunden her, daß ich dich sah; wenn du dies liesest, sind Monate, oder auch noch längere Zeit verstrichen. Man erzählt sich, daß, wer sich selbst gesehen hat, kurz darauf sterben muß. Du warst die Hälfte meiner Seele, du warst mein Gedanke! Dich habe ich gesehen! Du sahst mich in meinem Glück, in meinem Elend! Du warst der einzige, welcher die arme vergessene Annunziata nicht verleugnete. – Aber ich verdiente es auch, Antonio! Jetzt darf ich es dir sagen, denn wenn du dieses liesest, bin ich tot. Ich liebte dich, liebte dich von meinen glücklichen Tagen an bis zum letzten Augenblicke. Die Madonna wollte nicht, daß wir in dieser Welt vereint werden sollten und sie trennte uns. Ich kannte deine Liebe, ehe du sie an jenem unglücklichen Abende, als der Schuß Bernardo traf, gestandest. Mein Schmerz über das Unglück, das uns trennte, der große Jammer, der mein Herz bedrückte, band meine Zunge; ich verbarg mein Angesicht an dem Körper des Toten, und du warst verschwunden, ich sah dich nicht mehr. Bernardo war nicht tödlich verwundet, ich wich nicht von ihm, ehe ich dessen gewiß war. Hat das in deiner Seele Zweifel an meiner Liebe zu dir geweckt? Ich wußte nicht, wo du warst, konnte es nicht erfahren. Einige Tage darauf kam ein sonderbares altes Weib zu mir und reichte mir einen Zettel, worauf von deiner Hand geschrieben stand: »Ich reise nach Neapel.« Die Unterschrift trug deinen Namen: die Alte sagte, du brauchtest einen Paß und Geld. Ich bewog Bernardo dazu, seinen Onkel, den Senator, darum zu bitten. Bei ihm galt mein Wunsch als Befehl, bei ihm hatte mein Wort Kraft, ich bekam, was ich wünschte. Bernardo war gleichfalls deinetwegen betrübt. Er wurde wieder gesund und liebte mich, liebte mich, wie ich glaube, aufrichtig; aber du allein erfülltest alle meine Gedanken. Er verließ Rom; ich sollte nach Neapel, eine plötzliche Krankheit meiner alten Freundin nötigte mich einen Monat in Mola di Gaeta zu verweilen. Als wir später nach Neapel kamen, hörte ich von einem jungen Neapolitaner, Cenci, der an dem Abende meiner Ankunft auf dem Theater aufgetreten war. Ich ahnte, daß du es warst; ich erhielt die Gewißheit. Meine alte Freundin schrieb sofort an dich, nannte zwar unsere Namen nicht, gab aber an, wo wir wohnten. – Du kamst nicht; sie schrieb abermals, allerdings ohne Namen, aber du mußtest die Absender erkannt haben. Sie schrieb: »Kommen Sie, Antonio! Der Schreck in dem letzten unglücklichen Augenblicke, wo wir beisammen waren, ist jetzt gewiß überstanden. Kommen Sie bald! Betrachten Sie es als ein Mißverständnis. – Alles kann noch gut werden, nur zögern Sie keinen Augenblick zu kommen!« Aber du kamst nicht. – Die Briefe hattest du, wie ich erfuhr, gelesen, und warst sofort nach Rom zurückgereist. Was mußte ich glauben? Deine Liebe wäre schon vorbei! Auch ich war stolz, Antonio! Die Welt hatte meine Seele eitel gemacht. Ich vergaß dich nicht, ich gab dich auf und litt dabei. Meine alte Freundin starb, ihr Bruder folgte ihr. Sie hatten wie Eltern an mir gehandelt, jetzt stand ich ganz allein in der Welt, indes war ich ja ihr Liebling, war jung und schön, glänzte durch meinen Gesang. Das war, kann ich sagen, das letzte Lebensjahr! Ich wurde auf der Reise nach Bologna krank, sehr krank, mein Herz litt! Antonio, ich wußte nicht, daß du meiner zärtlich gedachtest, daß du einmal, wenn alles Weltglück zusammengestürzt war, noch einen Kuß auf meine Hände drücken würdest. – Ein Jahr lag ich krank; mein Vermögen, in den beiden Jahren meiner Sängerinlaufbahn gesammelt, schmolz zusammen. – Ich war arm und doppelt arm, denn meine Stimme war fort, die Krankheit hatte mich entkräftet. Jahre vergingen, ungefähr sieben lange Jahre – da trafen wir uns. – Du hast meine Armut gesehen! Du hast gewiß gehört, wie man die Annunziata, die einst im Triumph durch Roms Straßen gezogen wurde, auszischte? Bitter, wie mein Geschick, ist auch mein Herz geworden. – Du kamst zu mir, wie ein Schleier fiel es von meinen Augen, ich fühlte es: du hattest mich aufrichtig geliebt! Ich hätte dich in die Welt hinausgestoßen, sagtest du zu mir. Du wußtest nicht, wie ich dich geliebt, wie ich meine Arme nach dir ausgestreckt hatte! Ich habe dich gesehen, deine Lippen haben wie in älteren besseren Zeiten auf meiner Hand geglüht. Wir sind geschieden, ich sitze wieder allein in meiner kleinen Kammer, morgen verlasse ich sie, vielleicht Venezia. Sei meinetwegen nicht betrübt, Antonio! Die Madonna ist gut und gnädig! Gedenke freundlich meiner! Es ist die Tote, die dich bittet, Annunziata, die dich geliebt hat und jetzt – und im Himmel für dich betet.«

