Hans Christian Andersen
Der Improvisator
Hans Christian Andersen

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Ein angenehmes und ein unangenehmes Zusammentreffen. Die kleine Abbedissa. Der alte Jude.

Wir vermißten alle den wilden ausgelassenen Bernardo, und niemand vermißte ihn mehr als ich; es wurde, wie mir schien, leer und öde um mich her; meine Bücher waren mir nicht genug, in meiner Seele klangen Dissonanzen, die ich selbst nicht zu lösen vermochte. Musik allein brachte für einen Augenblick Harmonie. In der Welt der Töne erhielt mein Leben und mein ganzes Streben erst Klarheit; hier fand ich mehr als irgend ein Dichter, mehr als selbst Dante aussprach. Nicht bloß das Gefühl faßte hier das seelische Bild auf, sondern selbst das Ohr, der sinnliche Teil, sog hier ihr lebendiges Wesen ein. Jeden Abend erweckte in mir der Gesang von Kinderstimmen vor dem Madonnenbilde an der Mauer die Erinnerung an meine eigne Kindheit; sie tönte wie ein Wiegenlied, welches der Pifferari melancholische Sackpfeifen anstimmten, ich hörte in dem einförmigen Gesange des vermummten Leichengefolges dieselben Töne, welche an dem Sarge meiner Mutter erklungen waren. Ich begann über das Entschwundene und das, was nun kommen würde, nachzudenken; seltsam fühlte ich mein Herz beengt; ich mußte singen, alte Melodien tönten mir vor den Ohren, und die Worte derselben strömten mir laut von den Lippen, ja allzu laut, denn es störte Habbas Dahdah, obgleich er mehrere Zimmer von mir entfernt wohnte, so daß er mir sagen ließ, hier wäre keine Oper oder Singschule, sie wollten in der Jesuitenschule nur solche Triller dulden, die zum Preise der Madonna ertönten. Schweigend lehnte ich darauf mein Haupt an den Fensterrahmen; den Blick richtete ich wohl auf die Straße hinaus, aber mit den Gedanken hielt ich Einkehr in mich selbst.

»Felicissima notte, Antonio!«Die Nordländer wünschen »gute Nacht, schlafe wohl!« Die Italiener wünschen »die glücklichste Nacht!« Die Nächte des Südens besitzen freilich mehr als – Träume. rief plötzlich eine Stimme zu mir herauf. Ein schönes stolzes Roß bäumte sich unter dem Fenster und jagte dann mit seinem stolzen Reiter weiter. Es war ein päpstlicher Offizier; mit jugendlicher Gewandtheit verneigte er sich auf dem Pferde und grüßte unaufhörlich, bis er mir aus dem Gesichte verschwand; aber ich hatte ihn erkannt, es war Bernardo, der glückliche Bernardo! Wie verschieden war nicht sein Leben von dem meinigen! Nein, ich wollte nicht darüber nachdenken, drückte den Hut tief über die Stirn, und wie von einem bösen Geiste verfolgt, trieb es mich fort, wohin der Wind mich führen wollte. Ich dachte nicht im geringsten an das Gesetz, daß jeder Schüler der Jesuitenschule, Propaganda oder irgend einer andern Schulanstalt im Kirchenstaate, sobald er in die Stadt ging, von einem ältern oder gleichaltrigen Mitschüler begleitet werden mußte und sich ohne eine besondere Erlaubnis nicht allein zeigen durfte. Ein so allgemein gültiges Gesetz war nie speciell eingeprägt worden. Ich dachte gar nicht daran, daß meine Freiheit in dieser Weise beschränkt war und hegte in dieser Hinsicht nicht die geringste Besorgnis. Der alte Kustode, der mich gehen sah, dachte wohl, daß ich dazu Erlaubnis hatte.

Auf dem Korso wimmelte es von Equipagen; eine Wagenreihe, von Römern und Fremden besetzt, fuhr hin, eine andere her; sie machten ihre Abendspazierfahrt. In großen Gruppen standen die Leute vor den ausgehängten Kupferstichen der Kunsthändler und die Bettler drängten sich heran, um einen Dreier zu erhalten. Es war, wenn man sich nicht zwischen die Equipagen wagen wollte, schwer vorwärts zu kommen. Ich war gerade hindurch geschlüpft, als mich eine Hand am Rocke festhielt, und ich hörte eine bekannte unangenehme Stimme flüstern: »bon giorno, Antonio!« Ich sah hinab. Da saß mein Onkel, der häßliche Peppo, mit den beiden verdorrten Beinen, die er in die Höhe gebunden hatte, und mit den hölzernen Brettern, mit denen er sich fortzuschieben pflegte. So nahe waren wir einander seit vielen Jahren nicht gewesen; ich hatte ihn immer durch große Umwege zu vermeiden gesucht, war der spanischen Treppe, wo er saß, aus dem Wege gegangen, und wenn ich in einer Prozession oder mit den andern Schülern bei ihm vorbei mußte, dann hatte ich mein Gesicht so gut wie möglich versteckt gehalten.