Meine Thränen strömten, während ich es las. Es war, als ob sich mein Herz in Thränen auflösen wollte. Der zweite Teil des Briefes war erst vor wenigen Tagen geschrieben. Es war ihr letzter Abschied.

»Meine Not nähert sich ihrem Ende! Die Madonna sei gelobt für jede Freude, die sie mir sandte, sie sei auch gelobt für jeden Schmerz! – Der Tod ist mir ans Herz getreten! Das Blut strömt aus demselben. Nur einmal noch, und dann ist es vorbei! Venezias schönstes und edelstes Mädchen ist, wie man mir gesagt hat, deine Braut. Möget ihr glücklich werden, das ist der Sterbenden letzter Wunsch! Ich wüßte außer ihr niemand in der Welt, dem ich diese Zeilen, mein letztes Lebewohl übergeben könnte. Sie wird kommen, mein Herz sagt es mir. Einer Person, die auf der Abschiedsstufe zwischen Leben und Tod steht, wird ein edles weibliches Herz den letzten Labetrunk nicht abschlagen. Sie wird zu mir kommen! Lebe wohl, Antonio, mein letztes Gebet auf Erden, mein erstes im Himmel ist für dich, für sie, die dir sein wird, was ich dir nie hätte werden können.

Eitel war meine Seele, die Lobeserhebungen und Schmeicheleien der Welt tragen die Schuld; vielleicht wärest du nie mit mir glücklich geworben, sonst hätte die Madonna uns nicht geschieden. Lebe wohl! Lebe wohl! Ich fühle Frieden in meinem Herzen, mein Schmerz ist vorbei, der Tod ist nahe. Betet auch ihr, du und Maria, für mich!

Annunziata«

Der tiefste Schmerz hat keine Worte – betäubt, zusammensinkend, saß ich da und starrte auf den Brief, der von meinen Thränen feucht war. Annunziata hatte mich geliebt! Sie war der unsichtbare Geist, welcher mich nach Neapel führte, der Brief war von ihr und nicht, wie ich mir eingebildet hatte, von Santa gewesen, Annunziata war krank gewesen, war in Armut und Elend hingesiecht und jetzt war sie tot, nur zu gewiß tot. – Der kleine Zettel, den ich Fulvia mit der kurzen Notiz: »Ich reise nach Neapel,« gegeben und welchen sie Annunziata gebracht hatte, lag in dem Briefpaketchen. Außerdem befand sich darin ein offener Brief von Bernardo, in dem er ihr Lebewohl sagte und zugleich seinen Entschluß mitteilte, Rom zu verlassen und in fremde Dienste zu treten, in welche stand aber nicht darin. Maria hatte sie das Briefpaket an mich übergeben, Maria nannte sie meine Braut; das leere Gerücht war also auch bis zu Annunziata gedrungen und sie hatte es geglaubt, hatte Maria zu sich gerufen. Was konnte sie ihr gesagt haben? Ich entsann mich, mit welcher Angst Maria zu mir gesprochen hatte, also wußte auch sie jetzt, wie Venedig über uns beide urteilte. Ich hatte nicht den Mut mit ihr zu reden und doch mußte ich es, sie war ja mein und Annunziatas guter Engel.

Ich nahm eine Gondel und war bald in dem Zimmer, in welchem Rosa und Maria bei ihrer Handarbeit saßen. Maria war verlegen, ich hatte nicht den Mut auszusprechen, was mich einzig und allein beschäftigte, auf jede Frage antwortete ich zerstreut, der Kummer bedrückte meine Seele. Da ergriff Rosa meine Hand und sagte: »Sie leiden an einem tiefen Kummer! Haben Sie Vertrauen zu uns! Können wir Sie nicht trösten, so können wir doch mit einem aufrichtigen Freunde trauern.«

»Sie wissen ja alles!« rief ich, meinem Schmerze Luft machend.

»Maria vielleicht!« erwiderte Rosa. »Aber ich weiß so gut wie nichts!«

»Rosa!« sagte Maria flehend und ergriff sie bei der Hand.

»Nein, vor Ihnen habe ich keine Geheimnisse!« versetzte ich, »alles will ich Ihnen erzählen! Auch das ist eine Linderung!« Und ich erzählte von der Armut meiner Kindheit, von Annunziata und meiner Flucht nach Neapel; aber als ich Maria mit gefalteten Händen vor mir sah, wie einst Flaminia dagesessen hatte, wie noch ein Wesen in meiner Erinnerung vor mir saß, da schwieg ich. Von Lara, von dem Traumbilde in der Grotte hatte ich in Marias Nähe nicht Mut zu reden, es gehörte ja auch nicht zu der Geschichte von Annunziata. Ich ging sofort zu unserer Begegnung in Venedig und unserem letzten Gespräche über. Maria drückte die Hände vor die Augen und weinte. Rosa schwieg.

»Davon habe ich nichts gewußt, nichts geahnt!« sagte sie endlich. »Aus dem Hospitale der barmherzigen Schwestern erhielt Maria einen Brief des Inhalts, ein sterbendes Weib beschwöre sie bei allem Heiligen und Guten, bei ihrem eigenen Herzen, doch ja dorthin zu kommen. Ich begleitete sie in der Gondel, da sie aber allein kommen sollte, blieb ich bei den Schwestern, während sie an das Bett der Sterbenden trat.«

»Ich sah Annunziata,« sagte Maria. »Sie haben erhalten, was Sie mich Ihnen zu übergeben bat.«

»Und sie sagte?« rief ich.

»Geben Sie das hier Antonio, dem Improvisator, aber ohne daß es andere sehen!« – Sie redete von Ihnen, redete wie eine Schwester, wie ein guter Geist reden kann – und ich sah Blut – Blut auf ihren Lippen, sie schlug im letzten Todeskampfe ihre Augen auf und –« – Maria brach in lautes Weinen aus.

Schweigend drückte ich ihre Hand an meine Lippen und dankte, daß sie in ihrer Frömmigkeit und ihrem milden Sinne Annunziatas Bitte erfüllt hatte. Ich verließ sie, ging in die Kirche und betete für die Tote.

Nie war mir größere Innigkeit und Freundschaft zu teil geworden, als seit diesem Augenblicke in dem Hause des Podesta, Rosa und Maria behandelten mich wie einen lieben Bruder, jeden meiner Wünsche suchten sie mir abzulauschen; selbst in den geringsten Kleinigkeiten erkannte ich ihre zärtliche Sorge für mich.

Ich besuchte Annunziatas Grab. Der Kirchhof glich einer schwimmenden Arche mit hohen Mauern, die sich auf dem Wasser wiegte, der Insel mit dem Totengarten. Einen grünen Fleck mit vielen schwarzen Kreuzen gewahrte ich vor mir. Ich fand das Grab, welches ich suchte. »Annunziata« lautete die ganze Inschrift. Ein frischer schöner Kranz mit grünen Lorbeeren hing über dem Kreuze, wahrscheinlich eine Gabe Rosas und Marias. Ich dankte ihnen beiden dafür. Wie schön war nicht Maria in ihrer Milde, welche wunderbare Ähnlichkeit hatte sie nicht mit meinem Schönheitsbilde Lara, wenn sie die Augen niederschlug. Es kam mir vor, so unerklärlich es auch schien, daß Maria und Lara eine und dieselbe Person wären.

Um diese Zeit traf ein Brief von Fabiani ein; ich verweilte, schrieb er, jetzt schon vier Monate in Venedig; es schien ihn zu wundern, und er schlug mir vor, nicht längere Zeit auf diese Stadt zu verwenden, sondern Milano oder Genua zu besuchen; doch hinge es ganz von mir selber ab; was mir am liebsten wäre, könnte ich thun. Was hielt mich im Grunde genommen auch in Venedig zurück, für mich war es eine Stadt der Trauer, mit Trauer im Herzen war ich in sie eingezogen und meines Lebens schönster Traum hatte sich in ihr in Thränen aufgelöst. Maria und Rosa sind mir zärtliche Schwestern, Poggio ist ein liebenswürdiger treuer Freund, ich finde keine zweiten so wie sie, aber wir müssen ja doch einmal scheiden und hier findet mein Schmerz nur immer neue Nahrung! Ja, fort, fort! Das war mein fester Entschluß. Ich wollte Rosa und Maria darauf vorbereiten; sie mußten es ja doch erfahren. Am Abend saß ich bei ihnen in dem großen Saale, von dem aus ein Balkon über den Kanal hinausgebaut war. Maria wollte von dem Diener eine Lampe hereinbringen lassen, aber Rosa gefiel es in dem hellen Mondschein besser.