»Antonio, mein eignes Blut!« sagte er und hielt mich am Rocke. »Kennst du deinen Onkel Peppo nicht mehr? Denk an San Joseph,Peppo ist eine italienische Verkürzung des Namens Giuseppe (Joseph). dann hast du meinen Namen! Ach, wie groß und männlich du geworden bist!«

»Laß mich los!« rief ich, denn die Leute fingen an ihre Aufmerksamkeit auf uns zu richten.

»Antonio!« sagte er, »kannst du dich dessen entsinnen, als wir zusammen auf dem hübschen Esel ritten? Du süßes Kind! Ja nun reitest du auf einem höheren Pferde, willst deinen armen Mutterbruder nicht mehr kennen, willst nie zu mir nach der Treppe kommen! Du hast mir doch die Hand geküßt, hast auf meiner Handvoll Stroh geschlafen! Sei nicht undankbar, Antonio – –!«

»Laß mich los!« rief ich und riß ihm den Rock aus den Händen, stürzte mich zwischen die sich kreuzenden Wagen und gelangte in eine Seitenstraße. Mein Herz klopfte vor Schrecken, vor – ja wie soll ich es nennen? – vor gekränktem Stolze. Ich hielt mich in Gegenwart aller Menschen, die uns gesehen hatten, für verhöhnt. Aber nur wenige Augenblicke blieb dies Gefühl vorherrschend, da erwachte ein anderes, ein weit bittreres. Jedes Wort, welches er gesagt hatte, war ja Wahrheit, ich war ja seiner Schwester einziges Kind. Ich empfand das Grausame meiner Aufführung, schämte mich vor Gott und mir selbst, es brannte mir wie Feuer im Herzen. Wäre ich mit Peppo nur allein gewesen, ich hätte ihm die häßlichen Hände küssen und ihn um Verzeihung bitten können. Ich war in tiefster Seele erschüttert.

Da läutete von der Kirche San Agostino her die Glocke zum Ave Maria; meine Sünde lag schwer auf meiner Seele, und ich ging hinein, um die Mutter Gottes anzuflehen. Leer und finster war es unter den hohen Bogen, die Lichter auf den verschiedenen Altären brannten matt und schläfrig, ohne alle Strahlen. Meine Seele sog Trost und Vergebung ein.

»Signore Antonio!« sagte plötzlich eine Stimme dicht neben mir, »Eccellenza und die schöne Signora sind angekommen! Sie sind von Firenza zurück und haben ihren Gottesengel bei sich. Wollen Sie ihnen nicht gleich einen Besuch abstatten und sie begrüßen?«

Es war die alte Fenella, die Frau des Pförtners im Palazzo Borghese. Meine Wohlthäterin war mit ihrem Manne und Kinde wieder hier; seit einigen Jahren hatte ich dieselben nicht gesehen. Meine Seele wurde voller Freude, ich flog mehr als ich ging und bald begrüßte ich wieder die mir so lieben freundlichen Gesichter.

Fabiani war mild und gnädig, Francesca mütterlich froh mich zu sehen; sie brachte mir ihre kleine Tochter Flaminia, ein freundliches Kind mit wunderbar leuchtenden Augen; sie reichte mir sogleich den Mund zum Kusse, ging gern zu mir und in zwei Minuten waren wir schon alte Bekannte und Freunde. Sie saß auf meinem Arme und lachte laut vor Freude, wenn ich mit ihr im Saale umher tanzte und eines meiner alten lustigen Lieder sang.

»Mache mir meine kleine AbbedissaEs ist eine Sitte der meisten italienischen Familien, daß, wenn eine der Töchter schon von Kindheit an für das Kloster bestimmt wird, dieselbe bereits in frühster Jugend einen oder den andern Ehrennamen, welcher auf ihre Bestimmung hinweist, wie die Jesusbraut, die Nonne, die Äbtissin u. s. w. erhält. nicht zu einem Weltkinde,« sagte Fabiani lächelnd, »siehst du nicht, daß sie schon das Zeichen ihrer Würde trägt?« Und nun zeigte er mir ein kleines silbernes Kreuz mit dem Erlöser, das an einer Schleife an des Kindes Brust hing. »Der heilige Vater hat es ihr gegeben, sie trägt ihren Seelenbräutigam schon an ihrem Herzen.«

In ihrem Liebesglücke hatten sie der Kirche das erste Kind gelobt, und der Papst hatte der Kleinen schon in der Wiege das heilige Zeichen geschenkt. Als Verwandte der reichen borghesischen Familie stand ihr der erste Platz in Roms Nonnenklöstern offen, weshalb die Eltern so wie ihre ganze Umgebung sie schon mit dem Ehrennamen »kleine Abbedissa« anredeten. Jede Erzählung, jedes Spiel ging darauf aus, ihr Ideen von der Welt, für welche sie eigentlich lebte, von dem Glücke, welches ihrer wartete, beizubringen.

Sie zeigte mir ihr Jesuskind, ihre kleinen weißgekleideten Nonnen, die jeden Tag in die Messe gingen, stellte dieselben, wie es die Amme sie gelehrt hatte, in zwei Reihen auf dem Tische auf und erzählte mir nun, wie schön sie sängen und zu dem lieblichen Jesuskinde beteten. Ich zeichnete ihr lustige Bauern, die in ihren langen wollenen Röcken um den steinernen Tritonen tanzten, Polichinellen, die einander auf dem Rücken saßen, und die neuen Bilder belustigten die Kleine unsäglich. Sie küßte sie einige Mal, zerriß sie dann aber in ihrem Uebermute und ich mußte ihr neue zeichnen, bis wir getrennt wurden, denn die Amme rief die kleine Abbedissa zu Bett; war es doch schon längst über ihre Schlafzeit hinaus.

Fabiani und Francesca erkundigten sich nach der Jesuitenschule, nach meiner Gesundheit und Zufriedenheit, versprachen mir, ihre Hand nicht von mir abzuziehen und wünschten mir das beste Glück. »Wir müssen uns täglich sehen,« sagte sie, »komm recht fleißig, so lange wir hier sind.« Auch nach meiner alten Domenica in der Campagna erkundigte sie sich, und ich erzählte, wie glücklich die Alte wäre, wenn ich einmal, im Herbste oder Frühling, zu ihr hinauskäme, wie sie mir dann Kastanien briete und im Geplauder über die Tage, welche mir zusammen verlebten, wieder jung zu werden schiene. Auch müßte ich mir jedesmal den kleinen Winkel ansehen, in welchem ich geschlafen hatte, so wie die Bilder, die ich gezeichnet und die sie noch immer neben ihrem geweihten Rosenkranze und dem alten Gebetbuche aufbewahrte.

»Wie drollig er sich verbeugt,« sagte Francesca zu Fabiani, indem ich beim Abschiede mein Kompliment machte. »Es ist vortrefflich, daß der Geist ausgebildet wird, aber der Körper darf auch nicht versäumt werden, darauf wird viel in dieser Welt gesehen! Aber das wird schon kommen, nicht wahr, Antonio!« und lächelnd reichte sie mir die Hand zum Kusse.

Es war noch nicht spät am Abend, als ich wieder unten auf der Straße stand, um nach Hause zu gehen, aber alles war stockfinster. In Rom waren damals die Laternen noch nicht im Gebrauch; sie gehören bekanntlich erst der neueren Zeit an. Die Lampe vor dem Madonnenbilde war das einzige Licht in den unebenen engen Straßen. Ich mußte mich förmlich weiter tasten, um nicht anzustoßen, und deshalb bewegte ich mich nur langsam vorwärts, die Gedanken von den Begebenheiten dieses Nachmittags erfüllt.

Während ich ging, stieß meine Hand an einen Gegenstand.

»Zum Teufel!« tönte eine bekannte Stimme, »stoßen Sie mir nicht die Augen aus, sonst sehe ich noch weniger!«

»Bernardo!« rief ich fröhlich aus, »so treffen wir uns doch einmal!«

»Antonio, mein teurer Antonio!« rief er und faßte mich unter den Arm. »Das ist ja ein lustiges Zusammentreffen! Wo kommst du her? Von einem kleinen Abenteuer. Das habe ich dir nicht zugetraut! Aber ertappt bist du nun auf den Wegen der Finsternis! Wo ist der Sklavenkorporal, der Cicisbeo, oder wie nennst du deinen treuen Begleiter?«

»Ich bin ganz allein,« sagte ich.

»Allein!« wiederholte er. »Du bist im Grunde genommen ein tüchtiger Bursche. Du solltest in die päpstliche Garde eintreten, vielleicht ließe sich aus dir noch etwas machen!« Ich teilte ihm in wenigen Worten Eccellenzas und der Signora Ankunft mit und äußerte nun meine Freude über diese unerwartete Begegnung. Seine Freude war nicht geringer; wir dachten gar nicht an die Finsternis und schwatzten munter, während wir vorwärts schritten, ohne auf die Richtung zu achten.