»Sing uns etwas vor, Maria!« sagte Rosa, »trage uns das schöne Lied vor, welches die Troglodytengrotte besingt! Laß es Antonio hören!«

In eigentümlich weichen Tönen sang Maria darauf ein wunderbar ergreifendes Wiegenlied. Text und Melodie verschmolzen miteinander und zeigten den Herzen und Sinnen das Daheim der Schönheit unter den ätherklaren Fluten.

»Es ist etwas so Geistiges, so Durchsichtiges in dem ganzen Liede,« sagte Rosa.

»So muß der Geist sich ohne Körper offenbaren!« rief ich.

»So schwebt die Schönheit der Welt dem Blinden vor!« seufzte Maria.

»Aber so schön ist sie wohl in Wirklichkeit nicht, wenn das Auge sich öffnet?« fragte Rosa.

»Nicht so schön und doch schöner!« erwiderte Maria.

Dann erzählte Rosa, was mir Poggio bereits gesagt hatte, daß Maria blind gewesen wäre und ihr Bruder derselben das Augenlicht geschenkt hätte. Maria nannte seinen Namen mit Liebe und Dankbarkeit, erzählte mir kindlich ihre Begriffe von der Außenwelt, von der warmen Sonne, von den Menschen, von den breiten Blättern des Kaktus und den großen Tempeln. »In Griechenland giebt es mehr als hier!« bemerkte sie plötzlich und es trat eine augenblickliche Stockung in ihrer Erzählung ein. »Die Farben stellte ich mir ähnlich wie die Schönheit und Stärke der Farben vor,« fuhr sie fort. »Die Veilchen sind blau, das Meer und der Himmel sind auch blau, erzählte man mir; aus dem Dufte bei Veilchen lernte ich dann, wie schön der Himmel und das Meer sein müßten. Wenn das körperliche Auge tot ist, sieht das seelische desto klarer. Der Blinde lernt an eine Geisteswelt glauben; alle seine Anschauungen sind Offenbarungen derselben.«

Ich gedachte Laras mit dem blauen Veilchenstrauße in dem dunklen Haar, der Duft des Orangenbaumes lenkte meine Gedanken ebenfalls nach Pästum, wo die Veilchen und die roten Levkojen um die Tempelruinen blühten. Wir sprachen von der großen Schönheit der Natur, vom Meere und den Gebirgen und Rosa sehnte sich nach ihrem schönen Neapel. Da erzählte ich ihnen, daß meine Abreise bevorstände, daß ich schon in einigen Tagen Venedig verlassen würde.

»Sie wollen uns verlassen?« sagte Rosa betrübt; »nicht einmal die Möglichkeit Ihrer Abreise ist mir bisher in den Sinn gekommen.«

»Sie kommen nicht wieder nach Venedig?« fragte Maria; »Sie kommen nicht wieder zu Ihren Freunden?«

»O doch, sicherlich!« rief ich, und obgleich es durchaus nicht in meinem Plane lag, versicherte ich nun, daß ich von Milano über Venedig nach Rom zurückzukehren gedächte; aber ob ich wohl selbst daran glaubte?

Ich stand au Annunziatas Grabe, nahm ein Blatt des Kranzes, der auf demselben lag und verwahrte es, als wollte ich nie mehr zurückkehren. Es war auch das letzte Mal, daß ich dorthin kam. Was das Grab in sich schloß, war Staub, in meinem Herzen stand dessen Schönheitsabdruck und bei der Madonna wohnte der Geist, dessen Bild er war. Annunziatas Grab und die kleine Stube, in der Rosa und Maria mir die Hand zum Abschied reichten, sahen allein meine Thränen und meinen Kummer.

»Finden Sie ein edles Weib, das Ihnen den Verlust Ihres Herzens ersetzen kann!« sagte Rosa beim Abschiede. »Führen Sie sie einmal in meine Arme, ich weiß, ich werde sie lieben, wie Sie mich Annunziata lieben gelernt haben.«

»Kommen Sie fröhlich und heiter zurück!« sagte Maria, Ich küßte ihr die Hand, ihr Blick ruhte schmerzlich betrübt auf meinen Zügen. Der Podesta stand mit dem schäumenden Champagnerglase da und Poggio stimmte ein Reiselied von dem rollenden Rade und dem Gesange der Vögel in der freien Natur an. Er begleitete mich in der Gondel nach Fusina hinüber. Die Damen winkten vom Balkon aus mit ihren weißen Taschentüchern. Wie vieles konnte nicht geschehen, ehe wir einander wiedersahen! Poggio war ausgelassen lustig, aber ich fühlte es nur zu deutlich, daß es nicht Natur war. Er drückte mich heftig in seine Arme und sagte, wir wollten uns fleißig schreiben. »Du zeigst mir dann deine Verlobung an und vergißt die Wette nicht!«

»Wie kannst du nur in diesem Augenblicke scherzen,« sagte ich. »Du kennst meinen Entschluß!« Wir schieden voneinander.


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