»Siehst du, Antonio!« sagte er, »nun habe ich erst gelernt, was das Leben ist; du kennst es durchaus nicht. Es ist zu lustig, um auf der kalten Schulbank zu sitzen und Habbas Dahdahs schimmelige Reden mit anzuhören. Mein Pferd kann ich tummeln! Du sahst mich ja wohl heute? Und die schönen Signoras senden mir Blicke zu, o so brennend! Ich bin ja ein ganz passabler Kerl, den die Uniform kleidet. Wie verdammt finster es hier ist! Du kannst mich ja gar nicht einmal ansehen! Meine neuen Kameraden geben mir ja vortreffliche Anleitung, das sind keine solchen Bankrutscher wie ihr. Wir leeren unsern Becher auf das Wohl des Staates, haben auch kleine Abenteuer, aber davon zu hören verträgt deine Heiligkeit nicht. Was du doch für ein thörichtes Mannsbild bist! Antonio, ich habe mir in diesen wenigen Monaten eine zehnjährige Erfahrung erworben. Nun fühle ich meine Jugend, sie braust mir im Blute, schwellt mir das Herz und ich genieße sie, genieße sie in großen Zügen, während meine Lippen noch brennen und ich den kitzelnden Durst noch empfinde.«

»Deine Gesellschaft ist nicht gut gewählt, Bernardo!« sagte ich.

»Nicht gut gewählt!« unterbrach er mich, »predige mir nicht Moral! Was kannst du gegen meinen Umgang sagen? Meine Kameraden sind von dem reinsten Patricierblut, welches Rom besitzt. Wir sind des heiligen Vaters Ehrenwache, sein Segen löscht unsere kleinen Sünden aus! In den ersten Tagen, als ich eben erst aus der Schule gekommen war, hatte ich auch noch etwas von diesen klösterlichen Begriffen, aber ich war klug genug, es meinen neuen Kameraden nicht merken zu lassen; ich folgte ihrem Beispiele mit Fleisch und Blut, mein ganzes wahres Ich zitterte vor Liebeslust, und ich folgte diesem Triebe, denn er war am stärksten. Aber ich fühlte auch eine häßliche böse Stimme in mir, das war die propagandistische Klosterzucht und der letzte Rest meines kindischen Wesens. Diese rief mir zu: du bist nicht länger unschuldig, so unschuldig, wie du als Kind warst! Später habe ich dazu gelacht; jetzt verstehe ich es besser. Ich bin ein Mann, das Kind habe ich vom Arm geschüttelt. Das war es, welches weinte, wenn es seinen Willen nicht bekam. Aber hier sind wir ja bei Chjavica, der besten Osteria, dem Versammlungsorte der Künstler. Komm mit hinein, wir wollen zusammen eine Fogliette auf unsere erfreuliche Begegnung trinken. Komm mit, es geht lustig darin zu!«

»Wie kannst du daran denken!« erwiderte ich. »Was würde man sagen, wenn man in der Jesuitenschule erführe, daß ich in Gesellschaft eines Offiziers der päpstlichen Garde angetroffen worden wäre.«

»Ja, es ist ein großes Unglück ein Glas Wein zu trinken und den Gesang der fremden Künstler in ihrer Muttersprache, in deutscher, französischer, englischer und Gott weiß in welcher Zunge sonst noch anzuhören! Du kannst mir es glauben, es geht lustig zu!«

»Was für dich passend ist, ist für mich unerlaubt; rede also nicht weiter davon –« unterbrach ich mich selbst, indem ich von der kleinen Seitenstraße her Lachen und Bravoruf vernahm und dem Gespräche gern eine andere Richtung geben wollte. »Dort ist ja ein großer Auflauf,« fuhr ich deshalb fort, »was mag da los sein? Ich glaube, man macht dicht unter dem Madonnabilde Kunststücke!« und nun zog ich ihn mit dorthin.

Männer und Knaben der untersten Volksklasse hatten die Straße gesperrt; sie bildeten einen länglichen Kreis um einen alten Juden, der, wie wir hörten, gezwungen werden sollte über einen Stock zu springen, welchen einer der Männer vorhielt, wollte er anders aus der Straße gelangen.

Bekanntlich dürfen die Juden in Rom, der größten Stadt der Christenheit, nur in dem ihnen angewiesenen Stadtviertel, dem engen schmutzigen Ghetto wohnen. Jeden Abend wird das zu demselben führende Thor geschlossen und Soldaten halten Wache, daß sich niemand heimlich hinaus oder hinein schleicht. Jährlich müssen ihre Aeltesten nach dem Kapitol wandern und knieend um Erlaubnis bitten, noch ein Jahr in Rom verbleiben zu können, müssen sich dazu erbieten, die Ausgaben für die Wettrennen in der Karnevalszeit zu übernehmen und versprechen, daß sie alle einmal im Laufe des Jahres an dem dazu bestimmten Tage eine katholische Kirche besuchen und eine Bekehrungspredigt hören wollen.

Der alte Mann, den wir hier sahen, war an dem finstern Abend allein durch die Straße gekommen, wo die Knaben spielten und die Männer in ihr Morraspiel vertieft standen. »Seht den Juden!« hatte einer gerufen und nun verhöhnte und verspottete man den alten Mann, und als er schweigend seinen Weg fortsetzen wollte, sperrten sie die Straße. Einer der Männer, eine dicke breitschulterige Person, hielt ihm einen langen Stock vor und rief: »Na, Jude, nimm nun deine Beine in die Hand, sie verschließen sonst den Ghetto und du kommst heute Nacht nicht hinein! – Laß uns sehen, wie geschmeidig und leicht dein Fußwerk noch ist!«

»Spring, Jude!« schrieen alle Jungen, »der Gott Abrahams wird dir schon helfen.«

»Was habe ich Ihnen nur zuleide gethan?« sagte er, »lassen Sie mich alten Mann meiner Wege gehen und spotten Sie meiner grauen Haare nicht vor derjenigen, die Sie selbst um Erbarmen anflehen!« und er zeigte nach dem in nächster Nähe befindlichen Mabonnabilde.

»Glaubst du etwa,« sagte der Mann, »die Madonna bekümmere sich um einen Juden? Willst du gleich springen, du alter Hund!« und nun ballte er die Faust gegen ihn und die Knaben schlossen den Kreis dichter.

Da sprang Bernardo hervor, stieß die Nächsten zur Seite, riß dem Manne in einem Nu den Stock aus der Hand, schwang seinen Säbel über ihm, hielt den fortgenommenen Stock dem Manne selbst vor und rief mit starker männlicher Stimme: »Spring du nun oder ich spalte dir den Kopf! Zaudere nicht! Bei allen Heiligen, ich zerspalte dir den Schädel, wenn du nicht springst!«

Der Mann stand unter der erstaunten Menge wie vom Himmel gefallen. Die zornigen Worte, der gezogene Degen und die päpstliche Offizieruniform, alles elektrisierte ihn, und ohne ein Wort zu erwidern, machte er einen hohen Sprung über den Stock, den er soeben erst dem armen Juden vorgehalten hatte. Die ganze Versammlung war ebenso überrascht, niemand wagte ein Wort zu sagen, sondern sah verwundert den Vorfall an. Kaum war der Kerl hinübergesprungen, als ihn Bernardo an der Schulter packte, ihm mit der flachen Klinge die Backe klopfte und rief: »Bravo, mein Hündchen, gut gemacht! Noch einmal dasselbe Kunststück, und dann, denke ich, wirst du wohl an den Hundekunststücken genug haben!«

Der Kerl mußte springen, und die Versammlung, die zu der lustigen Seite des Intermezzos überging, rief Bravo und klatschte Beifall.

»Wo bist du, Jude?« fragte Bernardo, »komm, ich will dich begleiten!«

Aber er war fort, niemand antwortete.

»Komm!« sagte ich, als wir uns außerhalb des Gedränges befanden, »komm, laß sie sagen, was sie wollen, ich trinke eine Fogliette Wein mit dir! Auf dein Wohl will ich trinken! Freunde müssen wir immer bleiben, in welche Lage wir auch kommen!«

»Du bist ein Narr, Antonio!« versetzte er, »und ich im Grunde genommen ebenfalls, daß ich mich über den rohen Kerl geärgert habe; ich bin überzeugt, er wird jetzt niemanden sobald wieder springen lassen.«

Wir gingen in die Osteria hinein, keiner der lustigen Gäste beachtete uns. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch. Hierher ließen wir uns eine Fogliette bringen und stießen nun auf unser glückliches Zusammentreffen und unsere fortgesetzte Freundschaft an; dann schieden wir. Ich ging nach der Jesuitenschule, wo der alte Kustode, mein ganz besonders gnädiger Gönner, mir aufschloß, ohne daß es jemand bemerkte, und bald schlief und träumte ich von den vielen Abenteuern dieses Abends.


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